Heil’ge Einfalt, Gnadenwunder,
tiefste Weisheit, größte Kraft,
schönste Zierde, Liebeszunder,
Werk das Gott alleine schafft!

Alle Freiheit geht in Banden,
aller Reichtum ist nur Wind,
alle Schönheit wird zuschanden,
wenn wir ohne Einfalt sind.

Wenn wir in der Einfalt stehen,
ist es in der Seele licht;
aber wenn wir doppelt sehen,
dann vergeht uns das Gesicht.

Einfalt denkt nur auf das Eine,
in dem alles andre steht;
Einfalt hängt sich ganz alleine
an den ewigen Magnet.

Wem sonst nichts als Jesus schmecket,
wer allein auf Jesus blickt,
wessen Ohr nur Jesus wecket,
wen nichts außer ihm erquickt,

Wer nur hat, was Jesus gibet,
wer nur lebt aus seiner Füll’,
wer nur liebt, was ihm beliebet,
wer nur kann, was Jesus will,

Wer ihn so mit Inbrunst liebet,
dass er seiner selbst vergisst,
wer sich nur um ihn betrübet
und in ihm nur fröhlich ist,

Wer allein auf Jesus trauet,
wer in Jesus alles find’t:
der ist auf den Fels gebauet
und ein sel’ges Gnadenkind.

Wohl dem, der den Herrn lässt machen,
wohl ihm! Der Herr ist sein Hirt!
Jesus wartet seiner Sachen,
dass man sich verwundern wird.

A. G. Spangenberg 1704-1792

1. Die Notwendigkeit der Einfalt

Komm, meine Seele, wir wollen uns zur heiligen Einfalt wenden! Die Vielfältigkeit der Dinge, Geschöpfe und Gedanken hat unsere Sinne und unseren Geist lange genug beunruhigt und betrogen – wir können nicht länger von ihnen leben. Wir haben die Notwendigkeit der heiligen Einfalt eingesehen. Die Vielheit der Dinge hat uns immer mehr beschwert und arm gelassen. Die Geschöpfe haben uns nur gestört und gequält. Die Menge der Gedanken hat uns nur gehetzt und verwirrt. Ach, wie lange schon haben wir es gefühlt, dass uns alles nichts hilft, was uns täglich und leider auch nächtlich von außen und innen umtreibt. Immer deutlicher und weher erkannten wir alles als Hindernis, was uns nicht zu dem notwendigen Einen gelangen ließ, in dem allein wir das Ewige und Göttliche finden können.

Einst füllten sich unsere Sinne gerne mit den Bildern dieser sichtbaren Welt, deren bunte Viel­fältigkeit uns reich machen sollte. Einst suchte sich unser Geist an den Reden und Äußerungen der Ge­schöpfe zu laben. Einst wollten wir unser Leben vom Honig­seim unserer eigenen Gedanken speisen. Es war ein ehrliches, natürliches Bemühen, wie es alle Menschen haben – wir wollen es nicht schmähen. Es war die Beweglichkeit unserer angeborenen Natur, die da ihre vielfältigen Geschäfte besorgte. Es war die törichte Einfalt des Fleisches, die nur dem Einen diente, nämlich dem anspruchsvollen, vielbegehrlichen Ich. Sie konnte nicht anders. Wie auch ihr Begehren wechseln mochte, es lief alles auf das irdische menschliche Vorankommen hinaus.

Nun aber ist uns der ganze Umtrieb in natürlichen Geschäften beinahe unnatürlich geworden. Was könnten uns die Sinne noch erjagen, was die Geschöpfe uns noch einbringen, was die Ver­nunft­schlüsse noch erringen? Wir wissen, was in der Welt, in den Menschen und in uns selber ist. Unsere Bedürftigkeit ist eine andere geworden. Wir wollen uns ins übernatürliche Leben einleben. Wir wollen uns zur Einfalt des Geistes hinfinden. Die Notwendigkeit, uns dem Natürlichen und Ge­schöpflichen zu entwöhnen, ist da. Die Sinne sollen nicht mehr unser Sinnen bewegen, die Ge­schöpfe nicht mehr unser Handeln bestimmen, die eigenen Gedanken nicht mehr unser Erkennen bannen. Wir müssen aus dem verzehrenden Vieler­lei zum einträglichen Einen hingelangen. Das Wech­sel­spiel irdischer Bilder darf uns nicht mehr blenden. Wir müssen danach trachten, angesichts des Unsichtbaren zu leben und im Unwandelbaren wandeln zu lernen. Das Geräusch der Geschöpfe darf uns nicht mehr beunruhigen. Wir müssen uns üben, in unverletzbarer Stille zu wohnen. Der Rede­fluss unserer Gedanken darf nicht mehr das Rad des Geistes drehen. Wir müssen auf die Tropfen und heiligen Schauer harren, die Gott auf uns fallen lässt. Dazu bedürfen wir des Notwendigsten vom Himmel her: der Einfalt! Nichts fehlt uns so sehr wie sie.

