Für meine Kinder,
und meine Kindeskinder,
wenn auch schon erwachsen,
zum Nachholen der
Geschichten,
die ich nicht erzählte.
FRANÇOIS LOEB, geboren 1940 in Bern, lic. oec. Universität St. Gallen, leitete von 1975 bis 2005 das von seinem aus Freiburg im Breisgau stammenden Urgrossvater gegründete Berner Traditionskaufhaus LOEB. Nach politischen Mandaten in Gemeinde und Kanton sass er von 1987 bis 1999 im Schweizer Nationalrat. Heute lebt er im Schwarzwald, schreibt und publiziert Kurzgeschichten und Erzählungen.
www.francois-loeb.com
Die Bilder stammen von Sabine Hofkunst. Als naturwissenschaftliche Zeichnerin arbeitete sie für zoologische und botanische Institute, illustrierte Sonderausgaben für Verlage im In- und Ausland. Es ist die Natur in ihrer nächsten Umgebung, die Sabina Hofkunst inspiriert. In ihren Aquarellen macht sie scheinbar Unsichtbares sichtbar und oft offenbart sie dabei einen feinen, fantasievollen Humor.
www.sabina-hofkunst.ch
Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter:
www.allitera.de
Originalausgabe
Oktober 2015
Allitera Verlag
Ein Verlag der Buch&media GmbH, München
© 2015 Buch&media GmbH, München
© 2015 alle Illustrationen: Sabina Hofkunst, Montet sur Cudrefin (CH)
Umschlaggestaltung unter Verwendung der Illustration »Die Königin«
von Sabina Hofkunst, www.sabina-hofkunst.ch
isbn print 978-3-86906-785-8
isbn ePub 978-3-86906-786-5
isbn PDF 978-3-86906-787-2
Printed in Europe
Wir Menschen erforschen den Mars. Sehnen uns, das Geheimnis des Universums zu entschlüsseln. Dem Urknall auf den Grund zu kommen.
Da denke ich an Johann Wolfgang von Goethes dichterische Mahnung:
Willst du immer weiter schweifen?
Sieh, das Gute liegt so nah.
Lerne nur das Glück ergreifen,
Denn das Glück ist immer da.
Und wenn ich für Stunden vor dem gläsernen Nest der Blattschneiderameisen im Berner Tierpark sitze, den winzigen Wesen bei ihrer Tätigkeit zusehe, kann ich nur ehrfürchtig staunen und weiter beobachten. Wenn ich dann noch in die Waagschale werfe, dass es auf unserem Planeten 11.000 bis 12.500 verschiedene, bis in die Kreidezeit zurückzuverfolgende Arten dieser perfekt organisierten Insekten–Staatengemeinschaft gibt und schätzungsweise 100 Billiarden einzelner Tierchen, wächst meine Hochachtung vor dem Ameisenwunder. Die Wunder liegen vor unserer Nasenspitze, wir müssen sie einzig erkennen.
So lag es auf der Hand, dass ich mein Herz an eine Ameisengeschichte verlor. Insbesondere da ich zahlreiche Parallelen zu unserer Spezies erkannte. So empfehle ich den werten Lesern und Leserinnen, die Ameisen zu achten und sie sich – die Handlung dieser Geschichte wird den Grund offenbaren – auch teilweise zum Vorbild zu nehmen. Empfehlen will ich aber auch von Herzen, die gläsernen Ameisennester zu beobachten, den Ameisen und sich selbst Zeit zu schenken!
François Loeb
Frühjahr 2015
Ich erinnere mich noch gut. Wohlig warm war es im Ei. Ich hörte das Trappeln der Kindermädchen und Kinderbuben rund um mich herum. Ihr Kichern und Lachen, wenn sie Pause machten und mit ihren Fühlern einander kitzelten. So stellte ich es mir wenigstens vor in meinem Ei, das ja nicht durchsichtig war. Glaseier waren für Königinnen bestimmt. Damit jeder sie besser bewundern konnte. Und weil ich nicht hinaussah – mein Ei war undurchsichtig und liess nur einige wenige Tröpfchen Licht durch –, nahm ich an, keine Königin zu werden. Obwohl – das versteht auch jeder – ich es ungerecht fand, keine Königin zu werden. Denn ich glaubte, ich hätte es verdient. War ich doch eine brave Eibewohnerin. Weder nagte ich von innen an der Schale noch schleckte ich daran. Obwohl sie herrlich süss schmeckte, wenn ich sie zufällig mit meiner Zunge berührte und manchmal – ich gebe es ja zu – etwas länger bezungte, als unbedingt nötig war. Aber das sah ja niemand.
