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Erika Ziltener, Ruedi Spöndlin
Die Wucht der Diagnose
edition 8

Über das Buch

Die 36 Jahre ihres Bestehens sind eine Erfolgsgeschichte. 1979, als in Zürich die erste Patientenstelle gegründet wurde, standen kranke Menschen den sogenannten ›Göttern in Weiss‹ ziemlich hilflos gegenüber. Heute ist hingegen unbestritten, dass Patientinnen und Patienten als Partner ernst zu nehmen sind.

Trotzdem geht der Patientenstelle die Arbeit nicht aus. Einerseits sind neue Herausforderungen hinzugekommen, etwa die Spitalinfektionen. Immer häufiger werden Patientinnen gerade im Spital mit einem Krankheitserreger angesteckt. Andererseits sind ›klassische‹ Themen, mit denen sich die Patientenstelle schon vor über 30 Jahren befasst hat, nach wie vor aktuell. Etwa ungenügende Aufklärung über medizinische Behandlungen und deren Risiken.

Weitere Kapitel befassen sich mit Genforschung, dem Humanforschungsgesetz, der Aufklärung der Patientinnen einschliesslich dem Recht auf Nichtwissen, der Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen und der Qualität der Gesundheitsversorgung. Ebenso behandelt werden Themen wie die Frage ›Kunde oder Patient‹, Patientinnen in den Mühlen der Forschung, das Impfobligatorium, die Antibiotikaresistenz, die Betreuung im Pflegefall, die Tätigkeit der KESB, Organtransplantationen und die Entwicklung der Patientenrechte auf politischer Ebene.

Die AutorInnen erläutern diese Themen anschaulich anhand zahlreicher Fallbeispiele. Sie richten sich damit an Patientinnen und Patienten wie auch an deren Angehörige, aber auch an Fachleute des Gesundheitswesens und politisch Tätige.

Über die AutorInnen

Erika Ziltener, Historikerin (lic. phil.) und dipl. Pflegefachfrau, leitet seit 2001 die Patientenstelle Zürich und ist seit 2001 Präsidentin des Dachverbands Schweizerischer Patientenstellen. Sie gehörte von 1998 bis 2015 dem Zürcher Kantonsrat an und unterrichtet an verschiedenen Gesundheits- und Krankenpflegeschulen.

Ruedi Spöndlin, Journalist und Jurist (lic. iur.), war von 1985 bis 2011 Redaktor der Zeitschrift ›Soziale Medizin‹. Daneben Unterrichtstätigkeit im Gesundheitswesen, Mitarbeit in Gremien und gesundheitspolitische Publikationen.

Erika Ziltener, Ruedi Spöndlin

Die Wucht der Diagnose

Aus dem Alltag der Patientenstelle

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Besuchen Sie uns im Internet: Informationen zu unseren Büchern und AutorInnen sowie Rezensionen und Veranstaltungshinweise finden Sie unter www.edition8.ch

Bibliografische Informationen der Deutschen National-Bibliothek sind im Internet abrufbar unter http://dnb.ddb.de.

Oktober 2015, © bei edition 8. Alle Rechte, einschliesslich der Rechte der öffentlichen Lesung, vorbehalten. Lektorat, Korrektorat, Typografie, Umschlag: Heinz Scheidegger und Geri Balsiger Verlagsadresse: edition 8, Quellenstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41/(0)44 271 80 22, Fax +41/(0)44 273 03 02, info@edition8.ch

eISBN 978-3-85990-264-0

Inhalt

Vorwort

Die Wucht der Diagnose – warum dieses Buch?

Information – unverzichtbare Voraussetzung für die Vertrauensbildung

Mit einer rechtsgültigen Aufklärung zum mündigen Entscheid

Medizinische Wunschbehandlung oder gelebte Autonomie?

