Eine Tour noir
(A long road tale for our loved ones)
Werner J. Egli, geboren 1943 in Zürich, lebt in Egg/Schweiz. Im Kyrene. Literaturverlag sind folgende Romane von ihm erschienen: „Martin und Lara“; „Heul doch den Mond an“; „Blues für Lilly“; „Without A Horse“.
Martin Kolozs, geboren 1978 in Graz, aufgewachsen in Innsbruck, lebt in Wien; ist Verleger des Kyrene. Literaturverlags und nur einmal ausnahmsweise Autor bei diesem.
1. Auflage 2013
Kyrene Verlag Innsbruck-Wien
Alle Rechte vorbehalten
Satz & Korrektur: Joe Rabl
Umschlag: Carina Haberl
Printed in the EU
ISBN: 978-3-902873-33-0
eISBN: 978-3-902873-39-2
www.kyrene-verlag.com
In seinem Kopf waren die Worte bereits aufgeschrieben: Von der Straße führte ein schmaler Forstweg in den Wald hinein. Dort war es kühl und schattig. Ein friedlicher Ort. Er suchte nach dem Himmel. Er fand Fetzen davon zwischen Wipfeln und Kronen. Auf einem Ast saß ein Kleiber. Ein kleiner Vogel, der nicht sang. Sonnenlicht lag über dem Boden wie Blätter des vergangenen Herbstes. Nicht weit von ihm entfernt zeigte sich ihm eine kleine Lichtung mit Farnen und Totholz. Das war der Platz, nach dem er gesucht hatte. Thomas Pinter ging dorthin. Mit dem Fuß prüfte er die Festigkeit des Bodens. Er schaute sich um und kehrte zum Wagen zurück. Er öffnete die Beifahrertür und suchte nach Sachen, die ihr gehört hatten. Im Handschuhfach fand er eine noch fast volle Schachtel Mentholzigaretten. Er drückte den Anzünder. Warum hatte er nicht ihr Feuerzeug mitgenommen? Es hatte auf dem Bett gelegen! Das Klicken beim Herausspringen des Zigarettenanzünders brachte ihn zurück aus seinen Gedanken. Er nahm ein paar hastige Züge, stieg aus, ging um den Wagen herum und blickte zu der Stelle hinüber. Dort war alles gleich geblieben. Aber der Kleiber war fort.
Pinter schätzte die Distanz. Wie viele Schritte waren es? Er hatte sie nicht gezählt. Oder sollte er noch näher heranfahren? Er entschied sich dagegen, nahm einen letzten Zug von der Zigarette, trat sie aus und ging die Strecke zurück. Es waren vierundzwanzig Schritte. Er brach einen Ast von dem toten Baum ab und stocherte damit in der Erde. Sie sah lebendig aus. Er bückte sich und hob eine Handvoll davon an seine Nase. Aber der Geruch war falsch, modrig und verdorben. Es wischte sich die Hand an der Hose ab und ging zurück zum Wagen. Dort sah er sich noch einmal um, hörte den spitzen Ruf des Kleibers und sonst nichts. Er ging um seinen Wagen herum zum Kofferraum und drückte den Schlüsselknopf. Im selben Augenblick hörte er sie kommen. Und wie aus dem Nichts stand sie plötzlich vor ihm, auf der Stelle joggend.
„Sie sind es ja wirklich“, sagte sie lachend, „Thomas Pinter, der Autor! Ich habe Sie schon von weitem erkannt.“
„Ach.“
„Das ist meine Laufstrecke“, erklärte sie. „Was machen Sie hier?“
Er dachte schnell darüber nach, was er ihr sagen sollte, und sagte: „Haben Sie den Kleiber nicht gehört?“
„Den was?“
„Den Kleiber, ein Vogel!“
Er zeigte nach oben.
„Sind Sie deswegen in den Wald hineingegangen?“
„Wo haben Sie mich gesehen?!“
„Sie haben doch dort drüben gestanden“, sagte sie und zeigte auf die Stelle.