Und dann die Aufregungen, wenn irgendetwas in unserem Haufen stocherte! Plötzlicher kalter Luftzug. Mich fror dann so, dass ich mit meinen Fühlern klapperte. Die ganze Welt musste dieses Trommelkonzert hören. Es dröhnte in meinem Ei, dass ich mir am liebsten die Ohren mit den Fühlern zugehalten hätte. Aber die klapperten ja und waren zum Zuhalten nicht zu gebrauchen. Dann kam ein Getrampel von den Kinderbuben und Kindermädchen, wir Eier wurden mit Zangen gepackt und in wohlig warme Orte getragen. Sofort hörten meine Fühler auf zu klappern. Dass beim Herumtragen meine Zunge herauskam und das Ei berührte, mmh, dafür konnte ich ja nichts. Aber es schmeckte fein und süss während des ganzen Herumtragens. Die Eierschale wurde, da viel Gestocher im Haufen geschah, immer dünner. Jetzt sah ich schon beinahe hinaus. Vielleicht werde ich trotz allem eine Königin, dachte ich mir. Das Ei musste also durchsichtig sein! Nur wurde ich noch nicht bewundert. Und eines Tages – meine Zunge hatte sich wohl zu lange an der Schale ausgeruht – erkannte ich einen Riss. Das machte mir, ich gebe es zu, etwas Angst. Ich hät–te ja meine Zunge besser bewachen können. Aber zu spät, der Riss wuchs und wuchs. Und schon kam ein Kindermädchen und säbelte mit seiner Zange am Riss. Das Ei öffnete sich, und ich sass ziemlich belämmert inmitten von Eiern.
»Die hat es aber eilig«, bemerkte das Kindermädchen, »was wird wohl mal aus der?« Ja, das wollte ich eigentlich auch wissen. »Vorwitzig und neugierig ist die«, sagte sie zu einem Kinderbuben, der neben ihr stand und mich mit grossen Augen anstarrte.
»Nennen wir sie Shangalu«, sagte der Kinderbube.
»Ein schöner Name«, antwortete das Mädchen. »Aber essen muss die noch viel, bevor sie gross ist«, und steckte mir Kügelchen in den Mund, die herrlich schmeckten. Da war die Eierschale ein Pieps dagegen. Ehrlich.
»Wir müssen der Königin melden, dass sie ein neues Kind hat«, bemerkte das Mädchen. »Sagst du es ihr? Sei aber vorsichtig. Ich bin nicht sicher, ob sie wach ist. Und so wichtig ist die nicht, dass du sie wecken musst.« Gemein fand ich das! Ich und nicht wichtig genug, um die Königin zu wecken! Denen werde ich’s zeigen, beschloss ich. Gross und stark werde ich. Die sollen es noch bereuen, die Königin nicht geweckt zu haben …
Aufgeregt kam das Kindermädchen angerannt. »Sie will dich sehen, Shangalu! Dich, kaum zu glauben! Komm, ich muss dich zuerst waschen und deine Fühler kämmen.« Puh, dachte ich, Fühler kämmen! Für wen denn?
»Wer will mich sehen?«, bemerkte ich zwischen zwei Fühlerstrichen, die ganz schön ziepten. Wer lässt sich denn schon gerne waschen? Puh.
»Die Königin, wer sonst? Sie will dich sehen. Äusserst selten, äusserst selten …«, murmelte das Kindermädchen. Dann trieb sie mich vor sich her, durch endlose Gänge, vorbei an riesigen Eihöhlen und Tausenden von eiligen Schwestern und Brüdern, die mich keines Blickes würdigten. Die Fühler des Kindermädchens waren stets hinter mir, trieben mich zum Traben an, und wenn ich ihnen zu langsam wurde, kamen mir die Zangen meiner Begleiterin bedrohlich nah, sodass ich wieder schneller lief, obwohl ich bereits müde war, meine Beine fühlten sich an wie Blei, schwer und plump.
Da, plötzlich – der Gang, in dem wir uns bewegten, machte eine Kurve – öffnete sich vor mir eine gewaltige Höhle, hell erleuchtet von Tausenden von Glühwürmchen, der Eingang bewacht von Ameisensoldaten mit riesigen Kieferzangen. »Passwort«, schnarrte der Grösste, und sah mich voller Misstrauen an, die Zangen bissbereit. Meine Begleiterin schrie so laut sie konnte: »Shangalu!« Ich drehte mich um – liegt doch auf der Hand, wenn mich jemand ruft –, doch diesmal war es falsch, denn »Shangalu« war das Passwort, das die Soldaten zur Seite treten liess. Sie winkten uns durch, ein breites Lachen jetzt auf ihren Mündern.
Wir traten ein. In der Höhle wimmelte es nur so von Ameisen, die putzten, scheuerten, Nahrungskügelchen in eine Richtung trugen, Glaseier rollten, bewunderten und wärmten, Glühwürmchen zur Arbeit anhielten, wild durcheinander sprachen und alle zehn Minuten wie durch ein unsichtbares Zeichen ihre Arbeit unterbrachen und gemeinsam anfingen zu singen:
»Oh Königin, oh Königin,
oh Herrscherin,
oh Herrscherin,
wie leuchten deine Augen!
Oh Königin,
oh Königin, oh Herrscherin, oh Herrscherin,
wie schön sind deine Augen!«
Anschliessend fuhren sie sogleich mit ihrer unterbrochenen Arbeit fort.
