Alexander Huber
Sabine Kriechbaum
André Stern
alphabet
Angst oder Liebe

 

 

1. Auflage
© 2013 Ecowin Verlag, Salzburg
Mit freundlicher Genehmigung der
henschel Schauspiel Theaterverlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten.
Der Film „alphabet“ ist eine Produktion der Prisma Film- und
Fernsehproduktion GmbH und der Peter Rommel Productions Berlin.
© der Fotos: Erwin Wagenhofer, Sabine Kriechbaum, André Stern,
Prisma Film- und Fernsehproduktion GmbH
Lektorat: Joe Rabl
Cover: artwork: esterer und horn, Foto: thomas röher, www.H2OFoto.de
Umschlaggestaltung: Saskia Beck
Gesamtherstellung: www.theiss.at
Printed in Austria
ISBN 978-3-7110-5095-3

 

www.ecowin.at

Inhalt

Prolog

Bildungsvorbild China

Der Hirnforscher und die Denkmuster

Ranking und Profit

Das Spiel und die Spur

Arno Stern

Machen oder Gelingen

Längstdienender Personalchef Deutschlands

Jobs versus Arbeit

Die Besten der Besten

Die im Dunkeln sieht man nicht

Die geschlossene Angstgesellschaft

Werdegang einer guten Schülerin

Von der Verzweckung der Kindheit

„Born to be good“ oder „The dog eat dog society“

Von Mutigen, die andere Wege beschreiten

Seismografen der Gesellschaft

Jeder ist anders

Nützliches und Unnützes

Epilog

Unser Dank geht an

Literatur- und Quellenverzeichnis

Weiterführende Literatur

 

 

Erwin Wagenhofer

Sabine Kriechbaum

André Stern

ALPHABET

Erwin Wagenhofer
Sabine Kriechbaum
André Stern

 

ALPHABET

 

Angst oder Liebe

 

 

ecowin_Logo_Schwarz

Oft im Leben ist es einfacher, eine Sache zu beschreiben, indem man sagt, was sie nicht sein soll. Von Anbeginn des Projekts ­„alphabet“ war geplant, auch ein Buch zu machen, und von ­Anfang an war klar, dass es weder ein Buch zum Film „alphabet“ werden soll noch eine Art pädagogischer oder sonstiger Ratgeber. Was wir zeigen und mitteilen wollten, war: Es geht auch anders und es wäre gar nicht so schwer, wäre da nicht unser aller vor­gefasste Meinung, man könne nichts ändern.

Es gibt keine Alternative, hört man oft von mächtigen Leuten, meistens von solchen, die von uns vielen einen immerzu wachsenden Beitrag verlangen – zur Geldvermehrung von wenigen. Wie ein Naturgesetz zieht sich dieser Irrglaube durch unser Leben und hinterlässt dort die Spuren der Erschöpfung.

Wir wollen in diesem Buch kleine Geschichten skizzieren, denen wir mit dem Film begegnet sind, auch jene, die dort keinen Platz gefunden haben, aber es wert sind, festgehalten zu werden. Und wir wollen eine ganz konkrete Geschichte erzählen, die ­Geschichte eines kleinen Erdenbewohners, der so alt ist wie dieses Film- und Buchprojekt. Der parallel dazu organisch gewachsen ist, in einer natürlichen Umgebung und auf eine Art und Weise, wie es vielen Kindern heutzutage leider vorenthalten wird.

Und wir wollen mit diesem Buch Mut machen, das Alte loszulassen, aus unserem selbst gewählten Gefängnis hinauszutreten durch die bereits geöffneten Türen, um dem Neuen zu begegnen, das auf uns wartet.

Anfang Sommer 2008 fanden die letzten Dreharbeiten zu „Let’s Make Money“ statt, und zwar auf der Kanalinsel Jersey und in der City of London. Längst war der Welt klar, dass da eine Krise größeren Ausmaßes auf sie zurollt, eine Krise, die nicht vom Himmel gefallen ist, sondern von Menschen in die Welt gesetzt wurde, wie die meisten Krisen, die uns heimsuchen.

Wer in der City of London, dem größten und bedeutendsten Finanzplatz der Welt, einen Job haben will, muss entsprechende Zeugnisse vorweisen können. Nur die Besten der Besten be­kommen Zutritt zu den heiligen Hallen des Kapitals, wo zwar kein Cent vorhanden ist, aber viele Billionen im Sekundentakt durchgeschleust und manipuliert werden.

