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Johannes Bähr, Christopher Kopper

MUNICH RE

Die Geschichte der Münchener Rück
1880–1980

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

„Die Rückversicherung muss ihrer Natur nach international sein“, lautet eine bekannte Einsicht Carl von Thiemes, des Mitgründers und langjährigen Generaldirektors der Münchener Rück. So war es kein Zufall, dass das Unternehmen schon bald nach seiner Gründung im Jahr 1880 zum Weltmarktführer aufstieg und sich auch in der Folgezeit in gelegentlichem Wechsel mit der Schweizer Rück an der Spitze behaupten konnte. Gleichwohl ist in der breiten Öffentlichkeit wenig über das seit 2009 als „Munich Re“ auftretende Unternehmen bekannt. Johannes Bähr und Christopher Kopper legen nun die erste Geschichte des Rückversicherers vor, die von den Anfängen bis in die 1980er Jahre reicht.

Nur wenige Unternehmen sind derart rasch zum Weltmarktführer aufgestiegen wie die Münchener Rück, und den allerwenigsten ist es gelungen, sich derart lange an der Spitze des Weltmarkts zu behaupten. Anhand ihrer Geschichte lässt sich zeigen, wie Versicherer auf Großkatastrophen und technologische Umwälzungen reagierten. Ohne Teilung der Risiken mit den Rückversicherern hätten zahllose Erstversicherer die wirtschaftlichen Folgen großer Naturkatastrophen nicht überlebt und wären durch die Last ihrer Zahlungsverpflichtungen in den Konkurs gezwungen worden. Somit haben die Rückversicherer die Abdeckung bestimmter Risiken überhaupt erst möglich gemacht. Doch hat die Münchener Rück auch immer wieder selbst zur Einführung neuer Versicherungszweige beigetragen, wie etwa im Fall der Maschinenversicherung oder bei der Lebensversicherung gegen erhöhte Risiken. So ist die Geschichte dieses Pioniers der Globalisierung zugleich eine Geschichte des Umgangs mit Risiken und des Managements der Risikoverteilung. Es ist aber nicht zuletzt auch die Geschichte eines deutschen Unternehmens, das von der nationalsozialistischen Diktatur profitiert hat und nach beiden Weltkriegen wieder mühsam auf den Weltmarkt zurückfinden musste.

Über die Autoren

Johannes Bähr ist apl. Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Christopher Kopper ist apl. Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Bielefeld.

Inhalt

  1. Einleitung

Teil I: Aufstieg, Bewährungsproben und Rückschläge (1880–1932)

(Johannes Bähr)

  2. Die Anfänge der Rückversicherung: Der lange Weg zur Gleichstellung

  3. Gründung und Anfänge der Münchener Rück

Carl Thieme und die Gründung der Münchener Rück

Der Aufstieg als Rückversicherer neuen Typs

«Die Gründung eines Unfallunternehmens neben unserer Rückversicherungs-Gesellschaft»: Wie die Allianz Versicherungs-AG entstand

  4. Die Eroberung des Weltmarkts und das Erdbeben von San Francisco

Geschäfte und Beteiligungen in Russland, Großbritannien und den USA

Das Erdbeben von San Francisco und andere Großschäden

  5. Die Münchener Rück vor dem Ersten Weltkrieg

Mitarbeiter und Vorstand

Geschäftsentwicklung, Beteiligungen und neue Versicherungszweige

  6. Der Erste Weltkrieg und die Neuordnung des Weltmarkts

  7. Vom Weltmarkt verbannt: Der Konzernausbau in Mitteleuropa während der Inflationszeit

  8. «Die Versicherung hat ihre eigene Konjunktur»: Die Münchener Rück in der Großen Weltwirtschaftskrise

Teil II: Die Münchener Rück während der nationalsozialistischen Herrschaft (1933–1945)

(Christopher Kopper [Kap. 9./10.], Johannes Bähr [Kap. 11./12.])

  9. Die nationalsozialistische Machtübernahme und die Münchener Rück: Geschäftsentwicklung, politische Verbindungen und das Leitungspersonal

10. Die Münchener Rück in der Wirtschaft des Dritten Reiches: Geschäftspolitik, Devisenbewirtschaftung und die Beteiligung an der Rüstungsfinanzierung

11. Auslandsgeschäft, Auslandsbeteiligungen und Kriegserwartung

Die Beziehungen zur Schweizer Rück unter den Bedingungen der Devisenbewirtschaftung

Der Phönix-Skandal und seine Folgen

Tarnungen und Kriegserwartung

12. Besatzungsherrschaft und Kriegswirtschaft: Die Münchener Rück im Europa des Dritten Reiches

«Verständige Zusammenarbeit»? Das Engagement in Wien, Prag und Südosteuropa

Die Konzerngesellschaften im besetzten Polen

Die Tochtergesellschaften im Westen und die Vereinigung zur Deckung von Großrisiken

Drehscheibe des Tarngeschäfts und Fenster zur Welt: Die Union Rück in Zürich

Teil III: Zurück an die Spitze des Weltmarkts (1945–1980)

(Christopher Kopper)

13. Der Neubeginn unter amerikanischer Besatzung: Kriegsfolgen und Entnazifizierung

14. Der Weg zurück in den internationalen Rückversicherungsmarkt

15. Wiederaufbau der Kapitalbasis: Die Münchener Rück und die Folgen der Währungsreform

16. Neue Herausforderungen im internationalen Rückversicherungsgeschäft

17. Kontinuität und Wandel in der «Ära Alzheimer» (1950–1968)

18. Die fortschreitende Globalisierung des Rückversicherungsgeschäfts

19. Die Krisen der 1970er Jahre und die Herausforderungen des modernen Risikomanagements

20. Fazit

Anhang

Anmerkungen

Verzeichnis der Tabellen und Grafiken, Bildnachweis

Abkürzungsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Personenregister

Unternehmensregister

1.   Einleitung

Sie haben seit über 100 Jahren eine große Bedeutung für das Versicherungsgeschäft, sind aber weniger bekannt als die großen Universalversicherer. Die Rede ist von den Rückversicherungsgesellschaften. Die 1880 gegründete Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft AG (Münchener Rück) war bis 1914, während der 1930er Jahre und seit den späten 1960ern das größte Rückversicherungsunternehmen der Welt, doch nahm die breite Öffentlichkeit selten von ihr Notiz. Dies lag zum einen an der zurückhaltenden Presse- und Öffentlichkeitsarbeit dieses Unternehmens, das sich über ein Jahrhundert lang auf die Mitteilung seiner Bilanzzahlen beschränkte. Zum anderen liegt der geringe Bekanntheitsgrad in der Natur dieses Geschäfts begründet: Rückversicherer schließen nur mit Versicherungsgesellschaften, den Erstversicherern, und Versicherungsmaklern Verträge ab. Im Unterschied zu den Erstversicherern treten sie nicht durch Massenwerbung und ein sichtbares Vertriebsnetz öffentlich in Erscheinung. Nur vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass die Münchener Rück sich auch im Umgang mit ihrer eigenen, bedeutenden Geschichte bedeckt gehalten hat. Mit diesem Buch erscheint nun, 135 Jahre nach der Gründung, erstmals eine umfassende Unternehmensgeschichte der Münchener Rück, die seit 2009 weltweit als Munich Re auftritt.

