Ein ganz herzlicher Dank geht an Barbara Dickenberger, ohne die Fin O’Malley niemals ins Licht der irischen Sonne geblinzelt hätte.
Go lonraí an ghrian go te ar d’aghaidh
Es war dunkel. Mitten in der Nacht. Die Stunde, in der die Monster erwachten. Wenn sie sich reckten und streckten, ihre spitzen Krallen wetzten und die scharfen Zähne bleckten. Wenn sie aus ihren Verstecken krochen und sich aufmachten, um über ihn herzufallen.
Er lag stocksteif in seinem Bett, die Decke bis an sein Kinn hochgezogen, und lauschte atemlos ins Dunkel. Er wagte nicht, sich zu bewegen, aus Angst, das kleinste Geräusch könnte sie auf sich aufmerksam machen. Am liebsten wäre er kopfüber unter der Bettdecke verschwunden, aber dann hätte er nicht sehen können, wann sie sich anpirschten. Nein, Verstecken war zwecklos, sie würden ihn ohnehin finden, und er war ihnen wehrlos ausgeliefert.
Was konnte er gegen sie schon ausrichten? Sie waren in der Überzahl und er – er war erst vier Jahre alt. Viel zu klein, um zu verstehen, was sie von ihm wollten. Warum quälten sie ausgerechnet ihn? Womit hatte er sie so gegen sich aufgebracht? Wofür wollten sie ihn bestrafen? Oder wollten sie ihn am Ende doch einfach nur auffressen?
So viele Fragen und er hatte keine Antworten. Eigentlich war er noch zu klein, um sich solche Gedanken überhaupt zu machen. Aber kannte nicht jedes Kind diese Monster und hatte sie des Nachts gesehen, auch wenn die Erwachsenen ihre Existenz beharrlich leugneten?
Nein, er wusste es besser. Die Monster waren da, so wahrhaftig wie die Wolken am Himmel und das Gras auf der Wiese. Sie hockten unter seinem Bett, hingen in den Gardinen, lauerten in der Nische neben der Kommode und in dem großen klobigen Schrank auf der anderen Seite seines Zimmers, der manchmal mitten in der Nacht anfing, bedrohlich hin und her zu wackeln. Dann hörte er das Knarren der Holzdielen unter seinem Bett, wenn sie durch die Ritzen schlüpften, hörte das Kratzen ihrer Krallen, hörte sie winseln und schmatzen, wenn sie sich die Lefzen leckten in Erwartung fetter Beute.
Manchmal lag er die ganze Nacht wach und wartete, dass die Monster wieder in ihre Verstecke zurückkrochen, und wenn er es nicht mehr aushielt, fing er an zu weinen, bis seine Mutter kam, um ihn zu trösten. Sie brachte ihm eine Tasse warme Milch und blieb bei ihm, bis er eingeschlafen war. Gegen seine Mutter konnten die Monster nichts ausrichten, sie war stärker als alle Ungeheuer dieser Erde.
Aber heute Nacht würde sie nicht kommen. Er hatte ihre Schritte auf der Treppe gehört, ihre Stimme unten in der Küche. Und die Stimme seines Vaters. Und andere Stimmen. Fremde Stimmen. Stimmen draußen auf der Straße vor dem Haus. Sie schrien und grölten. Jemand sang ein Lied, laut und falsch, andere fielen betrunken ein. Er hörte Schritte. Menschen kamen näher, andere liefen davon. Ein Hund bellte. Ein großer, böser Hund. Schatten tanzten durch den schwachen Lichtschein, der durch die geschlossenen Vorhänge in sein Zimmer fiel.
Der Feuerdrache war unterwegs. Vor zwei Tagen hatte er das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite gefressen. Und heute Nacht würde er ihr Haus verschlingen.
Er begann, nach seiner Mutter zu rufen. Er musste sie warnen, sie würde sich dem Drachen entgegenstellen, und gemeinsam konnten sie ihn vielleicht vertreiben, wenn sie nur laut genug waren.
Aber die Menschen draußen auf der Straße waren lauter als er. Alle brüllten sie durcheinander. Ein Auto bremste. Türen schlugen zu. Niemand würde ihn hören. Niemand würde ihm helfen.
Er warf die Decke von sich, schlug mit den geballten Fäusten auf die Matratze und schrie sich die Seele aus dem Leib. Er schrie, bis er heiser war. Strampelte, bis sein Schlafanzug nass war von Schweiß. Bis seine Hände wehtaten und er keine Kraft mehr hatte. Bis ihn plötzlich jemand in die Arme nahm und er den vertrauten Geruch seiner Mutter atmete. Sie hatte kein Licht gemacht, als sie sich zu ihm aufs Bett setzte und beruhigend auf ihn einredete. So konnte er ihr Gesicht nicht sehen, aber die Arme, die ihn festhielten, sagten ihm, dass auch sie Angst hatte.
Das war ein völlig neues Gefühl für ihn. Seine Mutter hatte nie Angst. Wovor sollte sie Angst haben? Sie konnte es mit allem und jedem aufnehmen!
Das Fenster klirrte. Etwas Großes polterte ins Zimmer. Er schrie auf. Der Drache wollte ihn verschlingen!