Behandlungsfehler oder Komplikation – der Weg zu einer neuen Fehlerverarbeitungskultur

Spitalinfektionen – Kramkheitserreger auf der Lauer

Problemfall Antibiotika

Ungenügende Betreuung – verhängnisvolle Folgen eines Sturzes

Wenn die KESB ins Spiel kommt

In den Mühlen der Forschung

Organtransplantation – eine vielfältige ethische Herausforderung

Impfung wider Willen

Patientinnen- und Patientenrecht im Wandel

Was tut die Patientenstelle?

Stichwortverzeichnis

Vorwort

»Die Menschen müssten einfach mehr Eigenverantwortung übernehmen!« Das höre ich häufig bei gesundheitspolitischen Diskussionen. Und dann wird mir geraten, ich solle nicht wegen jedem Wehwehchen zum Arzt rennen, nicht immer die teuerste Behandlung fordern, Medikamente und Therapien überprüfen sowie Kassenvertretern und Fachpersonal genau auf die Finger schauen!

Wenn es nur um die Gesundheitskosten geht, mag diese Empfehlung sogar ein Körnchen Wahrheit beinhalten. Bei genauerem Hinschauen entpuppt sich die Pauschalforderung an die Patienten und Versicherten aber als simple Schutzbehauptung der kostentreibenden Leistungserbringer. Wer Eigen- oder Mitverantwortung von mir verlangt, sollte sich zuerst im Klaren sein, von wem die fachliche Kompetenz denn tatsächlich erwartet werden darf. Um den Nutzen und die Notwendigkeit einer mir empfohlenen Behandlung beurteilen zu können, müsste ich also mindestens ein Medizin-, ein Wirtschafts- und ein Philosophiestudium absolviert haben – und nicht nur ich, sondern alle Patientinnen, Patienten und Versicherten.

Ich bin darauf angewiesen, dass mir das medizinische Personal die Beratung zukommen lässt, die mich befähigt, eine Behandlung zu wählen, die mir hilft und die für mich stimmt: Das heisst, ich kenne die Risiken, die möglichen Nebenwirkungen, die Erfolgsaussichten, die Alternativen und die Kostenfolgen für mich, die öffentliche Hand und die Kassen. Gleichzeitig muss ich auch die vielfältigen und immer prominenter auftretenden Werbeversprechungen der Pharma-, Spital- und Medizinaltechnikbranche beurteilen können und den Angeboten für spezielle und exklusive Behandlungen widerstehen. Erst jetzt bin ich in der Lage, Mitverantwortung zu übernehmen, das heisst eine Entscheidung zusammen mit der Ärztin oder dem Arzt zu treffen.

In den letzten Jahren ist das Gesundheitswesen zu einem immer wichtigeren Wirtschaftszweig geworden – konjunkturresistent und ein stetiger Wachstumsmarkt. Dabei scheint die Bedeutung des einzelnen Menschen immer mehr darin zu bestehen, möglichst viele medizinische Leistungen oder Produkte zu beziehen. Alleine die enormen Summen, die für die Werbung ausgegeben werden, sind ein deutliches Indiz dafür. Die Schuld für die Kostensteigerung den kranken und hilfsbedürftigen Menschen zuzuweisen, ist somit zu kurz gegriffen. Alle Beteiligten, inklusive die Politik, sind gefordert, dafür zu sorgen, dass durch die Ökonomisierung des Gesundheitswesens das Wesentliche nicht aus den Augen verloren wird: Dem Menschen zu helfen, gesund zu werden, Schmerzen zu lindern, ihn im Unglück zu begleiten.

Das vorliegende Buch hilft mit, Patientinnen, Patienten und Versicherte dazu zu befähigen, in die Diskussion mit medizinischen Fachpersonen einzusteigen und gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Medizinische Fachpersonen werden sensibilisiert, sich in die Situation der hilfsbedürftigen Menschen einzufühlen, und gesundheitspolitisch Interessierten werden Zusammenhänge in unserem Gesundheitswesen mit spannenden Fallbeispielen nähergebracht.

