Gerlinde Michel
Der Brief
edition 8
Der Brief
Roman
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September 2015, © bei edition 8. Alle Rechte, einschliesslich der Rechte der öffentlichen Lesung, vorbehalten. Lektorat & Korrektorat: Katja Schurter & Petra Jäger, Typografie: Heinz Scheidegger, Umschlag: Eugen Bisig.
Verlagsadresse: edition 8, Quellenstrasse 25, CH-8005 Zürich,
Telefon +41/(0)44 271 80 22, Fax +41/(0)44 273 03 02, info@edition8.ch
eISBN 978-3-85990-267-1
How like herrings and onions
our vices are in the morning
after we have committed them.
Samuel Taylor Coleridge
1
Heute ist ein schwarzer Tag. Die Vorahnung streift Jetta wie ein Schwindel. Schon der Vormittag hat sich angefühlt wie ein Dauerlauf gegen die Zeit, Hektik beim Frühstück, die Ereignisse im Büro, mittags die Macken der Kinder. Und jetzt Nicoles Blick, hart wie Stein – so hat ihre Tochter sie noch nie angeschaut. So viel Auflehnung wegen eines lächerlichen Baumwollfetzchens, dem sie sich als Mutter widersetzt. Die Stille dehnt sich, lähmt. Melanie fährt mit den Fingern durch die Haare, ein Ohrring klirrt auf den Fliesen. Sie bückt sich und klemmt den Klunker wieder ans Ohrläppchen. Nicole presst die Lippen zusammen. Mit beiden Händen zerrt sie an den Volants ihres Röckchens.
Als Jetta die Anspannung nicht mehr aushält und etwas Versöhnliches sagen will, dreht sich Nicole um und zieht die Freundin die Treppe hoch. Oben schlägt eine Schranktüre zu. Durch die angelehnte Türe hört Jetta deutlich Melanies Stimme. Weshalb Nicoles Mutter einen so komischen Namen habe. Ganz absichtslos ist die Frage nicht, vermutet Jetta, und ebenso vernehmlich folgt Nicoles Antwort: »Eigentlich heisst sie Henrietta, darum.« Der Rest ertrinkt in kaum unterdrücktem Gelächter. Demontage. So demontieren Kinder ihre Eltern. Beiläufig, und scharf wie mit einer Rasierklinge. Müsste sie eingreifen, Nicole zurechtweisen? Die richtigen Worte fehlen ihr, sie fühlt sich zu ausgelaugt, um noch eine Konfrontation zu überstehen. Demontage der Erzieher gehört ja wohl zur Ablösung.
Doch muss dieser Prozess von so viel offener Ablehnung begleitet sein?
Sekunden später poltern die Mädchen die Treppe herunter, Nicole in Jeans. Sie vermeidet es, ihre Mutter anzusehen.
»Dann viel Spass.« Jetta bemüht sich um einen neutralen Ton. Nicole schweigt, Melanie sagt ein bisschen zu artig »Adieu, Frau Henauer«. Die Wohnungstüre schlägt ins Schloss. Gelächter im Treppenhaus, Absätze, die auf Stufen schlagen, Stille.
Im Wohnzimmer fällt Jetta aufs Sofa. Der Schwindel ist weg, das flaue Gefühl im Magen versucht sie zu ignorieren. Anspannung und Erschöpfung sind wirklich nichts Ungewöhnliches, damit muss man zurechtkommen. Selbst wenn sich die Belastungen in letzter Zeit vermehrt haben und die Verantwortung für die Kinder sie oft kaum durchatmen lässt. Und Andreas sie selten unterstützt. Oder sie nicht so unterstützt, wie sie sich das wünschte. Und ihr die Mutter im Nacken sitzt.
Jetta gibt sich einen Ruck. Sie sammelt die verstreuten Zeitschriften vom Boden, legt sie auf den Salontisch. Hinzu kommt, dass im Büro so viele fehlen. Dieter ist in den Ferien, Evelyne im Mutterschaftsurlaub, Rahel arbeitet wegen der Kinder neu Teilzeit. Und sie muss vorübergehend neben den eigenen auch deren Liegenschaften betreuen. Zu Jettas Ärger treten dort die meisten Probleme auf. In den letzten Tagen ist sie sich wie eine Feuerwehrfrau vorgekommen: Statt ihre Arbeit zu erledigen, rannte sie mit Feuerlöschern herum und löschte die Buschbrände der abwesenden Kolleginnen.
Es begann schon heute am frühen Morgen. Um sieben verliessen Andreas und Nicole die Wohnung, Leo erschien erst nach wiederholtem Rufen zum Frühstück. Er beklagte sich, seine Fussballschuhe seien verschwunden, er brauche sie für die Turnstunde. Statt in Ruhe zu frühstücken half Jetta bei der Suche. Dabei verging viel Zeit. Schliesslich fand sie die Schuhe auf dem Balkon, wo Leo sie am Abend zum Trocknen hingestellt hatte. Seine Augen strahlten unter dem Wuschelhaar, er umarmte Jetta und stürmte mit Schulzeug und Schuhen aus der Wohnung. Stehend trank sie den kalt gewordenen Kaffee und räumte Tassen und Teller in den Geschirrspühler. Im Bad putzte sie die Zähne und fuhr mit dem Lippenstift über die Lippen.