Wir bahnten uns einen Weg durch die Menge. Ganz hinten in der Höhle unter einem ameisenroten Baldachin sah ich sie. Dick und riesengross. Diener umschwärmten sie, reichten ihr Futterbällchen, welche sie unersättlich verschlang. Ihre übergrossen Augen, sie hatte deren dreizehn, leuchteten fast so stark wie die emsigen Leuchtwürmchen. Aber die Königin war so fett, dass sie sich kaum bewegen konnte – kam wohl von den gereichten Futterbällchen –, sie lag mehr, als dass sie sass, auf einem Blätterdiwan, der von Ameisensoldaten gehalten wurde. Die Ablösung der Träger erfolgte bei jedem einsetzenden Gesang der Königinnenhöhle.
Ein königliches Auge ruhte nun auf mir. Einzig auf mir. Ich spürte den Blick deutlich. »Shangalu«, richtete sie das Wort an mich, »Shangalu, du musst essen, viel essen, um gross und stark zu werden. Du wirst Soldat, Ameisensoldat. Kannst stolz auf deine Ernennung sein.« Das Auge, das mich angesehen hatte, wanderte nun weiter. Ich war nicht mehr von Interesse.
Mein Kindermädchen bahnte mir einen Weg durch die wogende Ameisenschar, vorbei an den Soldatenwachen, zurück in meine Eierkammer. Ich aber wollte nicht Soldat werden. Keine so langen Zangen haben. Nicht Wache am Höhleneingang sein, nicht Blatthalter des königlichen Diwans. Ich wollte nicht kämpfen und nicht auf Kommando singen, sondern nur dann, wenn ich dazu Lust verspürte. Nein, ich, Shangalu, wollte die Welt entdecken. Mein Entschluss stand felsenfest, ich wollte in die Freiheit. Auf in die weite Welt, schwor ich mir. Sobald ich gross genug bin. Und die Zangen werde ich nicht wachsen lassen. Sie lieber abbeissen mit meinen Zangen, die Zangen.
In meiner Eierkammer wurde weiter gekichert, wurden Eier gedreht, gewärmt und – wenn ein Stocherbeben kam, vor dem sich alle fürchteten, weil niemand wusste, was alles dabei geschehen konnte – schnellstens in eine Reserveeierkammer getragen.
Ja, diese Stocherbeben … Es wird erzählt, unser Staat befinde sich seit ewigen Zeiten in einem Wald, der Riesen gehörte, die auf zwei Beinen übergross durch die Gegend trampelten, Äste und Kräuter abschnitten – vielleicht war das ihre Nahrung – und Feuer anzündeten. Vor allem die Kleinriesen, denn die gab es auch, hatten Stöcke, mit denen sie – niemand wusste, weshalb – in Ameisenhaufen herumstocherten und dabei ein Riesenlachen veranstalteten, »Schau, schau!« brüllten, uns Ameisen jagten, unter Riesengläser begruben und sich freuten, wenn wir keinen Ausgang mehr fanden und voller Verzweiflung hin- und herrannten. Da halfen nicht einmal unsere Soldaten mit ihren Zangen. Und am schlimmsten war, dass niemand wusste, welchen Sinn diese Kleinriesen-Spiele hatten. Aber niemand kann alles wissen. Geheimnisse, das lernte ich aus den Gesprächen der Kinderbuben und -mädchen, gab es scheinbar viele. Niemand sah dahinter. Wer weiss, vielleicht lag der Sinn darin, dass sie etwas zu schwatzen hatten, denn worüber hätten sie sonst schwatzen können?
Ich sass also mitten unter Eiern und fühlte mich allein. Einsam. Ein undurchsichtiges Ei, das nicht sprechen kann, nicht spielen, ist ja wirklich langweilig. Oder etwa nicht? Doch plötzlich war grosse Aufregung in der Kammer. Das Ei, auf dem ich mich wohlig ausgestreckt hatte, um etwas zu schlafen – meine Beine waren immer noch müde von dem Gang zur Königin –, bewegte sich. Ein Kinderbube kam angerannt, säbelte mit seinen Zangen am Riss, der sich im Ei gebildet hatte, verscheuchte mich mit seinen Fühlern, und neben mir lag nun eine entzweigebrochene Eierschale, in der – ich musste darob richtig lachen – eine wirklich komisch aus der Wäsche schauende Kleinameise mehr lag, als sass. Ihre Zunge hing noch an einem Eierschalenstück – das sah wirklich urkomisch aus, wie wenn Zunge und Eierschale verwach–sen wären. Dabei gab die Kleinameise Schmatzgeräusche von sich, leckte und trennte sich trotz guten Zuredens des Kinderbuben nicht von ihrem Eierschalenstück.
»Schlurifan sollst du heissen«, donnerte der Kinderbube zur Kleinameise, die mich gross anstarrte. Ich ging zu ihr hin, befühlte ihre Fühler – sie waren noch feucht und eingerollt – und sagte so stark von oben herab, wie ich es nur konnte: »Hallo!«.
