Was Jahrzehnte lang richtig war und unumstößliches Gesetz, gerät ins Wanken. Die Fundamente alter Glaubensätze bekommen Risse, die alten Wahrheiten zeigen sich als das, was sie sind: alt. Sie sind überholt und stimmen nicht mehr überein mit der neuen Wirklichkeit der Globalisierung. Globalisierung ist nicht neu im Kapitalismus, nur in diesen Dimensionen hat es sie noch nicht gegeben. Es sind die negativen Begleiterscheinungen, die für die Menschen in den bisherigen kapitalistischen Hochburgen unbegreifbar sind, hatten sie doch bisher immer profitiert von Globalisierung als der Ausweitung der Produktion in immer neue Geschäftsfelder und immer neue und entlegenere Gegenden unseres Planeten. Aber nun zum ersten Mal seit dem 2. WK beginnen sie, unter dem Kapitalismus zu leiden und ihn nicht mehr zu verstehen. Es geht nicht mehr nur aufwärts und schon gar nicht mehr für alle. Kapitalismus ist ganz anders geworden, als sie ihn bisher gekannt haben, er steckt voller Widersprüche. Widersprüche, für die es keine Erklärung zu geben scheint. Seine neuen Erscheinungsformen passen nicht in das Weltbild, das über Jahrzehnte aufgebaut wurde von Unternehmern, Politkern, Wissenschaftlern, Medien und dem eigenen Wunschdenken: Lohnabbau, Entlassungen und Betriebsschließungen überall trotz übersprudelnder Gewinne der Unternehmen.
Das alte Credo war, dass es dem einzelnen gut gehe, wenn es dem Unternehmen gut geht. Die alte Weisheit war, dass der, der viel leistet, auch viel verdient, und, wer mehr leistet, auch mehr verdient. Heute drückt ein Millionenheer von Arbeitslosen auf die Löhne und die, die noch Arbeit haben, müssen immer mehr und härter arbeiten für immer weniger Geld. Der alte Glaubensatz, dass ein jeder ein Recht auf Arbeit habe, gilt nicht mehr, und ebenso gilt nicht mehr, dass Arbeit finde, wer arbeiten wolle. Immer höhere Beiträge zu den Sozialkassen stehen Leistungen gegenüber, die ständig reduziert werden. Es ist nicht mehr so, dass der viel an Rente erhält, der auch viel eingezahlt hat. Die Rente ist nicht sicher, das ahnen viele trotz beruhigender Versicherungen der Politiker. Und keine neuen Arbeitsplätze, die die verlorengegangenen ersetzen könnten. So kannte man es doch aus den Boomzeiten, so war man es gewöhnt und hielt es für eine Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus: Immer mehr, immer besser, immer schneller, aber jedes Mal besser als vorher.
Auch in den Zeiten der Hochkonjunktur verschwanden Industriezweige, wurden in Billiglohnländer verlegt (Schuh- und Textilindustrie), Betriebe wurden geschlossen, weil sie unrentabel waren, Arbeitsplätze wurden abgebaut, weil sie durch Maschinen ersetzt wurden. Alles das ist nicht neu, und trotzdem klappt es nicht mehr so wie früher. Im Gegensatz zu früher entstehen jetzt nicht mehr genug neue Arbeitsplätze, neue Betriebe, neue Industrien. Was neu entsteht, ersetzt nicht, was an Altem vernichtet wird. Unter die Kuscheldecke der sozialen Marktwirtschaft fegt ein eisiger Wind. Es ist der Wind der Veränderung, und er trägt mit sich fort die Identifizierung der Bürger mit „ihrem“ Staat, mit dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen System. Noch ist es nur die Soziale Marktwirtschaft, die sie innerlich begraben, nicht der Kapitalismus insgesamt. Aber soziale Marktwirtschaft ist nur eine besondere Ausprägung des Kapitalismus, es ist der Glaube an den dritten Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Und bei allem sozialen Zierrat ist es nichts anderes gewesen all die Jahre als Kapitalismus.
Er hat den Leuten gefallen, der Kapitalismus mit sozialem Antlitz, mit Mitbestimmung und Vermögenswirksamen Leistungen, mit Urlaubsgeld und Weihnachtsgeld und 13. und 14. Monatslohn und den alljährlichen und selbstverständlich erscheinenden Lohnsteigerungen. Sie hätten sich gerne in ihm eingerichtet und wären gerne mit ihm alt geworden. Das alles fegt er nun aus, der Kapitalismus, und fegt auch den sozialen Frieden hinweg. Aber warum das alles, warum konnte nicht alles bleiben, wie es war, wie es doch auch gut war, all die Jahre? Alle waren es doch zufrieden, all die Jahre. Warum tut sich der Kapitalismus das selbst an, ohne Not? Der Bejahung des Systems folgt der Zweifel am System. Noch ist es keine Ablehnung, nur Zweifel, kein Überdruss, kein Hass. Zweifel, Verwirrung, Verunsicherung, Angst darüber, wohin die Reise gehen soll. Ist, was wir jetzt erleben, erst der Anfang, kommt es noch schlimmer? Ist diese Reise nur ein beschwerlicher Ausflug mit gutem Ende oder entwickelt sie sich zu einem Horrortrip?