Die tanzenden Wellen auf Leos Bildschirm stoppten Jetta. Wie oft hatte sie den Jungen ermahnt, seinen Laptop nach dem Surfen abzuschalten. Sie begann, ein Programm nach dem andern zu schliessen. Neben Facebook, einem Kriegsspiel und zwei Fussballsites hatte Leo Rappersites besucht, die ihr überhaupt nicht gefielen. Vorsichtshalber notierte sie die URLs auf einem Zettel. Das Summen des Rechners nahm kein Ende. Ihre Augen wanderten über verstreute Hefte, Socken und Unterhosen zum zerwühlten Bett und hoch zu Messi, Ronaldo und wie sie alle hiessen, deren Porträts von der Wand kickten. Andreas fand nichts dabei, dass der Dreizehnjährige neben dem Fussballspielen viel Zeit am Laptop verbrachte. Zu viel Zeit, war Jettas Meinung. Wenn sie sich ausmalte, worauf ihr Sohn bei seinen Streifzügen durch die virtuelle Welt stossen konnte, wurde ihr mulmig. Andreas hielt Leo und Nicole für vernünftig genug, damit umzugehen. Er hatte entschieden, beiden einen Laptop zu kaufen; den richtigen Umgang würden sie erlernen. Jetta war dagegen gewesen, schliesslich gab es schon einen Computer im Arbeitszimmer. Wie fast jede Diskussion über Erziehungsfragen hatte auch diese im Streit geendet. Ob sie nicht sehe, wie kontrollierend sie sei; wie sollten Kinder mit einer solchen Übermutter je selbstständig werden? Leo sei neugierig und unkritisch, gab Jetta zurück, er würde sich heimlich alles ansehen, was ihn faszinierte. Für einen Psychologen sei Andreas reichlich naiv.
»Psychologe bin ich bei der Arbeit, nicht zu Hause! Und wenn du den Kindern nicht vertrauen kannst, hast du ein Problem. Deine Überwachungsmanie geht mir auf den Geist«, hatte Andreas erwidert, die Zeitung gepackt und war auf dem Balkon verschwunden.
Jetta wurde es heiss. Einmal mehr klebte die Etikette des Kontrollfreaks an ihr. Andreas machte es sich verdammt einfach; die Verantwortung für die Kinder trug in erster Linie sie. Oft wusste sie nicht, wie sie dieses Gewicht stemmen sollte.
Endlich war der Bildschirm schwarz, die Uhr zeigte Viertel vor acht. Die Zeit reichte nicht, um zur Haltestelle zu laufen und das Tram zu nehmen. Zur Bürositzung würde sie es nur mit dem Auto schaffen. Sich zu verspäten war für Jetta ausgeschlossen. Während sie in die Tiefgarage eilte, nahm sie sich vor, Andreas am Abend mit Leos Rappersites zu konfrontieren. Selbst wenn es den Abend verdarb.
Am Arbeitsplatz nahmen die Anrufe und Beschwerden wieder kein Ende. Eine Frau mit Fistelstimme war besonders penetrant. Zweimal hintereinander rief sie an und beschwerte sich mit den praktisch gleichen Worten über die Gärtner. In einer anderen Liegenschaft war eine Waschmaschine defekt, in einem Mehrfamilienhaus klapperte die Komfortlüftung, laut wie ein Mühlrad, behauptete der Anrufer. Eine Mieterin meldete eine tropfende Wasserleitung im Keller. Anderswo durchdrang Babygeschrei alle Wände, und das nächtelang, der Mutter müsse man die Wohnung kündigen. Jetta hörte geduldig zu, beschwichtigte die Aufgebrachten, versprach, mit Handwerkern und Gärtnern zu sprechen. Sie überlegte, bei der Mütterberatung oder dem Sozialdienst anzurufen, verwarf es wieder. Dazwischen organisierte sie Besichtigungstermine und gab eine Offerte in Auftrag, unterbrochen von neuen Anrufen. Für das Protokoll der Eigentümerversammlung, das sie eigentlich schreiben wollte, blieb nicht eine Minute übrig. Gegen halb elf brauchte sie eine Pause.
Wenn das so weitergehe, sei sie bald reif für die Insel, sagte sie zu Christiane, die am Kaffeetisch sass und Zucker in die Tasse rührte.