„Dort habe ich ihn gesehen.“
„Den Kleiber?“
„Ja.“ Er musterte sie, bemerkte, dass sie verschwitzt war, attraktiv, und immer noch auf und ab hüpfte. „Laufen Sie hier jeden Tag?“
„Dreimal in der Woche“, erklärte sie. „Es ist ideal, der Boden ist weich.“
Er folgte ihrem Blick und sah seinen Zigarettenstummel neben ihren Füßen liegen.
„Sie müssten das wissen“, sagte er.
„Was denn?“, fragte sie.
„Muss ich hier umdrehen oder kann ich auf dem Forstweg weiterfahren und komme dann wieder auf die Hauptstraße zurück?“
„Da müssen Sie schon umkehren“, erklärte sie, lief an ihm vorbei und deutete mit dem Finger in die Richtung.
Er machte einen Schritt, setzte seinen Fuß auf die Zigarette und bedankte sich.
„Woraus lesen Sie heute“, fragte sie. „Auch aus Friedenszeiten?“
„Kommen Sie denn zur Lesung?“
„Selbstverständlich. Wenn schon ein so berühmter Schriftsteller sich in unsere Gegend verirrt!“
„Na dann“, beendete er rasch das Gespräch, „sehen wir uns heute Abend.“
Mit angehaltenem Lächeln tippelte sie noch ein paar Sekunden vor ihm, bevor sie sich wortlos umdrehte und mit zusammengekniffenem Hintern weiterlief.
Pinter schaute ihr hinterher, wartete, bis sie verschwunden war und er den Zigarettenstummel aufheben konnte. Er steckte ihn in seine Hosentasche und dachte nach. Er musste hier weg! Gleich! Er setzte sich hinters Steuer und wendete.
Zurück auf der Straße. Auf dem Weg ins Hotel. Den Blick nach vorne gerichtet. So kannte er es von den Tausenden Malen zuvor. Kilometer abspulend. Ohne ein Ziel vor Augen, aber dennoch wissend, wohin. Er war wieder unterwegs. Allein unterwegs. Nichts konnte ihn mehr aufhalten. Alles ging wie von selbst. Er kannte es. Er wusste es. Er tat es. Das gab ihm die Sicherheit.
Das Hotel hatte Eva ausgesucht. Es entsprach ganz ihrem Stil. Es hätte ihr gefallen: die goldene Farbe der Fassade; die ins Glas geätzten Ornamente an den Fenstern; die Topfpflanzen im Eingangsbereich; und das giftig riechende Potpourri an der Rezeption. Er hätte kotzen können.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte der Mann vom Empfang.
„Wo kann ich mein Auto parken?“, fragte Pinter zurück.
„Sind Sie Gast in unserem Haus?“
„Pinter“, antwortete er. „Thomas Pinter.“
Der Mann blickte von seinem Computer auf, nickte: „Hatten Sie eine gute Fahrt, Herr Pinter?“
„Ja.“
„Sie haben für zwei Personen reserviert, Herr Pinter?“
„Ähm, ja, aber wir brauchen statt der beiden Einzelzimmer jetzt nur ein Doppelzimmer.“
Der Mann vom Empfang lächelte verstehend und meinte: „Kein Problem, Herr Pinter!“ Dann nahm er den Schlüssel vom Brett, reichte ihn über den Tresen und sagte: „Ich habe ein schönes Zimmer für Sie, Herr Pinter, mit Balkon zum Park.“
„Danke“, sagte Pinter, „und wo kann ich jetzt mein Auto parken?“
„In der Tiefgarage, Herr Pinter.“
„Und wie komme ich dorthin?“
„Fahren Sie einfach ums Haus.“
In der Tiefgarage standen zwei andere Fahrzeuge. Ein neueres Model von Volkswagen und eines unter einer alten, fleckigen Zeltplane. Der Form nach war es wahrscheinlich ein Porsche. Ihnen gegenüber, unter der abgeschrägten Decke, lagerten Gartenmöbel und Sonnenschirme mit dem aufgedruckten Logo des Hotels und ein halb verrosteter Benzinrasenmäher, von dem der rote Lack wie große Schuppen abblätterte. In der hintersten Ecke bemerkte Pinter unter einer transparenten Abdeckfolie einen Stapel breiter Ersatzreifen. Der einzige freie Parkplatz befand sich zwischen dem Volkswagen und dem Sportwagen. Mühelos hätte Pinter vorwärts einparken können, aber er entschied sich, rückwärts in die Lücke zu stoßen. So nahe an die Wand wie möglich. Beim Aussteigen konnte er die Fahrertür nicht ganz öffnen und hatte dadurch Schwierigkeiten, seinen Koffer aus dem Wageninneren herauszubugsieren. Mit einem Ruck gelang es ihm schließlich, ihn aus dem Spalt zwischen den Vordersitzen zu befreien. Mit dem Funkschlüssel betätigte er die Zentralverriegelung und kontrollierte anschließend, ob alle Türen auch verschlossen waren.