Eines wird immer deutlicher: der Kapitalismus ist immer weniger in der Lage, die Lebensgrundlagen des Großteils der Bevölkerung zu gewährleisten. Immer mehr verfallen der Armut, dem Elend und der Hoffnungslosigkeit. Der Ausweg kann nicht die Vision eines einzelnen sein, eines „Gurus“ oder gar eines neuen Führers, der der Menschheit den Weg zeigt. Der Ausweg kann nur das Ergebnis eines Ringens um den richtigen Weg sein, an dem sich die gesamte Gesellschaft beteiligt, und kann nur beruhen auf breitem Einverständnis in der Gesellschaft. Dieser Prozess wird in den verschiedenen Regionen unterschiedlich sein. In Asien und Osteuropa nimmt der Kapitalismus jetzt erst richtig Fahrt auf, in Mitteleuropa und Nordamerika, seinen ehemaligen Hochburgen, verliert er an Überzeugungskraft. Noch gibt es keine klar erkennbaren Alternativen zur bestehenden kapitalistischen Gesellschaft, und doch sind viele mit der derzeitigen Situation unzufrieden und ahnen, dass das Leben für sie nicht besser werden wird. Kapitalismus ist nicht mehr der Nährboden für Visionen, immer weniger Menschen machen sich noch Illusionen über ihn, trauen ihm noch zu, wozu er früher einmal im Stande war, Hoffnung zu machen und Aussicht zu bieten auf ein besseres Leben; unter seiner goldenen Oberfläche schimmert seine wahren Substanz durch: Blech – Kanonenblech.
Aber auch ein Anderes wird immer deutlicher (werden): Der Kapitalismus ist nicht das Ende der menschlichen Gesellschaftsentwicklung. Auch wenn es im Moment noch unvorstellbar ist, so wird sich doch als Ergebnis des Niedergangs und des Zweifels die Erkenntnis herausbilden, dass es eine Alternative zum Kapitalismus geben muss, und diese Alternative wird eine nachkapitalistische, eine nichtkapitalistische Gesellschaft sein, eine Gesellschaft, die den Kapitalismus überwunden haben wird. Diese neue Gesellschaftsordnung wird ihn in die Geschichte drängen, auch wenn heute immer wieder der Eindruck in der Öffentlichkeit erweckt wird, dass es außer dem Kapitalismus keine andere Ordnung geben kann, als sei er das Endstadium menschlicher Entwicklung und gleichzeitig die höchste Entwicklungsform von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Was nährt diese Erkenntnis, oder ist es besser, von Hoffnung zu sprechen, von Aussicht auf ein Leben nach dem Kapitalismus? Ist es nur Ahnung, Spekulation, mutiger Griff in Dunkel-Ungewisses oder ist da Begründetes drin?
Es gibt zwei Anhaltspunkte, die die Vermutung einer nachfolgenden Gesellschaft näher an die Gewissheit rücken als an die Spekulation. Die Existenz einer nachkapitalistisch-nichtkapitalistischen Gesellschaft liegt für uns Heutige noch immer nur im Bereich der Wahrscheinlichkeit, des Vorstellbaren, also im Bereich dessen, was wahr zu werden scheint. Aber sie liegt andererseits bereits mehr im Bereich des Vorstellbaren und weniger im Bereich des Utopischen, also dessen, was denkbar ist, aber nicht wahrscheinlich, was nur Gedankengebäude bleiben wird ohne Chance auf Verwirklichung. Für diese Wahrscheinlichkeit spricht einerseits die Vergangenheit, das heißt die bisherige Entwicklung der Menschheit und ihrer Gesellschaften. Diese Vergangenheit hat bisher all die Gesellschaftssysteme in sich aufgenommen, die den Menschen, die in ihnen lebten, als unvergängliche schienen. So wie uns Heutigen erschien es den Damaligen unvorstellbar, dass nach dem Bestehenden noch eine Zukunft kommt, die nicht die Fortsetzung des bestehenden Gesellschaftssystems ist, sondern dass diese Zukunft in sich neue gesellschaftliche Ordnungen mit neuen Regeln und neuen Werten trägt. Und trotz dieser Unvorstellbarkeit der Damaligen ist das damals Bestehende untergegangen, versunken in der Geschichte.