Thomas Hardegger
Nationalrat, Rümlang ZH

Die Wucht der Diagnose – warum dieses Buch?

»Und wieder sind wir zu spät.« So lautet häufig die Reaktion auf einen möglichen Behandlungsfehler. Etwas gegen diese frustrierende Tatsache zu tun, war unsere Hauptmotivation, dieses Buch zu schreiben. Ist jemand von einem Behandlungsfehler betroffen, geht es nicht nur um finanzielle Abgeltung, sondern vielmehr um die Klärung des Sachverhalts und um den Appell an das Gesundheitspersonal, aus Fehlern zu lernen. Das sagen uns die vielen Patientinnen und Patienten, Opfer eines Fehlers oder Qualitätsmangels, die sich tagtäglich an uns wenden.

Die Medizin kann unglaublich viel, manchmal vollbringt sie kleine Wunder. Doch Patientinnen und Patienten werden oft von der Wucht der Diagnose oder auf der Suche danach mit der Komplexität der Gesundheitsversorgung konfrontiert, die sie ohnmächtig macht. Aus Ohnmacht, Nichtwissen oder Fehlbeurteilung geben sie die Einwilligung für Eingriffe, die bei nüchterner Betrachtung dem ›gesunden‹ Menschenverstand nicht standhalten. Diese Erfahrung machen wir laufend.

›Die Wucht der Diagnose‹ soll den betroffenen Personen Orientierungshilfe und Unterstützung sein, dem Gesundheitspersonal Denkanregungen bieten und eigenen Handlungsbedarf aufzeigen und den Politikerinnen und Politikern das lösungsorientierte Engagement zu Gunsten der Patientinnen und Patienten und deren Sicherheit ermöglichen.

Mit Fallbeispielen zeigen wir konkrete Fragestellungen auf. Alle diese Beispiele stammen aus dem reichen Fundus der Patientenstellen. Unser herzlicher Dank gilt unseren Mitarbeiterinnen Catherine Arnold und Mirjam Baumgartner für die Beispiele, für das Gegenlesen des Manuskripts und die wertvolle und konstruktive Kritik und ihre Anregungen. Des Weiteren danken wir Geri Balsiger und Heinz Scheidegger vom Verlag edition 8 für die konstruktive Begleitung unserer Arbeit sowie dem Lotteriefonds des Kantons Zürich, der die Herausgabe dieses Buchs finanziell unterstützt hat.

Unsere Fallbeispiele dienen in erster Linie der Veranschaulichung. Wir erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wenn nötig haben wir die juristische und medizinische Beurteilung im Interesse der Verständlichkeit verkürzt dargestellt. Weder in der Medizin noch im Recht ist die Sachlage übrigens immer eindeutig.

Unsere Beispiele sollen Einzelpersonen für Fragen zur richtigen Zeit sensibilisieren und für Diskussionen auf der Fach-, Politik- und Gesellschaftsebene sorgen. Das Buch soll zum gemeinsamen Engagement von uns allen zu Gunsten der Patientinnen und Patienten beitragen und diese in ihrer Krankheit stärken.

Ruedi Spöndlin & Erika Ziltener

Information – unverzichtbare Voraussetzung für die Vertrauensbildung

Die Kommunikation zwischen einer Ärztin und einem Patienten und die Information zum Gesundheitszustand oder zu Behandlungsmöglichkeiten stellen grosse Herausforderungen dar, die künftig wohl auf neue Art und Weise bewältigt werden müssen. Mit einer angepassten Kommunikation und umfassender Information muss das Vertrauensverhältnis zwischen Ärztin und Patientin hergestellt werden. Denn Vertrauen ist grundlegend für die erfolgreiche Behandlung und Betreuung. Deshalb sollte die Auswahl einer Ärztin oder eines Arztes mit Bedacht erfolgen. Wir empfehlen, in gesunden Tagen eine Hausärztin zu suchen, damit diese einen kennt und im Notfall eine Diagnose schneller stellen kann. Für eine erfolgreiche Behandlung und einen mündigen Entscheid soll die Patientin dort abgeholt werden, wo sie sich befindet – mit ihrem Umfeld, ihren Möglichkeiten und ihren Ressourcen. Ein vertrauensvolles Verhältnis ist auch in schwierigen Situationen entscheidend. Denn erst auf einer solchen Basis kann die Patientin mit ihrer Ärztin offen über eine geplante oder laufende Behandlunge sprechen.