»Bloss sieht dir das keiner an«, meinte Christiane. »Dich bringt nie etwas aus dem Häuschen. Immer die Coolness in Person, noch im Vollstress nett und freundlich, sogar zu den grössten Ekeln.«
Jetta glaubte Spott in ihrer Stimme zu hören. Zu ihrem Ärger fühlte sie sich verunsichert. Christiane, Anfang dreissig, mit etwas zu lauter Stimme und Fingernägeln, die aussahen wie in Brombeersaft getunkt, arbeitete seit einem Jahr bei Straub Immobilien. Noch nie hatte ihr Christiane etwas so Persönliches gesagt. Und statt Jetta herausfordernd anzusehen, wie es der Tonfall nahegelegt hätte, vermied sie den Blickkontakt. Mit angefeuchtetem Zeigefinger tippte sie Brösel ihres Croissants vom Tisch und leckte sie ab. Jetta zögerte. Warum fiel ihr keine ironische oder zumindest halbwegs witzige Entgegnung ein, wie es unter Kolleginnen üblich war? Stumm trank sie den Kaffee und hätte sich um ein Haar verschluckt. Irgendwie mochte Christiane ja recht haben. Während die anderen sich über Kunden ärgerten und sich mit kritischen Bemerkungen nicht immer zurückhielten, bemühte sie sich um Korrektheit. Fair bleiben, gelassen reagieren, selbst wenn kleinliche oder fordernde Reklamationen sie irritierten, war Jettas Devise. Es war nicht an ihr zu entscheiden, ob das Geräusch einer Lüftung für empfindliche Ohren noch erträglich, ob Spuren von Katzenpfoten auf einer Motorhaube zumutbar waren. Vorschnelle Urteile verbot sie sich als zu unvernünftig und zu emotional. Sie hörte zu, fragte nach, wog ab, erklärte mit ruhiger Stimme, und hatte den Anspruch, für jedes Problem eine Lösung zu finden. Die Leute mussten bloss vernünftig reagieren. Häufig gelangen ihre Interventionen.
Doch bei Frau Lüscher und ihrer Badezimmerlüftung hatte sie auf Granit gebissen. Nach ergebnislosen Kontrollbesuchen des Monteurs, einer Lärmmessung ohne abnormes Resultat und zwei Kaffeegutscheinen verlor Jetta die Fassung. Entnervt schlug sie Frau Lüscher am Telefon vor, im Badezimmer Oropax zu tragen, wenn das Lüftungsgeräusch wirklich so unerträglich sei. Als die Mieterin zurückschrie, noch nie sei ihr eine so unverschämte Person begegnet, war das Jetta zuviel. Mit einem Knall warf sie den Hörer auf den Apparat.
Frau Lüscher war sie los; diese weigerte sich fortan, mit ihr zu sprechen. Gesine Straub zeigte Verständnis für Jettas Reaktion. Doch das Gefühl, versagt zu haben, liess Jetta nicht los.
Christiane schaute auf und zwinkerte ihr zu. Erleichtert lächelte Jetta zurück.
»Oh ja, nie raste ich aus, nicht einmal bei Frau Lüscher.«
»Ach Gott, die«, stöhnte Christiane und schnitt eine Grimasse. Sie nahm Jetta die Kaffeetasse aus der Hand und stellte das Geschirr in den Spültrog. Ein Telefon läutete.
»Dein Apparat«, sagte Christiane.
Als Jetta gegen ein Uhr mittags vor ihrem Wohnblock parkierte, erinnerte sie sich an ihren Vorsatz, am Abend mit Andreas über Leos Internetkonsum zu sprechen. Wenn möglich vermied sie Auseinandersetzungen mit Andreas. Vielleicht schafften sie es heute ohne Streit. Falls sie den richtigen Ton fand.
Sie rief einen munteren Gruss in die Wohnung. Von oben ertönte zweistimmig »Hallo Mam«, Leos Stimme noch ungebrochen hell, Nicoles lustlos. Viel Zeit zum Kochen blieb nicht, gewaschener Salat aus dem Plastikbeutel, Spaghetti, geriebener Parmesan aus dem Vakuumpack und Sauce Bolognese aus dem Glas mussten genügen. Beim Abgiessen der Teigwaren ermahnte sie Nicole, endlich den Tisch zu decken, und bat Leo, Mineralwasser aus dem Keller zu holen.
Am Tisch schmollte Nicole. Demonstrativ klaubte sie jedes Nanopartikel, das sie für eine Olive hielt, aus der Sauce. In der Eile sei ihr das erstbeste Glas in die Hand geraten, entschuldigte sich Jetta, und an einem bisschen Olive sei noch niemand gestorben. Nicole fand die Bemerkung nicht witzig. Sie pflügte mit der Gabel Furchen durch das Spaghettifeld und hängte ihre blonden Haare in den Teller. Jetta schaute ihre Tochter an, ihre kindlich aufgeworfene Nase mit den Sommersprossen, den zarten Flaum zwischen Ohren und Kinn, die grau getuschten, langen Wimpern. Sie überlegte, ob sie etwas sagen sollte, liess es bleiben. Die Aussicht auf ein Wortgefecht mit der schlecht gelaunten Fünfzehnjährigen hatte wenig Verlockendes.
