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eBook-Ausgabe: © Weidle Verlag 2013 
bei CulturBooks Verlag 2013
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Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de 
Alle Rechte vorbehalten.
Englische Originalausgabe: »Rocking Horse Road« 2007
Random House New Zealand, © Carl Nixon.
Deutsche Printausgabe: © Weidle Verlag 2012
Übersetzer: Stefan Weidle
Lektorat: Nina Sottrell
Fotos (außer The Spit, Rocking Horse Road): Stephanie Nixon
Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
Erscheinungsdatum: 1.10.2013
ISBN 978-3-944818-03-0

Über das Buch
Am Strand einer schmalen Landzunge vor Christchurch wird 1980 die Leiche der 17-jährigen Lucy Asher gefunden. In der Mitte dieser schmalen Landzunge vor Christchurch verläuft die Rocking Horse Road. Lucys Eltern haben ein Milchgeschäft an dieser Straße, und Lucy arbeitete oft dort, angeschwärmt von einer Gruppe 15-jähriger Jungen. Lucy wurde erwürgt. Für die Jungen ist damit ihre Kindheit zu einem traumatischen Ende gekommen. Die Suche nach dem Mörder schweißt sie zusammen.

Im Jahr nach dem Mord, 1981, touren die Springboks, das südafrikanische Rugby-Team, durch das Land. Protest gegen das Apartheidsregime erhebt sich. Es kommt zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei, zum ersten Mal in der Geschichte des Landes. Die Jungen sind Rugby-Fans und erleben das Geschehen hautnah mit: »Wir hatten das Gefühl, dass da vor unseren Augen etwas sehr Wichtiges zerbrach. Wir konnten es nicht benennen, es war etwas, das uns zuvor selbstverständlich gewesen war und das, wie wir instinktiv wussten, niemals würde repariert werden können.« Das Buch stand 4 Monate auf der KrimiZEIT-Bestenliste.


»Carl Nixon ist mit der spröden Poesie von ›Rocking Horse Road‹ ein atmosphärisch dichtes Debüt gelungen, eine intensive Milieustudie und ein Roman über das Ende der Kindheit. Stefan Weidle hat den Text sorgfältig ins Deutsche übertragen.«
Deutschlandradio Kultur

Über den Autor
Carl Nixon, geboren 1967 in Christchurch, ist ein neuseeländischer Autor von Romanen, Kurzgeschichten und Dramen. Er adaptierte Lloyd Jones’ Roman »The Book of Fame« und J. M. Coetzees »Schande« für das Theater. Er gewann mit seinen Werken viele Preise, darunter den Katherine Mansfield Short Story Contest. 2007 war Nixon der Ursula Bethell/Creative New Zealand Writer in Residence an der University of Canterbury. Dort vollendete er seinen ersten Roman »Rocking Horse Road«.

Eins

Es war Pete Marshall, der Lucys nackte Leiche am Strand fand, nicht weit vom Ende der Rocking Horse Road entfernt. Auch wenn seit diesem Morgen fast drei Jahrzehnte vergangen sind und ein Jahrtausend geendet hat, können wir noch immer ganz präzise sagen, wo Lucy gelegen hat. Ihre Leiche lag am Fuß der Dünen, dort, wo die Flut sie hingespült hatte, nahe dem Schild mit der Warnung vor Kabbelwellen und der Aufforderung, nicht zu dem tiefen Kanal zu schwimmen, der die Flußmündung mit dem Meer verbindet und das Ende von The Spit markiert. Sofort war klar, daß keine dieser alltäglichen Gefahren Lucy Ashers Tod verursacht hatte.

Es war der 21. Dezember 1980, ein Sonntag vier Tage vor Weihnachten. Morgens um halb acht. Der Sommer schickte sich bereits dazu an, einer der heißesten seit Menschengedenken zu werden. Der Himmel war wolkenlos, der Sand bereits warm. Von Anfang an stand fest, daß es ein verdammt heißer Tag werden würde.

Die Dünen waren (und sind es noch) von einem Netz an Pfaden durchzogen: öffentliche Wege wie Trampelpfade. Aber Pete ignorierte sie alle und rannte auf dem kürzesten Weg zur Straße. Er hielt sich an die Dünenkämme, sprang über Löcher, pflügte durch Lupinen und japste wie ein Hund, als er endlich am Haus von Jase Harbidge ankam. Jases Vater war Senior Sergeant Bill Harbidge, der schon ein paar Minuten später hinter Pete über die Dünen rennen würde, in verwaschenen Shorts, mit offenen Schnürsenkeln und einem flatternden weißen Hemd, das er im Vorbeilaufen von der Wäscheleine gerissen hatte.