Wer hier arbeitet, muss einiges mitbringen; einen Universitätsabschluss sowieso, blitzschnelle Auffassungsgabe, Fähigkeiten im ultraschnellen Kombinieren und Herstellen von Zusammenhängen, Risikobereitschaft sowie enorme Ausdauer und großes Beharrungsvermögen. Denn die Routinen wiederholen sich Stunde um Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Ausgetauscht werden ­lediglich die Produkte und ihre globalen Zusammenhänge. Verdienen kann man an allem, wie sich herausgestellt hat, die Produkte will man allerdings nur, solange sie Profit abwerfen, oft sind das nur Millisekunden. Eigentlich ein Widerspruch zum wirklichen Leben, in dem Dinge angeschafft werden, damit sie lang halten und einem Freude machen. Aber um Werte geht es auf den großen Finanzplätzen der Welt längst nicht mehr, es geht um Profit! Um diesen fortwährend zu maximieren, braucht man junge Menschen, die an den besten Universitäten der Welt ausgebildet wurden.

Als ich in den Frühsommertagen 2008 in Jersey und London die vielen gut gekleideten und bestens ausgebildeten Leute beobachten durfte, spürte ich, dass hier etwas nicht stimmt, denn hier laufen in sehr konzentrierter und komprimierter Art und Weise Vorgänge ab, die von individuellen Interessen getrieben werden, und die Folgen dieses Tuns werden gar nicht berücksichtigt.

Im März 2009, die sogenannte Finanzkrise war längst mit voller Wucht über uns und die Welt hereingebrochen, just an dem Tag, als in London der G20-Krisengipfel stattfand, gab es an der Wirtschaftsuniversität Wien eine Sondervorführung von „Let’s Make Money“ vor mehr als tausend Studenten und anderen Interessierten.

Ich wurde gebeten, anschließend an einer Podiumsdiskussion teilzunehmen, und wurde vom Rektor der WU Wien freundlich in dessen Arbeitszimmer empfangen. Die Stimmung unter den Gästen, die allesamt aus dem wirtschaftlichen und dem universitären Bereich kamen, war sehr angespannt, geradezu deprimierend. Irgendwann nahm mich der Rektor zur Seite und zeigte auf ein sehr großes Bücherregal an der Wand seines Arbeits­zimmers. Hier seien, so versicherte er mir, die ganzen je geschriebenen Standardwerke der Wirtschaftswissenschaften versammelt, und nach einer längeren Pause fügte er hinzu: Angesichts dieser Krise können wir all das, was in den Büchern steht, vergessen und ­müssen ein komplett neues System erfinden, damit es in Zukunft nie mehr zu solchen wirtschaftlichen Katastrophen kommt.

Heute wissen wir, wie dieses neue System in der alltäglichen Praxis aussieht. Das Neue ist einfach nur: „Mehr vom Alten!“ In den Lehrplänen und Büchern der Wirtschaftswelt wurde kein einziger Beistrich geändert, seit diese Krise über uns herein­ge­brochen ist.

Selbst wenn die Menschen längst spüren, dass es so nicht weitergehen kann, halten sie verzweifelt am Alten fest und bekommen daher schwer die Hände frei für das Neue – eine menschliche Reaktion aus der alten Welt, aus der Welt der geschlossenen Angstgesellschaft.

Zwischen diesen beiden Momenten im Frühsommer 2008 und im Frühjahr 2009 hat sich in mir der Gedanke gefestigt, einen Film über dieses Thema zu machen, also die ganz logische Fortsetzung der vorangegangenen Filme „We Feed The World“ und „Let’s Make Money“, nämlich einen Film darüber: Wie ernähren wir uns geistig? Und schnell wurde mir klar, dass es darin nicht nur um Bildung gehen wird, sondern vor allem um Haltung!

Haltung ist etwas, das man nicht unterrichten, sondern nur vorleben kann, und Bildung ist etwas, das man nicht erzwingen, nicht machen kann, sondern das zur Verfügung gestellt werden sollte wie der üppige und unerschöpfliche Speisezettel des Lebens.

Die Idee zu diesem Film und zu diesem Buch war also nicht, Bildungssysteme miteinander zu vergleichen oder gar zu bewerten, sondern von einem nicht mehr tauglichen Ist-Zustand ausgehend die Zuschauer und Leser auf eine Reise einzuladen, deren Ziel es ist, in Bewegung zu kommen, um selbst die ersten Schritte zu tun.

Leben meint Bewegung. Demokratie meint so viele wie nur möglich.

Die Verantwortung für die Folgen unseres Tuns zu über­nehmen, meint uns alle.

