Es ist der wohl berühmteste Satz, der je über die deutsche Hauptstadt geschrieben wurde. Berlin, so heißt es in den letzten Zeilen von Karl Schefflers 1910 erschienenem Klassiker, sei dazu verdammt, »immerfort zu werden und niemals zu sein«. Was Scheffler nicht ahnen konnte: Sein Diktum sollte sich als Prophezeiung erweisen. Von den Goldenen Zwanzigern über die anarchischen neunziger Jahre bis zur Blütezeit als Welthauptstadt des Hipstertums zu Beginn des neuen Jahrtausends – kaum ein anderer Autor hat Berlin so treffend und mit so herrlichem Spott charakterisiert wie jener Hamburger Selfmademan, der es vom Dekorationsmaler zum angesehenen Kunstkritiker brachte. Die ehemalige Mauerstadt ist zum Symbol für eine neue Urbanität geworden, gesegnet mit dem Privileg, niemals sein zu müssen, sondern immerfort werden zu dürfen.
Mit messerscharfer Auffassungsgabe und stets beißend polemisch analysiert Scheffler all die historischen Brüche – und all die Fehlplanungen –, denen die Hauptstadt heute ihre Einzigartigkeit verdankt. Oder wie Florian Illies es in seinem Vorwort formuliert: »Wer Schefflers Buch gelesen hat, versteht, warum Berlin die Stadt der ›Projekte‹ ist, der ›Projekträume‹, warum diese Stadt, stolz darauf ist, ein ›Laboratorium‹ zu sein, warum hier die Visionen blühen wie anderorts die Wirtschaft.«
KARL SCHEFFLER (1869-1951) war Kunstkritiker und Publizist. 1906 legte er mit Der Deutsche und seine Kunst. Eine notgedrungene Streitschrift ein polemisches Plädoyer für den Impressionismus als Kunstform der Moderne vor. Ab 1907 war er Herausgeber der einflußreichen Zeitschrift Kunst und Künstler, bis diese 1933 von den Nationalsozialisten verboten wurde.
FLORIAN ILLIES, geboren 1971, ist Kunsthistoriker, Journalist und Buchautor. Sein letztes Werk, 1913 : Der Sommer des Jahrhunderts, wurde ein internationaler Bestseller. 2014 erhielt Florian Illies als bisher jüngster Preisträger den Ludwig-Börne-Preis.
Karl Scheffler
BERLIN –
ein Stadtschicksal
Herausgegeben und mit einem Vorwort
von Florian Illies
Suhrkamp
Der vorliegende Text folgt der Ausgabe im Suhrkamp Verlag 2015.
Die Erstausgabe erschien 1910 im Erich Reiss Verlag in Berlin.
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015
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Umschlaggestaltung: ErlerSkibbeTönsmann/Johannes Erler
eISBN 978-3-518-74289-1
www.suhrkamp.de
Inhalt
Vorwort
BERLIN – ein Stadtschicksal
Die Betrachtungsweise
ENTWICKLUNGSSCHICKSALE
Die Kolonialstadt
Die Bevölkerung
Die Fürsten
Der Stadtgeist
Bürgerstadt und Fürstenstadt
Die Stadtanlage
Die Bautätigkeit
Die Künste
Die Gesellschaft
Lebensformen
Stadtkultur
GROSSSTADTSCHICKSALE I
Die Großstadt
Die Bevölkerung
Wilhelm II.
Der Handelsplatz
Die neuen Stadtteile
Gründerarchitektur
Die Künste
Natur und Umgebung
Die Großstadtgesellschaft
Einfluß auf das Reich
GROSSSTADTSCHICKSALE II
Der Pionierwille
Utopie
Die Bestimmung Berlins
Vorwort
Schicksal als Chance
Zur Bedeutung von Karl Schefflers
DNA-Analyse von Berlin
Die letzte Chance, auf Berlin ganz zu verzichten, wurde 1648 vertan. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges waren in den beiden Stadtteilen Berlin und Kölln noch genau 556 beziehungsweise 379 Haushalte übrig, ernsthaft wurde in der dahinvegetierenden Stadt der Plan einer kollektiven Auswanderung diskutiert, aber dann kam offenbar leider irgendetwas dazwischen.