»Wie ein großer weißer Albatros«, so beschrieb Pete ihn Jahre später. »Ich erinnere mich, wie er die letzte Düne hinuntersprang und es mir vorkam, als würde er gleich davonfliegen. Ich glaube, ich war ganz schön neben der Spur.«

Wir haben oft darüber gesprochen, daß in der Nacht davor die Flut sehr hoch gewesen war. Keine Sturmflut, aber höhere Wellen als normal. Gewaltige Wassermassen hatten sich nachts im Südpazifik aufgetürmt und waren Welle auf Welle auf Welle am Strand aufgeschlagen. Jede von einem scharfen Ostwind getrieben. Im Rückblick ist es natürlich leicht, Ereignissen eine Bedeutung zu verleihen, die sie ursprünglich nicht hatten, doch in den ersten Tagen nach der Entdeckung von Lucys Leiche erinnerten sich einige von uns, wie wir in dieser Nacht in unseren Betten gelegen und dem Anbranden der Wellen gelauscht hatten. Wir hatten uns vorgestellt, wie sie an den Dünen fraßen, dem einzigen Schutz unserer Häuser gegen das Meer. Wir waren mit dem ständigen Rauschen der Brandung aufgewachsen, und doch konnten wir es nie ganz ausblenden. Wir hörten es über die Stimmen der Lehrer hinweg, wenn wir Unterricht hatten, und auch, wenn wir auf dem sandigen Gelände der South Brighton High School unseren Lunch verzehrten. Das Geräusch erhob sich über das Geschwätz unserer Brüder und Schwestern, wenn wir in unseren Küchen aßen. Es war der Soundtrack, der unser kompliziertes Erwachsenwerden begleitete. Aber für mehr als einen von uns, die wir in der Nacht von Lucys Ermordung in unseren Zimmern lagen, schien das Geräusch der Wellen einen tieferen und klagenden Ton angenommen zu haben. Ein endloser Zug, der in der Dunkelheit vorbeifuhr, dazu verdammt, ewig zu fahren und nie anzukommen.

Als er mit Bill Harbidge vor dessen Haustür stand, erzählte Pete ihm, daß er an diesem Morgen schon um halb acht am Strand gewesen war, um seinen Hund auszuführen. Keine besonders überzeugende Geschichte – schon deshalb, weil Petes Familie keinen Hund hatte. Während des offiziellen Polizeiverhörs später an diesem Tag änderte Pete seine Geschichte. Was aber niemandem auffiel, schließlich war Pete kein Verdächtiger. Wir besitzen eine Kopie des Polizeiberichts (Exponat 2). Pete gibt da zu Protokoll, er sei am Strand joggen gewesen, um für die Rugby-Saison in Form zu kommen. Diese revidierte Version hielt mancher Prüfung stand, insofern als Pete in der U16-Mannschaft unserer Schule spielte. Doch niemand begann so spät im Jahr mit dem Training. Vermutlich würde nicht einmal ein Spieler unserer Nationalmannschaft morgens um halb acht schon über den Sand hetzen, und das vier Tage vor Weihnachten.

Ein paar Tage später gestand uns Pete, er sei in den Dünen gewesen, um ein Penthouse-Heft zu holen, das er seinem älteren Bruder geklaut hatte (Tony Marshall, der ein paar Monate später zur Marine gehen und von The Spit und aus unserem Leben verschwinden sollte). Pete hatte das Magazin in einem Werkzeugkasten aus Metall versteckt – zusammen mit einer halben Tafel Vollmilchschokolade, die er im Laden von Lucys Eltern gestohlen hatte, und Sonnenöl. Den Kasten hatte er in einem natürlichen Amphitheater zwischen den Dünen vergraben. Der Ort war von hohen Lupinen umgeben und für Uneingeweihte praktisch nicht zu finden, es sei denn, sie stießen zufällig darauf. Einige von uns nutzten ihn als Treffpunkt, doch an diesem Morgen war Pete allein gewesen.

Warum ist er dann auf die Dünen hochgegangen? Als wir ihn danach fragten, wußte er keine Antwort. Er wollte einfach nur schauen. Die Wellen anschauen? Den Sonnenaufgang? Die ersten Surfer, die beim Surfclub weiter oberhalb am Strand wie dunkle Seehunde aufs Meer hinauspaddelten? Ein Achselzucken. Offenbar einfach nur, um zu schauen.

Da ist also Pete, fünfzehn Jahre alt, den Kopf voller Airbrush-Fantasy-Motive, auf dem Weg die Dünen hinauf, er kämpft sich durchs Tussockgras und durch Lupinen und schaut über den leeren Strand. Die Flut hatte den Sand umgeschichtet, wie sie es immer tat, also erblickte Pete eine Landschaft, die sich ganz leicht verändert hatte, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte.

»Was glaubtest du, was sie da machte?« (Das ist jetzt aus dem offiziellen Polizeiverhör.)

»Ich dachte, sie würde sich sonnen.«

»Morgens um halb acht?«

Und dann sagte Pete etwas zu dem Beamten, das weit mehr Einsicht verriet, als die meisten ihm zutrauten: »Wenn man fünfzehn ist und ein nacktes Mädchen am Strand liegen sieht, dann denkt man nicht mehr sehr klar. Ich dachte, sie nähme ein Sonnenbad.«

Lucy lag leicht auf der Seite, den Kopf von ihm weggedreht. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen. Er erkannte sie nicht. Arm und Schulter rechts waren teilweise im Sand vergraben, doch Pete konnte das nicht gleich sehen. Ihr Kopf ruhte knapp unterhalb der Flutmarke, wo der dunkle, nasse Sand an die von Gras und Lupinen überwucherten Dünen grenzte. Ihre Arme und Beine waren gespreizt – »auf dem Sand ausgebreitet wie ein Seestern«, schrieb ein Reporter (unzutreffend) auf der Titelseite von The Press am nächsten Tag. Ein Bein streckte sich ein wenig weiter zum Wasser als das andere, wie wenn sie erstarrt wäre, als sie ihre Zehen ins Wasser hielt, um die Temperatur zu prüfen.