Viele von uns assoziieren mit dem Wort Bildung einen Ort, und dieser Ort heißt Schule. Fast jeder von uns in der sogenannten westlichen Welt hat irgendwann in seinem Leben eine Schule besucht; ob er oder sie dort gebildet worden ist, kann nur jeder für sich beantworten.

Die Schule als Institution ist in unseren Gegenden seit gut hundert Jahren ein fester Bestandteil der Gesellschaft und für viele ist daher der Gedanke, keine Schule besuchen zu können oder zu dürfen, unvorstellbar.

Es gibt jedoch genug Gegenden, Länder und Gesellschaften, wo Kindern und Menschen das simple Erlernen von Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben oder die einfachen Regeln der Grundrechnungsarten verwehrt bleiben. Aus den unterschiedlichsten Gründen, aus finanziellen, zeitlichen oder ideologischen/religiösen, werden Menschen davon abgehalten, an Informationen zu gelangen, die ihr Leben verändern, ihr Bild von der Welt in einer Weise zurechtrücken und ihr Dasein erheblich verbessern könnten.

Es ist eine traurige Tatsache, dass Kindern – vor allem Mädchen und jungen Frauen – die Möglichkeit verwehrt wird, sich zu bilden und dadurch ihr Leben und jenes ihrer Familien zu ver­bessern und menschenwürdiger zu gestalten.

Über diesen Zustand einen Film und ein Buch zu machen, war aber nicht unser Ziel. Es ging vielmehr darum, vor der eigenen Haustür zu kehren. Denn eines ist klar: Unser westliches Modell einer sogenannten modernen, fortschrittlichen Gesellschaft ist einerseits ins Stocken geraten und an seine Grenzen gestoßen und wird andererseits als alternativloses Patentrezept verkauft. Es ist aber weder ehrenhaft noch verantwortungsvoll, etwas als die einzige Lösung in die Welt hinauszuposaunen, was längst veraltet ist. Denn das Neue ist nicht die Fortschreibung des Alten, wie uns die Geschichte lehrt.

Bildungsvorbild China

Die Dreharbeiten in China waren, was die Organisation betrifft, nicht ganz einfach. China ist nicht nur weit weg, sondern auch eine für uns Mitteleuropäer schwer zu verstehende Kultur.

Schon für „Let’s Make Money“ haben wir 2008 in China gedreht, nicht zuletzt in einer Wanderarbeiter-Schule, also kannte ich die Verhältnisse ein wenig und war daher sehr hellhörig, wenn China in PISA-Studien als großes Vorbild angepriesen wird.

Ich wusste von den circa 180 Millionen Menschen, die allein 2008 vom Land in die Städte zogen und dort quasi in einem rechtlosen Status leben, die die Wolkenkratzer hochziehen und unsere Konsumartikel, oft unter skandalösen Umständen für Mensch und Umwelt, herstellen.

Asien und ganz speziell China wird von vielen Unternehmern und auch Politikern immer wieder drohend ins Treffen geführt, wenn es darum geht, Jobs auszulagern und damit den Profit zu erhöhen. Diese Jobkeule, die mittlerweile seit Jahrzehnten geschwungen wird, ist es, die viele Leute bei uns in Angst und Schrecken versetzt. Dass dies jetzt auch mit dem Argument gemacht wird, die bilden ihre Kinder besser aus und diese Kinder sind viel fleißiger als die Kinder bei uns, diesem Argument wollten wir im Film begegnen.

Yang Dongping, Professor für Pädagogik der Naturwissenschaftlichen Universität Peking und Regierungsbeauftragter in Bildungs­fragen, sahen wir zum ersten Mal in einer Fernsehserie des staatlichen chinesischen Fernsehens zum Thema „Schulen in China“ und er war mir sofort sympathisch. Seine Art zu sprechen und seine Ausstrahlung hatte nichts vom Klischee eines chinesischen Partei-Apparatschiks der alten Schule.

reportage

Es gelang uns tatsächlich, Yang Dongping für unseren Film zu ­gewinnen, und im März 2012 saßen wir ihm dann in einem Restaurant gleich bei der Universität, wo er als Professor arbeitet, gegenüber.

Sofort ist klar, wir haben es mit einem sehr feinfühligen Menschen zu tun. Er hat sehr zarte Hände, spricht mit zurück­ge­nommener Stimme und ist auf keinen Fall ein Mensch, der sich aufdrängen oder gar wichtig machen will.

Da er kein Englisch spricht, läuft das Gespräch über einen Dolmetscher, eine holprige Angelegenheit, die aber auch Vorteile hat. Während er auf die gestellten Fragen sehr ausführlich in ­seiner Muttersprache antwortet, bietet mir dies Gelegenheit, ihn zu beobachten, was auch ihm nicht verborgen bleibt. Schließlich ist er damit einverstanden, dass wir ihn bei einer Exkursion aufs Land begleiten und dass er uns in Peking für einige Stunden zur Verfügung steht. Damit ist eine weitere Hürde auf dem Weg zum Film genommen.