Seine Mutter packte ihn blitzschnell und zog ihn vom Bett. Zog ihn hinüber zum Schrank. Öffnete eine der beiden Türen und schob ihn ins bodenlose Nichts.
Er schrie lauter. Wehrte sich gegen ihren Griff. Schüttelte panisch den Kopf. Nicht in diesen Schrank! Sie wusste doch, dass dort die Monster hausten! Er hatte es ihr doch hundert Mal erklärt!
Aber sie blieb hart. Unerbittlich. Redete auf ihn ein, aber er brüllte so laut, dass er sie nicht verstand. Das schwarze Loch kam näher. Er wand sich, kratzte und trat nach ihr, aber sie war stärker. Schon umfing ihn der muffige Geruch des hölzernen Gefängnisses, die Tür wurde zugestoßen und er saß in abgrundtiefer Finsternis. Kratzige Wintermäntel strichen über seine tränennassen Wangen, zwischen wollenen Röcken und derben Schuhen erstickte sein Weinen. Er trat gegen die Tür und schlug gegen das Holz, aber niemand erlöste ihn.
Als er für einen Augenblick innehielt, um Atem zu schöpfen, konnte er es hören. Das leise Knurren ganz in seiner Nähe. Das hölzerne Knarzen des Schranks, als ein riesiger warmer Körper langsam näher rückte. Er konnte den schwefeligen Atem riechen, als das Monster witternd die Schnauze hob und im Dunkeln nach ihm suchte.
Am nächsten Tag zogen sie aus dem Haus aus. In eine andere Straße. In eine andere Stadt.
In ein anderes Land.
1. Traban Bay
Es war hell. Viel zu hell für einen gewöhnlichen Nachmittag im April. Er musste die Augen zusammenkneifen, so grell schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel.
Der Winter war lang gewesen, kalt und grau. Aber am Ende war der Frühling auch nach Donegal gekommen. Mit jedem Tag war das Grün aus den Tälern weiter die Berge hinaufgekrochen. Der Weißdorn stand in voller Blüte, Klee und Kerbel überzogen die Wiesen mit einem duftigen, weißen Schleier. Am Himmel trällerten ausdauernde Lerchen im Wettstreit mit Möwen und Austernfischern, die die Felsen und Strände mit ihrem unaufhörlichen Gekeife und Getriller lautstark für sich reklamierten. Das Leben war erwacht, auch wenn die Natur diesen Landstrich nicht ganz so verschwenderisch gesegnet hatte wie den bei Touristen so beliebten Südwesten Irlands, der eindeutig mehr vom Golfstrom verwöhnt wurde als der eher raue Norden der Insel.
In den Parks von Dublin waren um diese Zeit die Bäume schon grün, die Frühlingsblumen längst verwelkt oder ein Opfer von Vandalismus geworden.
Fin O’Malley konnte das egal sein, er lebte seit fast einem halben Jahr auf dem Land und wunderte sich immer noch, dass er fernab von grauem Beton und Glasfassaden so lange hatte überleben können. Er hatte Handygebimmel gegen Vogelgezwitscher getauscht, Krähen gegen Möwen, Abgase gegen Salzgeruch, Hundekot gegen Schafsköttel, ein Haus am Stadtrand gegen ein Zimmer über einem Dorfpub.
Aber so ganz freiwillig hatte er es nicht getan.
Er saß am Rand der Dünen im hohen Gras und blickte auf den Strand, dessen feiner, fast schneeweißer Sand das Sonnenlicht reflektierte. Türkisfarbenes, kristallklares Wasser brach sich in kleinen friedlichen Wellen, schaukelte Kiesel und Muscheln sanft hin und her und scheuchte die winzigen, hektischen Strandläufer auf der Suche nach Futter vor sich her. Die Bucht von Traban lag fernab aller Touristenströme, selbst in der Hochsaison verirrte sich keine Menschenseele hierher, niemand markierte sein Reich mit einem Badelaken, keine Fish & Chips-Bude versperrte die Aussicht, kein Ghettoblaster störte die Ruhe. Hier, auf der Halbinsel Day’s Foreland im westlichsten Winkel von Irlands Norden, schien die Welt noch in Ordnung zu sein.
Nur für Fin O’Malley war sie das ganz und gar nicht.
Er hatte keinen Job, kein Geld, genau genommen nicht einmal eine richtige Bleibe.