2. Die Seltenheit der Einfalt

Bemerke doch die Seltenheit der heiligen Einfalt in uns und bei allen Menschen. Wann waren wir zuletzt einfältig? Wann hörten, schauten, sannen wir schlicht und unverrückt auf das Eine, von dem wir längst wussten, dass es uns fehlt? Wann war das Ohr fähig, das Unhörbare zu hören und das Hörbare ringsum zu überhören? Wann hatten wir das einfältige Auge, das unseren ganzen Leib Licht werden ließ, weil es nichts als die Herrlichkeit des Eingeborenen sah und aufnahm? Oh, die Verdor­ben­heit unserer Sinne, die stets die Vielheit in irdischer Länge und Breite begehren! Und wann waren wir den Geschöpfen gegenüber ohne Vorder-, Neben- und Hintergedanken? Wann waren wir in Einfalt stark genug, um einfach wahr sein zu können? O Unlauterkeit des Herzens, voll vieler Falten, gefüllt mit viel Listigkeit! Und wann war unser Er­kennen und Wissen in Einfalt bescheiden genug, schweigend unter der Furcht Gottes aller Weisheit Anfang zu erlernen? O Eingebildetheit unseres eigenen Geistes, geübt in buntesten Künsten!

Oder wo sollen wir Einfalt suchen unter den Men­schen? Die Mächtigsten auf Erden sind gewöhnlich die Ärmsten an Einfalt. Ihr Geschäft, Men­schen­massen zu bändigen, erlaubt keine Ein­falt. Ihre Macht lebt vom Schacher der Politik und von der listigen Klugheit der Diplomaten. Einfalt wäre ihr Tod. Den Gelehrten und Schulstreitern ist ebenfalls Einfalt nicht gestattet. Sie leben von der Man­nigfaltigkeit der Dinge und der Vielseitigkeit der Ansichten über die Dinge. Einfalt würde sie beschäftigungslos machen. Ihr Beruf ist, jede Ein­falt zu zerstören, dadurch dass sie alles Einfache in Fra­ge stellen. Den Reichen an Wissen gleichen die Reichen an irdischen Gütern. Sie leben vom Geld­besitz und Gelderwerb. Ihre Schätze zu hüten und zu vermehren erfordert eine viel beschäftigte Klug­heit, die sich auf Einfalt nicht einlassen kann. Wie die Gelehrten meinen, die Einfalt würde sie dumm machen, so befürchten diese Reichen, die Ein­falt würde sie arm machen. Mag ihre Klugheit die Nadelöhre noch so sehr ausweiten, keiner von ihnen wird ins Himmelreich der Einfalt eingehen.

Oder ist die Einfalt bei den Schaffenden, die sich in der Menge ihrer Wege zerarbeiten? Ehr- und Habsucht narren sie, Wind erhaschen ihre ermattenden Hände, Schaden erleidet ihre Seele, aber die Einfalt wurde nie zu ihrem Besitz. Sie hatten keine Zeit, sich solcher „Trägheit“ zu befleißigen. Oder gedeiht die Einfalt bei den Genießenden? Ach, die Mühe des Genießens ist nicht geringer als die Mühe des Arbeitens! Alle Lust liebt die Vielheit und nährt sich von der Mannigfaltigkeit. Darum lebt der Genuss von der Kurzweil, und die Einfalt wäre ihm nur langweilig. So werden die Tugendsamen und Frommen die Träger der Einfalt sein? Ach, wie selten sind sie es! Denn wenn sie schon die Einfalt lieben mögen, so haben sie sie doch nicht. Die Einfalt ist das teuerste und doch schlichteste Kleid wahrer Frömmigkeit. Sie stellt gar nichts dar, und ihr Wert fällt gar nicht auf. Da hüllt sich die landläufige Frömmigkeit lieber in ein billigeres Prunkgewand, in dem sich doch noch das fromme Ich zu entfalten vermag, um irgendwie Aufsehen zu erregen und Ansehen zu gewinnen. O nein, auf der religiösen Schaubühne sucht man die Einfalt vergebens.