Von all den Personen, die mir bei „alphabet“ begegnet sind, wird mir Yang Dongping als einer der Warmherzigsten in Erinnerung bleiben.

Q Pei ist elf Jahre alt und geht in die Volksschule in Wuhan, einer Millionenstadt in Mittelchina, am Jangtsekiang gelegen. Seine Großmutter setzt alles daran, aus ihrem Enkelsohn das Beste ­herauszuholen.

Es ist ganz typisch in China, dass Kinder bei ihren Großeltern aufwachsen, da die Eltern, eingespannt in die extrem fordernde Arbeitswelt, kaum Zeit für die Kinderbetreuung aufbringen könnten, zumal sie auch fast immer weit entfernt von ihren Familien in großen Städten ihrer Arbeit nachgehen.

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Von früh bis spät begleitet die Großmutter Q Pei zur Schule, zum Nachhilfeunterricht und zu Wettbewerben. Q Pei schildert uns seinen Tagesablauf:

„Jeden Tag stehe ich um 7:10 Uhr auf, frühstücke und gehe dann in die Schule, um 12:30 Uhr komme ich heim, nach einer kurzen Pause gehe ich dann wieder in die Schule. Meistens endet die Schule um 16:10 Uhr, mittwochs und freitags um 15:30 Uhr. Zu Hause mache ich die Hausaufgaben, circa um 17:00 Uhr bin ich damit fertig. Danach schaue ich fern oder mache eine Pause. Um 20:00 Uhr gehe ich in die Nachhilfe. Normalerweise dauert die Nachhilfe bis 21:30 Uhr, aber wenn ich zu vertieft bin, dann bis circa 22:00 Uhr. Danach bereite ich noch die Materialien für den nächsten Tag vor und gehe ins Bett. Samstags schreibe ich einen Aufsatz für die Schule, danach mache ich andere Hausaufgaben der Nachhilfeschule oder spiele ein paar Mathespiele zur Entspannung oder wiederhole für die Matheolympiade. Um circa 11:30 Uhr kommt mein Bruder zurück, dann essen wir, dann gehe ich mit meiner Oma oder meinem Onkel zum Nachhilfeunterricht. Am Sonntag mache ich die Hausaufgaben meines Nach­hilfelehrers. Nach dem Mittagessen lässt mich meine Oma dann den PC einschalten und ein bisschen spielen. Bis zum Abendessen mache ich wieder Hausaufgaben.“

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Prolog

„Ich glaube, unsere einzige Hoffnung für die Zukunft ist, ein neues Konzept von menschlicher Ökologie anzunehmen. Eines, in dem wir unsere Idee des Reichtums menschlicher Fähigkeiten neu entwickeln. Unser Bildungssystem hat unsere Köpfe genau so ausgebeutet, wie wir die Erde ausbeuten: um eines bestimmten Rohstoffs willen. Und für die Zukunft wird uns das nichts nützen. Wir müssen unsere fundamentalen Prinzipien, nach denen wir unsere Kinder ausbilden, überdenken.“

Sir Ken Robinson

Sir Ken Robinson, selbst Musik-Begeisterter, ist in Liverpool, der Heimatstadt der Beatles, aufgewachsen und lebt heute mit seiner Familie in Kalifornien, seit ihn die Getty Foundation 2001 nach Los Angeles geholt hat.

Er ist ein international renommierter Bildungsberater, Redner und Autor und arbeitet für Regierungen, Konzerne und einige der bedeutendsten Non-Profit-Organisationen der Welt. Seine Mission sieht er darin, durch einen weiter reichenden Begriff von menschlicher Kreativität und Intelligenz zur Transformation der Bildungskultur, der Wirtschaft und der Gesellschaft beizutragen. Berühmt gemacht haben ihn seine TED-Talks, die von mehr als 250 Millionen Menschen gehört wurden. Queen Elizabeth II hat ihn für seine Verdienste im Bildungsbereich in den Adelsstand erhoben.

In seinem Buch „The Element: How Finding Your Passion Changes Everything“ berichtet Robinson, dass sein Leben eigentlich völlig anders verlaufen hätte sollen, wenn nicht eine Polio-Infektion den vierjährigen Ken teilweise gelähmt zurückgelassen hätte. Bis dahin war er ein passionierter Fußballspieler gewesen, nun war er gezwungen, seine Interessen zu verlagern und das Beste aus der neuen Situation zu machen, der Traum seiner Fußballerkarriere war sehr früh geplatzt.

