Amber setzte das Diadem vorsichtig auf Zelinas Kopf.
„Schnell, Amber, wir kommen zu spät …“
Die junge Gesellschaftsdame wuselte um ihre Prinzessin herum. An diesem Morgen empfing König Igor alle bedeutenden Persönlichkeiten des Königreichs. Er hatte seinem Volk etwas Wichtiges mitzuteilen. Für diesen feierlichen Augenblick musste Zelina perfekt aussehen!
„So, Prinzessin, jetzt seid Ihr fertig.“
Zelina warf einen Blick in den Spiegel. Sie sah hinreißend aus in ihrem schimmernden Kleid.
„Gut gemacht, liebe Amber. Komm, wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!“
Mit raschelnden Seidenkleidern nahmen Zelina und Amber immer vier Stufen der ausladenden Marmortreppe des Schlosses von Oberon auf einmal.
Anschließend stürmten sie durch die Vorhalle, ohne einen Blick in die riesigen goldgerahmten Spiegel zu werfen, die die Wände bedeckten, und eilten in Richtung Thronsaal.
Als sie völlig außer Atem durch die prächtige, kunstvoll gearbeitete Tür traten, erklangen die Trompeten, und eine Stimme verkündete:
„Ihre Hoheit, Prinzessin Zelina, und Fräulein Amber.“
Alle Blicke richteten sich auf die Prinzessin. Die Gäste des Königs verbeugten sich respektvoll. Zelina errötete. So viele Leute … Das war ziemlich einschüchternd! Zum Glück warf ihr Vater ihr ein breites Lächeln zu. Königin Mandragona, ihre Stiefmutter, saß bereits neben ihm, und neben ihr wiederum ihr dämlicher Sohn Marcel. Den fand Zelina vielleicht nervtötend! Er war drei Jahre älter als sie und außerdem arrogant, eingebildet und ungehobelt. Er hatte ungefähr so viel Grips wie ein Regenwurm. Aber was Zelina vor allem nicht ertragen konnte, war die Tatsache, dass er sich schon als König von Nordevien betrachtete.
„Setz dich zu uns, mein Schatz“, sagte König Igor und streckte ihr die Hand entgegen.
Dann bat der König um Ruhe. Die Gespräche verstummten. König Igor erhob sich von seinem Thron.
„Meine lieben Untertanen, wie ihr alle wisst, bin ich nicht mehr der Jüngste.“
Protestgemurmel erhob sich unter den Zuhörern.
„Keine Sorge, ich bin noch bei bester Gesundheit. Aber wer weiß, was morgen ist? Ich muss jetzt schon an die Zukunft unseres Landes denken. Deswegen möchte ich heute offiziell vor euch allen die Person nennen, die mir einmal auf den Thron des Königreiches Nordevien folgen wird.“
Königin Mandragona lächelte still, und Marcel warf sich in die Brust. Der König fuhr fort:
„Ich habe also Folgendes beschlossen: Wenn ich einmal nicht mehr bin, soll meine geliebte Tochter, die Prinzessin Zelina, an meine Stelle treten. Ich weiß, dass sie mit ihrer Intelligenz und ihrem Charme dieser schweren Aufgabe gewachsen sein und die Herzen all ihrer Untertanen im Sturm erobern wird.“
Königin Mandragonas Lächeln erlosch. Zelina machte sich ganz klein, als der Thronsaal plötzlich vor Hochrufen widerhallte. Mit einer Geste brachte König Igor die Menge zum Schweigen.
„Sollte meiner lieben Zelina etwas zustoßen, dann wird natürlich mein Stiefsohn Marcel den Thron besteigen. So lautet mein Beschluss!“
Der Jubelsturm brach doppelt so laut wieder los. Königin Mandragona rührte sich nicht. Sie war ganz blass geworden. Wie konnte Igor es wagen? Marcel sollte doch sein Nachfolger werden, nicht Zelina! Marcel war der Ältere, und der König hatte ihn adoptiert! Die Königin spürte Hass in sich aufsteigen. Damit würde er nicht durchkommen. Sie hatte doch nicht so viele Jahre lang Komplotte geschmiedet, damit dieses Püppchen ihrem Sohn den Thron wegschnappte!
Der König lud alle zu einem großen Bankett ein. Während die Menge aus dem Thronsaal in den herrlichen Festsaal des Schlosses strömte, nahm Amber sanft Zelinas Hände in ihre.
„Nun, Prinzessin, Ihr müsst doch glücklich sein!“
Aber in Zelinas großen, smaragdgrünen Augen stand keine Freude.
„Amber“, sagte sie mit Nachdruck, „wenn ich meinen geliebten Papa verlieren muss, um den Thron zu besteigen, dann hoffe ich, dass ich niemals die Krone von Nordevien tragen werde!“