Schlurifan konnte nicht antworten. Das Eierschalenstück hing an seiner Zunge, nach wie vor war er nicht bereit, sich davon zu trennen. So gab er mir mit Fühler–zu–Fühler–Klaps zu verstehen, dass auch er »Hallo!« sagen würde, wenn er es nur könnte. Schöne Aussichten, dachte ich, ein stummer Spielkamerad! Nur weil er sich nicht von Süssem trennen kann. Andererseits war ich nicht unglücklich, der Stärkere und Grössere zu sein, um jemanden zu haben, dem ich alles sagen könnte, ohne dass er zurückgab. Wenn man die Vorteile der Nachteile betrachtete, waren die Nachteile weniger gross, schloss ich daraus und freute mich über Schlurifan mit seiner Zungeneierschale.
Kaum konnte Schlurifan richtig stehen, kamen unsere Kindermädchen und -buben zu dem Schluss, dass wir ihnen bei der Eierpflege nur im Wege stünden, völlig überflüssig seien – das tat im Inneren sehr weh – und beschlossen, uns beide, da wir ja Soldaten werden sollten, in die Soldatenschule zu schicken. Gemeinsam wurden wir durch Fühlerstösse und Zungenzwitschern – wir wollten ja nicht gehen, uns war es in der Eierkammer wohl – in eine weit entfernte, recht kühle Höhle getrieben, in der es mäuschenstill war, sodass das Eierschalenschmatzen Schlurifans, das ihn immer noch begleitete, mächtig auffiel. In langen Reihen waren Eichenblätter in den Boden eingelassen, die als Pulte dienten, an denen Hunderte von Kleinameisen sassen, die Fühler aufmerksam nach vorne gerichtet. Dort sass ein grosser Ameisensoldat, vom Alter schon gebeugt, zuoberst auf einem Schachtelhalm, der im Gegensatz zu den Eichenblättern frisch und grün aussah, und beobachtete uns Neuankömmlinge mit scharfem Blick, wies uns mit einem Stöckchen, das er in der Riesenzange hielt, in die erste Reihe, in der noch einige leere Blätter standen.
»Aufgepasst!«, donnerte er in den Raum. Alle – natürlich ausser Schlurifan und mir – standen augenblicklich auf, machten einen Schritt nach rechts neben ihr Pult, streckten die Fühler weit aus, winkelten sie an, wodurch sie sich über dem Kopf eines jeden berührten, und standen ohne jede Bewegung wie in Fels gehauen still. »Shangalu und Schlurifan«, rief der da vorne nun laut, »aufgepasst!« Wir blickten uns um, sahen uns an und lachten laut, denn die langen Reihen von Ameisenstatuen sahen allzu lustig aus, als dass man nicht hätte lauthals lachen müssen. Das schien nun dem Soldatenlehrer gar nicht zu passen. Er kraxelte mit seinem Stöckchen eilends von seinem Halm und baute sich vor uns beiden in ganzer Grösse auf: »Wenn ihr nicht aufpassen könnt, habt ihr hier nichts zu suchen. Wie wollt ihr kleinen Würstchen« – ich war ja nun wirklich kein Würstchen! – »Soldaten werden, wenn ihr nicht aufpassen könnt? Aufgepasst, sag ich jetzt zum letzten Mal!« Seine Stimme klang in meinen Ohren gar nicht gut, und so trat ich rechts neben mein Blatt, streckte meine Fühler, und sie berührten sich jetzt sogar, Schlurifan tat es mir nach, wobei er nach wie vor an seiner Eierschale schmatzte. »Jeden Muskel anspannen, aber schnell, und Eierschale fallen lassen, sofort!«, posaunte der Altsoldat.
Und wir taten, was er sagte, es blieb uns ja nichts anderes übrig, oder fast, denn Schlurifan schmatzte weiter und hielt an seiner Eierschale fest. »Ameisen-Doria, wird's bald!«, sagte die Stimme, die uns fast erschlug. Schlurifan schmatzte weiter.
»Hmm«, meldete ich mich zu Wort – Freunden soll man doch helfen.
»Du sprichst nur, wenn ich dich frage, kapiert, Shangalu, jetzt frag ich dich, also, was ist?«
»Die Eierschale ist ihm angewachsen, Schlurifan kann nicht tun, was Sie ihm befehlen.«
»So, so, und so etwas wollen die zum Soldaten machen? Der Ameisenstaat ist auch nicht mehr das, was er einst war«, brummelte der Soldatenlehrer. Dann nuschelte er noch einige weitere unverständliche Worte in seine Zunge, bestieg den Schachtelhalm, sah sich um und schnarrte: »An die Pulte, marsch!« Augenblicklich sassen alle in der Höhle wieder vor den Pulten. »Lernen müsst ihr! Lernen! Nichts als lernen! Kapiert?« Furchterregend wedelte er mit seinen Zangen, deren eine, das sah ich erst jetzt, mit einer goldenen Klammer umspannt war. Es sah fast so aus, als ob die Zange ohne Klammer nicht halten würde … Wer weiss, sinnierte ich, wohl eine notdürftig behobene Kampfverletzung oder eine Auszeichnung, ein Orden für Mut vor dem Feind, verliehen von der Königin zwischen zwei Futterbällchen.