Für Leo gab es nichts auszusetzen, wie immer bei Spaghetti oder Pizza. Kauend erzählte er, er habe beim Fussballmatch drei von vier Toren erzielt, worauf der Torhüter mit einem Wutanfall reagiert habe.
»Wer war Goalie?«, wollte Nicole halbwegs versöhnt wissen. Ihr Tellerrand sah aus wie ein schwarz gesprenkeltes Firmament, auf dem Blusenärmel zerfloss ein tomatenroter Fettfleck. Wieder verkniff sich Jetta eine Bemerkung. Früher oder später würde Nicole das Malheur entdecken und die Bluse augenblicklich wechseln. Denn jederzeit konnte ihre Freundin an der Türe läuten und sich über den Makel lustig machen. Jetta schwor sich, dieses Mal würde sie das Bügeln delegieren, Widerstand hin oder her.
»Lars, dieser Pfosten.« Mit dem Zeigefinger schob Leo Spaghetti auf die Gabel.
»Leo, nimm bitte das Messer und nicht die Finger. Und was sagst du dazu, dass dein Laptop wieder nicht ausgeschaltet war?«
»Arsch«. Nicole schnitt ihrem Bruder eine Grimasse.
»Nicole, bitte«, mahnte Jetta. Leo hantierte laut mit dem Besteck.
»Das war wegen der Fussballschuhe, ich hatte keine Zeit.«
»Etwas Besseres kommt dir nicht in den Sinn? Ich schwöre dir, bald steht keiner mehr in deinem Zimmer.«
Jetta sagte es so betont, dass Leo mit Kauen aufhörte.
»Ehrlich, Mam?«
»Ehrlich.«
Nicole kicherte schadenfreudig. Unter dem Tisch versuchte Leo ihr ans Schienbein zu treten, traf aber nur den Stuhl. Seine Schwester hob triumphierend die Faust.
Beim Abräumen drehte sich das Gespräch der Geschwister um Lars, den glücklosen Torwart. Lars schiele wie ein Chamäleon, behauptete Leo, deshalb könne er auch keinen Ball halten. Trotzdem wolle er immer im Tor stehen. Kein normaler Mensch hüte freiwillig das Tor. Jetta räumte die Teller in den Geschirrspüler und hörte ihnen eine Weile zu.
»Hört mal, ihr redet nicht nett über Lars. Bestimmt hat er nicht nur schlechte Seiten.«
»Mam, du hast keine Ahnung. Zu so einem ist keiner nett!« Nicole nahm ein Erdbeerjogurt aus dem Kühlschrank und schaute ihre Mutter herausfordernd an. Jetta gab nicht auf.
»Was kann er dafür, dass er Pickel hat und schielt? Mich stört, dass ihr auf ihm herumhackt.«
»Alle machen das. Ihn in Schutz zu nehmen – das wäre voll daneben«, unterstützte Leo seine Schwester. Nicole schob einen Löffel Jogurt in den Mund.
»Überlegt mal, wie ihr euch fühlen würdet, wenn alle gegen euch wären.«
»Klar, beschissen«, sagte Leo und zuckte mit den Achseln. »Aber die anderen sind eben nicht gegen uns. Das ist der Unterschied.«
»Ihr wisst, was ich meine. Eigentlich geht es mir um euch. Darum, wie ihr euch andern gegenüber benehmt. Vor allem Schwächeren gegenüber.«
»Ist okay, Mam, aber ich muss jetzt Englisch lernen.«
Nicole trabte aus der Küche, Leo hinterher.
»Es ist Mittwoch, Leo«, rief Jetta. »Du kommst in zehn Minuten zum Vokabeln abfragen.«
Sie stellte den Kochtopf aufs Abtropfbrett. Nicht zum ersten Mal fühlte sie sich wie nach einem verlorenen Kampf. Jetta liebte ihre Kinder. Und sie verfolgte ihr Tun und Lassen mit Besorgnis. Nicoles unbekümmerter Egoismus, ihre Rücksichtslosigkeit anderen gegenüber, Leos Vergesslichkeit, die schlampige Unordnung, die seinen Alltag prägte, setzten ihr zu. Sie fühlte sich oft hilflos und wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Natürlich waren die Kinder noch Kinder, sie provozierten, überdehnten die Grenzen, fanden Dinge cool, die sie selbst verabscheute, und anderes, das ihr wichtig war, spiessig. Aber durfte sie bei allem wortlos zusehen, fragte sie sich häufig. Musste sie nicht eingreifen und zurechtrücken, was ihr falsch erschien? Wenn etwas schief liefe im Leben der Kinder, würde es letztlich ihr angelastet. Die Mutter habe versagt, hiesse es. Andreas' Haltung, Unarten seien normale pubertäre Ausschläge und Jetta solle sich endlich entspannen, blieb ihr fremd. Sie als Eltern mussten den Kindern helfen, das richtige Feld abzustecken. Sie war überzeugt, wenn sie diskret alles im Griff behielt, würde es mit den Kindern gut herauskommen. Es konnte nicht anders sein. Bloss, je mehr sie erklärte, ermahnte und insistierte, umso weniger schien es die Kinder zu kümmern.