Also kann die Einfalt nur in den Niederungen der Dummheit wohnen. Was bleibt sonst übrig? Nein, dort wohnt nur ihr dürftiges Schatten­bild, denn Einfalt ist nicht blöde, unfruchtbare Leerheit, obgleich sie oft so aussieht. Sie ist aber verwandt mit Unmündigkeit, Unwissenheit und Unvermögen, und man trifft sie infolgedessen bei armen, niedrigen, ungeschulten und einfachen Leuten immer noch häufiger an als sonst wo. Und wie rühmt man dann ihr sogenanntes schlichtes Denken und ungesuchtes Handeln! „Kindliche Menschen“ nennt man diese naturhaft Einfältigen.

Erfrischender noch ist die unverlierbare Einfalt wirklicher Kinder. Ihr Sinnen ist Freude, ihr Bild Frühlingsfrische, ihre Gedanken spiegeln ihre Un­schuld wider. Und doch wissen wir, dass Kinder nicht viel weniger selbstsüchtig und gehässig sind als große Leute – aber sie sind es eben in Einfalt. Zwar fehlt ihnen nicht das Bewusstsein der Bosheit, wohl aber die Bosheit des Bewusstseins. Fremd ist ihnen noch die Vielheit und Gegensätzlichkeit der bewusst selbstsüchtigen Absicht. So sind sie gleichermaßen einfältig in ängstlicher Furcht wie in zutraulicher Hingabe, aber ihr Kinderglück ist die Vorherrschaft ihres unbedenklichen Glaubens.

„Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen!“ Was bringt uns zur natürlichen Einfalt eines Kindes zurück, damit wir das Himmelreich der so seltenen geistlichen Einfalt in Gott gewinnen – um jeden Preis? [Mt. 18, 3]

3. Die Gabe der Einfalt

„Nicht wie die Welt gibt, gebe ich euch.“ Diese Men­schenwelt kann uns keine Einfalt geben, denn sie hat keine mehr. Ihr Verderben ist ihr Verlust an Einfalt seit Torschluss des Paradieses. Seit jenem Zwiespalt mit Gott gibt es keine wirkliche Einfalt mehr. Das Streben des menschlichen Herzens ist böse von seiner Jugend auf. Der Stachel der Selbstsucht beginnt schon in der Kindesseele seine verletzende Spitze zu härten. Oh, klage, trauernde Seele, denn was diese Menschenwelt gebiert und gibt, ist zwiespältig und zweischneidig! In Unfrieden gibt sie, und zum Erschrecken und Verzagen des Herzens führt sie. Denn endet nicht alles in herzzerreißendem Weh? Und auch wir selbst können uns keine Einfalt geben. Zwiespältig bleibt unsere Art, wir mögen zur Einfalt hinstreben, wie auch immer wir wollen. Zerklüftet bleiben wir in uns selbst, süß und bitter sprudelt die Quelle aus unserer zerrissenen Tiefe wider allen unseren Willen. Gekünstelt reden wir von der Schlichtheit, vielspältig von der Einfalt. Unsere Aussaat bleibt Mühsal, und unsere Ernte bleibt Dornen und Disteln. [Joh. 14, 27; 1. Mo. 8, 21]

