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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2012



© 2015 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
www.rosenheimer.com


Titelfoto: © Stadtarchiv München / Richard Bauer
Alle Fotos in diesem Buch stammen aus dem Privatbesitz des Autors.
Lektorat und Satz: VerlagsService Dr. Helmut
Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Heimstetten

eISBN 978-3-475-54496-5 (epub)

Dieses Buch wurde gefördert vom Freundeskreis der Turmschreiber e. V., Leonhardiweg 64, 81829 München

Worum geht es im Buch?

Franz Freisleder

Meine Münchner Kindheit
Fliegeralarm, Pferderennen und Schwarzmarkt

Franz Freisleder war zu Kriegsbeginn acht Jahre alt. Alt genug, um zu begreifen, dass der Krieg mehr als den Wegfall des Oktoberfestes bedeutete. Aber zu jung, um später Rechenschaft über Schuld und Verbrechen der Deutschen ablegen zu können.

Keine andere Stadt stand so im Fokus der Kriegsjahre 1939-1945 wie München. Als »Hauptstadt der Bewegung« bildete sie ein Zentrum des Nazi-Regimes und musste dafür später bitter bezahlen.

Franz Freisleder lässt uns an seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen teilhaben. Neben den traumatischen Erfahrungen des Krieges erzählt er auch von schönen Momenten. Theaterbesuche und seine Leidenschaft für Pferde und Trabrennen machten ihm diese Zeit erträglich.

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Inhalt

Und deutsch ist unser Frusselsack …

Mehlvertreter und Weiß-Ferdl-Witze

»Die Amis san da!«

Nachwort

Stichworte zu den Münchner Jahren 1933–1945

Der Autor

Und deutsch ist unser Frusselsack …

»Deutsch ist die Saar / deutsch immerdar / und deutsch ist unseres Flusses Strand …« 1935 ist das zu allen Tages- und Abendzeiten immer wieder im Radio zu hören. Man feiert die im Februar dieses Jahres erfolgte »Heimkehr des Saarlandes ins Reich«. Wenn die Soldaten durch die Münchner Stadt marschieren – und das geschieht in dieser Zeit gar nicht so selten – dann stimmen auch sie häufig diesen Triumphgesang an, ganz zu schweigen von den SA- und Hitlerjugendformationen, für die er »der« Jahres-Hit ist (aber so hat man damals natürlich noch nicht gesagt). Sogar für mich, den vierjährigen Knirps, wird dieses Lied quasi zum Einstieg ins politische Leben. Denn auch Tante Tine im städtischen Kindergarten am Elisabethplatz ist offenbar angehalten, es uns Kleinen beizubringen – was mich betrifft, allerdings mit nur mäßigem Erfolg. Weil ich weder den Text, noch den Sinn des Liedes so recht kapiere, singe ich so, wie ich zu hören glaube: »Deutsch ist die Saar / deutsch immerdar / und deutsch ist unser Frusselsack …«

Meine Stimme geht im Kindergartenchor wohl unter, und bei mir daheim amüsiert man sich so über meine Wortschöpfung, dass mich ebenfalls niemand aufklärt. Was sie bedeuten könnte, hat mich nicht weiter interessiert. Rückblickend und symbolisch betrachtet, könnte ich sogar sagen: so ein Frusselsack-Empfinden war mir auch in den restlichen zehn Jahren des »Tausendjährigen Reiches« manches Mal hilfreicher Impfstoff gegen das pathetisch-aggressive Nazi-Gebaren, dem man ausgesetzt war. Verstärkt wurde die Wirkung dann durch eigene Erfahrungen und Erlebnisse, die mir den Blick für die Umstände, unter denen man unter der braunen Herrschaft lebte, mehr und mehr schärfte – auch wenn es nur ein Blick aus der Schulbuben-Perspektive war.

Davon will ich in diesem Münchner Erinnerungsbuch erzählen. Es geht hier also nicht um eine mehr oder weniger komplette Autobiografie meiner Kinder- und Jugendzeit. Versuchen will ich allerdings, durch die Schilderung selbst erlebter Umstände und Ereignisse, aber auch eigener Verhaltensweisen – gewisse Gespaltenheiten, Ablenkungs- und Verdrängungsmechanismen eingeschlossen – etwas von der politischen Atmosphäre im München jener Zeit der jüngeren Generation zu vermitteln. Es leben ja nicht mehr allzu viele lokale Zeitzeugen – das trifft besonders auf die beiden letzten Kriegsjahre und die erste Nachkriegszeit zu, in denen die meisten Münchner Kinder evakuiert waren.