Leider? Ja, leider. Liest man Karl Schefflers haßerfüllte Liebeserklärung an Berlin aus dem Jahr 1910, dann versteht man, daß Berlin nie zu sich selbst finden kann, weil – wie in einer griechischen Tragödie – das Leiden dieser Stadt die Bedingung ihrer Existenz ist. Wenn also Berlin, um in der Mythologie zu bleiben, das uneheliche Kind eines griechischen Gottes mit einem Menschen ist, dann ist der Vater wahrscheinlich Dionysos und die Mutter Personalratsvorsitzende in einem Westberliner Einwohnermeldeamt. Wenn Sie diese Assoziation jetzt etwas abwegig finden, dann sollten Sie dieses Vorwort nach der Lektüre des Buches noch einmal lesen. Denn wer nur zwei, drei Seiten von Karl Schefflers Analyse überflogen hat, der merkt, daß der Titelzusatz ein Stadtschicksal in diesem Fall weit mehr ist als feuilletonistische Bombastik oder Bedeutungshuberei. Scheffler hat vielmehr als erster filigran herausgearbeitet, warum es für Berlin kein Entkommen aus seinem Fatum geben kann. Deshalb lautet der letzte Satz dieses Buches eben auch, daß Berlin »dazu verdammt« ist, »immerfort zu werden und niemals zu sein«. Nach der Lektüre der zweihundert Seiten fährt einem dieses »dazu verdammt« wie ein Messerstich in die Glieder, ein jäher Stoß, der in Sekundenbruchteilen den ganz großen Bogen spannt vom Bahnhof Zoo in die griechische Mythologie.
Ohne diese »Verdammnis« hat es Schefflers Satz zum Small-talk-Gassenhauer der literarischen Salons in Charlottenburg, Dahlem und Pankow geschafft – abrufbar bei jedem Stöhnen über die Eröffnung einer neuen Dauerbaustelle in Berlin-Mitte. Aber erst mit der Dimension der Verdammnis, also der unauflöslichen Verkettung an das Schicksal, bekommt der Satz jene Tiefe und Untiefe, die Scheffler dazu bewogen hat, ihn zum Schlußsatz seines Buches zu machen, zum Fazit seines quälenden Nachdenkens. Er ist ein herrlicher Aphorismus, neun Worte nur lang – und doch versteht man ihn erst ganz, wenn man den Text davor gelesen hat, er ist die Essenz aus zweihundert Seiten, aus zweitausend Jahren. Selten kann man einer derart scharfen Beobachtungsgabe wie der von Scheffler so genau bei der Arbeit zusehen wie in diesem Buch, selten so klar die Methode der Analyse verstehen, wenn er seine Anschauungen aus der verknüllten Geschichte der Stadt heraus entfaltet, dieser »zur Millionenstadt […] gewordene[n] Siedelung germanischer Ackerbauern und wendischer Fischer«.
Die umstürzende Erkenntnis, die Scheffler aus seiner intensiven Beschäftigung mit Berlin und seiner Geschichte gewonnen hat, ist: Berlin ist immer eine Kolonialstadt geblieben. Die Stadt der Zugezogenen, die immer wieder neu zum Objekt der Begierde wird, für Hugenotten und für Wehrdienstverweigerer, für schlesische Arbeiter wie für schwäbische Start-up-Unternehmer. Und wenn Mark Twain 1891 bei seinem ersten Besuch im damals etwa 650 Jahre alten Berlin begeistert notiert, wie »neu« diese Stadt sei, »die neueste Stadt, die ich je gesehen habe«, obwohl er aus dem frischgebackenen Amerika kam, wo gerade Stadt um Stadt aus dem Boden gestampft wurde – dann zeigt das, wie prägend diese Ausstrahlung ist. Der »Live-Ticker« ist natürlich eine Berliner Erfindung, nirgendwo gibt es eine größere Besessenheit für das Jetzt; das »Regime der Realtime« (David Gugerli), das die Zeit seit dem Jahr 2000 bestimmt, hat in Berlin seinen Kristallisationspunkt gefunden. Bei Scheffler kann man genau nachlesen, woher die Verherrlichung des Neuen kommt. Was er 1910 analysiert hat, gilt hundert Jahre, zwei Weltkriege, vier deutsche Staatsgebilde später unverändert. Früher kamen sie mit Kutschen, dann mit dem Interzonenzug, heute mit easyJet – die Verheißung bleibt dieselbe. Und sie ist der geheime Motor dieser besinnungslos voranhastenden Stadt. Nur in Berlin werden die Fragen »Wohnst Du noch dort?« oder »Arbeitest Du noch dort?« mit dieser Verwunderung und Geringschätzung gestellt. Der Status quo ist hier immer fragwürdig und nur dazu da, überwunden zu werden. Wenn den Galerien für zeitgenössische Kunst die Ideen auszugehen drohen, dann eröffnen sie in Berlin regelmäßig »Neue Räume«, als sei dies bereits eine substantielle inhaltliche Aussage. Wer Schefflers Buch gelesen hat, versteht, warum Berlin die Stadt der »Projekte« ist, der »Projekträume« (Ostberliner Variante: »Fünfjahresplan«), warum diese Stadt stolz darauf ist, ein »Laboratorium« zu sein, warum hier die Visionen blühen wie anderorts die Wirtschaft. In der Hauptstadt gibt es kaum Erwerbsarbeit, dafür umso mehr Körperarbeit, Beziehungsarbeit und Arbeit an der Vergangenheit. Das einzige, was in Berlin boomt, ist konsequenterweise die Internetbranche, weil hier allein die Phantasie zum Bewertungsmaßstab herangezogen werden kann und nicht spießig der durchschnittliche Jahresumsatz. Und natürlich lassen sich nirgendwo besser Filme drehen als hier, wo es zwar keine Gewerbe-, aber dafür immer genügend Projektionsflächen gibt. So sehr ist diese Stadt in die Möglichkeiten verliebt, so wenig in die Wirklichkeiten, daß selbst die Bäcker »Brot & Mehr« heißen und die Spätkioske »Internet & Mehr«. Es ist einfach nie genug. Beziehungsweise: »Hinterm Horizont geht’s weiter« (Udo Lindenberg).