Wenig bekannt ist auch die wirtschaftliche Funktion der Rückversicherer. Ohne Teilung der Risiken mit den Rückversicherern hätten zahllose Erstversicherer die wirtschaftlichen Folgen von Naturkatastrophen wie Erdbeben und Hurrikanen nicht überlebt und wären durch die Last ihrer Zahlungsverpflichtungen in den Konkurs gezwungen worden. Die Rückversicherung gegen katastrophale Schadensereignisse ermöglichte in vielen Staaten die Konzentration hoher Werte – in Form von Wohn- und Wirtschaftsgebäuden, Maschinen und Infrastruktur – in Regionen, die in regelmäßiger, aber unberechenbarer Folge von Naturkatastrophen heimgesucht werden. Auch auf weniger spektakulären Geschäftsfeldern wie der Feuerversicherung und der Kfz-Versicherung glätteten die Rückversicherer den Schadensverlauf der Erstversicherer und erleichterten die Kalkulation von Versicherungsprämien. Dieses Buch wird auch der Frage nachgehen, ob und wie Rückversicherer die Versicherung bestimmter Risiken erst möglich gemacht haben.

Dies bedeutet nicht, dass die Existenz eigenständiger Rückversicherungsgesellschaften funktional zwingend und damit alternativlos war. In Großbritannien und in den USA wurde die Aufgabe der Risikoteilung nicht primär durch Rückversicherer, sondern durch die Kooperation zwischen Erstversicherern in Form von Mitversicherungsverträgen und Versicherungssyndikaten erfüllt. Das Versicherungssyndikat Lloyd’s in London ist das bekannteste Beispiel dafür. Gleichzeitig bestand wegen des Informationsgefälles zwischen dem Erstversicherer und dem Rückversicherer die latente Gefahr einer Verlagerung schlechter Risiken auf den Rückversicherer. Daher soll die Studie erkunden, mit welchen Mitteln die Münchener Rück dieses Informationsdefizit reduzierte und durch das Instrument der Vertragsgestaltung einen einseitigen Risikotransfer zu ihren Lasten auszuschließen versuchte. Sie soll untersuchen, wie sich das Verhältnis zwischen den Rückversicherern und den Erstversicherern durch Verschiebungen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, neue Techniken der Risikobewertung und neue Formen der Zusammenarbeit veränderte.

Ein besonderes Augenmerk erhält die Evolution der wissenschaftlichen Risikobewertung. Während die Bewertung von Versicherungsrisiken bis in die 1960er Jahre auf Erfahrungswissen basierte und die Risiken mit vergleichsweise einfachen statistischen (aktuarischen) Methoden quantifiziert wurden, ging die Münchener Rück früher als viele Konkurrenten zu einer vorausschauenden und wissenschaftlich fundierten Risikobewertung über. Sie stellte vor allem die Bewertung von Georisiken wie Erdbeben und Stürmen auf naturwissenschaftlich fundierte Grundlagen und führte in den 1970er Jahren in der Sachversicherung mathematische Modelle zur Risikoberechnung ein.

Aus verschiedenen Gründen eignet sich kaum eine Rückversicherungsgesellschaft besser für eine Langzeitstudie als die Münchener Rück. Die Münchener Rück gründete 1890 die Allianz Versicherung und ermöglichte dieser durch eine hohe Rückversicherungsquote den Aufstieg zum weitaus größten Erstversicherer Deutschlands. Doch blieb das Verhältnis zwischen beiden keinesfalls statisch. Ihre zunehmende Größe und Kapitalstärke erlaubten der Allianz, das Verhältnis zur Münchener Rück neu zu justieren und einen geringeren Teil ihres Geschäfts in Rückdeckung zu geben. Doch auch weiterhin generierte die Münchener Rück durch die enge Bindung des größten deutschen Erstversicherers ein erhebliches Prämienvolumen, das ihr Wachstum begünstigte. Die enge Kooperation zwischen Münchener Rück und Allianz wurde in idealtypischer Weise durch einen Gemeinschaftsvertrag geregelt und auch durch eine gegenseitige Kapitalverflechtung (Überkreuzverflechtung) hergestellt. Durch die Vertretung im Aufsichtsrat des jeweils anderen Versicherers war eine enge personelle Verflechtung gegeben, die bis zur Auflösung des Gemeinschaftsvertrags im Jahr 2003 Bestand hatte.

Am Beispiel der gemeinsamen Tochtergesellschaften mit der Allianz und der eigenständigen Kapitalbeteiligungen bei Erstversicherern geht dieses Buch der Frage nach, mit welchen Mitteln sich die Münchener Rück ihre langfristigen Kundenbindungen sicherte. Neben ihrer Kapitalausstattung, ihren gut dotierten Rückstellungen und ihrem Renommee als kompetenter und leistungsfähiger Versicherer dienten ihre Kapitalbeteiligungen an Erstversicherern als ein Instrument der Kundenbindung, das eine systematische Untersuchung verdient. In diesem Zusammenhang widmet sich die Studie der Frage, ob die Münchener Rück als (Mit-)Eigentümer anderer Unternehmen eine Strategie der kurzfristigen Renditesteigerung verfolgte oder sich als idealtypischer Aktionär in der Wirtschaftsordnung des «Rheinischen Kapitalismus» (Michel Albert) auf eine längerfristige Eigentümerstrategie konzentrierte.

Rückversicherer unterschieden sich von Erstversicherern schon frühzeitig durch den sehr viel höheren Anteil des Auslandsgeschäfts. Die räumliche Streuung des Rückversicherungsgeschäfts über mehr als einen Kontinent war nicht primär der Tatsache geschuldet, dass auch ein großer nationaler Versicherungsmarkt wie Deutschland für eine expansive Unternehmensstrategie schnell zu klein wurde. Die transkontinentale räumliche Streuung der versicherten Risiken diente vor allem als Mittel des regionalen Risikoausgleichs und als Schutz gegen eine mögliche räumliche Kumulation von Risiken. Die Hindernisse für eine Internationalisierung waren niedrig. Im Unterschied zur Erstversicherungsbranche benötigte ein Rückversicherer für die Geschäftsaufnahme im Ausland keine Zulassung durch die nationale Versicherungsaufsicht und kein kostenaufwändiges Vertriebsnetz. Der Münchener Rück gelang so schon vor 1900 die Ausdehnung ihres Geschäfts von Kontinentaleuropa (v.a. dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn) über den Atlantik nach Nordamerika, dem größten Wachstumsmarkt dieser Zeit.