Mit dem Lift fuhr er aus der Tiefgarage in den zweiten Stock. Sein Zimmer lag direkt neben dem Aufzugsschacht, und Pinter fragte sich, ob er es gegen ein anderes eintauschen sollte. Aber warum überraschte es ihn überhaupt? Es war ja immer das Gleiche! Egal, in welchem verdammten Hotel! Ein scheißfreundlicher Portier gab einem immer das beschissenste Zimmer im ganzen Haus! Auch der versprochene Ausblick auf den Park war der totale Schwindel gewesen. In Wirklichkeit lag unter dem Balkon eine stark abgetretene Wiese mit einer einzigen Wippe darauf und einer Sandkiste voller Hundekacke. Pinter schloss das Fenster, zog die Vorhänge zu und hatte die Schnauze voll. In der Minibar fand er nichts anderes als eine Packung Vanillecremewaffeln und ein angebrochenes Briefchen Streichhölzer. Dieses steckte er ein. Er setzte sich auf die Bettkante und zog seine Schuhe und die feuchten Socken aus. Der Nagel seines rechten großen Zehs, der ihm vor einigen Monaten von seinem Hausarzt gezogen worden war, war noch immer nicht nachgewachsen. Sein ganzer Fuß sah dadurch entstellt und halb fertig aus. Pinter schüttelte seinen Ärger ab und wollte ins Bad gehen, da klingelte das Telefon.
„Herr Pinter?“
„Ja.“
„Anruf für Sie.“
Der Mann vom Empfang stellte durch.
„Herr Pinter?“
„Ja.“
„Mein Name ist René Beck, und ich schreibe für die Regionalzeitung. Ich brauche dringend ein paar Informationen und ein Foto von Ihnen.“
„Können Sie sich damit nicht an den Verlag wenden?“
„Dort hat man mich an Frau Breymann verwiesen. Ist sie da?“
„Nein. Aber, wenn Sie wollen, können Sie zu mir ins Hotel kommen.“
„Dafür reicht die Zeit nicht, ich habe noch viel Arbeit vor mir. Könnten Sie nicht zu mir in die Redaktion kommen?“ „Ich bin eben eingetroffen und habe mich noch nicht frisch machen können. Außerdem habe ich Hunger und …“
„Dann komme ich eben zu Ihnen. Ist Ihnen in einer halben Stunde recht?“
„Okay, aber wir treffen uns im Hotelrestaurant.“
Der Journalist bejahte und legte auf.