Von seiner Position aus konnte Pete ihre gebräunten Beine sehen, die Rundung ihrer Hüften und dann den steilen Abfall zu ihrer Taille. Und, ja, ihre prallen Hinterbacken, die Pete bisher nie an einer lebenden Frau gesehen hatte (und, rein formal betrachtet, auch jetzt nicht sah). Und ihren Rücken. Lucy war Schwimmerin und Lebensretterin und hatte einen breiten Rücken mit ein paar Sommersprossen, aber Pete hatte Lucys Rücken nicht erkannt. Pete wußte noch immer nicht, wen er da anstarrte.

Und hier wollen wir uns von allen Verhörprotokollen und offiziellen Verlautbarungen lösen, um zu spekulieren. Für Pete Marshall muß die Erscheinung am Strand ausgesehen haben wie die Erfüllung all seiner Wünsche. Namenlos und nackt im klaren Morgenlicht; eine Seite aus den Magazinen seines Bruders, die für ihn allein lebendig geworden war. Dieser Gedanke kann nicht allzuweit von seinem Horizont entfernt gewesen sein (nicht vergessen: Pete war fünfzehn!). Oder vielleicht stellte er sich etwas noch Exotischeres vor. Falls er je in diesen ersten berauschenden Augenblicken an Meerjungfrauen oder verbannte Töchter aus Atlantis gedacht hat, hat er das nicht verraten. Gewiß nicht der Polizei und nicht einmal uns.

Erst als Pete sich vorsichtig näherte, sah er, daß der linke Arm der Frau seltsam gefleckt war. Noch näher, und er konnte sehen, daß ihre Haut schlaff wirkte und nicht zu den Schultern einer Schwimmerin paßte. Ihr Haar war verfilzt, und ein verblichenes Stückchen Treibholz steckte darin. Lucy Asher hatte etwa fünf Stunden im Wasser gelegen, bevor sie an Land gespült wurde, heißt es im Bericht des Gerichtsmediziners (Exponat 5). Spuren am Leichnam deuteten darauf hin, daß er, von den Wellen herumgeworfen, wiederholt auf dem Grund aufgeschlagen war. Pete sagte der Polizei, er konnte aus noch größerer Nähe sehen, daß etwas »komisch« war an dem Winkel, den ihr Kopf mit dem Sand bildete.

Es gibt ein Foto des Polizeifotografen (Exponat 7), auf dem man einen Fußabdruck im Sand sieht, unmittelbar bei Lucys ausgestreckter Hand. Die Hand liegt mit der Handfläche nach oben, die Finger leicht gekrümmt, als ob sie einen Ball gehalten hätten, den das Meer ihr irgendwann in dieser Nacht entwunden hat. Der Fußabdruck befindet sich knapp unterhalb der Leiche, Richtung Wasser, und berührt fast ihren kleinen Finger. Er stammt von einem Converse-Schuh, einem Basketball-Modell mit Stoffoberteil, das es in Blau oder Rot gab, mit einem Stern auf der Seite über dem Knöchel. Zu der Zeit trugen wir alle solche Schuhe. Doch alles, was Pete je dazu sagte, war, daß er nahe genug kam, um in der Frau Lucy Asher zu erkennen. Sie trug ein Halsband von Blutergüssen, ein Abschiedsgeschenk desjenigen, der sie in dieser Nacht vergewaltigt und erwürgt und ihren Leichnam dann in das tiefe Wasser des Kanals geworfen hatte.

Das war der Moment, als Pete »ausflippte«, sich umdrehte und über die Dünen zurückrannte, um Jase Harbidges Vater zu holen, der dann schon bald über den Sand flog wie ein großer weißer Vogel.

Die Nehrung The Spit liegt so weit südlich, wie man von der am Meer gelegenen Vorstadt von Christchurch, New Brighton, gehen kann, ohne nasse Füße zu bekommen. Sie ist ein langer Finger aus knochentrockenem Sand, am breitesten Punkt mißt sie etwa einen Kilometer. Durch ihre Mitte führt wie eine einzelne dunkle Vene die Rocking Horse Road. The Spit ist das einzige, was Tausende von Kilometern des kalten Südpazifik von der Trichtermündung, die von den Flüssen Avon und Heathcote gebildet wird, trennt. Ein Ort mit Wasser auf drei Seiten, wo die Flut zweimal täglich kommt und geht und der Sand ständig umgeschichtet wird.

Tatsächlich ist das ganze New Brighton vom Rest der Stadt Christchurch durch Wasser getrennt. Der Avon folgt der Küstenlinie, bevor er sich in die Lagune der Trichtermündung ergießt, und fungiert als Wassergraben. New Brighton wirkt abgetrennt, wie eine eigene Stadt. Warum sollte man dort wohnen? Das war die allgemeine Ansicht. Christchurch hatte wesentlich leichter zugängliche und hübschere Stadtteile als The Spit. Es gab genügend Gegenden, in denen man nicht den Rat der Bibel ignorierte, man solle sein Haus nicht auf Sand bauen. Immer gab es Leute, die vom unvermeidlichen Tsunami raunten, der sei nur ein Erdbeben in Chile entfernt. Dieselben Leute redeten davon, daß die Erosion aus einer Laune der Natur heraus innerhalb von sechs Monaten die Dünen komplett abtragen könnte. Es sei also nur eine Frage der Zeit, wann unsere Häuser vom Meer weggespült würden.