Nach seiner kurzen, aber fatalen Affäre mit Charlotte Quinn und der Geschichte mit dem gestohlenen Van Gogh hatte Fin seinen Job bei der Polizei hingeschmissen. Zugegeben, es war eine Kurzschlusshandlung gewesen; wenn er ehrlich war, hatte er keine Sekunde über die möglichen Folgen nachgedacht. Frustration, Ärger, verletzter Stolz – es war einiges zusammengekommen, das seine Entscheidung aus seiner Sicht im Nachhinein rechtfertigte, aber deswegen gleich alle Brücken hinter sich abbrechen? Eigentlich hatte er sich nur eine Auszeit gönnen und sein Leben neu ordnen wollen. Aber aus ein paar Tagen waren Wochen und schließlich Monate geworden. Er war in ein tiefes Loch gefallen. Natürlich hatte er zu viel getrunken, und natürlich hatte ihn das der Lösung seiner Probleme nicht nähergebracht. Er hatte in den Tag hineingelebt, hatte die Langeweile mit Fernsehen bekämpft und war versackt zwischen Daily Soaps, mitternächtlichen Talkshows, Kochsendungen und fragwürdigen Gewinnspielen. Knapp zwei Monate hatte es gedauert, dann waren die wenigen Ersparnisse aufgebraucht und Weihnachten stand vor der Tür. Er hatte sich nicht unbedingt nach einem beschaulichen Christfest im Kreise der Familie gesehnt – aber es war das erste Weihnachten ohne seine Tochter Lily. Und das schmerzte mehr, als er zugeben wollte. Sie hatten lange miteinander telefoniert und natürlich hätte er nach Dublin fahren können, aber die Vorstellung, zusammen mit Lily, seiner Ex-Frau Susan und deren neuem Freund unter dem Weihnachtsbaum zu sitzen, hatte ihn dann doch an seine Grenzen gebracht.
Eins war ihm damals allerdings schlagartig klar geworden. So konnte es nicht weitergehen. Er musste sich endlich zusammenreißen, den Weg weitergehen, den er eingeschlagen hatte, oder einen anderen suchen.
Als erstes hatte er seinen Whiskykonsum drastisch eingeschränkt, so drastisch, dass er sich selbst fast schon als abstinent bezeichnete, und überraschenderweise kam er sogar ganz gut damit klar. Er hatte mit dem Kochen angefangen, was darauf zurückzuführen war, dass es hier in Foley so etwas wie Fastfood einfach nicht gab, und der gedeckte Tisch, unter den er bisher bequem die Füße hatte strecken können, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, stand mittlerweile einige hundert Kilometer entfernt in Dublin. Wenn er nicht verhungern wollte, musste er lernen, für sich selbst zu sorgen. Eine durchaus angenehme Begleiterscheinung war, dass er abgenommen hatte. Susan hatte immer schon rumgenörgelt, er solle mehr für seine Kondition tun, und tatsächlich war er in seinem früheren Leben hin und wieder joggen gegangen. Wenn es nicht geregnet hatte. Wenn er dran gedacht hatte, sich den Wecker zu stellen. Oder er seine Turnschuhe finden konnte. Er malte sich aus, wie die Leute in Foley ihn anglotzen würden, wenn er morgens über die Dorfstraße traben würde. Nein, er fühlte sich auch so schon wie ein Asket, ein Einsiedler, der sogar den Frauen abgeschworen hatte. Vielleicht lag Letzteres auch an einem Mangel an Gelegenheiten, aber wenn er ehrlich war, stand ihm nach der Erfahrung mit Charlotte fürs erste nicht der Sinn nach irgendwelchen Bettgeschichten. Das einzige weibliche Wesen, das als Dauergast Anteil an seinem Leben haben durfte, war Charlottes Katze. Sie hatte das Pub als neues Domizil gebilligt, kam und ging, wie es ihr passte, brachte sämtliche Kater im Dorf zur Raserei und hielt jeden Abend Hof wie eine Diva, wenn sie den Gästen in der Kneipe huldvoll erlaubte, ihr rotes Fell zu kraulen. Nein, mehr Gesellschaft brauchte Fin eigentlich nicht.
Nur das Problem mit dem Geldverdienen hatte er noch nicht zufriedenstellend gelöst. Manchmal half er im Pub von Ronan O’Shea aus, dafür hatte er freie Kost und Logis. Das Leben in Foley war preiswert und seit er gemerkt hatte, wie viel Geld er in seinem bisherigen Leben für überflüssigen Kram ausgegeben hatte, war er anspruchslos geworden.
Seinem alten Job hatte er keine Träne nachgeweint, aber das Geld und die Sicherheit fehlten ihm. Manches wusste man erst zu schätzen, wenn man es verloren hatte. Aber mit irgendetwas musste er Geld verdienen. Schon weil er sich vor Lily nicht blamieren wollte. Außerdem erwartete Susan, dass er etwas zum Unterhalt der gemeinsamen Tochter beisteuerte, auch wenn ihr neuer Partner offenbar mehr Geld verdiente als Fin jemals nach Hause gebracht hatte. Er arbeitete fürs Fernsehen. Oder für eine Zeitung? Fin konnte sich nicht mehr genau erinnern, er hatte ihn nur einmal kurz getroffen. Ein schnöseliger Angeber, der sich für was Besseres hielt.
Fin war sein ganzes Leben Polizist gewesen, er hatte nie etwas anderes gemacht als Verdächtige zu observieren, an unzähligen Haustüren zu klingeln, um Zeugen zu befragen, und seitenweise Protokolle zu schreiben. Arbeiten, die keiner seiner Ex-Kollegen gerne gemacht und dafür umso lieber auf ihn abgewälzt hatte. Ihm fiel kein Job ein, für den man diese Qualifikationen brauchte, und je länger er darüber nachdachte, desto mehr kam er zu der Überzeugung, dass er für alles andere zwei linke Hände hatte.