Durch das große Erdbeben von San Francisco (1906) wurde die Münchener Rück zum ersten Mal mit Großrisiken konfrontiert, die in ihrem europäischen Geschäft nicht existierten. Die Geschichte der Münchener Rück ist daher eine fast idealtypische Geschichte der Globalisierung bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs (1914), der die erzwungene Desintegration des Weltmarkts folgte. Mit der militärischen Expansion des Dritten Reichs übernahm die Münchener Rück die Vorherrschaft über die europäische Rückversicherungsbranche, die mit der Beschlagnahme ihres gesamten Auslandsvermögens und einem Verbot des Auslandsgeschäfts endete. In den 1950er Jahren betrieb die Münchener Rück erfolgreich die Re-Internationalisierung, die wegen der zunehmenden Bedeutung des asiatischen und des nordamerikanischen Marktes zu Recht auch Globalisierung genannt werden kann. Bis zum Ende der 1970er Jahre hatte die Münchener Rück mit Versicherern in fast allen Ländern der Welt Geschäftsbeziehungen etabliert. Die Internationalisierung des Rückversicherungsgeschäfts zwang das Unternehmen schon frühzeitig, die Grenzen des Versicherbaren zu verschieben. Während die Münchener Rück Erdbeben- und Überschwemmungsschäden zunächst als unkalkulierbare und daher nicht versicherbare Risiken behandelt hatte, musste sie sich nach ihrem Markteintritt in den USA und in Japan den Usancen der dortigen Versicherungsmärkte anpassen und diese Risiken rückversichern. Dies erwies sich als ein Motor für die wissenschaftliche Erfassung und Bewertung von Risiken.

Der Erste und der Zweite Weltkrieg führten zum Verlust eines erheblichen Teils oder sogar des gesamten Auslandsvermögens und warfen die Münchener Rück auf das Gebiet des Deutschen Reiches, seiner Verbündeten und der neutralen Staaten zurück. Der politische Regimewechsel von der Weimarer Republik zur nationalsozialistischen Herrschaft war mit dem Übergang zu einer rigiden Autarkiepolitik verbunden. Das umfangreiche Kapitel zur Münchener Rück während des Nationalsozialismus beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, inwieweit die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik die Handlungsmöglichkeiten im internationalen Rückversicherungsgeschäft einschränkte und die Versicherer mit Plänen zur Verstaatlichung der Versicherungsbranche konfrontierte. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie die Münchener Rück zwischen der widerstreitenden Politik der konkurrierenden Akteure im NS-Regime agierte und wie der Primat der Rüstungs- und Kriegsfinanzierung ihre investiven Handlungsmöglichkeiten verengte. Damit ist auch die Frage verbunden, wie die Führung der Münchener Rück die Chancen und Risiken der nationalsozialistischen Politik wahrnahm und mit welchen Mitteln – auch auf der symbolischen Ebene – sie die Beziehungen zur politischen Elite gestaltete.

Zu den spezifischen Risiken unternehmerischen Handelns im Nationalsozialismus gehörte auch die Herausforderung durch die rassistische Politik des Regimes, vor allem die schrittweise Enteignung jüdischen Eigentums. In diesem Zusammenhang wird die Frage untersucht, ob die Münchener Rück die damit verbundenen Geschäftsmöglichkeiten wie die Notverkäufe von Lebensversicherungspolicen und Immobilien aus jüdischem Besitz bewusst zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzte, auch wenn sie unter normalen Verhältnissen als moralisch problematisch, sittenwidrig und schädlich für die Reputation des Unternehmens angesehen worden wären. Eine ähnliche Herausforderung ergab sich im Zuge der deutschen Besetzung in Westeuropa und Ostmitteleuropa durch ein stark asymmetrisches Machtverhältnis zugunsten der deutschen Unternehmen.

Neben den von ihr versicherten Risiken und den Risiken von Krieg und Diktatur wurde die Münchener Rück auch mit makroökonomischen Risiken konfrontiert. Zu den bedeutenden und von der bisherigen Forschung noch wenig untersuchten makroökonomischen Schocks für die Versicherungsbranche gehört die Hyperinflation von 1923, die mit der vollständigen Entwertung des Geldvermögens endete. Die Folgen der 1929 beginnenden Weltwirtschaftskrise sind für die (Rück-)Versicherer noch wenig erforscht, ebenso welche Auswirkungen der zwischen 1971 und 1973 eingetretene Zerfall des Systems fester Wechselkurse (Bretton-Woods-System) hatte. Dieses Buch soll klären, mit welchen Strategien sich die Münchener Rück gegen externe Schocks wie Inflation, Einschränkungen des Geld- und Kapitalverkehrs und Währungsschwankungen abzusichern versuchte. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Anlagestrategie des Unternehmens, das in Deflationskrisen auf die Anlage in festverzinslichen Wertpapieren setzte und Zahlungsverpflichtungen in schwankenden Fremdwährungen durch Geldanlagen in den gleichen Währungen abdeckte.

Diese Studie stützt sich aufgrund der noch wenig entwickelten Forschung zur Geschichte der Rückversicherer überwiegend auf eigene Aktenstudien im Historischen Archiv von Munich Re. Ergänzend wurden Akten des Archivs der ERGO Versicherungsgruppe AG, der Swiss Re Company Archives und staatlicher Archive ausgewertet. Das vorliegende Buch ist die bislang ausführlichste Veröffentlichung zur Unternehmensgeschichte einer Rückversicherungsgesellschaft. Frühere Studien konzentrierten sich auf die Versicherungstechnik und die Versicherungsmärkte, verfolgten aber nur ansatzweise eine historische Fragestellung. Dies gilt auch für die mehrbändige unveröffentlichte Dokumentation, die Martin Herzog in den 1980er Jahren zur Geschichte der Münchener Rück verfasste. Ihr konnten die Autoren dieses Buchs eine Fülle von Informationen entnehmen. Die 2014 erschienene Studie zur Geschichte der Swiss Re gab einige wichtige Hinweise auf die lange Beziehungsgeschichte zwischen den beiden größten Wettbewerbern im weltweiten Rückversicherungsgeschäft und vermittelte methodische Anregungen zur Geschichte des Risikos. Für die Geschichte des Versicherungswesens und der staatlichen Versicherungspolitik im Nationalsozialismus ist Gerald D. Feldmans umfassende Geschichte der Allianz aus dem Jahr 2001 weiterhin grundlegend und beispielhaft.