Zugegeben, bei uns war der Erdboden nicht mehr als ein Furnier. Tussockgras, Kohlbäume und Neuseelandflachs bildeten einen ärmlichen Ersatz für einen Garten, aber etwas anderes wuchs auf dem Sand nicht. Und dann gab es da noch den Ostwind. Er war ein weiterer Grund, warum die meisten Leute The Spit nicht mochten. Normalerweise setzte er in den späten Morgenstunden ein und blies kalt vom Meer her. Er sprühte Salzkristalle über unsere Häuser, so daß selbst neue Autos in ein paar Jahren durchrosteten. Die Fenster wirkten permanent wie vereist. Wurde er stärker, dann blies er den Sand knöchelhoch über den Strand wie Schmirgelpapier, das uns an den Beinen stach. Wie ein Sandstrahlgebläse glättete er die Dünen zu weichen Formen. Die Einheimischen nannten ihn scherzhaft den »faulen Wind«: Er war zu faul, um dich herumzublasen, also blies er geradewegs durch dich hindurch.

New Brighton war eine Arbeitergegend, wo die Leute Autokarosserien und halbfertige Boote jahrelang vor ihren Häusern stehen ließen – nie beendete Projekte. Unsere Väter waren Mechaniker und Bauarbeiter, Metzger und städtische Arbeiter, Schauerleute, die drüben im Hafen arbeiteten. Sie fuhren die Müllautos und bauten Straßen. Männer, die mit ihren Händen arbeiteten und dazu das Radio laut aufdrehten, im Sommer, um Cricketmatches zu verfolgen. Rugby war ihre Winterreligion.

Die meisten unserer Väter waren in New Brighton aufgewachsen und dachten sich wie wir nichts dabei, wenn der Sand in die Teppiche drang und die Staubsauger verstopfte oder sich in den Schienen der Schiebetüren festsetzte. Sie schienen die wütenden Schreie der Möwen nicht zu hören, wenn die sich draußen auf die Wäscheleinen setzten und lange weiße Streifen auf die Laken ihrer Frauen schissen. Sie hatten entweder Mädchen aus New Brighton geheiratet oder Frauen, die bereit waren, Zugeständnisse zu machen.

In letzter Zeit ist The Spit begehrtes Bauland geworden, und zahlreiche Baulücken wurden geschlossen. Die meisten der großen Grundstücke bekamen eine eigene Zufahrt an der Seite, und im hinteren Teil wurden ein oder zwei neue Häuser gebaut. 1980 gab es auf beiden Straßenseiten mehr oder weniger nur eine einzige Zeile älterer Häuser, jedes mit einem ausreichend großen Gartengrundstück. Die Immobilien auf der Meerseite hatten zumeist keine Zäune hinter den Häusern, so daß die Grenze zwischen Grundstück und Dünen nicht markiert war. Es gab noch eine Menge Brachen, wo Unkraut und hie und da eine Kiefer wuchsen und die Kaninchenpopulation von streunenden Katzen in Schach gehalten wurde.

Lucy Asher ging wie wir alle auf die South Brighton High School, doch war sie älter als wir, siebzehn, und hatte die Schulzeit eigentlich schon drei Wochen hinter sich, als sie ermordet wurde. Das Milchgeschäft ihrer Eltern lag etwa am Anfang des letzten Viertels der Rocking Horse Road, und die Ashers bewohnten einige Zimmer hinter dem Laden. Lucy war die ältere von zwei Töchtern. Ihre jüngere Schwester Carolyn war eine Klasse unter uns, in der 10., aber weil sie weder sportlich noch attraktiv war, blieb sie für uns so gut wie unsichtbar.

Lucy arbeitete nach der Schule und an Wochenenden häufig im Laden. Und wir gingen oft hin, um Milch, Brot und Zeitungen für unsere Eltern zu holen. Für uns selbst kauften wir kleine weiße Tüten voller leckerer Milchfläschchen aus Lakritz, Orangenkaubonbons, Lutscher in Eskimoform und Anispastillen. Wir saugten Brausepulver durch Strohhalme, und im Sommer gab es Eiswaffeln, bei denen wir unter den acht Sorten wählten, die Mrs. Asher führte. Das Ganze spülten wir mit Cola aus Glasflaschen runter oder, wenn wir’s gesünder wollten, mit Erdbeer- oder Schokomilch. Wir hatten Lucy Asher fast jeden Tag gesehen, doch hatten wir ihr kaum mehr Beachtung geschenkt als den sich vertiefenden Linien in den Gesichtern unserer Eltern oder der Farbe des Hauses, in dem wir aufgewachsen waren. Allmählich wurde uns klar, daß man etwas erst richtig zu sehen beginnt, wenn es verschwunden ist.

In den Tagen nach der Entdeckung von Lucys Leiche waren die Zeitungen voll von dieser Story. Reporter liefen über den Strand wie streunende Hunde. Sie hielten uns auf der Straße an, um uns zu fragen, ob wir Lucy gekannt hätten und was für ein Mädchen sie gewesen sei. Manchmal fanden wir dann unsere eigenen Worte in der Zeitung wieder, mit der Quellenangabe »ein enger Freund« oder »langjähriger Schulkamerad der Ermordeten«. Was man so im Vorbeigehen gesagt hatte, sah seltsam aus, wenn man es dann Schwarz auf Weiß las. Selten nur stimmte es mit dem überein, was wir unserer Erinnerung nach gesagt hatten. Und ganz sicher kamen diese Worte einer Beschreibung der Lucy, die wir täglich in der Schule oder im Laden gesehen hatten, nicht einmal nahe.