Karl Scheffler nennt die Menschen, die nach Berlin kommen, »Pioniere«, und es ist bis heute dasselbe Versprechen geblieben, wenn das Stadtmarketing die Ankommenden an den Stadtgrenzen mit einem »be Berlin« willkommen heißt. Auf deutsch heißt das: Träum weiter. Wenn New York die Stadt ist, die niemals schläft, dann ist Berlin die Stadt, die niemals aufwacht.
Hipness ist das Manna, das diese Stadt wie ein Begrüßungsgeld an alle ausschüttet, die die Tore zu dieser Stadt & Mehr durchschreiten. Nach Berlin kamen über die Jahrhunderte die Hugenotten und die Freigeistigen, die religiös Liberalen und die Juden, weil ihnen hier die »Freiheit des Bekenntnisses« zugesichert wurde. Dies ist der geheime Kern, bis heute, auch wenn es bei diesem Bekenntnis inzwischen längst nicht mehr um religiöse Fragen geht. Aber auch das hat Karl Scheffler in seinem Buch über das Schicksal dieser Stadt bereits geahnt: »Der religiöse Rationalismus hat in dem kühl protestantischen Berlin so lange immer nach dem Warum gefragt, bis sich der Priester gezwungen sah, halb als Philosoph zu antworten.« Mittlerweile ist auch die andere Hälfte säkularisiert, deshalb kommen die Antworten in Berlin auf die Frage nach dem »Warum« halb vom Philosophen, halb vom Barkeeper. Die Antwort ist: »Darum«. Oder, wie Scheffler schreibt: »Hegels Lehrsatz, daß alles Seiende vernünftig ist, kann als eine Art von preußischer […] Selbstrechtfertigung gelten.« Das Seiende ist aber nie ein bevorzugter Aufenthaltsort in dieser Stadt. Man sucht die Naherholung zuverlässig in der nahen Zukunft. »Spree-Athen« ist kein Spitzname, sondern eine bewußte Falschaussage.
Berlin ist der Sehnsuchtsort der Pioniere und dann ganz bei sich, ganz Kolonialstadt, wenn es Verheißung sein darf. Berlin scheitert immer, wenn es liefern muß. Hätten wir alle Karl Scheffler früher gelesen, dann hätten wir uns, beispielsweise, das ganze sehnsüchtige Warten auf den »Hauptstadtroman«, der nach 1989 bundesweit aus Berlin erwartet wurde, sparen können oder hätten frühzeitig eingesehen, daß natürlich nie jemand die Absicht hatte, den »Hauptstadtflughafen« wirklich zu eröffnen.
Man lernt bei Scheffler ebenfalls, daß man in Berlin nicht darauf hoffen darf, daß Traditionen gewahrt werden. Die einzige Tradition, die hochgehalten wird, ist die der Traditionslosigkeit. Daß dieses Buch so lange vergessen wurde, ist der beste Beleg für diese These. Berlin – ein Stadtschicksal ist auch deshalb ein so kluges Buch, weil der Autor es von vorne bis hinten selbstgedacht hat – wohl niemand hat sich Berlin so hingegeben wie dieser Mann, er hat diese Stadt durchwandert, er ist ihre Magistralen entlanggegangen und verzweifelte, weil sie im Nichts verlaufen, er ist ihre Flüsse abgefahren, und er verzweifelte erneut, weil die Stadt einfach ignoriert, daß sie am Wasser liegt und »Zärtlichkeit [ihm] nicht [entgegenbringt], wie es doch in Paris und Wien, in Hamburg und Frankfurt am Main der Fall ist« (geniale Beobachtung). Zärtlichkeit hingegen bringt diese Stadt, die besessen ist von ihrem Tempo, konsequenterweise nur den Verkehrsströmen entgegen, den S-Bahn-Trassen, den Trambahnen, denen man sich eher zu- als von ihnen abwendet – und den lauten sechsspurigen Straßen, an deren Trottoirs man nach dem Yoga gerne auf herausgestellten Holztischen die Bio-Weiderinder aus der Uckermark verspeist. Das ist Entrecote à la Scheffler.