Aber juble, meine Seele, denn du weißt: Jesus Christus brachte uns die Gabe der heiligen Einfalt wieder! Der Aufgang aus der Höhe besuchte uns. Aus dem dürren Erdreich eines verdrehten und verkehrten Geschlechts, beladen mit vielfältiger Sünde, gerieben und durchtrieben in aller Bosheit, wuchs der Spross empor, an dem die Einfalt wieder blühen sollte. Jesus Christus ist die wiedergeschenkte Einfalt: Er dachte nichts als Gott! Sein Sinnen war ungeteilter Gottesdienst. Vermögen wir es zu fassen, dass keiner seiner Sinne sich je gegen Gott gewehrt hat? Sein Sehen und Hören war ganz gottergeben, stand ganz in der Furcht des Herrn. Keine seiner Sinneswahrnehmungen vermochte ihn von Gott abzulenken. Keiner seiner Sinne zerstreute und verirrte sich in die Umwelt. Nicht einen Augenblick verlor er sich an das Geschaffene. Nichts Irdisches war imstande, die Geschlossenheit seiner auf Gott gerichteten Einfalt aufzulösen. Alles, was er sah und hörte oder sonst mit Sinnen wahrnahm, nahm er nur wahr in Bezug auf Gott. Es diente nur seiner steten Gottesschau. Er sah die Welt in ihrem Schmuck und in ihrer Schmach, wie keiner sie je gesehen hat, aber alles fesselte ihn höchstens als Gleichnis: Die Lilien auf dem Feld und die Vögel unter dem Himmel, die Trauben und die Feigen, die Dornen und die Disteln, die Motten und der Rost. Selbst das Kind, das er zu sich rief, musste ihm als Gleichnis dienen, ebenso die Lebensäußerungen der Menschen und die Sitten des Landes, wie auch das Verhältnis der Menschen zu Tier und Natur. Ach, die ganze Vielartigkeit der Erscheinungswelt, die uns Verkehrte ans Sinnenfällige und Irdisch-Menschliche versklavt, wurde von Jesu Einfalt umfasst und Gott dienstbar gemacht!

Dieselbe Einfalt bewahrte er auch im persönlichen Umgang mit den Menschen. Nicht einen Au­gen­blick verlor er sich an die Staubgeborenen. Nie vermochte ein Mensch zwischen ihn und Gott zu treten. Weder seine Mutter noch seine Brüder, noch Petrus, der Felsenmann, noch die Mutter der Donnersöhne, noch die Neugier aller Jünger, noch das feierliche Auftreten des Hohenpriesters, noch das Gaukelspiel des Pilatus, noch das königliche Begehren des Herodes konnten seine Ein­falt brechen. An ihr zerschellten auch alle Kom­pli­mente der Menschen wie jede Schmähung und List der Pharisäer. Auch konnte ihn kein äußerliches Gedränge aus dieser allezeit wachen Ein­falt hinausdrängen. Sie ließ sich weder berauben, noch überrumpeln, noch vergewaltigen. Ja, nicht einmal der Tod konnte seine Einfalt töten. Denn Je­sus starb freiwillig. Er starb in der unwandelbaren Einfalt seines Gott­gehorsams, die in Gethsemane und am Kreuz nur geprüft, aber nicht erschüttert werden konnte. Wie auch seine Seele inmitten aller Schmach und Schmer­zen im Erleiden des Gerichtes für unsere Sünde gearbeitet haben mag, von ihrer Einfalt wich sie nie. [Joh. 2, 4; Mk. 3, 33; Joh. 7, 6; Mt. 16, 23; Mt. 20, 23; Mk. 13, 32; Mt. 26, 64; Joh. 18, 37; Lk. 23, 9; Mt. 19, 17; Lk. 11, 27.28; Joh. 3, 2.3; Mk. 5,30; Joh. 18, 6; Joh. 19, 30; Jes. 53, 11; Hebr. 5, 7.8]

So haben wir, flüchtig zwar nur, hineingeschaut in die Geschlossenheit der Einfalt Jesu Christi der Um- und Menschenwelt gegenüber. Lasst uns nun auch mit noch reichlicherer Ehrerbietung die Auf­ge­schlossenheit seiner Einfalt Gott gegenüber bemerken!