»Euch als Soldaten«, fuhr der Soldatenlehrer von seinem Schachtelhalm herunter fort, »euch Soldaten werden mächtige Zangen wachsen, Zangen, die ihr brauchen werdet zu Ehren unserer Königin!« Und nun begann er, mit krächzender alter Stimme das Königinnenlied anzustimmen: »Oh Königin, oh Königin, oh Herrscherin, oh Herrscherin, wie leuchten deine Augen! Oh Königin, oh Königin, oh Herrscherin, oh Herrscherin, wie schön sind deine Augen!« Darauf brach er den Gesang ab, seine Fühler senkten sich in unsere Richtung, und er fuhr fort: »Zangen sind eine Ehre, eine Auszeichnung. Wer sie hat, ist ein Krieger. Krieger haben keine Angst, Krieger sind gross, Krieger haben Mut. Mut bedeutet, sich nicht zu fürchten. Sich nicht zu fürchten ist die Fähigkeit, sich nicht vorstellen zu können, was alles geschehen könnte. Das, vor allem das müsst ihr lernen! Lernen, ohne Vorstellungen zu leben. Gebraucht euren Kopf für Vernünftiges. Nicht für Traumgespinste. Gute Soldaten denken nicht. Also stellt euren Kopf ab und gehorcht! Aufs Wort! Was ich sage! Was ich bestimme! Und jetzt beginnen wir! Ich befehle euch, sofort euren Nachbarn anzugreifen! Mit den Zangen! Los, los, los!«
Es entstand ein Riesendurcheinander in der Eichenblatthöhle. Jeder ging auf jeden los. Mit den Zangen, mit den Fühlern, mit den Beinen. Einfach mit allem! Nur Schlurifan, mein Nachbar, konnte seine Zange nicht benutzen. Umso lauter schmatzte er im allgemeinen Durcheinander. Wie aber kann man Schmatzlaute angreifen? Das sind ja nur Töne. Und Töne verfliegen. Wohin auch immer. Jagen kann sie keiner, und dann wollte ich doch gar kein Soldat werden. Nicht solche Riesenzangen bekommen. Dafür wollte ich Vorstellungen haben. Träumen wollte ich. Was gibt es Schöneres, als sich Träume vorzustellen? Mut hin oder her. Und so nutzte ich das allgemeine Durcheinander, die vielen »Zangen-auf-Zangen-schlagen-Töne«, die wie ein Inferno durch die Höhle hallten, die zahllosen spitzen Schreie der Angreifenden und der Angegriffenen, um mit Schlurifan unerkannt zu fliehen, obwohl wir – da uns die Vorstellungen noch nicht ausgetrieben worden waren – uns wohl dachten, dass der Altsoldat auf dem Schachtelhalm nicht gewillt sei, dies durchzulassen und uns wohl suchen lassen würde. Eine Vorstellung, die uns, Schlurifan und mir, eine Gänsehaut bescherte, wenn das bei Ameisen überhaupt möglich ist, sonst war's auf alle Fälle eine den Rücken kalt herunterlaufende Vorstellung, die uns als angehende, wenn auch geflüchtete Soldaten ja eigentlich verboten war. Was den Halmkommandanten sicher in besondere Wut versetzen musste, denn Flucht ist unsoldatisch – auch das konnten wir uns nach den nur wenigen in der Soldatenschule verbrachten Minuten vorstellen.
Draussen im ersten Quergang links begegneten wir einer sonderbaren Ameise. Einer mit Flügeln. Verklebt zwar noch, aber man konnte sie schon deutlich erkennen. Die Ameise stellte sich uns vor. Ihr Name war Pseudomyrmex, ein komischer Name. Schlurifan konnte sich nicht zusammennehmen und lachte lauthals. Dabei löste sich die Eierschale von seiner Lippe. Er fing diese geschickt mit der Zange auf. Wollte das süsse Ding unter keinen Umständen verlieren. Konnte nun, da die Eierschale ihn nicht mehr daran hinderte, plötzlich sprechen. »Wie kann man nur so heissen«, sagte er, während er ständig und laut auf seiner Eierschale, die er mit der Zange zu seinem Mund führte, schmatzend biss. Diese wurde, das stellte ich mit Erstaunen fest, nicht etwa dünner oder kleiner, eher das Gegenteil war der Fall; mir schien, Schlurifans Eierreste hätten sich selbstständig gemacht und versuchten, Schlurifan ins Ei zurückzuholen. Pseudomyrmex schlug uns nach einigem Zögern vor, uns in die Flugameisenhöhle zu begleiten, obwohl sie befürchtete, dass unsere zwar noch nicht ausgewachsenen Zangen ihren Freundinnen und Freunden Angst bereiten könnten. Aber sie wagte es dennoch.
