Enrico Madrigal, der Lehrer für Umgangsformen, seufzte und verdrehte die Augen zu den großen Kristall-Kronleuchtern des Ballsaals. Zelina und Amber wirkten nicht mehr besonders konzentriert, und er kam zu dem Schluss, dass es Zeit wurde, die beiden Mädchen zu entlassen.
„Die Stunde ist beendet!“, erklärte er. „Fräulein Amber, ich bitte Euch, dafür zu sorgen, dass Ihre Majestät den Hofknicks bis morgen noch ein wenig übt.“
Die Prinzessin sah ihre Gesellschaftsdame an und prustete los. Bei diesem schönen Wetter hatten sie wirklich andere Dinge im Kopf, als gute Manieren einzustudieren …
Die beiden verabschiedeten sich von Herrn Madrigal, und Zelina zog Amber mit in den Garten.
Die Sonne strahlte vom Himmel, und die Wäscherinnen des Schlosses hängten lachend ihre Laken auf dem Rasen auf.
„Sollen wir mit ihnen Verstecken spielen?“, schlug Zelina vor.
Amber rümpfte die Nase.
„Das gehört sich nicht, Prinzessin!“
„Ach, verflixt … Du bist eine echte Spielverderberin …“
In diesem Augenblick hörten sie auf der anderen Seite der Hecke laute Stimmen und Gelächter. Zelina stellte sich auf die Zehenspitzen. Sie spähte über die Blätter und erkannte ihren Stiefbruder Marcel und zwei seiner Freunde.
Die drei Idioten hatten nichts Besseres zu tun, als die Apfelkuchen, die Soßenknilch, der Palastkoch, mit viel Liebe zubereitet hatte, in die Luft zu werfen und mit Pfeilen abzuschießen.
Zelina war empört über den mangelnden Respekt für die Arbeit des armen Kochs und beschloss, Marcel das nicht durchgehen zu lassen.
Sie war nicht die Einzige, die über dieses erbärmliche Schauspiel bestürzt war. An einem der Schlossfenster wurde auch der Dämon Belzekor Zeuge der widerlichen Verschwendung. Was für eine Qual für den äußerst verfressenen bösen Geist der Königin Mandragona! Also, wäre Marcel nicht der geliebte Sohn seiner Herrin gewesen, hätte er ihn ja schon längst in ein Spanferkel verwandelt …
„Los, Bert, wirf!“, schrie Marcel.
Der schöne, goldbraune Kuchen stieg in den Himmel auf, aber Marcels Pfeil verfehlte ihn um einen guten Meter. Der Dämon richtete sich auf. Seltsamerweise fiel der Kuchen nicht wieder auf die Erde. Er wurde plötzlich von einem Windstoß erfasst und verschwand in den Blättern des wilden Weins, der das Dach und die Seitenmauern des alten, verlassenen Bergfrieds überwucherte.
Zelina stellte sich mit geballten Fäusten vor Marcel hin.
„Du solltest dich was schämen!“
Der Prinz musterte sie abschätzig, während er schon seinen Bogen spannte, um einen weiteren Pfeil abzuschießen.
„Hör zu, Kleine … lass die Großen in Ruhe spielen, ja?“
„Benimmt sich so vielleicht ein Edelmann? Du und deine Freunde, ihr seid doch nichts als … als Nieten!“
Marcel lachte höhnisch.
„Hahaha … Und du sagst es bestimmt deinem Papa, richtig?“
Verärgert streckte Zelina ihm die Zunge heraus. Der Prinz wollte dem Mädchen eine Ohrfeige verpassen, vergaß aber dabei, dass er den Bogen schon gespannt hatte … Der Pfeil sauste los und bohrte sich in seinen Stiefel. Marcel brüllte vor Schmerz. Mann, war der blöd! Zelina brach in lautes Gelächter aus und lief zu Amber zurück.
Währenddessen lief Belzekor das Wasser im Mund zusammen. Er würde diesen saftigen Apfelkuchen auf keinen Fall seinem traurigen Schicksal überlassen. Der Dämon verwandelte sich in einen Raben und flog auf das Dach des Bergfrieds. Da war ja der Kuchen: Er steckte zu drei Vierteln im wilden Wein fest. Als er die Blätter beiseiteschob, um das Gebäck zu befreien, wurde Belzekor von einer gleißenden Spiegelung geblendet.
Unter dem Grün erkannte er einen kleinen Rosenstock, der eine wunderschöne und einzigartige goldene Blüte trug. Am Sockel der Kristallschale, in der der Rosenstock stand, war eine Plakette befestigt. Belzekor beugte sich hinunter, um sie zu lesen. Die folgende Inschrift war dort eingraviert:
„Dieser magische Rosenstock beschützt die Lieben desjenigen, der ihn besitzt.
Doch wehe dem, der seine Blüte zerstört, denn er wird verwelken wie sie!“
Der Dämon kratzte sich nachdenklich mit dem Flügel am Schnabel. Das würde Königin Mandragona sicher interessieren …