Schau an die innere Heimatlosigkeit Jesu auf Er­den! Er hatte nichts, wo er sein Haupt hinlegen konnte. Das heißt ja nur: Er konnte sich weder von der sichtbaren Welt ernähren, noch in ihr ruhen. Als der Einzige, der von oben her und nicht von dieser Welt war, berührten nur seine Füße die Erde, sein Haupt aber hatte Jesus im Himmel. Was er von den Schutzengeln der Kinder gesagt hatte, galt ihm am allermeisten: Er sah das Angesicht seines Vaters allezeit. Sein Ohr war immer am Mund Gottes, sein Mund immer am Ohr Gottes. Nur, was er vom Vater hörte, redete er, und nur, was er den Vater tun sah, tat er. O meine Seele, nimm doch diese nach oben aufgeschlossene Einfalt des Eingeborenen wahr, die allem, was von unten her kam, verschlossen blieb! Er konnte nichts von sich selber sehen, hören, reden, tun. Gott zeigte und sagte ihm alles, und alles, was durch Jesus geschah, tat Gott durch ihn. Wer ist so blind wie dieser auserwählte und vertraute Knecht, den Gott so schützen musste, auf den er seinen Geist gelegt hatte und der nicht richten konnte nach dem eigenen Sehen seiner Augen? Und wer ist so taub und stumm wie dieser von Gott gesandte Bote, der nicht hörte, urteilte und redete nach dem eigenen Hören seiner Ohren? Er ruhte und wirkte mit jedem Gedanken in Gott, denn auf ihm ruhte der Geist Jahwes, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Kraft, und er ruhte einfältig in diesem Geist von allem Eigenen aus. Keiner sah und hörte die vielfältige Sünde der Menschen so wie er, und doch richtete er nie nach dem, was seine Augen sahen und seine Ohren hörten. Keinem schlug je das Herz so vor Erbarmen für die Sünder, und doch rettete er niemanden in eigenwilligem Helfen. [Joh. 8, 23; Joh. 8, 38; Joh. 5, 19.30; Jes. 11, 3; 42, 1.2.19; Jes. 11, 2; Hebr. 4, 10]

So war die Einfalt Jesu Christi unverletzbare Ge­schlossenheit nach unten hin allem gegenüber, was nur „der Menschen“ ist, und einzig lautere Aufgeschlossenheit nach oben hin: „Nicht wie ich will, sondern wie Du willst!“ Nach eben dieser Ein­falt lechzen wir. Nichts kann uns genügen und vergnügen, als nur sie allein. Und Du selbst bist ja die­se Einfalt, Herr Jesus. Sie ist ja das Wesen Deines Wesens, die Seele Deiner Seele. Du erscheinst ja nur in solcher Einfalt, damit wir Zwiespältigen durch sie heil werden. Darum gib Dich mir, Du reine Himmelsgabe! [Mt. 16, 23; Mt. 26, 39]

Mache mich einfältig, innig abgeschieden,
sanfte und im stillen Frieden;
mach mich reines Herzens, dass ich Deine Klarheit
schauen mag in Geist und Wahrheit!
Lass mein Herz überwärts wie ein Adler schweben
und in Dir nur leben!

Gerhard Tersteegen

4. Die Erlangung der Einfalt

Jesu Einfalt war die Frucht seiner Selbstentlee­rung und Selbsterniedrigung. Er gab göttliche Ge­stalt und göttliche Macht preis. Sonnenklar ist es daher, dass auch wir nur durch Selbstentleerung und Selbsterniedrigung zur Erlangung der heiligen Ein­falt kommen können. Jesus gab den Himmel preis – wir müssen die Erde preisgeben. Er legte die himmlische Herrschergewalt ab – wir müssen die irdische ablegen wollen. Ihm war nichts fremder als jenes – uns ist nichts fremder als dieses. Darum war seine Einfalt Gehorsam zum Leiden, der sich vollendete am Kreuz – und darum gelangen auch wir zur Einfalt nur durch Willigkeit zum Leiden, die vor dem Kreuz beginnt. Sein Leben wurde durch Einfalt leidende Selbstaufopferung für Gott uns zum Heil – unser Leben wird durch Einfalt leidende Selbst­aufopferung für Gott, Jesus, dem Bringer der Einfalt, zu Lohn und Ehre. [Phil. 2, 7.8]

Oh, wir wissen es: Nur durch Absage an uns und Abkehr von unserer gottwidrigen Natur mit aller Vielfältigkeit ihres verkehrten Begehrens gelangen wir zur Einfalt der Natur Christi und in ihr zur Einheit mit Gott. Es ist der schmerzensreiche Bruch mit jeder irdischen Wirklichkeit, den wir zu Ende erleben müssen zu unserer ewigen Freude.