Jetta unterdrückte einen Seufzer. Inzwischen war es kurz nach zwei. In Gedanken ordnete sie den Nachmittag. Zuerst wie jeden Mittwoch mit Leo Französischvokabeln pauken und die Schulaufgaben überprüfen. Dann ihre Mutter anrufen; die Notiz, inzwischen mit drei Ausrufezeichen versehen, klebte seit Tagen am Kühlschrank. Um halb sechs die Versammlung der Stockwerkeigentümer im Baumgarten, vorher das Sitzungsprotokoll vom Vortag schreiben. Die Zeit für alles war knapp, aber sollte reichen.
Sie stellte eine Tasse unter die Kaffeemaschine und brach ein Stück Schokolade aus der angefangenen Tafel. Oben zeterte Nicole wie eine aufgescheuchte Elster. Jetta ahnte, dass sie den Tomatenfleck entdeckt hatte. Prompt rief Leo »selber schuld!« und Nicole kreischte zurück »schweig, du Arsch!«
»Nicole, ich bitte dich! Das nächste Mal kostet es einen Franken!«
Tue ich noch etwas anderes als dauernd zu ermahnen und zu erziehen, dachte Jetta und hätte am liebsten die Küchentüre ins Schloss geworfen. Stattdessen setzte sie sich mit dem Kaffee an den Esstisch und rief nach Leo. Vor kurzem erst hatte sich ihre Mutter beklagt, die Enkelin rede schlimmer als ein Pferdeknecht. Seither fühlte sich Jetta noch mehr unter Druck, etwas gegen die sprachlichen Ausrutscher der Kinder zu tun. Auch in dieser Hinsicht verhielt sich Andreas tolerant. Oder gleichgültig, je nach Sichtweise. Ihm war es ziemlich egal, wie die Kinder daheim und draussen sprachen; etwas Dreck in der Sprache, wie er es nannte, sei normal.
Leo reagierte nicht. Aus seiner Türe drang Musik, eine namenlose Boygroup rappte ein rasendes Stakkato herunter. Jetta wusste, dass er vor dem Bildschirm sass, abgetaucht in ein Computerspiel, dessen Wert oder tieferer Sinn ihr auch nach mehreren Erklärungsversuchen nicht einleuchtete. Zumindest was solche Spiele anbelangte, hatten sich Jetta und Andreas auf eine Stunde pro Tag geeinigt und Leo hatte protestierend eingewilligt. Ohne Jettas Überwachung funktionierte auch das nicht zuverlässig.
Nicoles Zimmertüre war vor einer Weile ins Schloss geknallt. Vermutlich machte sie die Englischübung, denn ohne Jettas Endkontrolle durfte sie nicht zum Treffpunkt gehen. Bei Nicole klappte das. Sie war eine ehrgeizige Schülerin und wollte in einem Jahr ans Gymnasium wechseln. Auch war sie weniger dem Internet verfallen als ihr Bruder, ausser dass sie sich regelmässig auf Facebook tummelte. Nicole las ›Bravo‹ und ›Mädchen‹, gelegentlich ein Buch, sie verschickte täglich unzählige SMS und war bei Freundinnen und Kollegen beliebt.
»Leo, komm endlich!«, rief Jetta laut. Nach einer Weile verstummte die Band. Jetta schob sich noch ein Stück Schokolade in den Mund. Die Sonne schien durch die Scheiben ins Wohnzimmer. Gnadenlos zeigte sie die Schlieren und eingetrockneten Regentropfen auf dem Fensterglas und pelzige Staubschichten auf dem Bücherregal. Unbedingt musste sie Frau Plavsic, die jeden Montagvormittag putzen kam, eine Notiz hinterlassen: Bitte Wohnzimmerfenster putzen, innen und aussen, und überall Staub wischen – überall unterstrichen. Wie wenn überall Staub wischen nicht zur Routine gehörte. Was säuberte Frau Plavsic eigentlich zweieinhalb Stunden lang, ausser den Badezimmern und der Küche? Neulich hatte sie vergessen, die Plastikmatte unter Machfus' Futternapf zu reinigen, und seit mindestens zwei Wochen lagen tote Fliegen auf dem Fenstersims im Büro. Jetta verdrängte den Gedanken, schon wieder eine neue Putzfrau zu suchen. Silvia Beutler hatte Frau Plavsic empfohlen; sie putze im Architekturbüro ihres Mannes, Bruno sei mit ihr zufrieden. Frau Plavsic machte einen guten Eindruck und wirkte frisch und flink, als sie sich vorstellen kam. Prüfend wanderten Jettas Augen durch den Wohnraum, über die Ledersofas, den gläsernen Salontisch, die Liege mit der Kamelhaardecke und kehrten zum staubbedeckten Büchergestell zurück. Sollte sie Bruno bei Gelegenheit fragen, was er von Frau Plavsics Arbeit hielt? Beutlers hatte sie eine ganze Weile nicht mehr gesehen; das letzte Mal, erinnerte sich Jetta, war auf einer Vernissage in der Altstadt gewesen, kurz vor Weihnachten.