„Ich weiß nicht, was für ein Fußballspieler ich geworden wäre. Ich weiß aber, dass die Kinderlähmung mir sehr viel mehr Türen öffnete, als sie mir damals verschloss.“ Eine Katastrophe war zu einer unerwarteten Serie von Chancen geworden. Ken Robinson studierte, fand immer wieder zur rechten Zeit die richtigen Mentoren, die ihn in seinen Talenten bestärkten, beschäftigte sich intensiv mit Wissenschaft, Kunst und Pädagogik. Sein Hauptaugenmerk gilt der Entwicklung von Kreativität und Innovation, genauer gesagt weist er darauf hin, wie wichtig es ist, den Kindern die ihnen von Anfang an innewohnende Kreativität und Neugierde nicht mit rigiden Bewertungs- und Erziehungssystemen auszutreiben.

Als Erwachsene neigen wir dazu, ohne nachzudenken meistens Nein zu sagen, was uns viele Optionen, die womöglich zu neuen Lösungen geführt hätten, verwehrt.

Das führt letztendlich dazu, dass – wie Untersuchungen zeigen – nur mehr zwei Prozent der Menschen im Erwachsenenalter über fünfundzwanzig in höchstem Maß kreativ sind, obwohl wir fast alle als hochbegabte Wesen geboren werden. George Land und Beth Jarman, Autoren des Buches „Breakpoint and Beyond: Mastering the Future – Today“, erklären, woran das liegen könnte: Während wir aufwachsen, übernehmen wir vorgefasste Meinungen, Werturteile, Antworten und Glaubenssätze unserer Umgebung, die uns ständig zu verstehen gibt, was gut und schlecht, richtig und falsch, schön und hässlich, erwünscht und unerwünscht ist, und so lernen wir, uns selbst so sehr zu limi­tieren, dass jegliche Kreativität im Keim erstickt wird.

Fragen Sie einen Fünfundzwanzigjährigen, ob er mit Ihnen singen möchte, wird er ziemlich sicher antworten: „O nein, Singen war noch nie meine Stärke. Ich singe so falsch, das kann ich Ihnen nicht antun.“ Laden Sie ihn zum Tanzen ein – ganz ähnlich: „Ich hatte immer schon zwei linke Beine, nie kann ich mich im Takt bewegen, nein, das kann ich leider nicht.“

Fragen Sie aber kleine Kinder, sagen sie fast immer mit Begeisterung: „Ja!“ Sie wollen singen, sie wollen tanzen, sie wollen malen, sie experimentieren mit allem, was ihnen begegnet!

Allerdings, und das ist die gute Nachricht, bestätigen die Forscher auch, dass dieser kreative Genius niemals völlig verschwindet, sondern weiter in uns schlummert – bereit, hervor­zubrechen, sobald Freiraum dafür da ist.

„We do have this extraordinary power – I mean the power of imagination. Every feature of human culture is the consequence of this unique capacity. A capacity that has produced the most extraordinary diversity of human culture, of enterprise, of inno­vation.

But I believe that we systematically destroy this capacity in our children and in ourselves.

I pick my words carefully. I don’t say ,deliberately‘.

I don’t think it’s deliberate, but it happens to be systematic.

We do it routinely, unthinkingly, and that’s the worst of it.

Because we take for granted certain ideas about education, about children, about what it is to be educated, about social need and social utility, about economic purpose.

We take these ideas for granted, and they turn out not to be true.“ Sir Ken Robinson

Unsere Gedanken schreiben wir mit einem gewissen, metaphorischen Wortschatz, der selbst aus einem aus Erfahrungen, Be­griffen und Konditionierungen zusammengesetzten Alphabet ­besteht.

Wie wir auf das Leben vorbereitet werden, hängt also davon ab, wie wir erzogen, sozialisiert und letztlich gebildet werden, mit anderen Worten: welches „Alphabet“ wir übergestülpt bekommen, mit dem ausgerüstet wir dann auf und in die Welt losgehen.

Laut Deepak Chopra, Autor und Mediziner, haben wir rund 60.000 Gedanken täglich; das Beunruhigende daran ist die Tat­sache, dass 95 Prozent der Gedanken, die wir heute haben, identisch sind mit denen von gestern. Der Mensch ist demnach ein Bündel konditionierter Reflexe, mit denen er in voraussehbaren biochemischen Reaktionen und Verhaltensmustern auf äußere Reize reagiert.