Es gab ein Foto von ihr, das The Press und The Evening Star favorisierten. Es war in dem Sommer vor Lucys Tod aufgenommen worden, als Lucy in der 12. Klasse war. Es zeigt sie vor dem Surfclub mit einer kleinen Trophäe, die sie gerade bei den Provinzmeisterschaften im Strandlauf gewonnen hatte. Sie hat das rote Trikot an, in dem sie gelaufen ist, und an ihrer linken Schulter klebt ein kleiner Fleck von nassem Sand. Man sieht sie bis zur Hüfte. Sie ist braun, lächelt und hält die Silbertrophäe mit beiden Händen in die Kamera, als wollte sie dem Fotografen damit ein Geschenk machen. Ihr Haar ist hellbraun, heller gebleicht, als es im Winter war (später fanden wir heraus, daß sie sich jeden Abend vor dem Schlafengehen Zitronensaft in die Haare schmierte, damit sie heller wurden). Sie hat braune Augen und einen breiten, fast amerikanischen Mund. Obwohl attraktiv, war Lucy doch nicht das, was die Leute eine Schönheit nennen würden; zumindest nicht, bis man sie besser kennenlernte.

Wir haben diese Trophäe noch, obwohl sie bereits im selben Jahr in zwei Teile zerbrochen ist und nie repariert wurde. Ungefähr einen Monat nach Lucys Tod tauchte sie im Müll vor dem Haus der Ashers auf. Sie lag auf dem Müllsack, und Tug Gardiner fand sie auf seiner Morgenrunde – er trug in dieser Gegend Zeitungen aus. Die Trophäe ist eigentlich für einen Leichtathletikwettbewerb gedacht, aber wer immer sie gekauft hat, war wohl der Ansicht, daß sie auch zu einem Strandlauf für Mädchen unter 17 Jahren paßte: eine silberne Mädchenfigur, die ein Rennen gewinnt, den Kopf nach vorn geworfen, die Arme nach hinten. Das Zielband hängt an ihrer Brust. Offenbar aber hatte man die Trophäe nicht für bedeutend genug gehalten, um Lucys Namen einzugravieren. Doch gab es niemanden sonst, dem sie hätte gehören können, und natürlich sah sie haargenau so aus wie die auf dem Foto.

Alles in allem ist es ein sehr gutes Foto von Lucy. Wir denken gerne, daß sie sich unter anderen Umständen sicher gefreut hätte, es so oft abgedruckt zu sehen.

In diesem Sommer war es von Anfang November an heiß gewesen. Zu der Zeit, als Lucy Asher ermordet wurde, sprach niemand mehr von einem perfekten Sommer; jeder klagte über die Trockenheit. Was immer es an Wiesen auf The Spit gab, war braun geworden und abgestorben, noch bevor die Sommerferien angefangen hatten, die vertrockneten Halme wurden vom Ostwind auf das Wasser der Lagune geblasen. Nur die Kohlbäume schienen zu gedeihen. Sie hatten die langen heißen Tage vorhergesehen und bereits Ende Oktober über und über weiße Blüten ausgetrieben. Beinahe allem anderen hatte die Sonne das Leben ausgesaugt.

Außer dem Meersalat: Der vermehrte sich explosionsartig. Ob es der hitzebedingte Anstieg der Wassertemperatur in der flachen Lagune war oder der Zufluß aus den Oxidationsteichen (wir nannten sie die Kackebecken) an ihrem Westende, jedenfalls breitete sich der Meersalat aus wie nie zuvor. Limonengrün und knittrig an den Rändern, wie glitschige Kartoffelchips, bildete er bei Ebbe einen dicken Teppich auf den großen Schlickflächen der Lagune. Der Meersalat drohte sogar die tiefsten Kanäle zu ersticken. Er entzog dem Wasser den Sauerstoff. Tote Flundern und Heringe trieben auf dem Wasser. Warntafeln wurden aufgestellt, daß man keine Krustentiere essen sollte.

Es gab bittere Leserbriefe an die Zeitungen zum Versagen der Gemeindeverwaltung, und zahlreiche Theorien über die plötzliche Blüte des Meersalats wurden entwickelt. Wir wußten bloß, daß er stank wie sonst nichts auf der Welt. Während der heißen Tage und Nächte lag der Gestank drückend über The Spit. Der Mief der Lagune bei Ebbe durchzog diesen ganzen Sommer. Es war der Geruch nach verfaulendem Meersalat, Schlick und toten Fischen, um deren Fleisch sich nachts ganze Armeen von Krabben stritten, man meinte ihre Beine und Scheren rasseln und knacken zu hören. Der Gestank drang uns in die Nasen, wenn wir im Bett lagen und an Lucy dachten. Manchmal wurde es so schlimm, daß wir ihn auf der Zunge schmeckten. Wir verloren den Appetit und konnten nicht schlafen.

Ein paar von uns schmierten sich abends Wick unter die Nase. Dann schliefen wir eingehüllt in den Krankheitsgeruch unserer Kindheit ein und wurden in eine Zeit zurückversetzt, als unsere Mütter uns warm ins Bett packten und heilende Zaubersprüche in unser Fieber murmelten. Eine Zeit, an die wir uns mit fünfzehn noch deutlich erinnerten, ohne richtig zu begreifen, daß sie für immer vorbei war.