Vielleicht musste er das ja nicht sofort entscheiden. Denn eigentlich war sein Leben gar nicht so übel. Er war ins kalte Wasser geworfen worden, ohne dass man ihn zuvor gefragt hatte, ob er denn auch schwimmen könnte. Nein, das stimmte nicht ganz – er war selber hineingesprungen. Aber er war nicht untergegangen. Er hatte gepaddelt wie ein Wilder, um nicht zu ertrinken, und er war oben geblieben. Er hatte eine ganze Strecke schwimmen müssen, bis das Wasser seichter geworden war und er Boden unter den Füßen gespürt hatte.
Er war angekommen.
In Foley hatte man ihn akzeptiert. Nein, er sollte es vielleicht anders formulieren. Die meisten Leute im Dorf hatten sich viel eher an seinen Anblick gewöhnt. So wie man sich an eine Baustelle auf der Autobahn gewöhnte. Erst ärgerte man sich über sie, dann ergab man sich in sein Schicksal und plante sie auf dem täglichen Weg zur Arbeit einfach ein. Nur wenige mieden sie und fuhren lieber einen Umweg.
Fin war nach wie vor schleierhaft, wovon die Menschen in Foley lebten. Nur eins war klar – es ging nicht immer mit rechten Dingen zu. Noch vor hundert Jahren war Foley ein berüchtigtes Strandräubernest gewesen und irgendwie hatte sich seitdem nicht wirklich viel verändert. Egal ob es um Schmuggel, kleine oder große Betrügereien ging – immer, wenn die Polizei anklopfte, blickte sie in unschuldsvolle Mienen und musste unverrichteter Dinge wieder abziehen. Niemand wollte erklären, womit er den Sportwagen draußen vor der Tür bezahlt hatte oder wie er es sich leisten konnte, zwei Monate in der Karibik Urlaub zu machen. Fin mochte aber auch nicht fragen, denn eins hatte er schnell gelernt, seit er hier war – Neugier hielt man in Foley eher für eine Untugend.
Würden sie ihn eines Tages in ihre Praktiken einweihen? Irgendwann in ferner Zukunft, wenn er lange genug in Foley gelebt und ihr Vertrauen gewonnen hatte? Wollte er das überhaupt? Wollte er so sein wie sie? Wollte er in dieser undurchdringlichen Grauzone am Rande der Legalität leben? Als Polizist?
Ex-Polizist.
Nein, eigentlich nicht. Eigentlich wollte er nur eins. Seine Ruhe. Auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht sonderbar schien, dass ein ehemaliger Polizist ausgerechnet dieses verrufene Nest als Unterschlupf gewählt hatte, so war es auf den zweiten Blick durchaus verständlich. Hierher verirrten sich weder Recht noch Gesetz, weder Fremde noch Freunde. Der perfekte Ort für jemanden, der mit dem Rest der Welt nichts zu tun haben wollte. Zumindest für eine Weile.
Immerhin hatten sie damals dichtgehalten, niemand in Foley hatte ihn nach dem Fall mit dem gestohlenen Van Gogh ans Messer geliefert. Also gehörte er vielleicht doch schon ein ganz klein wenig dazu, ob er wollte oder nicht.
Nora Nichols, das Dorffaktotum, hatte sogar einen Pullover für ihn gestrickt und ihm gestern zum Geburtstag geschenkt. Manchmal hatte er das Gefühl, dass sie die Einzige war, die ihn wirklich zur Kenntnis nahm, auch wenn er auf die Gabe gerne verzichtet hätte. Es war nicht die kratzige Schafwolle, die ihn störte. Oder das merkwürdige Muster, von dem die spinnerte Alte behauptete, es habe magische Kräfte und schütze vor Streichen bösartiger Kobolde. Es war allein die Farbe. Es gab Farben, die Männer seiner Meinung nach niemals tragen sollten. Und Orange stand da ganz weit oben. Lily, seine Tochter, war im Gegensatz zu ihm ganz begeistert von dem ›hippen‹ Stück und nur deshalb hatte er ihn schließlich übergezogen. Trotzdem hatte er so seine Zweifel, dass ihn dieses Kleidungsstück der Dorfgemeinschaft näher brachte.
Viel eher half es da, wenn er im Fisherman hinter der Theke stand. Das Pub ist das Wohnzimmer des Iren, hieß es allgemein, und in Foley war es auf jeden Fall der Mittelpunkt des Dorflebens. Auch wenn dort natürlich die Versuchung groß war, in alte Verhaltensmuster zurückzufallen. Aber Fin hatte gelernt, den Verlockungen der vielen Flaschen zu widerstehen. Meistens jedenfalls. In seinem Leben hatte er sich oft genug Ärger eingehandelt, mit besoffenem Kopf Worte gesagt, die ihm später leid taten, oder Dinge getan, die ihn am Ende in Schwierigkeiten gebracht hatten. Im günstigsten Fall konnte man sich an nichts mehr erinnern oder man hatte merkwürdige Halluzinationen. Sah weiße Mäuse, wenn der Alkoholpegel stimmte. Auch weißen Pferden war er schon begegnet. Oder weißen Frauen. Oder waren es weise Frauen? Egal, der Whisky hatte ihm schon so manchen Streich gespielt.