Die Quellenlage zur Geschichte der Münchener Rück ist nicht unproblematisch. Ein Teil der Akten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wurde im Winter 1946/47 vernichtet, als das Hauptgebäude der Münchener Rück in der Königinstraße 107 von der amerikanischen Militärregierung beschlagnahmt war und der Dachboden geräumt werden musste. Nachdem der ehemalige Allianz-Vorstand Herzog Ende der 1970er Jahre sein umfangreiches Manuskript zur Geschichte der Münchener Rück vollendet hatte, hielt der Vorstand die Erforschung der Unternehmensgeschichte für abgeschlossen und ließ den größeren Teil der historischen Akten vernichten. Der Aufbau eines Unternehmensarchivs, verbunden mit der Erfassung jüngerer Akten, erfolgte erst nach dem Jahr 2000.

Dieses Buch beginnt 1880 mit der Gründung der Münchener Rück und endet mit ihrer Hundertjahrfeier im Jahr 1980. Die Geschichte der Restrukturierung in den 1990er Jahren hätte nicht auf der Grundlage von Unternehmensakten und mit der nötigen zeitlichen Distanz geschrieben werden können.

Die Autoren danken für die vielfältige Unterstützung, die sie bei der Arbeit an dieser Stelle erfahren durften. Besonderer Dank gilt dem langjährigen Leiter des Historischen Archivs von Munich Re, Lic. Phil. Zoran Andric, der das Projekt mit angestoßen und von Anfang an begleitet hat. Markus Holmer, M. A., dem Leiter des ERGO-Archivs, gebührt Dank für seine Kooperation und wichtige Hinweise. Eine wertvolle Hilfe waren die ergänzenden Archivrecherchen, die Ramona Bräu, M. A., und Mathias Irlinger, M. A., im In- und Ausland durchgeführt haben. Dr. Sebastian Ullrich und seinem Team danken die Verfasser für die engagierte Betreuung des Bandes vom Manuskripteingang bis zur Drucklegung und für die stets anregende Zusammenarbeit.

Teil I:
Aufstieg, Bewährungsproben und Rückschläge (1880–1932)

2.   Die Anfänge der Rückversicherung:
Der lange Weg zur Gleichstellung

Versicherungen sind bekanntlich keine Erfindung der Moderne. Schon im Altertum gab es Verträge zur Vorsorge für Notlagen und auch zur Absicherung gegen Risiken der Seefahrt. Zumeist geschah dies durch die Vergabe von Darlehen, die im Schadensfall nicht zurückgezahlt werden mussten.[1] Erst sehr viel später, im Italien des 14. Jahrhunderts, kamen Prämienversicherungsverträge auf. Sie bildeten die Voraussetzung für die Entstehung des Rückversicherungsprinzips, bei dem ein Versicherer einen Teil des übernommenen Versicherungsrisikos an einen anderen Versicherer abgibt und diesen entsprechend an der Prämie beteiligt. Der erste bekannte Rückversicherungsvertrag wurde am 12. Juli 1370 in Genua abgeschlossen, für die Fracht eines Schiffs, das von dort aus nach Brügge fuhr.[2] Da es noch keine Versicherungsgesellschaften gab, waren die Vertragsparteien einzelne Kaufleute und Schiffseigentümer. Im Genueser Rückversicherungsvertrag von 1370 behielt der Kaufmann Guilano Grillo das Risiko für die Schiffspassage durch das Mittelmeer und trat das Risiko für die weitere Fahrt ab Cádiz an die beiden ersten Rückversicherer, die Kaufleute Goffredo Benaira und Martino Sacco, ab. Derartige Verträge lassen sich in den folgenden Jahrhunderten nur auf dem Gebiet der Seeversicherung feststellen, die gewissermaßen den Ausgangspunkt der Rückversicherung bildete. Rückversicherungen waren auch hier allerdings nicht die Regel. Das Risiko wurde meist in Form einer Mitversicherung geteilt, indem der Versicherer andere Kaufleute – oft in großer Zahl – als weitere Erstversicherer in den Vertrag mit dem Kunden aufnahm.[3] Rückversicherungen wurden fast nur dann vereinbart, wenn ein Versicherer mit dem Eintritt des Schadensfalls rechnete oder den Vertragsabschluss nachträglich aus anderen Gründen bereute.[4]

Damit wird ein Grundproblem deutlich, das sich bei der Rückversicherung lange Zeit stellte und das erklärt, warum nach dem Genueser Vertrag von 1370 noch rund 500 Jahre vergehen sollten, bis diese Versicherungsform fest etabliert war. Keine andere Versicherungssparte hatte eine derart lange und schwierige Anlaufzeit. Durch den spezifischen Charakter der Rückversicherung als einer Versicherung für Versicherer ging die Initiative hier stets vom Erstversicherer (Zedent) aus. Dieser hatte zumeist einen Informationsvorsprung gegenüber dem Rückversicherer (Zessionär), weil er ja den Kunden kannte bzw. dessen Ware oder die Umstände des Transports. Der Rückversicherer ging also das größere Wagnis ein, was ihm durch eine ansehnliche Prämie vergütet wurde.

So kam es häufig vor, dass ein Kaufmann, der die Fracht eines Schiffs versichert hatte, dieses Risiko in Rückdeckung gab, wenn er keine Nachricht über einen planmäßigen Verlauf der Fahrt erhalten hatte. Noch größer war die Bereitschaft dazu, wenn der Erstversicherer erfahren hatte, dass in dem betreffenden Gebiet Stürme aufkamen oder Piraten gesichtet worden waren. In solchen Fällen übernahm der Rückversicherer ein schlechtes Risiko. Bereits im Genueser Vertrag war das Risiko sehr ungleich verteilt. Der Erstversicherer behielt sich die Passage durch das Mittelmeer vor und gab den gefährlicheren Teil der Überfahrt, die Strecke durch den Atlantik, in Rückdeckung. Um ein schlechtes oder auch gar nicht bekanntes Risiko wegen der Aussicht auf eine Prämie zu übernehmen, bedurfte es einer gewissen Waghalsigkeit. So war es nicht verwunderlich, dass die Rückversicherung Spekulanten und Hasardeure anzog. Daran änderte sich nur wenig, als sich der Schwerpunkt des europäischen Seehandels – und damit auch der Seeversicherung – von Genua und Venedig in die Niederlande und nach Großbritannien verschob.