Die schiere Menge an Material, das wir über die Jahre gesammelt haben, ist inzwischen zum Problem geworden. Als wir Mitte Zwanzig waren, hatten wir bereits genug Papierkram zusammen, um zwei Aktenschränke zu füllen: Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften, Polizeiberichte und Transkriptionen von allen Interviews, die wir geführt haben (die Tonbänder haben wir natürlich auch). Auch die größeren Gegenstände haben wir auf bewahrt, die Fotografie von Lucy, ihre Trophäe, die beiden Flöße. Es gibt Hunderte Fotos. Wir haben auch eine kleine Bibliothek mit Büchern über Polizeiarbeit und Forensik, über DNA und Fingerabdrücke und jede Menge über berühmte Verbrechen und ihre Aufklärung. Praktisch alles, worauf wir in den vielen Jahren gestoßen sind und das vielleicht von Wert oder Bedeutung ist.

Ursprünglich war Alan Penny für das Archiv verantwortlich. Aber Al heiratete ein Mädchen aus der Gegend, als er erst 21 war, und sie bekamen kurz nacheinander drei Töchter (wenn man genau rechnet, kam die erste sogar ein bißchen zu früh nach der Hochzeit). Als sie mit der dritten Tochter schwanger war, erklärte sie Al, daß sie in ihrem Zuhause nicht länger all diesen »morbiden Müll« herumliegen haben wollte. Also kamen wir alle eines Sonntags vorbei und schafften unter ihrem strengen Blick das ganze Archiv zu Matt Templeton. Matt bewahrte die Sachen mehrere Jahre in einem unbenutzten Zimmer seines Hauses auf. Und als er geschieden wurde – zum ersten Mal –, übernahm Grant Webb die Sachen für einige Zeit.

Die meisten von uns haben mindestens ein oder zwei Jahre mit dem Material gelebt. Es ist schon komisch, das alles bei sich zu Hause zu haben. Plötzlich ertappt man sich um drei Uhr morgens beim Lesen eines Artikels, den man schon zigmal gelesen hat, auf der Suche nach einem neuen Hinweis. Oder eines deiner Kinder steht nachts auf, um sich ein Glas Wasser zu holen, und findet dich im Dunkeln neben der Stereoanlage, wo du mit Kopfhörern zum x-tenmal ein Interview anhörst und die Geister der Vergangenheit dir ins Ohr flüstern. Jedenfalls führt die Aufbewahrung des Materials im eigenen Haus zu Ringen unter den Augen und Gereiztheit.

Schließlich mieteten wir einen Lagerraum. Es ist ein hoher Raum mit vorgefertigten Betonplatten als Wänden und einem Rolltor, drüben im Industriegebiet hinter den Klärteichen. Wir haben diesen Ort hauptsächlich deshalb ausgesucht, weil er nur lockere zehn Autominuten von New Brighton entfernt ist und die meisten von uns immer noch in dieser Gegend leben. Der Lagerraum ist einer von etwa dreißig auf einem Gelände, das mit Stacheldraht umzäunt ist und Sicherheitstore am Eingang hat. Jeder von uns steuert monatlich einen geringen Betrag für die Miete bei, und wir alle kennen die Zahlenkombination des Tors, so können wir zu jeder Tages- und Nachtzeit hinein. Die meisten nutzen solche Lagerräume, um Dinge wie Wohnwagen, Boote, Quad-Motorräder oder Kisten mit irgendwelchem Kram aufzubewahren – Sachen, die nicht mehr in ihre Garagen passen. Unserer sieht eher wie ein Rugby-Clubzimmer aus. Roy Moynahan ist inzwischen Schreiner, wie sein Vater, und er hat uns eine Bar aus Zypressenholz gebaut. Im Unterschied zu den meisten anderen Lagerräumen hat unserer einen Stromanschluß, also gibt es einen Bierkühlschrank, der immer wohlgefüllt ist – es entspinnt sich manche Frotzelei darüber, welche Marken wir führen oder führen sollten. Wir haben Teppichboden über dem Beton und einen alten Poolbillardtisch. Sogar ein ziemlich bequemes Bett steht ganz hinten an der Wand, so daß man übernachten kann, wenn man ein paar Bier zuviel getrunken oder Krach mit der Frau oder Freundin hat.

Und natürlich ist das Archiv da. Das Originalmaterial bewahren wir in drei hohen grauen Aktenschränken auf. Es gibt auch eine große Glasvitrine für die größeren Gegenstände und Regale für die Nachschlagewerke. Eine Ecke ist als Büro eingerichtet, mit einem Computer mit Breitband-Internetzugang für die Online-Recherche. Einen Drucker und High-End-Scanner haben wir ebenfalls. Ein Großteil der Informationen, die wir über die Jahre gesammelt haben, wurde in den Computer eingegeben und auf DVDs kopiert, die wir in einem Safe auf bewahren, damit sie vor Feuer geschützt sind. Dasselbe gilt für die Zeitungsartikel.

Das Foto von Lucy, das aus der Zeitung, haben wir vergrößern und rahmen lassen. Es hängt an der Wand beim Schreibtisch. Meistens steht eine brennende Kerze auf einem Tischchen darunter. Macht nichts, wenn die Kerze mal ausgeht, der nächste, der kommt, zündet sie wieder an oder stellt eine neue auf.