Am größten wird Schefflers Wut übrigens, wenn er auf die Stadtplanung und die Architektur zu sprechen kommt, da ist er ganz bei sich, dieser große Kulturkritiker, da erstirbt ihm vor lauter »Häßlichkeit« fast der Atem, und doch steigert er sich dann immer wieder hinein in wunderbare Wutausbrüche gegen das Chaos der Stadtplanung, die Sinnlosigkeit der Straßenverläufe, die Eintönigkeit der neuen Ostgebiete (Prenzlauer Berg, Mitte). Scheffler legt immer wieder den Finger in die Wunde – daß diese Stadt eben nichts organisch Gewachsenes hat, keine Jahresringe wie ein Baum, sondern nur aus sinnlosen, unzusammenhängenden Wucherungen besteht (weshalb dies auch kein Ort für wahrhaft große Kultur sein kann). Scheffler zeigt, warum die großen Helden der deutschen Kultur, Goethe und Schiller, Beethoven und Bach, einen weiten Bogen um Berlin machten und warum sich die Tragödie um Heinrich von Kleist nicht zufällig in Berlin abspielte: »Gewiß wäre Kleist überall in Deutschland unverstanden geblieben; nirgend aber wäre ihm die Hoffnungslosigkeit seiner Lage so roh und hart zu Bewußtsein gebracht worden wie in der Stadt abgestempelter Phantasielosigkeit.« Selbst Schinkel kann ihn nicht wirklich versöhnen, denn auch dieser große Geist wurde letztlich Opfer der Berliner DNA: »Er ist in seiner Art genial; aber er ist es innerhalb der Determination eines Kolonialstadtbewohners.«
So wie Scheffler als Flaneur durch Berlin lief, immer und immer wieder, so hat er auch die Geschichte dieser seltsamen Stadt durchforstet, durchsiebt, bis er jedes Sandkorn persönlich kannte. Daraus ist dieses Buch entstanden – daß es nicht nur ein präziser Führer durch die mentale Stadtlandschaft Berlins um 1910 ist, sondern auch genauso präzise die Rätsel dieser Stadt um 2015 verständlich machen kann, ist nur auf den ersten Blick erstaunlich. Denn Scheffler erklärt in seinem Buch selbst, daß die DNA Berlins, die er als erster Genomforscher freigelegt hat, auch weiterhin prägend für ihr Verhalten sein wird. Indem er also so minutiös die Besonderheiten dieser Stadt anhand ihrer determinierenden Chromosophen beschreibt, beschreibt er zugleich, mit Halbsätzen nur, aber genauso konzise, die geheimen Codes von Dresden, von Hamburg, von München, von Danzig und von London. Dank Scheffler lernt man jede Stadt als Individuum zu begreifen, von der eine bestimmte Stimmung ausgeht, eine bestimmte Temperatur, ein Duft, zusammengebraut aus einem jahrhundertelangen und jeweils einzigartigen Zusammenspiel von Lage, Herrschern, Kultur, Bürgergesellschaft und Traditionen.
Es gibt in Schefflers großer DNA-Analyse unglaublich viele kleine Felder, in denen er aus seiner Sichtung der Chromosophen-Beschaffenheit Deutungen von verstörender und bestechender Klarheit gewinnt. Warum die Berliner etwa unfähig dazu sind, schöne Plätze zu bauen (heute wissen wir, daß der Potsdamer Platz und die Wucherungen rund um den neuen Hauptbahnhof leider keine Gegenthesen dazu sind). Warum Adolph Menzel ein Maler von Weltformat geworden wäre, wenn er nicht das Pech gehabt hätte, in Berlin zu wirken. Wieso die Uckermark nur für einen Eremiten wie Botho Strauß aushaltbar ist, jenes »endlose Ostland, das direkt in die russischen Ebenen hineinzuführen scheint […]. In schwermütiger Einsamkeit dehnt sich das Acker- und Haideland dahin.« Man kann dieses ganze alte Buch lesen wie einen Führer durch das neue Berlin. Sogar an den Stellen, wo man vermeintlich in der Historie zu versinken droht, blinkt einem die Gegenwart während der Lektüre aufgeregte Assoziationen zu. Wenn Scheffler etwa ausführt, daß die Berliner alles (Häuser, Helden, Reiche) außer dem Soldatischen irgendwann niederstürzen, dann will man das gerade als gestrig abtun – bis einem wieder jenes merkwürdige Bild vor Augen kommt, wie bei den Love-Parade-Umzügen auf dem Großen Stern die Kolonialstadt in ihrer nackten Hipness ganz bei sich war und dabei ungerührt wummernd an den Standbildern der großen preußischen Generäle vorbeizog. Selbst bei der »Siegessäule« denkt niemand mehr an den Deutsch-Französischen Krieg, sondern – sofern gedacht wird – nur an den Jubel nach gewonnenen Spielen der Fußballnationalmannschaft auf der sogenannten »Fanmeile«.