Keine Lust auf Knäckebrot

Eine erste innere Renitenz gegenüber Parolen ist mir ebenfalls noch aus der Kindergartenzeit in Erinnerung: Das Knäckebrot kommt in Mode, und aus Gründen der »Volksgesundheit« wird es offiziell empfohlen. Mir aber ist es zu hart, zu trocken, zu fad. Eine salzige Brezn, ein remisches Weckerl mit Kümmel drauf oder eine Mohnsemmel – das alles gibt es im Bäckerladen meiner Eltern Ecke Arcis-/Georgenstraße – die schmecken da schon ganz anders! Auch die Kindergärtnerin, die meine verehrte Tante Tine einige Wochen zu vertreten hat, will uns eines Tages für das Knäckebrot begeistern. Dabei sagt sie: »Und die Kinder, bei denen es so richtig knackt, wenn sie in Zukunft ihr Pausenbrot essen, die sind mir die liebsten.« Jetzt mag ich sie alle beide nicht mehr: das Knäckebrot und die »Aushilfs-Tante«.

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Vor der Elisabethschule am ersten Schultag 1937

Vom Tambourmajor begeistert

Man sollte aus derlei Begebenheiten nicht schließen, dass ich generell ein kleiner Nonkonformist gewesen wäre. Ich hatte zum Beispiel durchaus ein Faible für das Militärische, wenn es mit Glanz und Gloria daherkam. Angeregt wird die Begeisterung wohl durch die Uniformstücke, Orden, Säbel und Helme, die mir mein Großvater immer wieder zeigen muss, wenn wir ihn in der Neuhauser Albrechtstraße besuchen. 1869 geboren, hat er einst als Artillerist, dann als königlich bayerischer Hartschier gedient und ist 1929 als Hauptmann der Bayerischen Landespolizei in Pension gegangen. Von ihm und der Großmutter – es waren die Eltern meiner Mutter – bekomme ich auch die ersten Lineol- und Elastolin-Soldaten nebst Ritterburg mit Zugbrücke; und einmal ein Schürzchen, das – mit Silberknöpfen bestückt – eine Ulanenuniform imitiert. Der Opapa bastelt mir dazu aus silbernem Staniolpapier eine Schifferlmütze. So uniformiert laufe ich des Öfteren ein Stück neben den Soldaten her, wenn sie, vom Kasernenviertel kommend, durch die Georgenstraße in Richtung Leopoldstraße ziehen – voraus meistens ein berittener Offizier, dann der Tambourmajor, der ab und zu – was natürlich besonders bewundernswert ist – seinen Stab in die Luft wirft und geschickt wieder auffängt. Dahinter folgen die Trommler und Pfeifer und schließlich der Musikzug, der immer dann einsetzt, wenn Trommeln und Pfeifen verstummen. Gern erfüllt man mir meinen Wunsch, auch so eine Trommel und einen Tambourstab zu besitzen. In jedem größeren Spielwarengeschäft – ob Obletter, Wiedling, Wahnschaffe oder Schmidt – werden solche Attribute angeboten. Wenn jedoch die SA marschiert, lockt mich das nicht heraus. Es reicht, dass der Großvater sagt, das seien keine gescheiten Soldaten. Später, als er nach dem Tod der Großmutter 1936 zu uns zieht, habe ich oft Gelegenheit, von ihm zu erfahren, warum er diese Ansicht vertritt. Ich will ihm in dem Zusammenhang noch ein eigenes Kapitel widmen.

»Kampf dem Verderb«

In der Volksschule – das erste Jahr noch in der Elisabethschule, die man 1938 zur Berufsschule umwandelt, dann bis 1941 in der Schwind-Schule – bekomme ich, vielleicht auch dank neutraler Lehrer, nur wenig vom »neuen Geist« zu spüren. Die Lehrer sind jeweils ältere Herren, die nicht mehr lange auf ihre Pensionierung warten müssen. Zunächst ist es der fast immer heitere Lehrer Seewald, der uns den ersten Schultag gleich mit einer bunten Osterhasenszene schmackhaft macht, die er auf die Tafel malt. Für einen Elternabend freilich müssen auch schon wir Kleinen neben dem unverdächtigen Lied »Fidelhänschen geig’ einmal« noch als »das Fett«, »das Brot« und »das Fleisch« verkleidet, eine Szene spielen, die unter dem Motto »Kampf dem Verderb« steht.