Dieser Lagerraum ist für uns eine Art zweites Zuhause.

Noch bevor der Krankenwagen kam und die beiden Burschen vom Rettungsdienst St. John keuchend durch den Sand stapften, hatten sich die Leute aus den Häusern ringsum an den Strand aufgemacht. Die Jugendlichen waren zuerst da. Vielleicht waren wir einfach sensibler für alles, was diesen Morgen zu einem besonderen machen konnte, erspürten die Möglichkeiten schneller. Oder unsere Gerüchteküche brodelte heftiger und ließ uns ahnen, daß etwas Ungewöhnliches am Strand zu sehen war. Wir riefen uns ein paar Worte zu, als wir uns auf den Wegen durch die Dünen trafen. Aber als wir die Leiche sahen, senkte sich ein tiefes Schweigen auf uns herab.

Glaubt man jedem, der behauptet, an diesem Dezembermorgen am Strand gewesen zu sein, dann müssen mindestens hundert Leute dagewesen sein. Unseren Recherchen nach waren es tatsächlich neunzehn. Roy Moynahan war ganz sicher da, zusammen mit Alan Penny und dem großen, schwerfälligen Jim Turner. Grant Webb und Tug Gardiner ebenfalls. Mark Murray kam ein bißchen später die Dünen runter. Er war allein, und seine immer zu Berge stehenden Haare schienen sich noch senkrechter gen Himmel zu strecken. Natürlich war auch Pete Marshall da. Er stand abseits und trug eine Maske düsterer Autorität, die keiner von uns je an ihm gesehen hatte, die er jedoch in den darauffolgenden Monaten immer wieder anlegen würde. Wir standen in einer Gruppe beieinander, etwa zehn Meter von der Leiche entfernt. Kaum jemand sagte etwas. Ein eng zusammengedrängtes Grüppchen unter Schock stehender Mädchen hielt sich weiter entfernt, fast in den Dünen. Die Erwachsenen, die nach und nach kamen, blieben zumeist pärchenweise stehen, weiter weg als wir.

Der Leichnam wurde von Bill Harbidge bewacht. Er war bereits wieder zu Hause gewesen und hatte den Krankenwagen und seine Polizeikollegen gerufen. Er hatte seine Uniformjacke übergestreift und die Kappe aufgesetzt, trug aber noch immer die verblichenen Shorts und Strandschuhe, die er anhatte, als Pete an seine Tür schlug. Vielleicht waren die Shorts ein Tribut an die Hitze, doch viel wahrscheinlicher war, daß er in den paar Minuten zu Hause seine Uniformhose nicht gefunden hatte. Er war so schnell wie möglich zum Tatort zurückgekehrt.

Die Flut, die die Leiche nahe der vordersten Düne abgelegt hatte, war gegen vier Uhr auf ihrem höchsten Punkt gewesen, und nun hatte sich das Wasser weit zurückgezogen, und der Strand wirkte sehr breit. Die Wellen waren nicht mehr so hoch wie in der Nacht, brachen aber noch immer unter lautem Rauschen. Manchmal rollte eine sehr große herein und schlug krachend auf den Strand, dann wandten die Leute den Blick von der Leiche und sahen kurz aufs Meer hinaus.

Bill Harbidge verkündete mit einer Stimme, die laut genug war, die Brandung zu übertönen, daß alle weiter zurückgehen sollten, um »keine Spuren zu verwischen«. Er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen, wir blieben ganz von selbst auf Distanz. Wir besaßen keine Erfahrung mit dem Tod, und ihn so direkt vor unserer Haustür anzutreffen hatte uns zutiefst erschüttert. Vielleicht hegten wir sogar den primitiven Aberglauben, daß das, was der Frau am Strand passiert war, ansteckend sein könnte. Daß der Tod wie ein Floh aus kurzer Distanz von einem zum anderen überspringen könnte.

Es dauerte eine Weile, bis wir wußten, wer sie war. Sogar über das Meeresrauschen hinweg konnte man hören, wie der erste ihren Namen aussprach. »Lucy Asher.« Es war nicht Pete, der den Namen zuerst nannte; er hat das stets vehement bestritten.

»Es ist Lucy Asher.« Wer das nun wirklich gesagt hat und woran er Lucy erkannt hat, wissen wir nicht. Aber als diese vier Silben einmal heraus waren, flogen sie blitzartig von einem zum anderen am Strand. Alle Mädchen fingen an zu weinen.

Wir versuchten uns daran zu erinnern, wann wir Lucy das letzte Mal lebend gesehen hatten. Mark Murray flüsterte, daß er erst vorgestern zwei Kugeln Eis mit Schokoladensauce im Laden der Ashers gekauft hatte. Lucy hatte ihn bedient. Roy wußte noch mehr, er hatte Lucy noch gestern um 17 Uhr gesehen, als sie die Straße in Richtung Naturschutzgebiet entlangging.

Gerade als wir so unsere Erinnerungen austauschten, tauchten die beiden Burschen vom Rettungsdienst auf. Wir hatten keinen Krankenwagen gehört. Vielleicht hatte ihnen Bill Harbidge am Telefon gesagt, daß es nicht so eilig sei, und sie hatten deshalb die Sirene nicht angemacht. Sie kamen aus den Dünen etwas strandauf und gingen zu der Leiche. Sie trugen eine Bahre und einen großen roten Sack. Bill stoppte sie mit erhobenem Arm wie ein Verkehrspolizist, der er auch einmal gewesen war.