Noch viel weitreichender ist Schefflers Analyse, wie das Volk die Herrschenden jeweils nach seiner Façon ummodelt: »Die Bevölkerung der Stadt beeinflußt unmerklich die Psyche seines Fürstengeschlechts und erkennt sich in seinen Repräsentanten selbst dann wieder.« Scheffler meinte das 1910 als feine Spitze, weil es den Berlinern gelungen war, das preußische Herrschergeschlecht über die Jahrhunderte von Friedrich dem Großen bis auf Wilhelm II. geistig herunterzuwirtschaften. Aber wenn man liest, wie Scheffler die »Pflichterfüllung«, den »trockenen Sachsinn«, die »Selbstironie« und den »harten Realismus« als die hohenzollernschen Haupttugenden herausarbeitet, dann kann man an der Ostelbierin Angela Merkel in der Tat erkennen, wie die Berliner am Ende nicht nur sich selbst im Repräsentanten wiedererkennen möchten – sondern wie sie es schaffen, daß dies am Ende sogar die Bayern, die Rheinländer und die Hamburger tun. Auch die Architektur des einstigen Amtssitzes der Hohenzollern, das Stadtschloß, hat Scheffler feinsäuberlich auseinandergenommen. Daß nun gerade dort, am ehemaligen Herrschersitz, hinter den rekonstruierten barocken Fassaden ein »Zentrum der Weltkulturen« mit den ethnologischen Sammlungen verschiedener Museen entsteht – in dem sich, wie es ausgerechnet der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz verkündet, »die Welt selbst betrachten soll« –, das hätte Scheffler zu einem hellen, verzweifelten Auflachen getrieben. Selten ist der als Demut getarnte Berliner Größenwahn besser zu besichtigen gewesen als in dieser »Vision«, selten die prollige Berliner Großmannssucht entlarvender zum Ausdruck gekommen als in den Plänen der Stadtregierung, einige Räume dem Thema »welt.stadt.berlin« zu widmen. Pünktchen. Pünktchen. Pünktchen. Die Kolonialstadt Berlin kommt ganz zu sich in einem als gigantischen »Dritte-Welt-Café« zur Weltbeglückung getarnten neuen Kolonialismus. Die Welt betrachtet hier künftig nicht sich selbst, sondern allein das verquere Berliner Selbstverständnis. Aber bitte nicht aufregen, das sind die Gene dieser Stadt, würde Scheffler an dieser Stelle besänftigend einwenden.
Damit Sie, geneigter Leser, jetzt keine Angst bekommen vor diesem Buch: Mindestens so gut wie die Passagen über die Ewigkeit des Geistes der Kolonialstadt sind Schefflers Zornausbrüche gegen die »kolonistenmäßige Anspruchslosigkeit« der Berliner Brotsorten, »die Essen zu etwas wie einem notwendigen Übel macht«. Oder mein Lieblingssatz: Berlin ist »nicht das Resultat eines Stadtbewußtseins, sondern ein Produkt des Baumarktes«. »Mach es zu Deinem Projekt«, so dröhnt es uns – ganz gemäß Schefflers Analyse – in diesem Herbst von den Plakatwänden der Berliner Baumärkte entgegen. In diesem Sinne also: Raus aus den Projekten, raus aus den Baumärkten, rein in dieses Buch!
BERLIN –
ein Stadtschicksal
»Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort : und fort gediehen,
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.«
Goethe
Die Betrachtungsweise
Jede Stadt ist ein Individuum.
An jede einzelne denkt man zurück wie an eine Persönlichkeit ; jede hat ihre besondere Stimmung, ihre Atmosphäre, eine nur ihr eigentümliche Physiognomie und einen Gesamtcharakter, der sich unvergeßlich einprägt. Es kommt beim Gefühl dieser Stimmungen nicht in Frage, ob man sich in einer Stadt wohl befunden hat oder übel, ob man gern darin lebt oder ungern ; es handelt sich vielmehr um Eindrücke, in denen embryonisch die ganze Kausalität der Stadtgeschichte enthalten ist, um Impressionen, deren Objektivität über allen Sympathie- und Antipathiegefühlen steht. Ein synthetisch gerichteter Instinkt ist es, der Einem in Stimmung umsetzt, was man die Seele des Stadtindividuums nennen kann. In jeder Stadt erhalten sich die spezifischen Bedingungen ihrer Entstehungsweise, die Ursachen, die sie werden ließen und gerade so werden ließen wie sie ist. Und dieser stets gleichartige Einfluß, jahrhundertelang auf Sitten und Gewohnheiten, auf Handel und Wandel, Architektur und Kleidung ausgeübt, formt alles Einzelne mit so gleichmäßigem Willen, daß man sich überall vor Einheiten sieht, ohne doch gleich sagen zu können, inwiefern es Einheiten sind. Es wäre noch zu konkret, wenn man sagte, verschiedene Stadtstimmungen unterschieden sich dem Gefühl wie Farben dem Auge ; eher schon könnte man sagen, sie wären differenziert wie Gerüche. Auch will es wenig sagen, wenn man konstatiert, daß es aristokratische Städte gibt und plebejische, heitere und düstere, melancholische und idyllische, patrizierhafte und parvenümäßige. Solche Worte sind den Stadtcharakteren gegenüber so wenig zureichend, wie sie es menschlichen Individuen gegenüber sind. Anschauung ist alles.