Wieder wanderten wir durch Gänge. Es schien mir, wir würden Steigwege beschreiten, die Luft wurde dünner, kühler und ein fahles Licht machte sich breit. Endlich – mein Magen knurrte bereits laut und deutlich und übertönte wenigstens in meinem Innern das Getrappel meiner Beine –, endlich traten wir in eine trapezförmige Halle, von Höhle konnte man nicht mehr sprechen, in der Tausende von Flugameisen unter Anleitung einer grossen Lehrerin, die Flügel eng an den Körper gepresst, auf einer Art Sprungbrett im obersten Teil der Höhle in Einerkolonne marschierten. Oben angekommen, wurden sie auf das Sprungbrett gewiesen und durch die Fluglehrerin, ob sie wollten oder nicht, mit einem Schubs ins Leere befördert und mussten, wenn sie überleben wollten, ihre Flügel benutzen, was zu einem Zirren und Schwirren führte, das die ganze Höhle erfüllte, sodass wir unsere eigenen Worte nicht mehr verstanden. Und das wurde gleich zum grossen Problem. Denn trotz Schlurifans und meiner Proteste – mein Freund lutschte nervös an seiner Eierschale – wurden wir von Wächterameisen, die anscheinend blind oder in Gedanken versunken nicht bei ihrer Arbeit waren, in die aufwärts strebende Flugameisenkolonne eingereiht, obwohl wir ja keine Flügel hatten und die Einweisenden das hätten sehen müssen. Schlurifan rief mir etwas zu oder versuchte es zumindest, ich verstand des lauten Zirpens und Schwirrens wegen jedoch nichts. Er versuchte, mit den Zangen zu klappern, was der Eierschale wegen, die an ihm haftete, kaum möglich war, stellte sich auf die Hinterbeine und versuchte aus der Reihe zu tanzen, was ihm aber nicht gelang. Da nahm ich es schon ruhiger, denn ich war sicher, dass es eine Lösung gab. Die Fluglehrerin musste ja sehen, dass Schlurifan und ich Zangen hatten statt Flügel.
Als wir oben ankamen, staunte sie tatsächlich nicht schlecht. »Was wollt ihr Zangenriche hier, so ohne Flügel? Ihr seid wohl im falschen Film«, kicherte sie. »Nun, wenn ihr schon den beschwerlichen Weg hier herauf unternommen habt, sollt ihr auch fliegen. Fliegen ist nämlich himmlisch, das Beste, was einer Ameise geschehen kann.« Gesagt, getan. Sie nestelte in einer Schachtel, die vor ihr lag, legte Schlurifan und mir je ein Paar künstliche Flügel um, beschwor uns – das sei für uns besonders wichtig –, in der Luft die Zangen auf- und zuzuklappen, regelmässig, sonst würden wir abstürzen. Sie habe die Flügel nämlich mit reissfesten Fäden mit unseren Zangen verbunden, und so viel sie wisse, könne nichts geschehen, wenn wir nur mit den Zangen klappern würden, das hätten wir doch gelernt, oder nicht? Wir bejahten beide, wollten nicht dumm dastehen. Sie gab uns einen kräftigen Schubs, und wir, einer hinter dem anderen, klapperten emsig mit unseren Zangen und flogen in grossen Kreisen dem Boden der Flughalle zu, wo wir entzückt von unserer ersten Flugerfahrung sanft landeten. Zwar hatte Schlurifan die Lutscheierschale – oder war es deren Gewicht – leicht behindert, auf alle Fälle war er vor mir unten, aber wir waren beide begeistert und beschlossen nach weiteren fünf Flugübungen, unser Leben dem Fliegen zu weihen. Ja, das war etwas ganz anderes, als Soldat zu sein! Keine Hab-Acht-Stellung mit angewinkelten Fühlern. Keine Befehle. Nein, wir waren auf uns selbst gestellt, konnten selbst die Richtung bestimmen, die Höhe, die Flugdauer. Ja, das war Leben leben!
Die Fluglehrerin war mit uns recht zufrieden und sie bezog die Hilfsflügel mit ein, sogar sehr. So gelehrige Schüler hatte sie schon lange nicht mehr gehabt, befand sie. »So, Schlurifan und Shangalu, jetzt könnt ihr fliegen, den Ameisenstaat verlassen, andere Staaten besuchen. Denkt daran, dass ihr Botschafter unseres Staates seid. Wie ihr euch aufführt, so wird unsere Königin – oh, wie schön sind ihre Augen! – beurteilt werden. Also gebt euch Mühe, wir hängen von unseren Botschaftern ab. Und übertreibt immer etwas, wenn ihr von unseren Soldaten sprecht, ihre Zangen sind riesig, dagegen sind eure Kleinstschneidewerkzeuge.« Das fand ich nun doch ungerecht, obwohl ich meine Zangen keinesfalls liebte. Aber was soll's, angeben mit den anderen kann ja nie schaden, wenn es hilft, einen Angriff auf unsere Königin – ach, wie schön sind ihre Augen! – zu verhindern.