In der Schwind-Schule ist es dann Herr Elsner, der seine Güte hinter einem dichten Rauschebart versteckt. Nachdem er die Klasse wieder abgegeben hat, lädt er uns in kleinen Gruppen zu sich nach Hause in die Horscheltstraße ein. Dort holt er mit einer Winde seine raumfüllende, selbst gebastelte elektrische Eisenbahn samt Landschaft von der Zimmerdecke herunter und setzt sie vor den staunenden Kinderaugen in Betrieb. Schließlich folgt der etwas nervös-schusselige Lehrer Geiling, der uns gern Aufsätze schreiben oder – zur Vorbereitung auf den Übertritt in eine höhere Lehranstalt – Textaufgaben lösen lässt. Auf diese Weise hat er mehr Ruhe, die Hefte zu korrigieren, die sich auf seinem Pult stapeln. Er bringt sie häufig aus einer Kaufmannsschule mit, an der er ebenfalls unterrichtet. Obwohl ich einmal ein paar Tatzen von ihm kassiere, weil ich aus irgendeinem Grund nicht mehr aufhören kann zu lachen, bleibt er mir sympathisch. Denn, ich muss bei ihm nur den Finger heben und zu ihm sagen, »Herr Lehrer, ich wüsste ein Gedicht« – und schon darf ich mich auf eine hintere Bank absentieren und mit dem Schreiben beginnen. Auf diese Weise entstehen im vierten Volksschuljahr vier Jahreszeiten-Gedichte, von denen ich nur mehr die ersten vier Zeilen des Frühlingsgedichts in Erinnerung habe: »Der Frühling kommt ins Land gezogen / mit vielen Freuden kommt er her/ auch mancher Wind kommt angeflogen / und manche Wolke, groß und schwer …«

»Das ist der neue Rhythmus …«

Außerhalb der Schule registriere ich in diesen letzten Friedensjahren zunächst noch manches von der Glanzseite des »neuen Geistes«. Wie lautet doch der Refrain in einem Couplet, das ein schwarz befrackter Sänger bei irgendeiner Nachmittagsveranstaltung, zu der mich die Eltern mitnehmen, schmettert? Ein Ohrwurm, dem manche Erwachsene bald ein mehrdeutiges »Ja mei« voransetzen, wenn sie daraus den Satz zitieren: »Das ist der neue Rhythmus / mit dem ein jeder mit muss!« Und auch ich bekomme schon etwas zu spüren von der allgemeinen Freude über das Ski-Ass Christl Cranz und das Eislauf-Paar Maxi Herber/Ernst Baier, die bei den Olympischen Winterspielen 1936 in Garmisch-Partenkirchen Gold für Deutschland holen. »Da hat auch die Maxi Herber schon als ganz kleins Mädel immer geübt«, erzählt mir die Mutter, wenn wir beim sonntäglichen Winterspaziergang dem lustigen Eislauf-Völkchen auf dem gefrorenen Kleinhesseloher See zuschauen. Mit ihr darf ich eines Nachmittags auf dem Flughafen Oberwiesenfeld sogar zum Rundflug in die »Kindermöwe« steigen – eine JU 52, die eine knappe halbe Stunde über der Stadt und dem Alpenvorland kreist. Erwachsene zahlen zehn, Kinder fünf Mark. Besonders imponiert mir der Blick von oben auf den Starnberger See. Wiederholt erscheint mir die Szenerie noch Monate nach diesem Abenteur im Traum.

Ende September 1938. Obwohl sich das große Ereignis in unserer Arcisstraße abspielt – wenn auch ganz »droben«, wo sie beginnt – bekomme ich von dem Riesenrummel rund um das »Münchner Abkommen« außer den vielen Fahnen in der Stadt nichts zu sehen. Auch sind meine Eltern nicht unter den Tausenden, die sich rund um den von SS-Posten abgesperrten »Königlichen Platz« – so der neue Name – versammeln, um den Staatsmännern zuzujubeln. Dazu hätten sie auch gar keine Zeit. Wohl aber registriere ich bei ihnen die Erleichterung darüber, dass sogar England und Frankreich der Einverleibung des Sudetenlands zustimmen, dass es offenbar doch nicht zu dem von ihnen befürchteten Krieg kommt. »Daladier, sei so nett, zeig’ dich mal am Fensterbrett!«, habe eine Menschenmenge immer wieder vor dem Hotel Vier Jahreszeiten skandiert, erzählen sie mir. Und überall spielt man jetzt den »Egerländer Marsch«. Sogar der Vogel-Jakob serviert ihn mit einer ausgeleierten Schallplatte auf der Auer Dult. Weiß der Teufel warum – ich hab’ das Gekratze von diesem Marsch noch heut’ im Ohr.