Gepolter auf der Treppe, Leo witschte herein, setzte sich an den Tisch und streckte Jetta das Wörterheftchen entgegen. Sie blätterte zur richtigen Seite und begann mit dem Abfragen: Vokabeln rund um Mond, Sterne und Planeten, die häufigsten Bäume, Vögel und Länder. Er antwortete mal rasch, mal stockend, hie und da korrigierte sie seine Aussprache, die französischen Nasallaute bereiteten ihm Mühe. Während einer Serie von Tiernamen fragte Leo plötzlich: »Wo ist eigentlich Machfus?«
»Frag das mal auf Französisch«, schlug Jetta vor.
»Où est Machfus?« Zu ihrem Erstaunen sprach er den Namen korrekt französisch »Maschfüs« aus.
»Je ne sais pas, peut-être Machfus est dans le jardin. Ne l’as-tu pas vu?«
Leo sagte »non«, schaute zum Fenster und zuckte mit den Schultern. Mit einer Serie unregelmässiger Verben ging es weiter.
Machfus war Henauers Kater, ein kastriertes Jungtier, grau getigert, mit buschigem Schwanz und grünen Augen und besonders Leo zugetan, auf dessen Bettdecke er sich zusammenrollte, wenn er die Nacht nicht im Freien verbrachte. Machfus war ihre zweite Familienkatze. Die erste, eine scheue Katze, war eines Tages verschwunden und tauchte nie mehr auf, trotz A4-Blättern mit Foto, die Nicole und Leo in die Briefkästen geworfen und an alle Strassenlampen geklebt hatten. Lange blieben die Kinder untröstlich, wollten zuerst nie mehr eine Katze, bis sie eines Tages dringend wieder eine haben mussten. Nun war die Reihe an Andreas sich zu sträuben, es sei genug mit diesem Katzentheater, fertig. Bis sie auf einem Ausflug spielende Kätzchen antrafen. Da war es auch um ihn geschehen. Die Kinder wussten sogleich, welches das Schönste war, die Bauersleute waren froh, ein Tierchen los zu werden. Eifersüchtig bewacht reiste der noch namenlose Wollknäuel in einer Kartonschachtel nach Hause. Die verschollene Katze hatte Josefine geheissen; mindestens ein gleich schöner Name musste für den kleinen Kater her. Keiner der Namen, die Jetta vorschlug, gefiel. Gegen Leos Wunsch nach Messi protestierte Nicole, gegen ihren Vorschlag Justin lehnte sich Leo auf. So ging das hin und her, ohne Ergebnis. Jetta lag NoName auf der Zunge, als Andreas, er las damals gerade Herta Müller, Namen von Literaturnobelpreisträgern aufzuzählen begann, die ihm einfielen. Als er »Nagib Machfus« sagte, habe Machfus den Kopf gehoben und die Ohren gespitzt, behauptete Nicole und war davon nicht mehr abzubringen.
»Er hat sich an Ägypten erinnert, als Paps Machfus sagte«, ordnete Leo die Dinge in sein Weltbild ein, und alle lachten.
Die zwanzig Minuten Französischvokabeln waren um, Leo schnappte das Heft aus Jettas Händen. Seine Haare hingen ihm ins Gesicht und in den Nacken. Sie hätten den Coiffeur dringend nötig, meinte Jetta und strich ihm die Mähne aus der Stirn.
»Morgen nach der Schule, versprochen, aber jetzt muss ich zu Tobias.«
Die Jungen zog es auf den Fussballplatz. Jetta erlaubte es, bis Andreas heimkomme. Leo schoss aus dem Zimmer und prallte beinahe in Nicole, die mit den Englischaufgaben unterwegs war. Diesmal blieb es bei einem »A-«, den Rest verschluckte sie.
»Du hast dich umgezogen?«
»Ich kann ja nicht mit einem Tomatenfleck auf dem Ärmel herumlaufen«, gab Nicole schnippisch zurück. Ihre Mutter herausfordernd anzusehen gelang ihr nur halbwegs. Jetta ergriff die Gelegenheit.