Die urkommunistischen Stammesgesellschaften und die Sklavenhaltergesellschaft der Antike sind ebenso untergegangen wie der Feudalismus und all die anderen Systeme, die das Leben der Menschen geordnet haben. All das ist Vergangenheit, ist von der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften überholt worden, hat sich als zu eng erwiesen für das weitere Vorankommen der Menschheit. In dieser rückblickenden Erkenntnis liegt Aussicht und das strahlende Blau, der weite offene Horizont eines Sommerhimmels. Warum also sollte nicht auch der Kapitalismus - wie all die anderen gewesenen Gesellschaften auch - irgendwann zu den Gesellschaftsformen gehören, die die Menschheit hinter sich gelassen hat? Warum sollte die Geschichte gerade beim Kapitalismus eine Ausnahme machen, warum gerade ihn verschonen vor dem Untergang als Unabdingbarkeit menschheitsgesellschaftlicher Entwicklung? Auch wenn wir uns als Heutige das Wie dieser Nachfolgegesellschaft noch nicht vorstellen können, so heißt das aber nicht, dass wir uns nicht vorstellen können, dass es solch eine andere Gesellschaft geben wird. So heißt das nicht, dass wir uns nicht vorstellen können, dass es nach dieser derzeitigen Gesellschaft andere geben wird, die nach ganz anderen Regeln funktionieren werden, die ganz andere Werte leben werden und in denen das Verhältnis der Menschen zur Natur, zur Produktion und zur Menschheit selbst ein anderes sein wird, als es heute ist.
Neben diesem historischen Argument für eine aussichtsreiche Vorstellung von der Überwindung des Kapitalismus besteht noch zusätzliches Argument, das wirtschaftliche Argument: Die dem Kapitalismus innewohnenden Kräfte, die ihn zur Blüte getrieben haben, treiben ihn auch in den Ruin. Wenn auch vieles in der bisherigen menschheitsgesellschaftlichen Entwicklung dafür spricht, dass auch der Kapitalismus eines Tages eine überlebte und deshalb zurückgelassene Gesellschaftsform sein wird, und wenn auch der Kapitalismus durch seine eigenen Triebkräfte zu seinem Untergang selbst wesentlich beitragen wird, so bedeutet das aber nicht, dass alles von selbst laufen wird. Es reicht nicht aus, auf diesen Tag der Zeitenwende zu warten und zu glauben, eines Morgens in einer neuen Gesellschaft aufwachen zu können. Die Erneuerung der Gesellschaft geht nicht ohne das Zutun der Menschen selbst. Denn jede neue Gesellschaft ist nicht nur die Aufstellung einer neuen Ordnung mit neuen Regeln und Werten, sondern sie ist in erster Linie die neue Wohnung eines neuen Menschen. In ihr wohnt und lebt ein anderer als der, der in der alten Wohnung lebte. Er hat diese ja gerade deshalb verlassen, weil er sie als zu schäbig und eng gefunden hat. Sie hat ihn an seiner Entwicklung gehindert. Und in den engen Räumen der alten Gesellschaft hat er die Enge des Alten erfahren. In der Schäbigkeit hat er die Schäbigkeit des Alten erfahren. All das hat ihm gezeigt, wo er hin will und was er braucht. Und trotz aller Verschönerungsversuche der alten Behausung hat er immer wieder feststellen müssen, dass sie zu eng und zu schäbig ist, hat ihn zu Erkenntnis gebracht, dass er sich auf den Weg machen muss, eine neue Gesellschaft zu schaffen, eine neue freundlich-helle, geräumige, die es ihm ermöglicht, ein neues Leben zu führen. Aber all das geht nicht, ohne dass er selbst es ist, der die neue Gesellschaft entwirft und gestaltet, nach seinen Bedürfnissen und den neuen Anforderungen, die die Entwicklung und die Aufgabe der Menschwerdung stellen.