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Wenn man mit Menschen redet, die mit Fischen in Aquarien ­ ­experimentieren, erfährt man so einiges. Zum Beispiel, dass man in einem richtig großen, naturgetreuen Aquarium vier Wände aus Glas bauen und Fische in diesem „Aquarium im Aquarium“ frei schwimmen lassen und beobachten kann. Zuerst stoßen sie an die durchsichtigen Wände an. Bald aber kennen sie ganz genau die Grenzen ihres Reichs. Entfernt man die Glaswände nach einiger Zeit, schwimmen die Fische weiterhin im Viereck – den von ihnen registrierten Grenzen entlang, obwohl es sie nicht mehr gibt.

22. März 2010
Wir sind seit zwölf Tagen mit Antonin im Krankenhaus. Es geht ihm viel besser. Vor wenigen Tagen ist er drei Monate alt ge­worden. Ich habe heute eine E-Mail von Sabine Kriechbaum erhalten. Mitten in diesen schwierigen Zeiten ist ihr Schreiben wie ein Lichtblick. Sie spricht von einem Filmprojekt über „Bildung“. Der Filmemacher ist Erwin Wagenhofer. Es berührt mich, weil mir seine Filme so viel bedeuten. Und jetzt ist die Rede davon, meine Geschichte einer glücklichen Kindheit in seinen neuen Film auf­zunehmen.
Pauline war es heute, die im Krankenhaus übernachtet hat. Sie ist jetzt kurz nach Hause gegangen. Ich bade Antonin. Man hat uns ein viel größeres, helleres Zimmer gegeben, ein wenig abseits, wir können hier besser „wohnen“. Die Leute vom Krankenhaus haben verstanden, dass wir ihn keine Nacht allein lassen werden; in diesem Zimmer gibt es auch ein Bett, nicht mehr nur den bekannten Sessel. Nächste Woche sollte es denkbar sein, nach Hause zurückzukehren. Mit neuen Gewohnheiten. Und noch viel Angst in mir.

23. März 2010
Ich habe Angst. Antonin nicht. Er lebt in ununterbrochener Verbundenheit. Er sieht, er riecht, er spürt uns die ganze Zeit. Die äußeren Umstände verwirren ihn nicht, er fühlt sich nicht gefährdet, nicht allein. Die Leute vom Krankenhaus stellen fest: Er weint nicht. Das körperliche Unbehagen hat nicht die Oberhand gewonnen. Antonin nimmt es an, weil der Rest stimmt. Pauline singt ihm die Lieder, die er kennt.
Wenn das Clown-Paar vorbeikommt, das jeden Tag die Kinder hier zu unterhalten versucht, dann werden sie ganz leise. Sie ­legen ihre Rollen, ihre typischen, eingeübten Stimmen, Bewegungen und Spiele als Clowns draußen vor der Tür ab. Eigentlich ist das die Urkomik: Sie sind zwar grell verkleidet und haben Make-up im Gesicht, doch sonst sind sie ganz „normal“. Wir haben ihnen nichts gesagt, es kommt von ihnen. „Er ist einer von uns“, sagen sie.