Auch von den großen Festzügen zum »Tag der deutschen Kunst« – 1937, 1938 und 1939 – krieg’ ich selbst keinen zu sehen. Aber auf dem Stachus verkauft man an einem eigens aufgebauten Kiosk besonders attraktive Teile dieses Zugs in Form von Zinnfiguren. Gern hätte ich wenigstens so einen prunkvollen »Sonnenwagen« oder den »Mondwagen« besessen, wie einer meiner Freunde. Doch leider heißt es daheim: »Ah geh, des is doch a Krampf.« Und die Figuren sind auch viel teuerer als die »Kieler Zinnsoldaten«, von denen ich einige Schächtelchen besitze, darunter den »Alten Fritz« mit seiner Garde. Komplett, sagt man mir, koste so eine vollständige Festzugs-Garnitur weit über hundert Mark.

Apropos Festzug: In der Brienner Straße sehe ich 1939 den letzten Faschingszug vor dem Krieg. »Regentropfen, die an dein Fenster klopfen / das merke dir / sie sind ein Gruß von mir«, tönt es immer wieder aus den Lautsprechern. Es ist der Schlager der Saison. Und »der« Lacherfolg beim Publikum ist ein Wagen mit einem riesigen, wohlbeleibten Pappmaschee-Münchner samt Dackel. In regelmäßigen Abständen tönt es aus seinem Mund, zunächst ausgesprochen gemütlich, »Griass Goood« … »Hawedieeeehre« und wechselt dann unversehens in ein kurz und scharf herausgestoßenes »Heil Hitler!«. Dazu schnellt der rechte Arm der Figur rasant und zackig nach oben. Dass der »neue Rhythmus« so frech auf den Arm genommen wird, empfinden viele Zuschauer schon als ganz schön mutig – und klatschen begeistert.

Christian Weber wird rabiat

Mit der Mutter in der Maximilianstraße unterwegs, bestaune ich irgendwann im August 1938 über dem Eingang zu den Kammerspielen riesige, goldfarbene Pferdeköpfe. »Schaugt’s in den Hof hinter, da sitzen die Schauspieler grad auf’m Gaul und reiten im Kreis rum«, verkündet ein Mann. Gern würde ich nachschauen, ob vielleicht dieser Willem Holsboer mit dabei ist, der mich im letzten Winter als Maikäfer Sumsemann in »Peterchens Mondfahrt« so begeistert hat. Oder die Gundel Thormann, die das Peterchen gespielt hat, und von der ich gar nicht glauben wollte, dass es sich in Wahrheit dabei um ein Mädchen handelt. Doch die Mama winkt ab. Ihr pressiert’s.

Aber warum denn überhaupt Pferdeköpfe an dieser Stelle? Die Kammerspiele sind doch nicht das Hippodrom! Es sind die Tage, an denen Christian Weber, vormals Rossknecht und Hausl im »Blauen Bock«, der, wie die Leute sagen, beim »Marsch zur Feldherrnhalle« 1923 schützend vor Hitler gesprungen sein soll, wieder einmal für das »Braune Band von Deutschland« die Werbetrommel schlagen lässt. Es handelt sich dabei um das von ihm kreierte, höchstdotierte internationale Galopprennen Deutschlands. Weber gehört zu den Nazi-Rabauken, die 1933 die gewählten Stadträte von SPD und Bayerischer Volkspartei aus dem Rathaus geprügelt haben. Er ist nicht nur Präsident des Münchener Rennvereins in Riem, sondern auch SS-Brigadeführer, Präsident des Kreistags München-Oberbayern, Ratsherr der »Hauptstadt der Bewegung« und Leiter des Münchner Ausstellungsparks sowie des Deutschen Jagdmuseums. Der seiner Brutalität wegen gefürchtete Prolet wird aber auch oft bespöttelt – nicht zuletzt als »Erfinder« der kitschig-frivolen »Nacht der Amazonen« im Nymphenburger Park, wozu ihn das Pariser Folies-Bergère animierte. Weil er um diese Zeit auch eine Art Ober-Aufsicht über die Kammerspiele im Schauspielhaus hat, benützt er sie dazu, dort die Aufführung eines Stücks mit dem Titel »Das braune Band« für dieses Turf-Ereignis anzuordnen. Deshalb auch die auffallenden goldfarbenen Rossköpfe vor dem Theater.