Der Bursche mit dem rötlichen Schnurrbart hatte anscheinend das Sagen. Er ging voraus und sprach mit Bill. Er nickte weihevoll. Wir waren zu weit entfernt, um zu verstehen, was sie sagten. Der große Dürre blieb etwas zurück, er hielt die Bahre aufrecht, und das wirkte wie eine unfreiwillige Parodie auf die Surfer, die ihre Bretter hier am Strand jeden Tag so hielten.

Als Bill schließlich zu reden auf hörte, ging der Schnauzbart zu der Leiche. Lucy lag halb auf der Seite mit dem Gesicht nach unten. Er kniete sich neben sie und legte zwei Finger an ihren Hals. Plötzlich fiel uns ein, daß sie ja gar nicht tot sein mußte. Vielleicht war sie durch irgendein Wunder nur bewußtlos. Doch er schüttelte den Kopf, in unseren Augen zu rasch für ein so gewichtiges Urteil, und marschierte zurück zu Bill und seinem Kollegen.

Nach einem weiteren Palaver mit Bill Harbidge, wobei alle drei mehrmals in unsere Richtung sahen, holte der Schnauzbart eine dicke graue Decke aus dem roten Sack und breitete sie über Lucy. Danach sahen die beiden Sanitäter eher hilflos aus. Sie traten von einem Bein aufs andere und schauten den Strand hoch und runter, als ob sie auf einen verspäteten Bus warteten. Ihr potentieller Patient war tot. Der Tod aber gehörte nicht in ihr Arbeitsgebiet. Tatsächlich waren sie jetzt nur noch zwei Gaffer – genau wie wir.

Für uns schien die dicke Decke Lucys Tod eher zu verdeutlichen als zu verbergen. Derartig zugedeckt zu sein an einem so heißen Tag am Strand schien weit unnatürlicher als ihre vorherige Nacktheit. Rachael White war in Lucys Klasse gewesen und weinte nun am lautesten, obwohl sie nie auch nur im entferntesten mit Lucy befreundet gewesen war. Beim Anblick der Decke wurde ihr Schluchzen zu einem Geheul, das sich unter die Schreie der Möwen mischte. Und dann klappte sie zusammen wie ein Liegestuhl, knickte in den Hüften und den Knien ein und sank langsam in den Sand. Als sie eine der ihren fallen sahen, wurde das Geschrei der anderen Mädchen um eine Stufe lauter.

Offenbar war der große Dürre jetzt dran, etwas zu unternehmen. Ohne jede Eile setzte er sich in Richtung Rachael in Bewegung. Unterwegs stieß er mit dem Fuß neugierig gegen ein Stück verwesenden Tang, und eine Wolke von winzigen Insekten stieg daraus auf. Er betrat den Kreis, den die Mädchen um Rachael gebildet hatten. Wie eine Giraffe spreizte er seine Beine weit und beugte sich über sie, ohne sich hinzuknien, als wollte er vermeiden, daß seine Hose mit dem Sand in Berührung kam. Einige von uns gingen ebenfalls hinüber. Wir drängten uns eng heran, um einen besseren Blick zu erhaschen. Doch der Sanitäter schien keine Geduld mit Jugendlichen zu kennen. »Zurück mit euch!«, fauchte er. »Verdammt, ihr laßt ihr ja keine Luft zum Atmen!« Er zog ein Glasfläschchen aus seiner Tasche und hielt es Rachael unter die Nase. Sofort kam sie wieder zu sich. Und fing an zu weinen, als hätte sie nie damit aufgehört. Zwei ihrer Freundinnen hoben sie auf und schleppten sie zu einem verblichenen Baumstamm. Dort saß sie dann und schluchzte. Später fanden wir alle: Das war typisch Rachael White. Aller Augen auf sich zu lenken zu einer Zeit, da jeder mit seinen Gedanken hätte bei Lucy sein müssen.

Noch immer tauchten Leute auf den Dünen auf. Wie bei der stillen Post hatte sich die Nachricht unter den Anwohnern schnell, aber nicht präzise verbreitet. Manche glaubten, sie kämen an den Strand, weil ein Surfer ertrunken war. Andere hatten gehört, es habe einen Schwerverletzten gegeben und man müsse ihn über die Dünen zum Krankenwagen tragen. Mr. Robinson, der schon achtundsiebzig war, aber noch immer jeden Tag im Meer schwamm, glaubte, er sei gekommen, um gestrandeten Walen zu helfen. Er trug eine dicke Rolle Tau über der Schulter, um die in Not geratenen Tiere wieder ins Wasser zu ziehen. Hierbei nun war Mr. Robinsons Tau völlig nutzlos.

Nach ungefähr einer halben Stunde trafen ein Dutzend uniformierte Polizisten ein, dazu ein paar in Zivil. Bill Harbidge war die Erleichterung deutlich anzusehen, als die neuen Polizisten die Regie übernahmen. Sie drängten uns weiter zurück und sperrten ein großes Areal um Lucy ab, wozu sie lange Pflöcke in den Sand trieben und dann gelbes Absperrband zwischen ihnen spannten. Ein Polizist wurde an den Anfang des Hauptwegs von der Rocking Horse Road postiert, um die Leute am Betreten des Strands zu hindern.