Aber ein weißer Wolf?
Dabei war er genau in dieser Sekunde stocknüchtern.
2. Aston Martin
Es war natürlich kein Wolf, der da ein paar Meter von ihm entfernt im hohen Dünengras hockte und ihn beobachtete. Ob weiß oder grau, in Irland gibt es keine Wölfe, das wusste Fin, zumindest nicht in freier Wildbahn. Und im Allgemeinen trugen Wölfe auch kein Halsband.
Es war ein Schäferhund, wie aus dem Nichts aufgetaucht, schneeweiß und ganz offensichtlich kein Streuner. Sein langes Fell schien seidig und gepflegt bis auf ein paar Kletten, die er sich beim Herumstromern eingefangen hatte. Fin fragte sich, wem er gehörte. Er selber hatte sich nie viel aus Hunden gemacht, sehr zum Leidwesen von Lily, die immer ein Haustier hatte haben wollen.
»Na, wo kommst du denn her?«
Etwas Intelligenteres fiel ihm auf Anhieb nicht ein. Er hätte genauso gut ›Verpiss dich‹ sagen können, es war allein der Klang einer menschlichen Stimme, der den Hund veranlasste, mit seiner langen buschigen Rute freundlich auf den sandigen Boden zu klopfen. Seine rosa Nase zuckte witternd in Fins Richtung, als könne er den fremden Mann vor ihm durch seinen Geruchssinn einordnen. Nach welchen Kriterien beurteilte so ein Hund einen Menschen? Gab es Menschen, die aus Hundesicht gut rochen? Solche, die schlecht rochen? Was machte einen Menschen für einen Hund sympathisch?
»Hast du Hunger?«
Der Hund legte den Kopf schief und stieß ein leises Fiepen aus. Mit dem letzten Wort konnte er offenbar etwas anfangen. Dabei sah er gar nicht ausgehungert aus.
»Tut mir leid, aber ich hab’ nichts für dich.«
Er schleckte sich kurz über die Schnauze und schüttelte sich. Das Halsband klirrte leise. Auch gut.
Fin entdeckte in Reichweite ein handliches Stück Treibholz, nahm es und warf es in hohem Bogen in Richtung Strand. Der Hund sah dem Holz nach, zögerte eine Sekunde und sprang hinterher. Fin hatte nie begriffen, was für Hunde den Sinn des Apportierens ausmachte, aber auch dieser Hund konnte sich dem Reiz des Stöckchenholens nicht entziehen. Er packte das morsche Holz, kaute ein wenig darauf herum und trabte schließlich zu Fin zurück.
Er hinkte ein wenig.
Fin streckte erwartungsvoll die Hand nach dem Holz aus, aber der Hund blieb ein paar Schritte vor ihm stehen. Dunkle Augen musterten ihn, hin- und hergerissen zwischen Neugier und Misstrauen, einerseits dem Spiel ganz offensichtlich nicht abgeneigt, andererseits vorsichtig. Vielleicht hatte er schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht. Er ließ das Holz in den Sand plumpsen, hockte sich hin und kratzte sich erstmal ausgiebig. Die nächste Entscheidung wollte gut überlegt sein.
Fin bemerkte das eingetrocknete Blut an der Hinterpfote. »Was hast du denn da? Bist wohl irgendwo reingetreten?« Ohne Eile stand er auf und näherte sich dem Hund. Als er die Hand nach ihm ausstreckte, zuckte er zurück und winselte. »Nana, ist ja schon gut, ich tu dir nichts«, beschwichtigte er, »will mir das nur mal anschauen …«
Der Hund war anderer Ansicht und wich ihm aus.
»Okay, okay, dann eben nicht.« Fin gab es auf. Wenn sich der Köter nicht helfen lassen wollte …
Er klopfte den Sand von seinen Jeans und schaute sich um. Nirgends entdeckte er eine Menschenseele, nirgends einen potentiellen Hundebesitzer auf der Suche nach seinem entlaufenen Vierbeiner. Er sah auf die Uhr. Es war Zeit, nach Foley zurückzufahren, ehe der abendliche Ansturm auf die Theke einsetzte.
»Na komm, schauen wir mal, ob wir dein Herrchen finden. Oder dein Frauchen.«
Der Hund blickte sich unschlüssig um, als ob er Hilfe brauchte beim Abwägen eventueller Alternativen, schnappte sich aber schließlich seinen Stock und folgte Fin.
Traban Bay lag auf einer schmalen langgezogenen Landzunge, die sich fast einen Kilometer in den Atlantik hinausschob. Auf der Ostseite erstreckte sich der weiße Strand, dem die Bucht ihren Namen verdankte. Zur Westseite hin gingen die Dünen in eine grüne Hügellandschaft über, in Wiesen und Buschwerk. Größere Bäume hatten gegen den steten Wind vom Meer kaum eine Chance. Auf dem höchsten Punkt des Hügels thronte ein Haus.
›Haus‹ war untertrieben. Selbst aus der Ferne konnte Fin erkennen, dass es mindestens ein kleines Schloss war mit Erkern, Türmchen und einigen Nebengebäuden. Wahrscheinlich gehörte der Hund dorthin.