»Und gebt stets acht auf die Ameisenbären, unsere grössten Feinde«, merkte die Fluglehrerin an. »Vergesst nicht, sie bauen wunderschöne Trichter, in denen es herrlich nach Futterbällchen riecht, wie zu Hause!« Und sie machte ein sorgenvolles Gesicht. »Manche meiner tapferen Schüler und Schülerinnen sind nie mehr heimgekehrt, weil ihr Hunger nach Futterkügelchen grösser war als ihr Verstand … Habt ihr verstanden, Shangalu und Schlurifan?«
»Ja«, antworteten wir beide wie aus dem Kügelchen geschossen und verliessen die Flughalle, bahnten uns den Weg nach oben, umringt von Tausenden flügelbewehrter Ameisen, die wie wir dem Gipfelausgang zustrebten.
Was für eine herrliche Welt! Die Helligkeit nahm sichtlich zu. Schon musste ich meine Augen zukneifen. Das linke mehr als das rechte. Warum, weiss ich nicht. Aber auch Schlurifan erging es so. Er lutschte übrigens lauthals an seiner Eierschale, als hinge das Wohl unseres Ameisenstaates von der Intensität seines Lutschens ab. Und dann waren wir plötzlich draussen! Helligkeit und Licht umgaben uns. Es war so überwältigend, dass ich mich erst einmal setzen musste. So schön, so neu, so wunderbar! Und am Himmel über mir hing ein warmer Feuerball, ich konnte nicht hinschauen, so stark brannte und so hell war er. Und die Gerüche erst! Tausende von Düften stürzten auf unsere Riechorgane ein. Futterbällchen und Nadelholz, Erde und Blütenstaub, Flieder, Moder, Himmel. Alles in einem. Fast erschlug mich die Fülle wie ein Hammer!
Schlurifan, der hinter mir war, ging es wohl gleich. Er glotzte nur noch dumm aus der Wäsche. Seine Augen wussten nicht, wohin schauen. Und so schloss er sie einfach, begann zu torkeln und fiel längs über eine Tannennadel auf die Nase. Das sah komisch aus, das sage ich euch. Eine Ameise, die auf die Nase fällt und mit geschlossenen Augen liegen bleibt, alle Sechse von sich gestreckt. Ich rannte zurück zu Schlurifan und half ihm auf die Beine. Gott sei Dank war seine Eierschale nicht zerbrochen! Was hätte Schlurifan ohne seinen geliebten Schlecklutscher getan? Verloren wäre er gewesen. Davon bin ich überzeugt.
Als ich ihn mit meinen Fühlern anstubste – ich weiss ja, wo Schlurifan schrecklich kitzlig ist, nicht umsonst habe ich mit ihm das Nest geteilt –, begann er tatsächlich zu giggeln und zu gaggeln, hielt sich den Bauch mit seinen Fühlern vor Lachen, verschluckte sich fast an der Eierschale, die er als Krönung aller Eindrücke, die auf ihn einstürzten, aller Gerüche und Geräusche, aller Farben und wehenden Winde, so nebenbei zu lutschen versuchte. Aber das bekam ihm nicht, denn jetzt begann er zu husten. Und zu guter Letzt musste er auch noch niesen, dreimal hintereinander, hatschi, hatschii, hatschiii, und das alles, während er lachte und sich den Bauch hielt. Da musste ich aufhören zu kitzeln. Ich hatte ja mein Ziel erreicht: Schlurifan war wieder da und ich nicht so allein. Denn ehrlich, irgendwo tief in mir, dort wo es schon etwas wehtat, hatte ich gefürchtet, Schlurifan würde nicht mehr aufstehen, und ich sei dann ganz, ganz allein in dieser neuen Welt. Entsetzlich nur daran zu denken! Aber klar, all das dachte ich nur. So etwas konnte ich doch Schlurifan nicht sagen. Er wäre sonst grössenwahnsinnig geworden. Schliesslich brauchte er mich und nicht ich ihn! Wenigstens von aussen betrachtet. Und nur das war wichtig. Ich, Shangalu, war ja älter, weiser, stärker und was es sonst alles noch gab. Nur musste ich auch selbst daran glauben. Aber eben, niemand von aussen weiss, wie es in einem aussieht. Und um stark und gross zu wirken, sagt man meist nicht das, was man im Inneren fühlt, eher das, was die von aussen hören wollen, oder noch besser das, was man selbst von aussen hören möchte, wie es bei einem selbst im Inneren aussieht.
Nun aber versperrten wir den Weg und merkten es erst jetzt. Herrje, herrje! Ein richtiger Stau hatte sich gebildet. Von der Flughalle drängelten und drängten alle Flugameisen ins Freie, und Schlurifan und ich waren plötzlich an der Spitze. Die Ameisen vor uns, die uns hätten den Weg zeigen können, waren längst weg, und wir zwei mit den künstlichen Flügeln waren nun ganz vorn und sollten – das Gedränge wurde jetzt beängstigend, schliesslich wollten wir nicht, dass man uns auf den Kopf tritt – allen anderen den Weg weisen. Dabei roch es so herrlich nach Futterbällchen und unsere Mägen knurrten von der Fluganstrengung fast so laut wie ein Rasenmäher. Also nichts wie los, dem Futterbällchengeruch nachfliegen, etwas in den Bauch bekommen wollten die anderen sicherlich auch, und es roch so herrlich, mindestens so gut wie zu Hause. Schlurifan fand zwischen zwei Eierlutschern und ausser Atem vor Hunger, es rieche sogar besser, viel besser, denn einen solchen Hunger hätte er sein Lebtag noch nie gehabt. Der Geruch kam direkt von vorne, ich ortete ihn bereits, er kam tatsächlich von vorne, wo Sand lag – und ihr wisst, wie wir Ameisen Sand lieben! –, der eine Art umgekehrten Hügel bildete. Das musste dem Geruch nach eine ganze Futterbällchenfabrik sein, deren Eingang wohl zuunterst in der Sandkuhle lag.