Bis ins 18. Jahrhundert hinein waren Versicherungsverträge generell nur im Handel, besonders im Seehandel, verbreitet. Im Allgemeinen verließen sich die Menschen darauf, dass ihnen in Notfällen solidarische Hilfe von Angehörigen und karitative Unterstützung durch kirchliche Einrichtungen zuteil wurde. In der Zeit der Reformation bildeten sich im deutschsprachigen Raum die ersten Brandgilden, ländliche Genossenschaften, deren Mitglieder sich im Schadensfall gegenseitig unterstützten. Brände wurden nun nicht mehr als Strafe Gottes – und damit als unkalkulierbare Gefahr – angesehen, sondern als ein beeinflussbares Risiko.[5] Der Rückversicherungsgedanke war hier nicht relevant, da diese Form der Absicherung nicht auf Vertragsbeziehungen beruhte. Auch die ersten deutschen Versicherungsgesellschaften, die im Zeitalter der Aufklärung entstanden, kamen ohne Rückversicherung aus. Bei diesen Unternehmen handelte es sich um öffentlich-rechtliche Feuerkassen, die von Städten oder Landesherrn errichtet wurden, wie die 1676 gegründete Hamburger Feuerkasse – das nach eigenen Angaben älteste Versicherungsunternehmen der Welt – und die 1718 entstandene Feuersozietät Berlin, die spätere Berlin-Brandenburgische Feuersozietät.[6] Teure Schadensfälle brauchten diese Gebäudefeuerversicherungen nicht fürchten, da sie bei ihren kommunalen bzw. staatlichen Trägern einen sicheren Rückhalt hatten. Aber auch die privatwirtschaftlichen Feuerversicherungen, von denen die ersten in England nach dem Londoner Großbrand von 1666 als Aktiengesellschaften oder als Gesellschaften auf Gegenseitigkeit entstanden, gingen keine Rückversicherungsverträge ein. Sie sicherten sich ab, indem sie das Risiko klassifizierten und die Höhe der Prämie danach ausrichteten.[7]

Mit dem Aufschwung des Überseehandels nahm in Großbritannien auch die Bedeutung der Schiffs- und Transportversicherungen zu. Fast alle internationalen Versicherungsgeschäfte wurden in London abgewickelt, besonders in dem 1688 erstmals erwähnten Kaffeehaus von Edward Lloyd, wo sich Schiffseigentümer und vermögende Kaufleute (notes) trafen, um Versicherungsverträge auszuhandeln und in Form einer Mitversicherung abzuschließen.[8] Rückversicherungsverträge galten im England dieser Zeit nicht in erster Linie als ein Instrument zur Teilung von Risiken, sondern wurden zunehmend für spekulative Prämiendifferenzgeschäfte genutzt. Erstversicherer versuchten, Verträge mit hohen Prämien abzuschließen, um das Risiko dann gegen eine niedrigere Prämie vollständig in Rückdeckung zu geben. Rückversicherer ließen sich darauf in der spekulativen Erwartung ein, einen Versicherer zu finden, bei dem sie das Risiko gegen eine noch niedrigere Prämie vollständig in Retrozession geben konnten.[9] Nicht selten ließen englische Kaufleute Geschäftsfreunde auf dem Kontinent Versicherungsverträge abschließen, um diese dann in London gegen niedrigere Prämien in Rückdeckung zu geben.[10]

Die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts war in Großbritannien wie auch in Frankreich und den Niederlanden eine Zeit heftiger Spekulationen. So kam es an der Londoner Börse 1720 durch Schwindelgeschäfte mit Aktien der South Sea Company zu einer der größten Spekulationsblasen der frühen Neuzeit. Nach dem anschließenden Crash sah sich die britische Regierung veranlasst, den Handel mit Aktien zu verbieten,[11] wodurch die Spekulation mit Seeversicherungen und Rückversicherungsverträgen wohl weiteren Auftrieb erhielt. Häufig wurden nun Schiffe von mehreren Spekulanten gemeinsam überversichert, als eine Wette auf ihren Untergang. Mitunter wurden derart überversicherte Schiffe auch ohne jede Fracht auf See geschickt.[12] Da sich diese Praktiken zu einer Bedrohung des Überseehandels entwickelten, veranlasste die britische Regierung mit dem Marine Insurance Act von 1746 ein Verbot von Rückversicherungsverträgen. Das Gesetz sah zwar einige Ausnahmen vor – etwa beim Tod eines Erstversicherers – und betraf nur die Seeversicherung, faktisch kam es aber einem Verbot der Rückversicherung in Großbritannien, dem damals führenden Versicherungsmarkt der Welt, gleich. Profitieren konnte davon vor allem Lloyd’s, weil sich auf diesem kapitalstarken Markt auch größere Risiken in Form einer Mitversicherung unter den Mitgliedern verteilen ließen. Das Verbot blieb 118 Jahre lang bestehen und wurde erst 1864 von Königin Viktoria aufgehoben.[13]

In Hamburg verhinderte der Senat 1720 die geplante Gründung einer Versicherungsgesellschaft auf Aktienbasis, um der Spekulation keinen Vorschub zu leisten. Erst 45 Jahre später entstand hier die erste privatwirtschaftliche Versicherungsgesellschaft im deutschsprachigen Raum, eine Seetransportversicherung nach britischem Vorbild. 1779 wurde in Hamburg auch eine private Feuerversicherung gegründet.[14] Nach den Napoleonischen Kriegen entstanden in den deutschen Staaten größere Gesellschaften dieses Typs, die sich überregional ausbreiteten wie die Gothaer Feuerversicherungsbank (1820 gegr.) und die Aachener Feuer-Versicherungs-Gesellschaft (1825 gegr.). Erstmals wurden nun auch hier Risiken in Rückdeckung gegeben. 1825 schloss die Vaterländische Feuer-Versicherungs-AG in Elberfeld mit der Compagnie Royale d’Assurance Contre l’Incendie in Paris den weltweit ersten Rückversicherungsvertrag einer Feuerversicherungsgesellschaft ab.[15] Die Rückversicherung war nun nicht mehr Gegenstand von Spekulationsgeschäften, sondern wurde als Instrument zur Teilung des Risikos genutzt, indem die Feuerversicherer Verträge untereinander in Rückdeckung gaben.

Anders als bei den früheren Rückversicherungsverträgen zwischen einzelnen Personen und bei der Mitversicherung stellte sich bei den Rückversicherungsverträgen zwischen Erstversicherern das Problem, dass sie sich leicht zum Nachteil des Zedenten auswirken konnten, wenn beide Unternehmen Wettbewerber waren. Der Rückversicherer gewann durch den Vertrag Einblicke in das Geschäft des Zedenten und konnte dieses Wissen für sein eigenes Erstversicherungsgeschäft nutzen. Die deutschen Feuerversicherer zogen es deshalb vor, Rückversicherungsverträge mit Gesellschaften abzuschließen, die auf anderen Märkten als sie selbst tätig waren, und gaben ihre Risiken zunehmend im Ausland in Rückdeckung.[16] Auf diese Weise trugen die Rückversicherungsverträge schon frühzeitig zu einer Vernetzung der Versicherer innerhalb Europas bei, allerdings in asymmetrischer Form: Die deutschen Erstversicherer gaben einen beträchtlichen Teil ihrer Verträge in Frankreich und in Belgien in Rückdeckung, während die französischen Versicherer kaum an deutsche Gesellschaften zedierten. Die britischen Feuerversicherer waren in den deutschen Staaten relativ stark vertreten, gingen aber keine Rückversicherungsverträge ein, sondern teilten ihre Risiken durch Mitversicherung.