Die Wucht der Diagnose

Herr L. hat kürzlich erfahren, dass sein Krebs Metastasen gebildet hat. Jetzt sitzt er dem Onkologen gegenüber, um die Weiterbehandlung zu besprechen. »Bestrahlen können wir nicht mehr. Eine Chemotherapie können Sie zwar noch machen, helfen wird Ihnen diese jedoch nicht«, hört er den Arzt sagen. Herr L. ist schockiert. Er sitzt alleine seinem Arzt gegenüber und ist nicht in der Lage, das Ausmass der Diagnose zu erfassen und die Weiterbehandlung zu besprechen. Er macht einen neuen Besprechungstermin ab und verlässt die Praxis. Herr L. gelangt in dieser schwierigen Situation mit der Bitte um Unterstützung an uns.

Sachverhalt

Der Onkologe musste Herrn L. über die Diagnose informieren. Ob er sich dabei tatsächlich so schockierend ausgedrückt hat, ist unwichtig. Der Patient hat die Information über seine Erkrankung und deren schwerwiegende Folgen als zerstörerische Wucht erlebt. Der Arzt hat Herrn L. über die Diagnose und deren Ausmass informiert, ohne vorgängig zu prüfen, ob sein Patient in der Lage sein würde, mit der Hiobsbotschaft umzugehen.

Kommentar der Patientenstelle

Die Diagnoseaufklärung bei einer schweren Erkrankung ist schwierig. Trotzdem hätte Herr L. von seinem Arzt erwarten können, dass er ihn schonend und in angepasstem Umfeld über seine Diagnose informiert und mit ihm die Behandlung erst dann bespricht, nachdem er den ersten Schock verarbeitet hat.

Vor nicht allzu langer Zeit wurden den Patienten Informationen vorenthalten. Die Ärzteschaft entschied weitgehend selbständig und vermeintlich zum Besten der Patienten über das Ausmass und die Zumutbarkeit der Informationen, die sie ihnen gaben. Heute scheint tendenziell das Gegenteil der Fall zu sein: Patienten werden eher mit ihrer Krankheit konfrontiert. Dabei wird nicht selbstverständlich miteinbezogen, dass sich ein kranker Mensch bereits wegen der Krankheit in einer besonderen Lage befindet, noch, wie der individuelle Patient mit der Diagnose und den Folgen umgehen kann und ob er in einem tragfähigen Umfeld lebt. Gleichzeitig zeigt eine Tendenz bei der Diagnoseübermittlung auch, dass dem Patienten auch Hoffnung auf eine erfolgreiche Behandlung gemacht wird, die sich leider zu oft nicht erfüllt.

Ein Arzt sollte nicht so vorgehen, wie in unserem Beispiel von Herrn L. – das verlangt die minimalste Sozialkompetenz. Wir nehmen an, dass das der Onkologe ebenfalls wusste, dieses Wissen in der Praxis aber offenbar nicht anwenden konnte. Die Gesprächsführung ist in der Onkologie allerdings auch eine der schwierigsten Aufgaben, sind die Patienten doch sehr oft schwerkrank und zählen hoffnungsvoll auf die medizinische Behandlung. Ein Grund für das Vorgehen des Onkologen könnte auch sein, dass er nicht gerne unangenehme Botschaften übermittelt, was verständlich ist. Also bringt er das Gespräch so rasch wie möglich hinter sich. Oder er fürchtet sich vor den Emotionen, welche die Angst machende Botschaft beim Patienten auslösen kann. Deshalb führt er das Gespräch so ruppig, dass Gefühlsäusserungen möglichst abgeblockt werden.