Schon landeten wir mitten hinein, Schlurifan und ich, der stolze Anführer, der die Futterbällchen gefunden hatte. Sicher würde mich die Fluglehrerin bei der Heimkehr ganz besonders loben und es nie bereuen, mir künstliche Flügel gegeben zu haben. Schlurifan und ich – schliesslich trugen wir die Verantwortung – begannen nun eifrig, für die anderen, aber auch ein bisschen für uns selbst, ich gebe es ja zu, nach den Futterbällchen zu suchen. Aber jedes Mal, wenn wir ein Stückchen nach oben gehen wollten, rutschten wir wieder ab. Der Sand rieselte einfach mit uns, auf uns. Die Kuhle, in die wir hineingeflogen waren, sah jetzt auch gar nicht mehr wie eine Kuhle aus, eher wie ein Trichter … Trichter? Trichter! Ein Schreck durchzuckte mich von vorn bis hinten, wie ein Feuer raste die Hitze, gefolgt von der Eiseskälte der Angst, von meinem rechten Fühler bis ins linke Hinterbein. Trichter! Hatte nicht die Fluglehrerin uns gewarnt? Vom Geruch von Futterbällchen? Von Ameisenbären, die einen mit Haut und Haar auffrassen und nur darauf warteten, dass jemand auf den üblen Futterbällchengeruchstrick hereinfällt? Und wir waren hereingefallen! Nicht nur Schlurifan und ich. Nein, auch alle anderen Flugameisen, die uns gefolgt waren. Es brodelte richtig im Trichter. Wir waren irgendwo zuunterst und über uns mühten sich tausend andere ab, versuchten, aus dem Trichter herauszukommen, stürzten mitsamt dem Sand wieder ab, auf unsere Rücken. Und immer noch landeten neue Flugameisen, bis der Trichter gerammelt, gehagelt voll war, und diejenigen, die noch immer herbeiflogen, jetzt nicht mehr im Trichter auf dem Boden landeten, sondern auf einem aus Ameisen bestehenden Berg.
Unten im Trichter, Schlurifan und ich waren ja zuunterst, weil wir als erste angekommen waren, also zuunterst im Trichter begann es zu brummen, so ungefähr wie wenn jemand an der Aufziehschnur eines uralten Teddybärs zieht. Wir alle erschraken füchterlich, denn das Brummen tönte erstens nach Bär und zweitens, das war noch viel schlimmer, nach etwas, was furchtbaren Hunger, nein, nicht auf Futterbällchen, sondern auf Ameisen, hatte … und schliesslich und endlich waren Schlurifan und ich, Shangalu, echte Ameisen, wenn auch mit unechten Flügeln, aber das würde der Ameisenbär erst merken, wenn er uns verschlungen hätte mit Haut und Haar und künstlichen Flügeln. Was nutzte uns das, er würde höchstens, wenn sie ihm nicht schmeckten, die Flügel wieder ausspucken. Pech gehabt, rabenkohlnachtschwarzes Pech, und das alles wegen mir. Schlurifan hatte es gut, wenigstens konnte er an seiner Eierschale lutschen, hätte ich doch auch eine! Aber auch hier rabenkohlnachtschwarzes Pech. Ich hatte keine.
Der Ameisenberg über uns wuchs und wuchs. Immer mehr fliegende Ameisen landeten obenauf, scheinbar war niemand mehr über eine Tannennadel gestolpert, kein weiterer Stau hatte sich gebildet, obwohl es jetzt gut gewesen wäre, dass so etwas geschieht. Aber Dinge – das hatte ich inzwischen gelernt – geschehen meistens am falschen Ort zur falschen Zeit und dann, wenn sie etwas nützen könnten, geschehen sie einfach nicht. Der Berg wuchs also weiter an, bei uns unten im Trichter wurde das Bärenbrummen lauter und lauter und wir spürten, wie der Sand unter uns bebte wie bei einem Erdbeben, ihr wisst ja, wie schrecklich unangenehm ein Erdbeben sein kann, wenn ihr schon eines erlebt habt. Die Erde, die doch sonst so fest ist, beginnt zu wackeln, und man weiss beim besten Willen nicht, woran man sich festhalten soll, weil doch alles, was fest ist, auf der Erde steht, und wenn die Erde wackelt, dann wackelt das, was auf ihr steht, ebenfalls.