Dass ein beträchtlicher Teil des Gewinns deutscher Versicherer über Rückversicherungsverträge ins Ausland floss, belastete die Leistungsbilanz der Staaten des Deutschen Bundes. Für die Kunden erwies es sich wiederum als Nachteil, dass sie praktisch keine Informationen über die Reserven und das Geschäftsgebaren der ausländischen Versicherer erhalten konnten. Preußen erließ deshalb im Mai 1837 ein Gesetz über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen, das die ausländischen Gesellschaften einer recht rigiden Kontrolle unterwarf und den Konzessionszwang einführte. Der Abfluss von Prämien ins Ausland wurde dadurch aber noch verstärkt, weil eine Reihe britischer und französischer Versicherungsgesellschaften keine Konzession für das direkte Geschäft in Preußen erhielt, sich auf diesem Markt dann aber als Rückversicherer inländischer Gesellschaften betätigte.[17]

Vor diesem Hintergrund ist die Initiative zur Gründung der Kölnischen Rückversicherungs-Gesellschaft (Kölnische Rück) zu sehen, die im Dezember 1842 von einigen einflussreichen rheinischen Bankiers, Kaufleuten und Industriellen, darunter Gustav Mevissen (ab 1884: von Mevissen) und Simon Oppenheim (ab 1867: von Oppenheim), ausging. Der Hamburger Großbrand vom Mai 1842 dürfte dem Projekt förderlich gewesen sein, weil sich bei der Schadensregulierung zeigte, wie wichtig Rückversicherungsverträge waren. Anders als es oft dargestellt wurde, ging von dem Hamburger Brand aber nicht der entscheidende Anstoß aus.[18] Die Gründer der Kölnischen Rück wollten mit ihrem Aufruf vom 22. Dezember 1842 vor allem erreichen, dass «der Gewinn des deutschen Versicherungs-Geschäftes dem Inlande ganz erhalten würde.»[19] Zuvor war eine Versicherungsgesellschaft im niederrheinischen Wesel bereits dazu übergegangen, einen Rückversicherungsverein aus ihren Aktionären zu bilden, nachdem sich Verhandlungen über einen Rückversicherungsvertrag mit einem französischen Versicherer zerschlagen hatten.[20]

Unter den Gründern der Kölnischen Rück war zunächst umstritten, ob die Gesellschaft als selbstständiges, nicht zu einem Erstversicherer gehörendes Unternehmen oder als Tochtergesellschaft des Kölner Feuerversicherers Colonia entstehen sollte. Welche Lösung für einen Rückversicherer vorteilhafter war, blieb auch in den folgenden Jahrzehnten umstritten. Im Fall der Kölnischen Rück setzte sich der Unternehmer und Politiker Mevissen mit dem Argument durch, dass die Erstversicherer einen Rückversicherer bevorzugen würden, der nicht mit einem Wettbewerber verbunden war.[21] Im April 1846 wurde der Kölnischen Rück die Konzession erteilt, doch Auseinandersetzungen um die Kapitalausstattung, die Wirtschaftskrise von 1847/48 und die Revolution von 1848 sowie deren Folgen ließen zunächst keine geschäftliche Tätigkeit zu. Erst am 1. Juli 1852 konnte die Kölnische Rück als erste Rückversicherungsgesellschaft der Welt das Geschäft aufnehmen. Ihr Aktienkapital befand sich in Streubesitz und war über das Bankhaus Rothschild in Paris zu einem großen Teil bei französischen Anlegern platziert worden.[22] Bereits 1853 wurde in Aachen eine Rückversicherung nach einem anderen Modell gegründet, nicht als selbstständige Gesellschaft, sondern als Tochter der Aachener und Münchener Feuer-Versicherung.[23] Bis 1870 wurden in Deutschland, Österreich-Ungarn und der Schweiz insgesamt zwölf Gesellschaften als professionelle oder reine Rückversicherer gegründet.[24] Sie unterschieden sich von anderen Rückversicherern dadurch, dass sie wie die Kölnische Rück ausschließlich das Rückversicherungsgeschäft betrieben.

Die 1863 ebenfalls als professionelle Rückversicherungsgesellschaft entstandene Schweizerische Rückversicherungs-Gesellschaft AG (im Folgenden: Schweizer Rück; das Unternehmen tritt seit 1999 unter dem Namen «Swiss Re» auf) wurde zur wichtigsten Konkurrentin des Marktführers Kölnische Rück. Dieses Unternehmen war von Moritz Grossmann, dem Direktor der Feuerversicherung Helvetia, im Dezember 1863 mit Unterstützung der Schweizerischen Kreditanstalt (Credit Suisse) gegründet worden. Die Helvetia, die Schweizerische Kreditanstalt und die Basler Handelsbank übernahmen jeweils ein Drittel des Stammkapitals und gaben diese Aktien später zum größten Teil an Geschäftskunden weiter.[25] Der Anstoß zur Gründung wird auch hier häufig in einem Großbrand gesehen, dem Brand von Glarus im Jahr 1861. Die neue Studie zur Geschichte der Swiss Re zeigt jedoch, dass dies ebenso wenig zutrifft wie bei der Kölnischen Rück. Auch die Schweizer Rück ist in erster Linie aus dem Interesse heraus entstanden, die bislang ins Ausland abfließenden Rückversicherungsprämien zu repatriieren.[26]