Dennoch kennt und versteht man die Individualität einer Stadt erst wahrhaft, wenn die Gefühlsimpression, die man von ihr empfängt, auch gedacht werden kann, wenn man die Mühe nicht scheut, jene instinktiven Empfindungen, in denen embryonisch die ganze Kausalität der Stadtgeschichte erfaßt wird, an der Hand eben dieser Geschichte zu analysieren, wenn es gelingt, das Anschauungsresultat aus der Entstehungsgeschichte noch einmal, und dieses Mal bewußt, zu gewinnen.
Auch ist diese Art der Gefühlsanalyse, diese Betrachtung des Volksgeistes, wie er sich den Körper einer Stadt baut, im höchsten Maße immer lehrreich und darum genußvoll. Denn indem man so das Schicksal von Städten zu erkennen sucht, blickt man auf Energien, die jenseits von gut und schlecht sind. Wo Notwendigkeiten und Bestimmungen sichtbar werden, da schaut man immer auch mit Ehrfurcht an. Es ist darum nicht nur eine Handlung des Gehorsams gegen die Natur, sondern auch eine Tat der Klugheit, die bestimmenden Kräfte vor allem dort aufzusuchen, wo nicht ohne weiteres die Sympathie spricht, und gerade Dinge, von denen man sich abgestoßen fühlt, ganz objektiv zu nehmen. So nur söhnt man sich mit der Tragik aus, der alle Lebenserscheinungen unterworfen sind.
Wie jeder Mensch zur Hälfte ein Produkt der Art, der Gattung, also etwas Typisches ist, und zur anderen Hälfte etwas Einmaliges, ein Resultat besonderer Verhältnisse, so zeigt auch jede Stadt typische Merkmale ihrer Entstehung neben den bestimmten, nur ihr eigentümlichen Entwicklungszügen. In allen unsern Städten, die historisch geworden sind, wiederholt sich derselbe Werdeprozeß. Jede Stadt ist, zum Beispiel, ein Mittelpunkt größerer oder kleinerer Interessengebiete, es entwickelt sich überall die Bürger-, die Bischofs- oder die Fürstenstadt vom Rathaus, von der Kirche, vom Schlosse oder der Pfalz aus, es wird aus der Siedelung eine befestigte Stadt, die wachsend dann einen Festungsgürtel nach dem anderen sprengt, bis die Mauern endlich verschwinden und vom alten Kern aus die Vorstädte unregelmäßig ins Land dringen. In allen alten Städten findet man die den ehemaligen Mauern und Stadtgräben folgenden peripherischen und die vom Zentrum ins offene Land weisenden radialen Straßen und sieht überall eine ähnliche Anlage der wichtigsten Gebäude ; kurz, man nimmt überall wahr, daß dieselben sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse zu einer typischen Struktur des Gehäuses Stadt drängen. Andererseits stellt sich dieser gesetzliche Werdeprozeß jedesmal in besonderer Weise dar. Wie alle Menschen gleichartig organisiert sind, wie sie im wesentlichen verwandt fühlen und wollen, und doch alle voneinander verschieden sind, im Körperlichen wie im Seelischen, jeder Mensch ein Wesen für sich, wie es niemals schon da war und es nie wieder sein wird, so ist auch jede Stadt etwas Einziges.
Es gibt nun Städte, die man nur schildern kann, indem man vom Typischen ihrer Entstehungsweise ausgeht, und es gibt andere, für die ihre besonderen Determinationen das Wichtigere sind. Jene ersten sind fast immer wahrhafte Hauptstädte und Mittelpunkte eines Landes, sind reiche, schöne Städte, harmonisch ausgebildete Organismen der Geschichte ; diese letzten dagegen sind in der Regel Städte, die sich unter Schwierigkeiten aller Art und zur Hälfte immer künstlich entwickeln mußten und die sich ungünstigen Verhältnissen anzupassen hatten. Gleichen die einen glücklichen Menschen mit edel ausgebildeten Gaben, so gleichen die anderen Charakteren, die es sich mit dem Leben müssen sauer werden lassen und die durch die Lebensmühe, die sie haben, unliebenswürdig und problematisch werden.