Fin war das Anwesen bisher nie aufgefallen. Seit er hier lebte, hatte er sich aber noch nicht viel für seine Umgebung interessiert. Foley hatte ihm immer genügt. Es kam selten vor, dass er sich wie heute über die Grenzen des Dorfes hinauswagte. Das lag im Wesentlichen daran, dass er keinen besonders ausgeprägten Orientierungssinn hatte. Er verirrte sich sogar in seinem eigenen Kühlschrank.
Dieser Ort hier war selbst ihm zu einsam. Bis zur nächsten Stadt war man mehr als eine Stunde unterwegs, bis Foley waren es vielleicht zehn Kilometer. Aber der Platz war gut gewählt. Zwar war man durch die exponierte Lage Wind und Wetter ausgesetzt, dafür hatte man garantiert in jedem Zimmer Meerblick und den Strand vor der Haustür.
Fin folgte einem geschotterten, von Unkraut überwucherten Feldweg, der so gar nicht zu einem feudalen Anwesen passen wollte. Die offizielle Zufahrt lag wahrscheinlich auf der anderen Seite. Der Hund trottete in gleichbleibendem Abstand hinter ihm her, den Holzknüppel eisern im Maul und darauf bedacht, die verletzte Pfote zu schonen.
Als Fin näherkam, wurde ihm schnell klar, dass er hier den Besitzer des Hundes kaum finden würde.
Das Schloss war eine Ruine. Ein riesiger alter Kasten, wahrscheinlich schon vor Jahrzehnten aufgegeben. Das Dach war größtenteils eingestürzt, Efeu und Brombeerranken wucherten in den leeren Fensterhöhlen. Von den rußgeschwärzten Mauern bröckelte großflächig der schmuddelige Putz. Im hüfthohen Unkraut lagen verkohlte Dachbalken und zersplitterter Schiefer. Was auch immer hier geschehen war und die Bewohner vertrieben hatte, es lag lange zurück.
Fin bog um die Ecke und fand sich vor dem Eingang wieder. Eine ausladende, weit geschwungene Freitreppe mit zwei großzügigen Aufgängen, eine filigrane Balustrade und ein reichverziertes Eingangsportal.
Ein dicker grüner Teppich aus Efeu floss die Treppe herab, die Stufen waren nur noch zu erahnen. Die steinerne Balustrade war an vielen Stellen in sich zusammengebrochen, das einst stattliche Portal mit schnöden Brettern verrammelt. Anhand der Fensterhöhe im Erdgeschoss ließ sich abschätzen, wie imposant die Gesellschaftsräume dahinter gewesen sein mussten.
Noch etwas fiel Fin auf. Ein Seitentrakt des Gebäudes war eingerüstet, ein hoher Metallzaun sicherte die Baustelle. Aber auch hier hatte der Rost bereits genagt, die schief hängenden Schilder einer Baufirma waren verblichen. Es schien, als wären die Arbeiten eingestellt worden, bevor sie richtig angefangen hatten. Wahrscheinlich aus Geldmangel.
Der Hund hatte sich nicht weit von ihm niedergelassen und leckte seine Pfote.
»Und was mache ich jetzt mit dir?«
Nein, er mochte keine Hunde, aber er konnte das verletzte Tier nicht einfach sich selbst überlassen.
Sein Blick ging über die Trümmer eines leeren Springbrunnens hinweg zur einstigen Gartenanlage. Ein geübtes Auge konnte noch einzelne Rabatten erkennen, die Beeteinfassungen im feuchten Boden eingesunken. Zwischen wucherndem Knöterich und stacheligen Disteln eine steinerne Bank, von Moos überzogen, hier ein ausgewaschener Sockel, einst Halt für eine kunstvolle Vase oder Skulptur, dort die Reste eines mächtigen Tonkübels, der seinerzeit eine exotische Palme beherbergt haben mochte. Von den schützenden Mauern waren ein paar Schutthaufen geblieben, die empfindlichen Pflanzen lange verschwunden, nur einige hartgesottene hatten überlebt. In einer feuchten Ecke steckten gelbe Iris ihre Köpfe der Frühlingssonne entgegen und trotzten den alles verschlingenden Brombeerhecken.
Bevor die Natur das Terrain zurückerobert hatte, musste der Blick vom Haus über die blühenden Gärten beeindruckend gewesen sein, wenn an Tagen wie heute das Meer ruhig und blau wie eine Theaterkulisse fast schon Mittelmeerflair verbreitete. Am Horizont eine Handvoll Inseln, die meisten unbewohnt, die Küste drum herum ebenso dünn besiedelt.
Wer auch immer hier gelebt hatte, er hatte keinen Wert auf Gesellschaft gelegt. Für ein Wochenendrefugium war der Schuppen eindeutig zu groß.
Am Ende der Gartenanlage, dort, wo das von Menschenhand geordnete Land zum Meer hin abfiel, wirbelte ein Schwarm Möwen zeternd durcheinander. Irgendetwas hatte ihr Interesse geweckt. Etwas leuchtend Rotes, das fast schon verboten auffällig aus dem zarten Frühlingsgrün hervorstach.
Ein Auto.