Mit der Gründung der Schweizer Rück war die professionelle Rückversicherungsgesellschaft zu einer Spezialität des mitteleuropäischen Versicherungswesens geworden. Als 1867 in Großbritannien erstmals eine professionelle Rückversicherungsgesellschaft entstand, die Reinsurance Company, Ltd., gab es im Deutschen Bund bereits fünf derartige Unternehmen, in Österreich-Ungarn zwei, in Belgien und in der Schweiz jeweils eines.[27] Der Rückstand Großbritanniens ist besonders auffällig, weil das Land nach wie vor die weltweit führende Versicherungsnation war. Der Grund dafür lag nicht in dem bis 1842 in Großbritannien bestehenden Verbot von Seetransport-Rückversicherungsverträgen. Vielmehr hatte sich im Vereinigten Königreich und von dort ausgehend auch in den USA die Mitversicherung als Form der Risikomischung bewährt. Der Wirtschaftshistoriker Robert Pearson nennt neben den «Underwriting Traditions» noch weitere Gründe, weshalb sich die britischen Versicherer nicht stärker auf dem europäischen Rückversicherungsmarkt engagierten: Opportunitätskosten, geringe Gewinnmargen und Hindernisse aufgrund der staatlichen Regulierung.[28] Entscheidend war aber auch, dass in den deutschen Staaten, in Österreich-Ungarn und in der Schweiz die Banken frühzeitig in die Versicherungsbranche einstiegen. Anders als in Großbritannien waren die Aktienbanken und einzelne Privatbanken in Mitteleuropa wichtige Finanziers der Industrialisierung. Sie investierten auch in Versicherungsgesellschaften und konnten kein Interesse daran haben, dass über die Rückversicherungsprämien Kapital ins Ausland abfloss, für das es im Inland reichlich Bedarf gab. Bei der Kölnischen Rück gehörte das Bankhaus Sal. Oppenheim zu den Gründern, bei der Schweizer Rück die Schweizerische Kreditanstalt. Zunächst war freilich keineswegs sicher, ob den Banken damit ein gutes Investment gelingen und das mitteleuropäische Modell einer reinen Rückversicherungsgesellschaft auf Dauer Bestand haben würde.

Obwohl Rückversicherungsverträge in der Assekuranz-Branche inzwischen als unverzichtbar galten, da die Schadenssummen in der Feuer- und Transportversicherung mit der Industrialisierung eine immer größere finanzielle Dimension erreichten, hatten die ersten professionellen Rückversicherungsgesellschaften einen schweren Stand. Die Kölnische Rück musste nach einem guten Start feststellen, dass die deutschen Erstversicherer weiterhin bevorzugt an ausländische Versicherer zedierten. Andere Erstversicherer betätigten sich selbst als Rückversicherer oder teilten Risiken in Form einer Mitversicherung. Die Kölnische Rück musste ihre Hagel- und ihre Lebensrückversicherung schon nach wenigen Jahren aufgeben.[29] Als in den 1860er Jahren die Schäden im Feuergeschäft stiegen, wurde bei der Kölnischen Rück vorübergehend erwogen, sich auch aus dieser Sparte zurückzuziehen und das Unternehmen in einen Erstversicherer, umzuwandeln.[30] Der Schweizer Rück erging es nicht besser als dem deutschen Marktführer, sie geriet fünf Jahre nach ihrer Gründung wegen hoher Verluste im Feuergeschäft mit dem Ausland in eine existenzbedrohende Krise. Ähnlich wie bei der Kölnischen Rück kamen hier Überlegungen auf, die Feuerrückversicherung aufzugeben und das Unternehmen in einen Erstversicherer umzuwandeln. Schließlich entschied man sich aber dafür, sich auf ein kleineres und qualitativ besseres Portfolio zu beschränken.[31]

Am 25./26. November 1868 kamen Vertreter von sieben selbstständigen – also nicht zu Erstversicherern gehörenden – europäischen Rückversicherungsgesellschaften in München zusammen, um sich über die kritische Lage ihrer Sparte zu beraten. Dabei ging es nicht um Preisabsprachen, sondern um das grundsätzliche Verhältnis zwischen Erst- und Rückversicherern. Über die Erstversicherer wurden bittere Klagen vorgebracht, die durchaus berechtigt waren. Wie schon an den Anfängen der Rückversicherung im 14. Jahrhundert tendierten diese auch jetzt dazu, gute Risiken nicht zu teilen und schlechte Risiken in Rückdeckung zu geben, wobei sie sich ihren Informationsvorsprung gegenüber den Rückversicherern zu Nutze machten. Wie der Erstversicherer das Risiko einschätzte, zeigte sich in der Regel daran, wie groß der bei ihm in Selbstbehalt verbliebene Anteil war. Doch ließen die Erstversicherer die Rückversicherer über die Höhe dieses Anteils meist im Unklaren, um schlechte Risiken leichter abgeben zu können. Rückversicherer galten den Erstversicherern «als eine willkommene Ablagerung für unliebsame Risiken», wie es Friedrich Wallmann, der Herausgeber einer der führenden Fachzeitschriften (Wallmann’s Versicherungs-Zeitschrift), 1874 formulierte.[32] Der österreichische Versicherungsexperte Adolf Ehrenzweig charakterisierte den Rückversicherungsvertrag dieser Zeit als «leoninisch». Gemeint war damit die bereits von römischen Juristen unter Anspielung auf die bekannte Tierfabel des griechischen Dichters Äsops eingeführte Figur einer «societas leoninis», bei der einem Vertragspartner der gesamte Gewinn («Löwenanteil») zufällt. Der Rückversicherer war in diesem Bild das Schaf, mit dem der Erstversicherer als Löwe nach Belieben umspringen konnte.[33] Die im Verhältnis zwischen Erst- und Rückversicherern von Anfang an bestehende Asymmetrie war durch die Entstehung selbstständiger professioneller Rückversicherungsgesellschaften in den 1850er und 1860er Jahren keineswegs überwunden worden. Unternehmen wie die Kölnische Rück und die Schweizer Rück waren für ihren Risikoausgleich darauf angewiesen, rasch eine größere Zahl von Rückversicherungsverträgen abzuschließen, da sie ja ausschließlich in dieser Sparte tätig waren. Sie konnten es sich deshalb zunächst nicht leisten, die Übernahme schlechter Risiken abzulehnen.

Das Interesse der Erstversicherer an «leoninischen Verträgen» dürfte auch der Grund gewesen sein, weshalb die meisten von ihnen weiterhin Risiken im Ausland in Rückdeckung gaben. Es kümmerte sie wenig, dass es ein volkswirtschaftliches und nationales Interesse gab, die Rückversicherungsprämien im Inland zu halten, da der Prämienabfluss dem Kapitalmarkt Mittel entzog und die Zahlungsbilanz belastete. Entscheidend war für die Erstversicherer ihr geschäftliches Interesse, und bei einem ausländischen Rückversicherer konnten schlechte Risiken nun einmal leichter abgeladen werden als bei einem inländischen. Eine Versicherungsgesellschaft in Paris, Brüssel oder London kannte die von einem deutschen Feuer- oder Transportversicherer übernommenen Risiken weniger genau als die Kölnische Rück oder die Aachener Rück. Die Schweizer Rück stellte dies vor besonders große Probleme, weil sie wegen des kleinen Heimatmarkts von Anfang an den größten Teil ihres Geschäfts mit ausländischen Versicherern bestritt. Wie die von Tobias Straumann verfasste Geschichte der Swiss Re belegt, kamen die hohen Verluste dieser Gesellschaft in den 1860er Jahren ausnahmslos durch Verträge mit ausländischen Versicherungsgesellschaften zustande.[34]