Zu den Städten dieser letzten Art gehört Berlin. Es ist kein Stadtindividuum, das sich mit siegreicher Souveränität Jeden unterwirft, der sich ihm naht ; es ist keine Stätte, wo sich der Deutsche heimisch fühlt, wo er sich die wertvollsten nationalen Traditionen und die Genesis der Stadtgeschichte in der Form einer gefestigten Stadtkultur lebendig entgegentreten fühlt. Berlin ist vielmehr wie ein riesiges Notgebilde und schwerer als andere Städte als Einheit zu begreifen. Nichtsdestoweniger ist es ein Organismus, ein Stadtindividuum, und will als solches verstanden werden. Mehr als eine andere deutsche Stadt fordert die Reichshauptstadt jene über Sympathie und Antipathie erhabene objektive Betrachtungsweise, die scheinbar kalte und indifferente Untersuchungsmethode, die allein imstande ist, den Schleier geschichtlicher Notwendigkeit ein wenig zu lüften. Nur ein Blick auf das historische Müssen im Sein und Werden Berlins, ein Blick auf das in Glück und Unglück fast tragische Schicksal dieser Stadt, ist imstande, die heftigen Instinkte der Abneigung höherer Ehrfurcht zu unterwerfen. Wo rückhaltlose Bejahung unmöglich ist, die Verneinung des von der Geschichte Gegebenen aber lächerlich wäre, bleibt nur jener Blick auf die Bestimmung, der mit dem isolierten Objekt zugleich dessen Entwicklungsgesetz wahrnimmt und darüber die Worte schön und häßlich fast vergißt.
Fast ! denn wer vermöchte diesen Standpunkt eines ehrfürchtigen Fatalismus dauernd zu behaupten !
ENTWICKLUNGSSCHICKSALE
Die Kolonialstadt
Versucht man, Berlin, die zur Millionenstadt und Reichshauptstadt gewordene Siedelung germanischer Ackerbauern und wendischer Fischer, mit einem Wort zu charakterisieren, das nicht nur für die ersten Jahrhunderte der Stadtgeschichte, sondern auch heute noch Geltung hat, so hilft dazu ein Gedanke, den Eduard Heyck in seiner Deutschen Geschichte wenn auch im Vorübergehen nur andeutet, wo er sagt, daß dem Ostelbier immer noch ein »feinen Instinkten wahrnehmbares Ingredienz des Kolonialmenschen« anhaftet. Verwendet man dieses glückliche Anschauungsergebnis bei der Betrachtung Berlins, der Hauptstadt Ostelbiens, so kommt man zu der Formulierung, Berlin sei geworden was es ist als Residenzstadt eines Koloniallandes, es sei, heute noch wie vor vielen hundert Jahren, recht eigentlich eine Kolonialstadt.
Berlin ist niemals ein natürliches Zentrum, niemals die vorbestimmte deutsche Hauptstadt gewesen. Es lag von jeher weit ab von den Stammgebieten der deutschen Kultur, ja, der deutschen Geschichte ; es ist zu all seiner ungeschlachten Mächtigkeit wie nebenher emporgewachsen. Jahrhundertelang wurde Berlin kaum genannt, wo Angelegenheiten des Deutschen Reichs verhandelt wurden ; denn diese Stadt war immer ein Außenwerk und ist es im gewissen Sinne noch heute. Auch jetzt ist Berlin noch eine Grenzstadt und liegt nach wie vor an der östlichen Peripherie der deutschen Kulturzone. Auf den gegen Morgen führenden Landstraßen vor den Toren dieser Grenzstadt beginnt gleich der Osten. Der Osten ! das will sagen : das weite, flache, unermeßliche Vorland des Deutschtums, das alte Kolonialland, den Wenden und Polen, der untüchtigeren slawischen Rasse, Stück für Stück entrissen, einer kargen, unwirtlichen Natur Meile um Meile abgewonnen. Bis Berlin reichte immer eben noch der Strom deutscher Kultur, dessen Quellen im Westen und Süden des deutschen Landes entsprangen ; dann versiegte er, als hätte ihn die ungeheure Düne der Eiszeit, auf deren Sand Berlin erbaut ist, verschluckt. Weiter nach Osten scheint nur noch die Notdurft zu regieren. Zum deutschen Westen und Süden verhält sich der Osten wie zum Mutterland das Tochterland. Berlin ist ein vorgeschobener Punkt, gerade noch westlich genug gelegen, um nicht abgeschnitten zu sein ; was aber dahinter kommt, inmitten dieses endlosen Ostlandes, das direkt in die russischen Ebenen hineinzuführen scheint, das ist Kleinstadt, Landstadt oder Verwaltungszentrum. In schwermütiger Einsamkeit dehnt sich das Acker- und Haideland dahin ; das Auge sieht, wohin es blickt, entweder das Nützliche und Praktische oder eine hoffnungslose Wüstenei, das ewig Gestrige und das vom Tag für den Tag Geschaffene. Das Klima sogar mutet östlich an, schon ein wenig wie Steppenklima. Solange dieses weite Land auch schon zum Reich gehört, immer scheint es noch Neuland zu sein, bewohnt von einem Geschlecht harter und trockener Pioniere.