Das Behandlungsgespräch in der Onkologie

Tatsächlich werden Gespräche mit an Krebs erkrankten Menschen von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Bemerkenswert ist hierzu, dass gemäss einer Studie1 – veröffentlicht im renommierten Fachjournal New England Journal of Medicine (NEJM) – die Hoffnung der an Krebs erkrankten Patientinnen und Patienten in Bezug auf die Chemotherapie (Zytostatika) viel zu gross ist. Gemäss dieser Studie ist etwa ein Drittel der unheilbar kranken Krebspatienten nach mehreren Chemotherapien immer noch überzeugt, dass die nächste sie heilen wird. Ein Grund für diesen Optimismus ist sicher, dass »die Hoffnung zuletzt stirbt«. Ein anderer ist aber vermutlich auch, dass die Ärzte mit den betroffenen Patienten nicht immer ausgewogene Gespräche geführt haben und diese deshalb ihre Krankheit und die Therapiemöglichkeiten falsch, das heisst nicht realistisch einschätzen. Diese Annahme wird in der Studie ebenfalls bestätigt. Diese besagt nämlich, dass die Patientinnen und Patienten von den behandelnden Ärzten nicht hinlänglich darüber informiert werden, dass die meisten Krebserkrankungen durch eine Chemotherapie nicht geheilt werden können. Zudem werden sie auch nicht richtig über die Chemotherapie aufgeklärt. Die Studie ergab, dass ganze 69 Prozent der chemotherapeutisch behandelten Lungenkrebspatienten sowie 81 Prozent der an tödlichem Dickdarmkrebs erkrankten Patienten keine Kenntnis darüber hatten, dass die Chemotherapie nicht in der Lage ist, ihre Erkrankung zu heilen. Obwohl ihnen gesagt wird, dass die Medikamente bei manchen Krebspatienten möglicherweise eine lebensverlängernde Wirkung haben, wird nicht erwähnt, dass sie das Wachstum oder die Ausbreitung von Krebszellen und Tumoren nicht aufhalten können. Das bedeutet, dass die meisten Patienten, die sich für eine solche Behandlung entscheiden, nicht vollends über die tatsächlich begrenzten Möglichkeiten dieser Therapie aufgeklärt werden oder die Informationen nicht aufnehmen können.2

Das Überbringen unangenehmer Mitteilungen gehört zum ärztlichen Beruf, insbesondere zu dem des Onkologen. Deshalb muss die Schulung in Gesprächsführung ein zentraler Inhalt der ärztlichen Aus- und Fortbildung sein. Sie muss zur Gesprächsführung bei einer schweren Erkrankung, bei einer Behandlung oder einer Vorsorgeuntersuchung befähigen, das heisst, sie muss den verschiedenen Situationen gerecht werden.

Im Wissen darum, dass das Gespräch in der Onkologie ganz besonderes schwierige Herausforderungen stellt, müssen wir gemeinsam neue Wege finden, die Kommunikation beispielsweise mit der partizipativen Entscheidungsfindung des sogenannten Shared decision making (SDM) zu verbessern. Nach unserer Auslegung unterscheidet sich das SDM von der rechtsgültigen Aufklärung darin, dass sich im SDM ein Patient in der Auseinandersetzung und Zusammenarbeit mit der Ärztin selbst aufklärt, während die Aufklärung von der Ärztin vollzogen wird. Bei der partizipativen Einscheidungsfindung (SDM) entscheidet demnach weder der Patient noch die Ärztin alleine über eine Behandlung. Die SDM beschreibt einen Prozess. Die folgenden Prozessschritte bildeten die Grundlage für eine Operationalisierung von Fragen auf der individuellen Ebene.