April 2010
Antonin wird bald vier Monate alt. Wir sind seit einer knappen Woche aus dem Krankenhaus. Ich bin gestern nach Toulouse geflogen, um den Lastwagen mit den Kulissen und Giancarlo abzuholen. Dann sind wir nach Brive-la-Gaillarde gefahren. Pauline, ihre Schwester und Antonin sind heute aus Paris angereist, wir haben sie am Bahnhof abgeholt. Paulines Schwester haben wir gewonnen, um mit Antonin zu sein, wenn wir auf der Bühne arbeiten. Hier spielen wir zum ersten Mal seit unserer Schwangerschaft wieder.
Die Leute vom hiesigen Theater sind gute Freunde. Alle sind gekommen, weil alle sich freuen und Antonin sehen, tragen, empfangen wollen. Er ist einfach da, mit uns, im Saal, in den Sesselreihen oder auf der Bühne, im Foyer oder in der Loge, auf dem Arm, im Bettchen, er atmet die Theaterluft, sieht allerlei Gesichter und Landschaften. Während der Auftritte bleibt er in der Loge. Ich stelle fest: Er ist jetzt immer in meinem Kopf, auch wenn ich spiele, aber es ist kein Störfaktor, im Gegenteil.
Mit Amandine von der Theatertruppe hat Antonin sofort eine besondere Verbindung. Sobald sie in seinem Blickfeld erscheint, schaut er sie fix an. Sie zeigt uns etwas, das wir ab jetzt immer wieder spielen werden: Sie schnalzt leise mit der Zunge und bewegt dabei den Kopf von links nach rechts. Antonin kann dem nicht widerstehen und lacht. Das ist das erste Mal, dass er so deutlich lacht.
Sie ist selbst Mutter eines vierjährigen Sohnes. Sie gibt uns ­Kleider in Antonins Größe, die sie nicht mehr braucht. „Ich weiß, dass ihr keine Kleider mit Zeichnungen und Motiven wollt“, sagt sie. Woher sie es weiß? Ich glaube, sie hat es bloß gefühlt und beobachtet. Antonin trägt meine Baby-Kleider oder die von Eléonore, meiner Schwester. Maman hat sie alle behalten, jetzt hat sie sie ausgepackt und gewaschen, und sie finden ein zweites Leben, vierzig Jahre später. Das ist gleichzeitig ganz logisch und für Maman besonders bewegend. Zumal Antonin mir immer ähnlicher wird. Schlichte Kleider, aus gutem Material, ohne Bilder. Warum? Dazu Papas Statement:
„An unseren weißen Wänden hingen keine Bilder, keine Poster. Unsere Kinder trugen keine mit Bildern und Schriften bedruckten T-Shirts. Sie konnten Bücher anschauen, wenn sie sich für einen Gegenstand interessierten und eine Information suchten. Aber wir verschonten sie mit der Beeinflussung durch Bilder, die in Kinderbüchern ,kinderbestimmt‘ angefertigt zu finden sind, um sie nicht in ihrer eigenen Bildungsweise der Dinge zu beein­trächtigen. Natürlich begegneten sie Bildern in der Stadt, aber das in der Fremde Bemerkte ist nicht so schwerwiegend wie das Heimische. Das Zuhause ist eine unbezweifelte Bezugs­quelle, die die Persönlichkeit prägt.“

Im Juni 2011 treffen wir zum ersten Mal Andreas Schleicher in seinem Pariser Büro. Wir sind in Paris, um mit Arno Stern im Malort zu arbeiten und nutzen die Gelegenheit auch dazu, den PISA-Test-Erfinder kennenzulernen.

Die Gebäude der OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) sind wie ein Hochsicherheitstrakt geschützt, wir durchqueren mehrere Kontrollschleusen und ­landen schließlich im schlichten Büro von Andreas Schleicher, einem freundlichen Herrn in den besten Jahren. Relativ schnell kommen wir auf China und die dortige Situation, was den ­Zustand der Schulen und Studierenden betrifft, zu sprechen, denn die chinesischen Schüler liegen im PISA-Ranking an erster Stelle. Schleicher erklärt, warum, führt die Vorzüge des chinesischen Bildungssystems aus und ist vom Ehrgeiz der chinesischen Eltern begeistert. PISA-Tests gibt es in China in zwei Städten, in Shanghai und in Hongkong, mit einem sehr bescheidenen Sample, also wenigen teilnehmenden Schulen. Das fanden wir interessant: In zwei chinesischen Städten, die als äußerst ­westlich orientiert gelten, werden in wenigen gehobenen Schulen PISA-Tests durchgeführt, mit deren Ergebnissen dann die OECD-Staaten konkurrieren müssen (China ist ja bekanntlich kein Mitglied der OECD). Und so kam es, dass wir drei Monate später Andreas Schleicher bei einem Kurzbesuch nach Shanghai begleiten durften.

Ein Lehrer hängt eine Zeichnung in Form eines gebogenen Mondes an die Tafel. Die Schüler sollen erkennen, was das ist.

Manche Schüler sagen: ein gebogener Mond.

Andere meinen: eine Banane.

Wieder andere sagen: ein kleines Boot.

„Banane“ gilt als die einzig richtige Antwort. Alle anderen Antworten werden automatisch als falsch zensiert.

Ein weiteres, berühmtes Beispiel aus dem Chinesisch-Unterricht: Der Lehrer fragt, was aus dem Schnee wird, wenn er schmilzt.

5

Die erwartete Standardantwort lautet: Wasser. Ein Schüler antwortet: Nach dem Schmelzen kommt der Frühling. Er hat nicht bestanden.

Die Lehrer in China dulden keine Schüler, die ihre jeweilige Standardantwort infrage stellen, so müssen Neugier, Fantasie und Kreativität verkümmern. Auch mangelt es den Schülern an sozialen und praktischen Fähigkeiten. Das, was alle am besten können, ist: das Wiedergeben von vorgefertigten Antworten. Das perfekte Training für die Pisa-Tests.