Man wende nicht Namen östlicherer Städte ein, wie Dresden, Breslau, Stettin, Danzig oder Königsberg. Dresden scheint, entgegen der geographischen Tatsache, dem Gefühl nicht östlicher zu liegen als Magdeburg ; es liegt an der Elbe, nicht in Ostelbien. Das Stadtleben Breslaus gravitiert mehr fast als nach Berlin nach Österreich und Wien. Und Städte wie Stettin oder Danzig, ja selbst Frankfurt an der Oder ein wenig, gehören nicht eigentlich dem Osten an, sondern dem Norden. Es sind Seestädte, Küstenstädte ; sie beweisen einmal mehr, daß das Wasser von alters her bessere Verbindungen geschaffen hat als das Land, daß der Seemann mehr als der Landmann ein Verbreiter und Befestiger der Kulturformen ist. Stettin, Danzig und Königsberg, ja Riga und Reval, sind sozusagen einst Nachbarstädte von Hamburg und Lübeck gewesen, sind Gründungen desselben niederdeutschen Unternehmungsgeistes, Stätten desselben niederdeutschen Kulturbehagens. Handels- und Hansastädte sind sie alle und darum weltbürgerlich in ihrer freien bürgerlichen Selbstbeschränkung. Ihnen allen lagen von alters her Dänemark, Schweden und Holland näher als die Städte im Innern. Berlin war dagegen tief im Lande, mitten in Sand, in Busch und Wald einer mit künstlichen Mitteln spärlich nur bevölkerten Kolonialgegend. Es war den Kulturträgern lange, lange Zeit nicht ein Ziel, sondern bestenfalls eine Etappenstation an der Karawanenstraße von Süden nach Norden und Nordosten ; eine Niederlage für die dem Osten bestimmten Güter ; ein Zufluchtsort für Solche, die nichts zu verlieren hatten. Freiwillig wählte diese Stadt nicht leicht Jemand zu dauerndem Aufenthalt, der im Mutterlande sein Auskommen finden konnte. Die dem Berlin der ersten Jahrhunderte gewährten Abgabeerleichterungen und besonderen Niederlagsrechte beweisen, wie schwer in diesem Vorwerk des Deutschtums die Pioniere zu halten waren. Andere märkische Städte, wie Spandau und Potsdam, die zur selben Zeit wie Berlin etwa, ebenfalls aus wendischen Fischerdörfern hervorgingen, unterschieden sich von der Stadt am Spreeübergang in einem wesentlichen Punkte. Sie wurden an geschützter Stelle, gewissermaßen verschanzt angelegt, im Rücken von Berlin und in dessen Schutz ; sie trugen von vornherein nicht die Tendenz der Ausdehnung in sich. Berlin lag an offener Straße, dort wo der Handelsweg sich zwischen Sumpf und Luch den Weg über die Spree gesucht hatte. Im Sinne des Mittelalters waren Orte wie Spandau, Prenzlau, Bernau, Rathenau, Stendal, Brandenburg und andere Zentren der Alt- und Mittelmark viel mehr typische Stadtorganismen. Sie alle hatten als Burgen und Festungen, als Zufluchtsorte der Landbevölkerung, als Bischofsstädte, Residenzen und Kulturmittelpunkte mehr Bedeutung als das ungeschützt, wie eine zufällige Siedelung daliegende Berlin. Dieses hatte von vornherein etwas von der Formlosigkeit einer modernen Arbeitsstadt. Die Berliner führten gegen die Wenden freilich denselben Selbsterhaltungskrieg wie jene anderen Städte ; aber sie betrachteten die Ostmark zugleich auch instinktiv als ihr wichtigstes Absatzgebiet. Sie schlossen sich nicht ab, sondern knüpften Beziehungen bis tief ins Polnische hinein. Und hierdurch eben, durch diese Vermittlerrolle zwischen dem alten deutschen Westen und dem neuen deutschen Osten kam es, daß Berlin, ohne eigentlich eine Handelsstadt zu sein, zu einer Gründung mehr des Unternehmungsgeistes als der Abwehr wurde. Das hat den Grund schon gelegt zu ihrer modernen Macht und Größe ; das hat der Stadt von vornherein Bedeutung über ihre wirklichen, meistens sehr problematischen Machtmittel hinaus verliehen. Wie wir es oft in der Geschichte sehen, daß die Kolonien, wenn ihre in Rauheit erzogene Jugendkraft zu Jahren kommt, das Mutterland überwinden, so ist das halb unbeachtet, halb verachtet im fernen östlichen Winkel sich mühsam entwickelnde Berlin zu einer Großmacht, zum Mittelpunkt eines neuen Königreiches und eines Tages dann gar zur Hauptstadt eines großen Reiches geworden. Trotzdem ist es eine Kolonialstadt geblieben, immer in erster Linie abhängig von der Geschichte des preußischen, schlesischen oder polnischen Kolonialbesitzes, immer nach Osten gerichtet und immer jeder neuen Generation einen neuen Pioniergedanken überweisend. Es ist geworden was es ist, weil seine Stadtgeschichte in gewisser Weise die Geschichte der Mark, des ganzen östlichen Koloniallandes widerspiegelt und weil von vornherein in diesem Stadtgebilde, gerade um seiner städtischen Formlosigkeit willen, Spielraum für unbegrenzte Möglichkeiten gewesen ist.
Die Bevölkerung