1.Gemeinsames Sondieren des (medizinischen) Problems von Seiten der Ärztin und des Patienten

2.Die Ärztin erklärt, dass es für dieses Problem mehrere Lösungen gibt, die prinzipiell gleichwertig sind und erst durch eine gemeinsame Vereinbarung von Zielen der geplanten Massnahmen überprüft werden können.

3.Darstellen von verschiedenen Behandlungsoptionen und Erläuterungen der zu erwartenden Erfolgsraten und Risiken

4.Entscheidungsprozess im eigentlichen Sinn

Diese Form der Aufklärung steckt sowohl bei der Ärzteschaft als auch bei den Patientinnen und Patienten noch in den Kinderschuhen und bedarf – ausgehend davon, dass ihr die Zukunft gehört – der Förderung auf politischer, finanzieller, fachlicher und gesellschaftlicher Ebene.

Die SDM wird bereits in verschiedenen Bereichen aktiv angewandt. Wir sehen den Anwendungsbereich insbesondere im Zusammenhang mit Vorsorgeuntersuchungen und Wahloperationen wie etwa der Einsetzung eines künstlichen Hüftgelenks oder im Besonderen auch in der Onkologie. Ein Pionier in der Anwendung des Modells in der stationären Behandlung ist Professor Dr. Christoph Meier, Leiter der inneren Medizin des Spitals Triemli in Zürich. Er praktiziert das Modell in Zusammenarbeit mit dem Stadtspital Waid und leitet die Ärztinnen und Ärzte in seiner Klinik in dessen Anwendung an. Das Modell überzeugt. Das konnten wir anlässlich eines Referats von Professor Meier an der Vollversammlung der Patientenstelle Zürich vom 27. Mai 2015 feststellen.3 Das Modell stiess auf so reges Interesse, dass wir mit interessierten Mitgliedern eine Arbeitsgruppe gründeten. Denn nicht nur die Ärztinnen und Ärzte müssen für diese spezielle Form der Aufklärung und Information geschult werden, sondern auch die Patientinnen und Patienten müssen darauf vorbereitet sein. Es liegt nun an der Arbeitsgruppe, die Bedürfnisse und Erwartungen der Patientinnen und Patienten zu formulieren, damit sie als Grundlagenpapier für das SDM-Gespräch dienen können.

Rechtslage

Bei Herrn L. geht es um die sogenannte Diagnoseaufklärung. Diese beinhaltet eine umfassende Information über die medizinischen Befunde und Verdachtsmomente über die Krankheit und soweit möglich über die Prognose. Nur wenn der Patient weiss, was ihm fehlt, kann er rechtsgenügend in die Behandlung einwilligen. Das Diagnoseaufklärungsgespräch hat in einer laienfreundlichen Sprache zu erfolgen, ebenso ist es auf den individuellen Patienten abzustimmen. Es sind somit dessen Vorkenntnisse, Erfahrungen, Ängste, Unklarheiten usw. speziell zu berücksichtigen. Der Arzt von Herrn L. hätte diesem unter Berufung auf das sogenannte therapeutische Privileg rechtmässig Informationen zur Diagnose und zur Prognose mindestens teilweise und vorübergehend vorenthalten dürfen.

Das therapeutische Privileg und das Recht auf Nichtwissen

Eine Ausnahme vom Grundsatz der vollumfänglichen Diagnoseaufklärung stellt das therapeutische Privileg dar. Dabei handelt es sich um einen vom schweizerischen Bundesgericht in verschiedenen Urteilen anerkannten Begriff des Patientenrechts.4 Gemeint ist die absichtliche Zurückhaltung von Informationen durch den Arzt. Dafür gibt es einen legitimen Grund, nämlich die Schonung des Patienten in einer speziell belastenden Situation. Eine vollständige Aufklärung darf den Patienten psychisch nicht überbelasten, damit sich sein Gesundheitszustand nicht zusätzlich verschlechtert. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung darf die Aufklärung keinen für die Gesundheit des Patienten schädigenden Angstzustand hervorrufen. Das therapeutische Privileg dient somit der Verhinderung von negativen Folgen einer ›Überaufklärung‹. Allerdings ist das therapeutische Privileg nur vorübergehend anzuwenden. Das heisst, die vollständige Information muss nachgeholt werden, sobald es für den Patienten zumutbar ist oder sich dessen Umfeld entsprechend verändert hat. Dabei ist der Zeitpunkt der Zumutbarkeit auf den Patienten abzustimmen.