O Gott, hab Dank, dass Du uns in der Einfalt Jesu wieder wie die Kinder werden lässt, die ja immer reicher sind, als es die Wirklichkeit dieser Welt ist! Du allein, o Gott, ermöglichst uns den Emp­fang der Einfalt, indem Du uns verdrehte, verkehrte Menschen noch einmal geboren werden lässt, zur Erneuerung aller unserer Sinne in dem einen Himmelssinn der Einfalt Christi, der uns zu Kindern Gottes im Himmelreich macht. Hab Dank, dass Du uns durch die Mitteilung Deiner eigenen Natur von unserer eigenen Natur scheidest! So allein befähigst Du uns zur geistlichen Erfassung einer Wirklichkeit, die kein Auge eines bloß natürlichen Menschen je gesehen und kein Ohr eines Unwiedergeborenen je gehört hat, und um deren Empfanges willen wir allein den Bruch mit jeder irdischen Wirklichkeit zu ertragen und zu vollziehen vermögen. [1. Petr. 1, 3; 2. Petr. 1, 4; 1. Kor. 2, 9.14; Phil. 3, 7.8]

Hab Dank, Herr Jesus, dass Du nicht nur gesagt hast: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“, sondern dass Du auch gesagt hast: „Wer nicht absagt allem, was er hat, kann nicht mein Jünger sein!“ So scheidet uns Dein Mund unerbittlich von dem Fluch und der Last und der Qual und dem Betrug der irdischen Wirklichkeit und Vielheit, die uns hindert, Kind zu sein, und leitet uns zur Einheit der erlösenden Einfalt, die uns in Dir den Himmel bringt. Du stehst vor uns und fragst: Was bin ich Dir wert? Und die Antwort darf nur sein: Hab anbetenden Dank, dass ich, um Dir zuzusagen und um ein Jünger Deiner Einfalt zu werden, absagen darf der zauberisch bunten Sinnenwelt, der heuchlerischen Menschenwelt und der irrseligen Ich-Welt! Alles gebe ich dran um der Erlangung Dei­nes himmlischen Wesens willen! [Lk. 14, 33]

5. Die Verwunderung der Einfalt

Niemand kann aus eigener Erfahrung sagen, wie er in diese Welt der irdischen Vielheit hin­eingekommen ist. So vermag auch niemand den Vor­gang klarzulegen, durch den er in die Welt der himmlischen Einfalt versetzt worden ist. Das ist die stete Verwunderung der heiligen Einfalt. Sie ist da und kann sich doch über ihre Geburt keine vernunftgemäße Rechenschaft geben. Zwar sollte man meinen, einer Seele müsse der Hergang ihrer Wiedergeburt begreiflich geworden sein. Aber nein, sie vermag die zweite Geburt ebenso wenig zu beschreiben wie die erste. Ein Bekehrungs- und Bußerlebnis kann man wiedergeben, aber nicht die Geburtsgeschichte der Einfalt in unserem Herzen. Der Empfang der Einfalt ist der allerinnerlichste Vorgang, den ein Mensch zu erleben vermag. Er bedeutet den ausgesprochensten Gegensatz zu unserer angeborenen Natur und erworbenen Kultur. In die Vielheit der Erscheinungen und Gedanken hineingeboren, wollen wir auch ganz von ihnen leben. Nichts ist uns natürlicher als Gegensatz und Zweifel und, als wechselvoller Gegensatz zum Zwei­fel, ein unbändiger Glaube an vielerlei. Nun aber findest du eines Tages sowohl Zweifel wie Viel­gläubigkeit wie ausgerottet aus deinem Herzen, und die weiße Himmelspflanze der Einfalt blüht in dir. Gestern Nacht bist du unter der unerträglich gewordenen Last deines inneren Zwiespalts Gott anrufend zu Boden gesunken. Am Morgen endete dein Seelengewitter in der Stille der himmlischen Einfalt, deren Innewohnung du vielleicht urplötzlich entdecktest. Das Wunder ist entdeckt, aber nie in diesem Leben wird es vernunftgemäß erklärt.

Oder du hast monate-, ja jahrelang gegen das dir zugemutete „Einfältigwerden“ gerungen. Es bedeutete dir platte, unannehmbare Dummheit, Ver­lust aller persönlichen Kultur, ja unheimliche Ge­wiss­heit, dass du dich dabei selbst verlieren müsstest. Aber wunderbar! Allmählich verschob sich das Kampf­spiel deiner Gefühle und Gedanken, dein Wi­der­wille gegen die Einfalt wurde zum Verlangen nach Einfalt, deine Zweifel wendeten sich gegen deine Zweifel. Und schließlich nach vielen Tagen fand sich deine Seele mit der einst so gehassten himmlischen Einfalt verlobt. Wie das zuging, wie das kam, kannst du weder dir noch anderen erklären. Du weißt nur, dass deine Seele ihr ureigenstes, notwendigstes, heilsamstes und seligstes Er­lebnis gemacht hat. Und dieses Erlebnis bleibt das Wunder, durch das du nun jedes andere Heils­wunder Gottes eben in Einfalt zu fassen vermagst.