»Na also«, meinte Fin erleichtert und wandte sich an seinen Begleiter, »komm, dein Herrchen sucht dich wahrscheinlich schon!«
Er folgte einem kaum noch erkennbaren Pfad durch den ehemaligen Garten, der Hund humpelte ohne Eile hinterdrein.
Fin fragte sich, was das Auto hier zu suchen hatte. Hier gab es nichts zu sehen außer einem zugegeben idyllischen Strand und einer alten Ruine, die seines Wissens in keinem Reiseführer verzeichnet war. Wer hierherkam, musste schon einen besonderen Grund haben.
Ihm wurde schlagartig bewusst, dass er schon genauso dachte wie seine Mitmenschen in Foley, deren grundsätzliches Misstrauen in alles und jeden entschieden über ein gesundes Maß hinausging.
Sicher waren es Touristen, die sich verfahren hatten. Obwohl Fin das in aller Voreingenommenheit eher für unwahrscheinlich hielt. In diesen gottverlassenen Landstrich Irlands verirrten sich nun mal keine Touristen …
Der Garten fiel in Terrassen zum Meer hin ab. Über die unterste Ebene breitete sich der ehemalige Obstgarten aus, durch das hohe Gras und das wuchernde Unkraut kaum noch als solcher zu erkennen. Knorrige Apfelbäume stemmten sich gegen den Wind, in die kahlen Äste klammerten sich die verschrumpelten Früchte aus dem Vorjahr. Dazwischen frische Knospen, Hoffnungsschimmer gegen den drohenden Untergang.
Das Ende des Gartens markierten zwei baufällige Mauerpfosten, von denen einer gerade noch in der Lage war, einen schiefen, schmiedeeisernen Torflügel zu halten. Das völlig verbogene Gegenstück lag versunken in einem Hain von Brennnesseln.
Das Auto stand am Rand einer niedrigen Klippe, die zum Strand hinabführte, die Motorhaube dem Meer zugewandt. Vom Fahrer keine Spur. Es war ein knallrotes Cabrio, das Dach zurückgeklappt, umschwärmt von einer wahren Wolke heiser schnarrender Möwen. Es war anzunehmen, dass sie etwas Essbares entdeckt hatten, einen unbeaufsichtigten Picknickkorb oder dergleichen. Möwen machten mit so etwas kurzen Prozess.
Fin ging näher, was die Vögel nur mäßig beeindruckte. Es war ein Aston Martin, ein ziemlich neues Modell, soweit er das beurteilen konnte. Luxus auf vier Rädern mit mindestens fünfhundert Pferdestärken unter der blankpolierten Kühlerhaube und das alles in einer Preisklasse, die Fin sich nicht mal im Traum würde leisten können. Die leuchtend rote Metallic-Lackierung war für seinen Geschmack allerdings eine Spur zu knallig.
»Potenzschleuder!«, entfuhr es ihm.
Ein Blick aufs Nummernschild an dem bulligen Wagenheck bestätigte seinen Verdacht. Kein Ire würde sich hinters Steuer dieses Schlittens setzen. Der Wagen kam aus Derry. Nordirland.
Wer ließ ein solches Auto einfach so unbeaufsichtigt in der Gegend stehen? Andererseits, wer sollte es in dieser Einöde klauen?
Der Besitzer des Wagens – und Fin ging davon aus, dass es ein Mann war, denn dieser Aston Martin war nun mal ein ›Männerauto‹ – war vielleicht am Strand oder, was er für wahrscheinlicher hielt, auf der Suche nach seinem Hund.
Fin schaute sich um. Der weiße Schäferhund war ein gutes Stück zurückgeblieben, der lärmende Möwenschwarm flößte ihm ganz offensichtlich Respekt ein. Er lag neben dem rostigen Gartentor, den Kopf auf die Vorderpfoten gebettet, und beobachtete ihn. Nein, er hatte nicht ihn im Visier, sondern den Wagen. Und es war genau in diesem Moment, als Fin plötzlich ein ganz und gar ungutes Gefühl beschlich.
Langsam näherte er sich dem Wagen. Unter wildem Schimpfen flogen die Möwen auf, umkreisten den Sportwagen unter lautem Protest, bereit, sofort wieder herabzustoßen, sobald dieser zweibeinige Störenfried das Feld räumte. Federn stoben, die Windschutzscheibe war völlig verdreckt.
Aber es war kein Vogelkot.
Es war Blut.
Fin warf einen Blick auf den Fahrersitz, nur eine einzige, winzige Sekunde, aber die genügte völlig. Er machte auf dem Absatz kehrt und übergab sich. Er kotzte sein Mittagessen raus und Teile des Frühstücks, hustete und keuchte, stützte sich auf seine zitternden Knie und versuchte, tief und kontrolliert zu atmen.
Fin war in seiner Polizistenlaufbahn nur ein einziges Mal vor Ort an einer Mordermittlung beteiligt gewesen. Eine tote Prostituierte, erwürgt und fast schon dekorativ auf ihrem Arbeitsplatz in einem billigen Hotelzimmer drapiert, ein vergleichsweise sauberer Tatort.
Er riss sich zusammen. Verdammt, er war Polizist gewesen, da sollte ihn so was wie das hier nicht so leicht umhauen!