Der Begriff therapeutisches Privileg ist in den letzten zwei Jahrzehnten allerdings auf immer mehr Kritik gestossen. Dies aus unserer Sicht zu Recht. Eine vorschnelle und zu häufige Berufung auf das therapeutische Privileg ist Ausdruck eines überholten ärztlichen Paternalismus. Wie unser Beispiel zeigt, hat dieses aber durchaus seinen Sinn. Auf jeden Fall ist zu unterscheiden, aus welchem Grund sich ein Arzt auf dieses Privileg beruft.

Selbstverständlich inakzeptabel ist die Berufung darauf, um die Zustimmung des Patienten zu einem bestimmten Behandlungsschritt nicht in Frage zu stellen. Die Risiken einer Operation zu verschweigen, damit der Patient zustimmt, ist grundsätzlich ebenfalls nicht zulässig. Das gilt auch dann, wenn die Behandlung für den Patienten ausgewiesen sinnvoll wäre.

Der Begriff erweckt zudem den falschen Eindruck, die Ärzte hätten gewisse Vorrechte – eben Privilegien –, von welchen sie nach Gutdünken Gebrauch machen könnten oder nicht. Tatsächlich aber darf das Privileg nur mit Bedacht und Begründung eingesetzt werden.

Im Gegensatz dazu besteht auch ein Recht des Patienten auf Nichtwissen. Auf seinen Wunsch ist ein Patient berechtigt, gewisse Informationen über seinen Gesundheitszustand nicht zu erfahren. Dieses ist vor allem auch im Zusammenhang mit zu erwartenden Befunden von Bedeutung, in Situationen, in denen die betroffene Person sich ihr Leben entsprechend einrichten oder sich nicht durch Ängste blockieren will.

Der Umgang mit dem therapeutischen Privileg bzw. dem Recht auf Nichtwissen ist für Ärztinnen eine anspruchsvolle Aufgabe. Damit es nicht zur Farce wird, müssen sie dabei auf den mutmasslichen Willen der Patientin abstellen. Sie müssen im Voraus abschätzen, ob diese eine Information zur Kenntnis nehmen will oder nicht. Die Antwort kann je nach Situation unterschiedlich ausfallen. Nicht selten lassen sich deshalb Ärztinnen zur Absicherung den Wunsch der Patientin auf Nichtwissen mit Unterschrift bestätigen.

Bei der Bekanntgabe des Resultats eines medizinischen Tests sieht die Sachlage etwas anders aus als beispielsweise bei der Mitteilung eines Zufallsbefunds im Rahmen eines Forschungsprojekts. Vor einem medizinischen Test sollte sich die Patientin klar werden, welche Bedeutung das Resultat für sie hat. Sie müsste insbesondere die Frage beantworten können, ob sie sich im Falle eines ungünstigen Befunds behandeln lassen möchte. Wird beispielsweise bei einer Darmspiegelung ein möglicher Tumor entdeckt, sollte sich die Patientin nicht erst nach der Untersuchung überlegen, ob sie sich behandeln lassen will oder nicht.

Ob Recht auf Nichtwissen oder therapeutisches Privileg – der Patientin eine Diagnose vorzuenthalten, ist auf die Dauer nicht zulässig. Richtig ist aber, dass die Information nicht immer sofort und in einem unpassenden Zeitpunkt übermittelt werden soll – etwa ›zwischen Tür und Angel‹.