»Das ist okay, Nicole. Aber wenn die Bluse gewaschen ist, bügelst du sie selber.«
Die Fünfzehnjährige öffnete den Mund, klappte ihn wieder zu und deutete ein Nicken an. Jetta kannte ihre Tochter gut genug, um zu wissen, was sie dachte: Bis das Teil im Bügelkorb zuoberst liegt, hat Mam die Drohung wieder vergessen. Vielleicht. Hoffentlich. Betont lässig schob Nicole das Englischheft über den Tisch, supereinfach seien die Aufgaben gewesen.
Tatsächlich hatte sie die Anwendung von past und perfect tense begriffen und ausser einem Verschreiber die Übung richtig gemacht. Auch wenn sie in Mathematik weniger glänzte als in den Sprachfächern, würde sie den Übertritt ins Gymnasium problemlos schaffen. Viele von Henauers Bekannten schickten ihre Kinder in Privatstunden. Wie wenn es für junge Menschen keine andere Berufsausbildung gäbe als ein Studium, dachte Jetta oft. Ihr Bruder Sam hatte gegen den elterlichen Widerstand Bootsbauer gelernt. Ohne jemandem ein Wort zu sagen, hatte er sich als Fünfzehnjähriger eine Lehrstelle gesucht, während ihre Eltern ausschliesslich vom Gymnasium sprachen und von den Möglichkeiten, welche die Matura einem jungen Mann biete. Von Jetta, der Zwölfjährigen, die vom Gymnasium träumte, sprachen sie nie. Das Bild von Sam blieb in ihrem Gedächtnis eingebrannt: Unbeweglich stand er mitten in der Brandung des elterlichen Geschreis, blickte zu Boden und sagte kein Wort. Fünf Monate später packte er seine Sachen und reiste an den Brienzersee.
»Darf ich jetzt zum Treffpunkt?«, wiederholte Nicole vorwurfsvoll und riss Jetta aus den Gedanken.
»Okay, bis um halb sechs. Holt Melanie dich ab? Ich möchte sie etwas fragen.«
Nicole war schon halb draussen und drehte sich um.
»Nicht etwa wieder, wie viel Taschengeld Mel bekommt? Das war so was von daneben!«
»Wegen Frau Plavsic. Ob Melanies Vater mit ihr zufrieden ist.«
»Ach die«, sagte Nicole, zog ein überhebliches Gesicht und federte auf Zehenspitzen die Treppe hoch. Als Jetta das Kaffeegeschirr in den Geschirrspüler räumte, läutete die Türglocke, zwei-, dreimal hintereinander.
»Mam«, schrie Nicole aus dem Badezimmer. »Kannst du aufmachen?«
Melanie Beutler, in verwaschenen Jeans, einer Daunenjacke aus rot glänzendem Material und riesigen Ohrringen, nahm überrascht die Hand vom Klingelknopf, als Jetta die Türe öffnete. Sie blieben im Flur stehen, Jetta erkundigte sich nach Melanies Eltern und fragte, wie es dem Bruder im Gymnasium gehe. Melanie wusste es nicht; Felix sage kaum etwas, wahrscheinlich gefalle es ihm. Dabei schielte sie nach oben. Auch zu Frau Plavsic wusste das Mädchen nichts; am besten frage Jetta ihren Père. Sie schien erleichtert, als Nicole endlich die Treppe herunter füsselte.
»Geil, Nicole!« Melanie strahlte.
Jetta drehte sich um. Ihre Tochter stand auf der untersten Treppenstufe in einem winzigen Röckchen, das ihr knapp unter den Po reichte, und das Jetta noch nie gesehen hatte. Darunter trug sie Leggins, an den Füssen die braunen Stiefel, darüber eine eng anliegende Jacke, die ihr bis zur Taille reichte. Die Augen hatte sie mit Kajal umrandet, die Lippen schimmerten unter pinkfarbenem Lipgloss. Sie drückte sich an Jetta vorbei, nahm Melanies Arm und steuerte zur Türe.
»Moment mal«, sagte Jetta, als sie die Sprache wiedergefunden hatte. »Ich dachte, ihr geht zu eurem Treffpunkt im Eichholz.«
»Gehen wir auch. Warum?«
Nicole drehte sich halb, blickte sie trotzig an. Melanie schaute neugierig von Jetta zur Freundin und wieder zu Jetta.
»Weil du angezogen bist wie für eine Party. Diesen Jupe habe ich noch nie gesehen. Das ist kein Tenue, um im Februar am Fluss herumzusitzen. Was habt ihr vor?«
»Wir treffen uns, reden, hören Musik wie immer, oder Mel? Ich darf doch anziehen, was ich will!«
Jetta holte tief Luft. Vergeblich die Hoffnung, diesen Tag ohne Kraftprobe zu beenden.