6. Die Tätigkeit der Einfalt

Die Verwunderung der Einfalt wird eine sich immer himmlischer und herrlicher steigernde, aber die Tätigkeit der heiligen Einfalt ist dabei immer die gleiche. Worin besteht denn die Tätigkeit der himmlischen Einfalt? Sie glaubt! Der Besitz der Ein­falt ist der Besitz der Fähigkeit, zu glauben. Alle gottgeschenkte Einfalt ist Glaubenseinfalt. Was für ein Gut! Welch unvergleichliches Vermögen! Welt­weise bestaunen es als das Unbegreiflichste mit geheimem Neid. Gewaltige stehen davor still mit innerlich besiegtem Stolz. Reiche gäben ihre Schätze dafür hin, könnten sie es kaufen. Friedlose quälen sich um den Besitz dieses Gutes mit fieberndem Herzen und Haupt. Sterbende seufzen danach mit brechendem Auge.

Wie reich sind wir! Kaum ist die himmlische Einfalt in uns geboren, und schon schlägt ihr Herz in unserem Herzen: Wir vermögen zu glauben! Die Einfalt in uns lebt, denn sie glaubt. Zwar schreit sie aus Himmelskräften nach dem vollen Sieg ihres Lebens, aber ihr Notschrei ist ihr Machtschrei: Denn sie glaubt an ihren höchsten Sieg. Ach, die Einfalt kann ja nichts anderes als glauben! Glauben ist ihr Wesen, ihre einzige Fähigkeit und Tätigkeit, ihre Würde, ihr Lohn! Glauben ist ihre ganze Weisheit, ihr einziger Reichtum, ihre Macht, ihre stete Tapferkeit, ihr endloser Sieg, ihre Unsterblichkeit! Glauben ist ihre ewige Freude!

Die Einfalt glaubt an Gott, ihren Ursprung. Sie ist ja das unmittelbarste Zeugnis und Wissen von Gott. Er ist ihre unverlierbare Gewissheit und darum ihr ewiges Gewissen. Sie bedarf nie eines Gottesbeweises! Sie ist sich selbst Beweis. Und sie allein kennt Gott, denn ihr allein hat sich Gott geoffenbart. O seliges Einfaltsauge der Unmündigen, das den sieht, der den Weisen und Klugen verborgen bleibt! „Ja, Vater, denn so ist es wohlgefällig gewesen vor Dir!“ Ja, Vater, im von Dir geöffneten Einfaltsauge spiegelt sich Deine Wesenseinheit wider: Im Einfaltsauge schaust Du Dich selbst an. Das finstre Schalksauge der Menschenklugheit aber sieht Dich nicht, weil Du ihm Dein Licht, die Helle und Klarheit Deines Wesens vorenthältst! [Mt. 11, 25.26]