Er wischte sich den Mund ab, schluckte den bitteren Geschmack herunter und riskierte einen zweiten Blick. Diesmal war er vorbereitet.
Ein Mann hockte zusammengesunken auf dem Fahrersitz, die hellen Lederpolster waren mit Blutspritzern übersät, ebenso das Armaturenbrett und die Windschutzscheibe. Der Kopf war zur Seite gedreht, vielmehr das, was davon noch übrig war. Es war schwer zu sagen, ob jemand ihm den Schädel eingeschlagen oder eine Kugel ihm das halbe Gesicht weggerissen hatte. Den Rest hatten die Möwen besorgt.
Fin unterdrückte einen neuen Brechreiz und schaute nach oben, wo die weißen Räuber erwartungsvoll kreisten und lauthals keifend ihre Beute einforderten. Auf dem Beifahrersitz lag eine blutverschmierte Jeansjacke. Mit etwas Überwindung beugte sich Fin über den Toten, angelte nach der Jacke und bedeckte die Leiche so gut es ging.
Er atmete tief durch.
Der Hund lag noch immer an derselben Stelle und ließ ihn nicht aus den Augen. Fin zählte eins und eins zusammen.
»Du weißt, was passiert ist, hab’ ich recht?«
Der Hund schaute ihn weiter unverwandt an.
Wahrscheinlich war er im Auto gewesen, als es passierte, oder zumindest in der Nähe. Vielleicht hatte er den oder die Täter sogar angegriffen, als er sein Herrchen in Gefahr gesehen hatte. Vielleicht hatte man auf ihn geschossen und er war entkommen mit einer verletzten Pfote. Vielleicht …
Aber er war nur ein gewöhnlicher weißer Schäferhund, der niemandem erzählen konnte, was wirklich geschehen war.
Fin seufzte. Ein Hund als Tatzeuge. Der Traum einer jeden Mordermittlung.
Natürlich wusste er, was zu tun war, auch wenn er seit einem halben Jahr kein Polizist mehr war. Den Tatort sichern, die Polizei rufen, den Arzt, die Spurensicherung …
In Foley würden sie ihn lynchen, wenn er die Garda rief. Aber wen sollte er sonst informieren? Im Dorf gab es keine Polizei, in Foley hatte man sich stets selbst zu helfen gewusst.
Auf Anhieb fiel ihm nur eine einzige Person ein, die man als eine Art Instanz für Recht und Ordnung betrachten konnte. Dermot Keelan, seines Zeichens Pfarrer in Foley.
Fin fingerte sein Handy aus der Hose, warf einen Blick aufs Display und fluchte leise. Nein, es war eine Illusion, dass man ihn hier akzeptiert hatte. Nicht mal das Handynetz wollte ihn …
Er ging ein paar Schritte Richtung Strand, ein paar in Richtung Haus, aber ohne Erfolg. Er musste wohl oder übel zur Hauptstraße zurück, wo er seinen Wagen abgestellt hatte. Vielleicht hatte er unterwegs mehr Glück. Er beschloss, den Feldweg zu nehmen, der an der Ruine vorbeiführte und der wohl auch den Aston Martin hierhergebracht hatte. Der Hund heftete sich an seine Fersen, erleichtert, diesen unerfreulichen Ort zu verlassen.
Fin musste fast eine Viertelstunde laufen, bis er endlich Empfang hatte.
»Vater Keelan? Hier ist Fin … Fin O’Malley. Ich hab’ da ein Problem … Nein, ich weiß, dass man zur Beichte in eine Kirche geht und nicht anruft. Das Problem ist eher … ähm, weltlicher Natur. Ich hab’ hier einen Toten … Nein nein, nicht das, was Sie jetzt denken! Ich bin völlig unschuldig! … Nein, er ist nicht eines natürlichen Todes gestorben … Keine Ahnung, ich hab’ ihn noch nie hier gesehen. Er ist von drüben aus’m Norden … Wo ich bin? Traban Bay. Da steht so ’ne alte Ruine und … Gut, ich warte.«
Er beendete das Gespräch. Vater Keelan hatte versprochen, sich um die Angelegenheit zu kümmern. Was immer das am Ende bedeutete, für ihn hieß es jedenfalls, dass er die Verantwortung für die ganze Sache los war. Er hatte sowieso keine Lust, ausgerechnet seinen Ex-Kollegen Rede und Antwort zu stehen. Fehlte noch, dass er sich von ihnen vorwerfen lassen musste, sich unprofessionell verhalten zu haben. Natürlich wusste er, dass man an einem Tatort nichts anfasste, auch keine Jacken, um die Leiche gnädigerweise zu bedecken. Und man kotzte auch nicht direkt neben den Fundort. Nein, sollten sich doch andere mit dem Toten rumärgern.
Erleichtert machte er sich auf den Rückweg, den tapfer humpelnden Hund im Schlepptau.
Er kam an der Ruine vorbei und bemerkte als erstes die kreischenden Möwen. Wie die Geier kreisten sie gierig über dem Cabrio.
Als er sich dem Wagen näherte, sah er, dass die Jacke, mit der er die Leiche zugedeckt hatte, verschwunden war.