Die Teilnehmer des bereits erwähnten Münchner Treffens 1868 stellten als Ergebnis ihrer Beratungen einen Katalog von Wünschen an die Erstversicherer auf. Dazu gehörte, dass Erst- und Rückversicherer fortan der jeweils anderen Sparte keine Konkurrenz mehr machen sollten, dass die Rückversicherungs-Prämien bei besonderen Risiken erhöht werden und die Erstversicherer stets mitteilen sollten, wie groß der Teil des Risikos war, den sie auf eigene Rechnung behielten. Ein Rückversicherer sollte keine Summe mehr übernehmen, die höher lag als der Selbstbehalt des Erstversicherers. Die Teilnehmer der Konferenz hielten es sogar für «nicht thunlich», den Erstversicherern überhaupt noch Provisionen zu vergüten.[35] Auch der Münchner Konferenz gelang es nicht, das mittlerweile fast 500 Jahre alte Problem einer Übervorteilung der Rückversicherer zu lösen. Unter den Erstversicherern war zwar die Notwendigkeit der Rückversicherung längst unbestritten, doch sie zeigten sich von den in München gefassten Beschlüssen wenig beeindruckt und konnten schließlich nicht gezwungen werden, ihr Verhalten gegenüber den Rückversicherern zu ändern.

In der Hochkonjunktur nach 1870, dem sogenannten Gründerboom, erlebten die Rückversicherungsgesellschaften in Deutschland einen gewissen Aufschwung, auch weil die französischen Rückversicherer durch den deutsch-französischen Krieg vorübergehend Marktanteile verloren hatten. Doch inzwischen war das Rückversicherungsverbot in England gefallen, und in Deutschland kam es zu zahlreichen Neugründungen. Allein in den Jahren 1871/72 entstanden in Deutschland, der Schweiz und Österreich-Ungarn insgesamt 13 Rückversicherungsgesellschaften – mehr als bis dahin am Markt gewesen waren. Die meisten Neugründungen konnten sich nicht lange halten, aber der verschärfte Wettbewerb zwischen den Rückversicherern drückte die Prämien und damit auch die Gewinnspanne. Zehn Jahre nach der Münchner Rückversicherungskonferenz arbeiteten die deutschen Rückversicherer zwar durchweg mit Gewinn, der Schadenssatz lag aber nach einer Erhebung des Preußischen Statistischen Büros bei den Rückversicherungen mit 68 % deutlich höher als bei den Erstversicherungen (57,5 %).[36] Das Modell einer selbstständigen Rückversicherungsgesellschaft nach dem Vorbild der Kölnischen Rück galt seit den Erfahrungen der 1860er Jahre als beschädigt. Viele Experten empfahlen die Rückkehr zur Mitversicherung.[37] Nach wie vor ging der größte Teil des deutschen Rückversicherungsgeschäfts ins Ausland.[38] Und noch immer fehlte den Rückversicherungsgesellschaften ein gesichertes Fundament in Form allgemein akzeptierter Regeln, die es ihnen ermöglicht hätten, gleichgestellte Geschäftspartner der Erstversicherer zu sein.

3.   Gründung und Anfänge der Münchener Rück

Carl Thieme und die Gründung der Münchener Rück

Die Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft AG (im Folgenden: MR) wurde am 15. März 1880 gegründet. An diesem Tag erteilte das Königlich Bayerische Staatsministerium des Innern dem Bankhaus Merck, Finck & Co. und dem Rechtsanwalt Hermann Pemsel die Konzession zur Errichtung einer Aktiengesellschaft, «welche den Zweck hat, Rückversicherung auf die von Gesellschaften, Vereinen, Anstalten und einzelnen Personen abgeschlossenen Feuer-, Lebens-, Transport- und Hagelversicherungen zu gewähren».[1] Wer sich mit der Geschichte der MR beschäftigt, wird rasch feststellen, dass die beiden Konzessionsempfänger heute kaum noch als Gründer des Unternehmens in Erinnerung sind. Stattdessen wird diese Leistung zumeist dem damaligen Versicherungsagenten Carl Thieme (ab 1914 von Thieme) und dem Großindustriellen Theodor Freiherr von Cramer-Klett zugeschrieben. Thieme hatte den Vorschlag zur Gründung der Rückversicherungsgesellschaft gemacht, verfügte aber nicht über das erforderliche Kapital und hätte wohl auch kaum die Konzession beantragen können, ohne seine berufliche Stellung als Münchner Repräsentant der Thuringia-Versicherung aufzugeben. Möglich wurde die Gründung nur, weil Freiherr von Cramer-Klett, damals wohl der reichste Mann Bayerns, hinter diesem Projekt stand und bereit war, genügend Kapital in die neue Rückversicherungsgesellschaft einzubringen. Seine Finanzholding Klett & Co. und zwei ihm nahestehende Banken, das Bankhaus Merck, Finck & Co. und die Bank für Handel und Industrie, zeichneten zusammen über 80 % des Aktienkapitals von nom. 3 Mio. Mark.[2] Um die Konzession kümmerte sich Cramer-Klett nicht selbst, sondern überließ dies seinem Generalbevollmächtigten Hermann Pemsel und seinem Finanzberater Wilhelm Finck (ab 1905 von Finck), dem maßgebenden Gesellschafter von Merck, Finck & Co.

Obwohl die Beteiligung Cramer-Kletts, Pemsels und Fincks von kaum zu überschätzender Bedeutung war, ist Thieme unter den Gründern der MR an erster Stelle zu nennen. Von ihm kam nicht nur die Idee. Er war auch als einziger der Gründer mit der Versicherungsbranche vertraut, übernahm die Leitung des neuen Unternehmens und baute dessen Geschäft nach seinen Vorstellungen auf. Während Thieme bei der Gründung der MR aus unternehmerischem Pioniergeist handelte, ging es Cramer-Klett um die Diversifizierung seines bereits sehr ansehnlichen Firmenbesitzes. Vom Rückversicherungsgeschäft verstand er damals ebenso wenig wie Pemsel, der die Unternehmensgründung juristisch begleitete, und Finck, der die Kapitalausstattung regelte.[3]

Thiemes Motive werden durch einen Blick auf seinen Werdegang deutlich. Der am 30. März 1844 in Erfurt geborene Carl Thieme war praktisch mit dem Versicherungswesen aufgewachsen, da sein Vater Julius seit 1853 bei der Thuringia-Versicherung arbeitete.[4] Für ihn stand schon frühzeitig fest, dass er beruflich den Fußstapfen seines Vaters folgen wollte. Nach dem Schulabschluss und der Ableistung des Militärdienstes trat er in die Thuringia-Versicherung ein, wo er sich vom Lehrling zum Inspektor in Breslau und Hannover und schließlich zum Generalagenten in München hocharbeitete.

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