Der Kapitalismus hat die Produktivkräfte auf bisher nie gekannte Höhen getrieben. Noch nie war die Menschheit so reich gewesen. Noch nie waren Armut, Krankheit und Unwissenheit so überflüssig wie heute, Wissenschaft und Technik noch nie so hoch entwickelt. Das Gewinnstreben des Einzelnen als Triebfeder des Kapitalismus hat dazu geführt, dass die Bedürfnisse der gesamten Menschheit an Waren, Gesundheit und Bildung heute erfüllt werden könnten. Aber sie kommen nicht allen in gleichem Maße zugute. Das Gewinnstreben, das diese Fülle zustandegebracht hat, ist mittlerweile das Einzige geworden, was dem Kapitalismus als Motiv noch innewohnt und ihn für viele noch immer attraktiv macht. Nicht Bedürfnisbefriedigung ist sein Ziel sondern Rendite. Aber dieser Mechanismus ist nie deutlich geworden, so lange der Kapitalismus sich noch den Anschein geben konnte, dass die Bedürfnisbefriedigung der Menschen Grund des Wirtschaftens sei, und solange der Großteil der Bevölkerung an diesem Wachstum des Reichtums teilhaben konnte. Aber bei weiterem Wirtschaften in der bisherigen Dimension ist es nur eine Frage der Zeit, wann sich durch den Treibhauseffekt die Erde so erwärmt haben wird, dass die Pole schmelzen und weite Teile der Erde im Meer versinken, wann durch den CO2-Ausstoss und Abholzung der Regenwälder die Vergiftung der Atemluft unumkehrbar geworden ist, wann durch die Zerstörung der Ozonschicht das Leben auf der Erde verbrennt. Diese rasante Entwicklung, die ja noch lange nicht an ihrem Endstadium angekommen ist, führt zu Erscheinungen, die den ganzen Globus bedrohen. Die Entdeckung der dem Atom innewohnenden Energie und ihre Entfesselung haben zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte dazu geführt, dass der Mensch über die Mittel verfügt, sich als Spezies selbst auszurotten und den Planeten zu vernichten. Hier liegt die Drohung seiner eigenen Vernichtung. Die Geister, die er rief, wird er nicht mehr los, wenn er nicht rechtzeitig einlenkt, wenn es nicht gelingt, der Vernunft Vorrang zu geben vor dem Irrsinn und Chaos einer ungezügelten umweltvernichtenden Produktion, die keinem anderen Wert verpflichtet ist als dem Gewinnstreben des Individuums, der Rendite.
Die Alternative zu dieser Entwicklung ist nicht die Rückkehr in eine Gesellschaft der Armut und Unterentwicklung. Der Fortschritt ist nicht das Problem, auch nicht die Fülle und der Reichtum. Die zerstörerische Gefahr geht aus von dem Widerspruch, dass der gesellschaftliche Reichtum zwar von der gesamten Gesellschaft erarbeitet wird, die Verfügung über diesen Reichtum aber nicht der gesamten Gesellschaft unterliegt. Es ist nicht die Gesellschaft, die darüber entscheidet, was produziert wird, in welcher Menge und unter welchen Bedingungen für Mensch und Natur. Es wird nicht nach moralischen, gesellschaftlich aufgestellten Kriterien über die Produktion von Gütern entschieden, sondern nach den Renditevorstellungen der Investoren und Eigentümer der Produktionsmittel. Die Menschen, die in den Betrieben arbeiten, die in der Gesellschaft leben und ihre Leistungen für diese Gesellschaft erbringen, sie alle haben keinen Einfluss auf die Produktion dieser Gesellschaft. So lange das Gewinnstreben und die Renditeerwartungen der wenigen Einzelnen das gesellschaftliche Geschehen bestimmen, wird das Damoklesschwert der Barbarei oder des Untergangs über der Menschheit hängen. Erst wenn eine Gesellschaftsordnung sich durchgesetzt hat, die in allgemeiner Übereinstimmung Grundsätze festlegt für die Schaffung von allgemeiner Wohlfahrt, was bedeutet weltweite Beseitigung von Hunger und Armut, Bildungschancen für alle, Zugang zu Kultur und Erbauung, Förderung von Kreativität und Verehrung des Schönen, erst dann wird die Menschheit den nächsten Schritt tun zu ihrer wahren Bestimmung, der Menschwerdung. Was bedeutet, dass der Mensch dem Menschen ein Bruder sei, dass er frei sei von Hunger, Elend und Angst vor Untergang, dass der Umgang zwischen den Menschen bestimmt sei von Liebe und Verständnis und nicht mehr vom kalten Interesse und dem Kampf um den eigenen Vorteil und dass er in Achtung lebe vor der Natur.
Das klingt illusorisch angesichts der aktuellen Situation und scheint fernab von den tatsächlichen Prozessen und Entwicklungen, die eher in eine andere Richtung zu zeigen scheinen. Aber auch diese Disharmonie zwischen Wirklichkeit und Ausblick ist nicht neu, sondern das Spannungsfeld der Menschheitsentwicklung, aus dem neue Ordnung erwachsen ist.