Richtig aufregend – und das nicht nur für mich – ist jedoch im Spätsommer 1939 ein Ereignis auf der Galopprennbahn in Riem, das ebenfalls im Zusammenhang mit besagtem Christian Weber steht. Ich darf Großvater und die Eltern dorthin begleiten. Der »Deutsche Alpenpreis« steht auf dem Programm. Er gilt als das bedeutendste deutsche Hindernisrennen und schließt jeweils die alljährliche Braune-Band-Woche ab. Zum letzten Mal für lange Zeit sitzen Angehörige des Diplomatischen Corps aus den europäischen Nachbarländern in den Ehrenlogen. Angespannte Stimmung. Der Kriegsbeginn scheint schon in der Luft zu liegen.

An der Steinmauer, nahe der Haupttribüne, kommt der aus der Schweiz entsandte Schimmelwallach Le Rex zu Fall und bricht sich ein Schulterblatt. Weber, der mit seinem Schmerbauch und der weißen Uniformjacke wie ein Westentaschl-Göring in der Königsloge thront, schickt seinen Adjutanten auf das Geläuf hinunter – wie sich zeigt mit dem Auftrag, das Pferd zu erschießen. Es kracht einmal, zweimal, dreimal – doch das Tier fällt nicht um. Pfiffe und Buhrufe wachsen zum Orkan an. Als Retter der Situation ergreift kurzerhand Wehrmachts-Veterinärarzt Dr. Volkmann mit der linken Hand das Kopfgestell des Schimmels, hält mit der rechten seine Pistole an dessen Schläfe und drückt ab. Le Rex bricht sofort tot zusammen und wird abtransportiert. Der erfolglose Adjutant kehrt zu seinem Platz zurück. Sein Chef hat sich ebenfalls von seinem Logenplatz erhoben und auf den Weg gemacht. Mitten auf der Bahn, direkt vor dem Zielrichterhaus, treffen beide zusammen. Der Unglücksrabe steht stramm. Weber reißt ihm vor Tausenden von Zuschauern beide Achselstücke ab und wirft sie ihm vor die Füße. Schlimmere Folgen scheint das Ereignis für den erfolglosen Schützen aber dann doch nicht gehabt zu haben. Schon ein paar Wochen später sehe ich ihn wieder in Daglfing unter dem Rennbahnpublikum – allerdings in Zivil.

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Schon 1938: Höhepunkt eines jeden Besuchs bei den Großeltern in Windach war ein Ritt auf Opas »Waglross«.

Übrigens hat jener berüchtigte Christian Weber sogar noch im Frühjahr 1945, wenige Stunden vor dem Einmarsch der amerikanischen Truppen in München, einen Mord auf sein Gewissen geladen. Sein letztes Opfer war Hans Scharrer, der Hausinspektor im Rathaus. Wie ich seinerzeit aus der allerersten Nummer der »Süddeutschen Zeitung« vom 8. Oktober 1945 erfuhr, wurde Scharrer am frühen Morgen des 29. April vom Nachtwächter geweckt. Ein Offizier mit einigen Soldaten – Angehörige der »Freiheitsaktion Bayern« (FAB) – fahndeten nach Weber, um ihn, wie sie bekundeten, »im Auftrag des Generalkommandos und des Reichsstatthalters von Epp« zu verhaften. Seit sein Büro in der Residenz zerstört war, hatte sich der »Herr Präsident« in einem Rathaus-Büro einquartiert. Wohl wissend, dass er dort auch übernachtete, führte der Hausinspektor die Soldaten zu ihm. Die Abordnung nahm Weber fest, um ihn mit dem Auto ins FAB-Hauptquartier nach Erding zu bringen. Doch unterwegs traf man auf eine schwerbewaffnete SS-Abteilung und musste den Gefangenen wieder laufen lassen. Wutschnaubend zurückgekehrt, ließ Weber nun den Hausinspektor festnehmen, in die Räume der Gauleitung an der Brienner Straße verbringen und dort von einem Volkssturm-Mann ohne jede Anhörung erschießen.