Verdacht auf Harnleiterverengung beim ungeborenen Kind

Frau B. wird von ihrer Ärztin informiert, dass bei ihrem ungeborenen Kind der Verdacht auf eine Erkrankung der Harnleiter besteht. Sie muss nun entscheiden, ob sie darüber informiert werden möchte. Frau B. willigt ein, weil sie sich auf die möglicherweise eintretende Situation einstellen möchte. Dann erfährt sie von der Ärztin, eventuell könne ihr Kind nach der Geburt nicht spontan ›bislen‹ (Wasser lösen), weil es einen zu engen Harnleiter habe. Es müsse deshalb vielleicht sofort nach der Geburt ins nahe gelegene Kinderspital verlegt werden. Frau B. stellt sich psychisch auf die Situation ein. Kaum auf der Welt, löst das Kind aber spontan Wasser. Die Verengung ist nicht mehr vorhanden oder beeinflusst das Wasserlösen nicht. Frau B. ist glücklich über ihr gesundes Kind, aber auch dankbar, dass die Ärztin ihr die Möglichkeit gegeben hat, sich auf den allfälligen Notfall psychisch einstellen zu können.

Sachverhalt

Die Ärztin kannte Frau B. seit längerem und hatte sie bereits während ihrer früheren, ersten Schwangerschaft betreut. So wusste sie, dass sich diese auf allfällige Situationen einstellen kann und deshalb hätte wissen wollen, dass sie unter Umständen mit einer Behinderung ihres Kindes rechnen musste.

Kommentar der Patientenstelle

Frau B. wollte Gewissheit, nicht weil sie in diesem Fall die Schwangerschaft hätte abrechen lassen, sondern weil sie ihr Leben allenfalls komplett hätte umstellen müssen, damit sie dem Kind mit einer Behinderung gerecht geworden wäre.

Das Beispiel zeigt ein ideales Vertrauensverhältnis zwischen Patientin und Ärztin, das in der individuellen Situation zu einem angepassten Entscheid führt. Frau B. konnte mündig entscheiden und musste nicht von ihrem Recht auf Nichtwissen Gebrauch machen. Sie konnte sich auf die mögliche Situation einstellen und ihr Umfeld entsprechend organisieren.

Wie weiter oben ausgeführt, hätte Frau B. das anerkannte Recht auf Nichtwissen in Anspruch nehmen können, um sich bis zur Geburt ihres Kindes keine Sorgen machen zu müssen. Umgekehrt hätte auch die Ärztin das Recht gehabt, ihre Verdachtsdiagnose unter Berufung auf das therapeutische Privileg zumindest so lange für sich zu behalten, bis sich der Verdacht gefestigt hätte.

Hirntumor durch Zufall entdeckt

Herr K. hat sich für die Teilnahme an einem Forschungsprojekt entschlossen. Beim Aufklärungs- und Einwilligungsgespräch erfährt er, dass eine bildgebende Untersuchung durchgeführt werden wird. Dies mit dem Hinweis, dass dabei als Zufallsbefund beispielsweise ein Hirntumor entdeckt werden könnte. Dies komme zwar selten vor, sei aber nicht ganz auszuschliessen. Schliesslich erteilt Herr K. seine Einwilligung zur Teilnahme an der Studie und bestätigt schriftlich, dass er nicht über den allfälligen Zufallsbefund einer schweren Krankheit informiert werden wolle. Auch sein Hausarzt sei ausdrücklich nicht über einen solchen Befund in Kenntnis zu setzen.

Sachverhalt

Herr K. nimmt an einer Studie teil und ist umfassend informiert worden. Seine schriftliche Einwilligung dazu hat er erteilt. Er weiss um das Risiko eines Zufallsbefunds und bestätigt mit seiner Unterschrift in der entsprechenden Rubrik der Einverständniserklärung seine Entscheidung:

Bei Zufallsbefunden möchte ich

imagein jedem Fall informiert werden

imagenicht informiert werden

imagedie Entscheidung folgender Person überlassen: .............

Kommentar der Patientenstelle