Im chinesischen Sozialsystem hatte Konkurrenz keinen Platz, ­alles war an der Gleichheit orientiert. Nach der Öffnung des Landes vor rund dreißig Jahren wurde die Planwirtschaft durch die Marktwirtschaft ersetzt. Das hat das Schulsystem stark beeinflusst. Vom Kindergarten bis zur Universität steht die Konkurrenz im Vordergrund.

Aus diesem unglaublichen Wettbewerbssystem heraus werden alle chinesischen Kinder und Jugendlichen zu Prüfungs­ro­botern heranerzogen. Es gibt zu wenige Plätze an den begehrten Universitäten; aufgrund der eklatanten Überbevölkerung, aktuell leben in China 1,35 Milliarden Menschen, herrscht erbitterter Wettkampf. Kindheit und Jugend werden gänzlich dem Ziel geopfert, zu den Besten zu gehören und an den besten Universitäten aufgenommen zu werden. Schon vom Kindergartenalter an gibt es Wettbewerbe. Mehrere chinesische Nachhilfeinstitutionen sind bereits äußerst gewinnbringend an amerikanischen Börsen notiert. Der allgegenwärtige Prüfungsdruck in China ist zu einem bedeutenden Wirtschaftssektor geworden. Die Ein-Kind-Politik, die Ende der siebziger Jahre eingeführt wurde, hat zur Folge, dass die meisten Familien alles an Energie und Geld investieren, um ihrem Sprössling die bestmöglichen Leistungen zu entlocken. Bereits für das Kindergartenalter werden Trainingszentren angepriesen mit Slogans wie: „Nur nicht schon an der Startlinie verlieren!“ Die Wertvorstellungen chinesischer Eltern werden in großem Ausmaß von derlei kommerziellen Kräften gesteuert.

Die jungen Menschen sollen Prüfungsmaschinen sein; andere menschliche Qualitäten sowie eigene Gedanken werden im Keim erstickt. Jedes Jahr kämpfen neun Millionen Schüler um sechs Millionen Studienplätze. Nur 0,3 Prozent schaffen Bestnoten und werden auf einer Eliteuni wie der Tsinghua-Universität oder der Peking-Universität Beida, beide in Peking, zugelassen.

Slogans, die die Prüflinge anspornen, sind allgegenwärtig: „Mit aller Kraft kämpfen! Später nichts bereuen!“ Wer nur mittel­mäßig abschneidet, muss damit rechnen, an einer unattraktiven Provinzuniversität zu landen und später als einer von Millionen arbeitslosen Hochschulabsolventen zu enden. Eine Studentin: „Bei der Gao-Kao-Prüfung kannst du alles verlieren. Schlechte Noten beim Examen bedeuten den Eintritt in eine schlechte Universität, das bedeutet, du bekommst einen schlechten Job, und das heißt, du wirst ein schlechtes Leben haben.“

Das Gao Kao‚ wörtlich Hoher Test, ist das nationale Examen, die Abschlussprüfung im chinesischen Schulsystem, die einen Eintritt in das Studium ermöglicht, die Prüfung, um die sich von Anfang an alles dreht, auf die das ganze Schülerleben ausgerichtet ist. Die erfolgreiche Absolvierung dieser Prüfung wird als Eintritts­tor zu einem erfolgreichen Leben angesehen.

„Die ganze Welt verändert sich rapide. Denkt man darüber nach, dann ist das gesamte System der öffentlichen Bildung auf der ganzen Welt ein in die Länge gezogener Prozess der Eintritts­prüfung in die Universität. Und daher kommt es, dass viele hochtalentierte, brillante, kreative Menschen denken, dass sie es nicht sind, weil die Sache, bei der sie in der Schule gut waren, nicht wertgeschätzt oder sogar stigmatisiert wurde. Und ich denke, wir können es uns nicht leisten, so weiterzumachen.

Nach Angaben der UNESCO werden in den nächsten dreißig Jahren weltweit mehr Menschen ihre Ausbildung abschließen als seit dem Beginn der Geschichtsschreibung. Akademische Grade sind plötzlich nichts mehr wert, nicht wahr? Zu meiner Studentenzeit galt, wenn man einen Titel hat, kriegt man einen Job. Und wenn man keinen Job bekam, dann nur weil man keinen wollte. Heute müssen Kinder mit Abschlüssen aber oft wieder nach ­Hause zu ihren Videospielen gehen, denn man braucht einen Master, wo früher ein Bachelor ausreichte, und für den anderen Job schon einen Doktortitel. Es ist ein Prozess akademischer Inflation. Und das weist uns darauf hin, dass die ganze Struktur des Bildungs­wesens sich im Umbruch befindet. Wir müssen radikal unser Verständnis von Intelligenz überdenken.“ Sir Ken Robinson