Und die Einfalt glaubt an den Urheber und Voll­ender des Glaubens, den eingeborenen Gottes­sohn Jesus Christus, den Bringer ihres himmlischen Lebens. Sie ist ja Wesen von Christi Wesen und Geist von Christi Geist. Sie ist in ihm und er in ihr. Sie kann nichts ohne ihn tun und er nichts ohne sie. Denn wo er nicht ist, da kann sie nicht sein, und wo sie nicht ist, da kann er weder wohnen noch wirken. Sie allein kennt den Gesalbten und Gesandten Gottes, denn ihr allein hat sich der Sohn geoffenbart. Sie allein sieht seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. Ihr allein leuchtet die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi. Sie allein beschaut und betastet das Wort des Lebens im Fleisch gewordenen Wort als Abglanz der Herrlichkeit Gottes und Ausprägung des Wesens Gottes: Christus, der das All trägt mit dem Wort seiner Kraft. Und sie, nur sie allein, sieht das Lamm Gottes, das der Welt Sünde hinwegnimmt, weil es sein Leben gibt zum Lösegeld für viele. Denn allein der gottgeschenkten Einfalt ist das Wort vom Kreuz kein Ärgernis und keine Torheit, sondern Gotteskraft zur Errettung töricht Glaubender und zur Beschämung der Wei­sen, die verloren gehen in dem Gewirr der Man­nig­faltigkeit ihrer Klugheit und List. Sie allein sucht den Lebendigen nicht bei den Toten. Ihr, die dem Grab der Zweifel entstieg, ist die Auferstehung ihres Lebensfürsten und Hirten, den der Gott des Friedens von den Toten heraufführte, allerunmittelbarste Gewissheit. Ihr Leben ist ja Leben von seinem Auferstehungsleben, ihre Kraft die Kraft Gottes in Christi Auferweckung. Wie könnte das Leben, das den Tod getötet hat, an sich selbst zweifeln? Wahrlich, nur die gottgeschenkte Einfalt, die nichts als glauben kann, vermag allezeit siegesgewiss zu jubeln: „Christus lebt, mit ihm auch ich“. Ich glückseliges Kind, das an seinem grabentstiegenen Leben teilhaben darf! Die Einfalt allein sieht Jesus zum Himmel auffahren und weiß ihn sitzen zur Rechten der Majestät in der Höhe als Hohenpriester in Kraft unauflöslichen Lebens, der allezeit für sie eintritt und zu dem sie allezeit Zutritt hat in voller Gewissheit des Glaubens. Sie allein bewahrt auch unbeugsam das Bekenntnis der Hoffnung, dass Christus wiederkommt in Herrlichkeit, um die Seinen zur Herrlichkeit zu erheben, über seine Feinde zu siegen und sein Friedensreich aufzurichten. Und allein die Einfältigen werden ausharren bis ans Ende und werden Kraft empfangen, um vor dem Menschensohn zu stehen. [ Hebr. 12, 2; Mt. 11, 27; 1. Kor. 1, 26-29; Joh. 1, 14; 2. Kor. 4, 6; 1. Joh. 1, 1.2; Hebr. 1, 3; Mt. 20, 28; 1. Kor. 1, 18; Lk. 21, 36; Lk. 24, 5; Hebr. 13, 20; Eph. 1, 18-20; Hebr. 1, 3; Hebr. 7, 16.25; 10, 22.23]

Dass aber die Tätigkeit der himmlischen Einfalt auch ganz Glaube an den Heiligen Geist ist, liegt ebenso in ihrer Natur. Er hat sie ja vom Himmel herab auf die Erde getragen. Er nahm von der Ein­falt Christi und gab meinem Herzen davon so wundersam zart, so selig geheim, dass ich des göttlichen Abgesandten erst gewahr wurde, nachdem er seine Sache schon getan hatte. Nie hätte ich ihn wahrnehmen können, wenn er mir nicht zuvor die Einfalt ins Herz gelegt hätte. Er ist ja ihr Puls, ihr Herzschlag, ihr immer gegenwärtiger geheimer Führer und aus der Verborgenheit flüs­ternder göttlicher Berater. Unausgesetzt zeugt er von Jesus in mir, nie aber redet er von sich. Er ist der unbeschreiblich achtsame Hüter der Einfalt in mir. In unvergleichlicher Zartheit warnt er, wenn ihr Gefahr droht, wenn die Schlange, die mit ihrer Arglist Eva betrog, irgendwie meinen Einfaltssinn Christus gegenüber verderben möchte. Mit welchem unnennbaren Weh erfüllt er meine Seele, wenn ich sein heiliges Warnen missachtet und ihn betrübt habe. Und mit welch freundlicher Milde führt er mich zur Reinheit der Einfalt wieder zurück, wenn ich mich seiner göttlichen Leitung wieder überlasse, um die Glaubenstätigkeit durch sie in mir wieder fruchtbar fortzusetzen! [2. Kor. 11, 3; Eph. 4, 30]

Durch ihn glaubt meine Einfalt auch an eine heilige christliche Gemeinde von Einfältigen auf Erden, Genossen des gleichen Lebens, Wissende desselben Wunders, Eigentümer jenes Gutes, Träger eben­desselben Geistes, Betätiger des gleichen kostbaren Glaubens, als Leib Christi eins in der einen Einfalt über alle hinfällige irdische Vielheit und Mannig­faltigkeit hinaus. Oh, wie eins weiß sich meine Einfalt, Gefährten der himmlischen Be­ru­fung, mit der euren inmitten des satanischen Zwie­spaltes der irren und wirren Menschheit von heute! Unser aller eine Einfaltstätigkeit bleibe der eine Glaube!