Pinter holte seinen Waschbeutel aus dem Koffer und ging damit ins Badezimmer. Er pisste einen dünnen Strahl und wusch sich danach Hände und Gesicht. Dabei fiel ihm im Spiegel der Dreck auf, den er sich im Wald beim Abwischen seiner Hand an die Hose geschmiert hatte. Kurz wunderte er sich darüber, weshalb ihn der Mann vom Empfang nicht darauf hingewiesen hatte, und zog die Hose aus. Unter dem laufenden Wasserhahn und mit nach Mango riechender Flüssigseife versuchte er den Schmutz auszuwaschen. Mit dem Handtuch über dem Zeigefinger rieb er vorsichtig am Stoff, wobei er feststellen musste, dass die Erde zwar leicht zu entfernen war, darunter aber ein neuer, gelblich-brauner Fleck zum Vorschein kam. Pinter war sofort klar, woher er stammte. Er griff in die Hosentasche und nestelte den aufgeweichten Zigarettenstummel hervor. Mit dem Fuß stieß er den Klodeckel auf und warf die Kippe in die Schüssel. Anschließend stülpte er die Hosentasche nach außen und entfernte die restlichen Tabakkrümel und kleine, klebrige Papierfitzel, als das Telefon abermals läutete.
„Herr Pinter, Anruf für Sie!“
Der Mann vom Empfang stellte wieder durch.
„Hallo, wer ist da?“, fragte Pinter ungeduldig.
„Hallo, Herr Pinter?!“
„Ja! Wer spricht denn?“
„Veronika.“
„Ja?“
„Ich bin von der Buchhandlung. Veronika Müller, können Sie sich erinnern?“
Pinter räusperte sich: „Natürlich, aber dieses Telefon ist ein Scheißding, ich konnte Sie kaum verstehen!“
Sie lachte spitz und sagte: „Gefällt Ihnen das Zimmer?“
„Alles okay.“
„Vor der Lesung möchte ich Sie zum Essen einladen! Wann ist es Ihnen recht?“
„Das geht jetzt nicht, es kommt ein Herr Beck von der Zeitung.“
„Wunderbar. Das trifft sich gut. Dann komme ich auch, weil ich ihm vor der Lesung noch ein paar Dinge sagen muss.“
„Er kommt aber schon in zehn Minuten“, gab ihr Pinter zu bedenken.
„Das macht nichts, die Buchhandlung ist ganz in der Nähe. Ich bin in fünf Minuten bei Ihnen. Bis gleich!“
Noch bevor Pinter antworten konnte, hatte sie aufgelegt.
Jetzt musste es schnell gehen: Pinter duschte und rasierte sich, trug Deo auf und zog sich ein frisches Hemd und eine saubere Hose an. Er klaubte seine Leseexemplare und die von damals übrig gebliebenen Autogrammkarten zusammen. Schon war er fertig.
Pinter kam eine Viertelstunde zu spät. Der Journalist und die Buchhändlerin saßen zusammen im Restaurant und unterhielten sich. Als Pinter zu ihnen an den Tisch trat, unterbrachen sie das Gespräch und standen auf.
„Ich bin so unsagbar glücklich, dass Sie zu uns gekommen sind“, begrüßte ihn die Buchhändlerin überschwänglich.
„Ich danke Ihnen für die Einladung, Veronika! Ist doch richtig so?“
Sie lächelte verlegen und nickte.
„Damit sind Sie Herr Beck.“ Pinter reichte einem jüngeren Mann in kariertem Hemd und brauner Cargohose die Hand. „Von …“
„Der Regionalzeitung hier im Ort.“
„Und ich soll Ihnen also ein paar Fragen beantworten?“
„Das hat Frau Müller bereits erledigt …“
Pinter schaute sie an und sie lächelte stolz, überzeugt davon, es richtig gemacht zu haben.
„… ich benötige nur ein Bild von Ihnen beiden!“
Beck öffnete seine Fototasche, nahm seine Nikon heraus und schraubte ein großes Objektiv auf das Gehäuse.
Die Buchhändlerin lachte auf und hakte sich bei Pinter unter: „Da muss ich doch nicht mit drauf sein!“
„Warum denn nicht, es wäre mir ein Vergnügen“, presste Pinter zwischen den Lippen hervor und stellte sich in Position.