»So gehst du nicht aus dem Haus. Zieh Jeans an wie Melanie, dann ist es okay.«
Ihre Stimme klang nicht halb so fest, wie sie es sich gewünscht hätte. Um nicht an Terrain zu verlieren, zwang sie sich, keine weiteren Erklärungen abzugeben, zur Temperatur am Fluss, zur Erkältungsgefahr, zur Unvernunft. Nicole warf den Kopf herum, starrte sie mit nackter Ablehnung an. Dieser Blick und die Vorahnung, dass der Tag noch nicht überstanden war, flossen zusammen, und ein Anflug von Schwindel schwappte über Jetta.
Sie reibt mit den Handflächen über die Schläfen. Buschfeuer im Büro und die Freuden des Mutterseins zu Hause. Muttersein. Sie muss ihre Mutter anrufen. Keine Ausreden jetzt. Doch vorher einen Kaffee, und ein Stück Schokolade. Sonst schafft sie es nicht.
Während die Kaffeemaschine summt, geht Jetta auf den Balkon und kneift die Augen vor der Sonne zusammen. Der Tag ist warm für Februar, etwas frische Luft wird ihr guttun. Sie setzt sich hin, trinkt den Kaffee und lässt die Schokolade auf der Zunge zergehen. Über Häuser und kahle Gärten hinweg sieht sie den Hausberg, darüber die Nachmittagssonne. Auf dem Rasen nebenan quietscht eine Schaukel, Jetta hört Kinderstimmen und Hundegebell. Ihr Haus liegt abseits der Hauptstrasse in einem ruhigen Quartier, wohin der Verkehrslärm nur als gedämpftes Rauschen dringt und wo die Autofahrer auf Kinder und Katzen Rücksicht nehmen. Jetta lehnt sich über die Brüstung und ruft nach Machfus. Am frühen Morgen hat sie den Kater zum letzten Mal gesehen. Er taucht nicht auf, was sie nicht weiter beunruhigt. Über eine Leiter und die Katzentüre kann er jederzeit die Wohnung erreichen. Die Kirchturmuhr schlägt halb vier, Jetta gibt sich einen Ruck. Pass auf, tritt in keine Falle, ermahnt sie sich, während sie die Nummer ihrer Mutter wählt. So wie sie müssen sich früher die Ritter gefühlt haben, wenn sie vor dem Kampf ihre Rüstungen umschnallten und die Schärfe ihrer Lanzen prüften, nervös, um innere Ruhe bemüht und mit der Hoffnung im Herzen, der Panzer werde dicht halten.
Jettas Mutter hat die Angewohnheit, fünf Klingeltöne abzuwarten, bevor sie reagiert, selbst wenn sie gleich neben dem Apparat sitzt. »Warum nimmst du nicht ab?«, fragte Leo einmal, als seine Grossmutter neben dem schrillenden Telefon stand und sich nicht bewegte. Ihre Antwort war erstaunlich offen. Die Leute brauchten nicht zu glauben, sie tue den ganzen Tag nichts anderes als auf einen Anruf zu warten. Leo riss verständnislos die Augen auf. Seither ertappt Jetta sich dabei, dass sie zählt, bis sich ihre Mutter meldet. Immer kommt sie auf fünf, auch dieses Mal.
»Ich habe so lange nichts von dir gehört, dass ich dachte, ihr habt mich vergessen«, sind Mutters erste Worte. Seit dem Tod des Vaters vor sechs Jahren sind dies, so oder so ähnlich, immer ihre ersten Sätze. Fühlt sich Jetta stark, dann entgegnet sie, Mutter hätte ja selbst anrufen können. Worauf diese zurückgibt, man wisse ja nie, ob man nicht etwa störe, und so geht das weiter. Heute fehlt Jetta die Lust auf Kleinkriege im emotionalen Dickicht. Am liebsten würde sie gleich wieder auflegen. Aber sie ist zu feige.
»Ich wollte hören, wie es dir geht.«
»Wie soll es gehen, wenn man allein ist und sich niemand um einen kümmert. Deinen Bruder habe ich seit Weihnachten nicht gesehen, und euch seit Wochen nicht mehr.«
»An deinem Geburtstag sind wir alle zusammen essen gegangen, hast du das vergessen? Das ist genau zehn Tage her, nicht Wochen.«
Schon sitzt sie in der ersten Falle. Warum bringt sie es nicht fertig, zu Mutters anklagenden Bemerkungen zu schweigen? Sie wird es nie schaffen. Mutter ist umgeben von Fallgruben. Bei jeder Annäherung kracht man durch die Äste und sitzt hilflos im Dreck. Und muss sich Sprüche über die ungerechte Welt, die undankbaren Enkel, die missgünstige Nachbarin, und die Schlampe von einer Halbschwester anhören. Wie jedes Mal bereut es Jetta, angerufen zu haben. Gleichzeitig spürt sie etwas wie Mitleid mit der Mutter. Es ist ihr nie gelungen, das Leben überhaupt und erst recht das Witwendasein versöhnlich anzugehen.
Noch immer lebt Hanna Kraft im selben Reihenhäuschen, wo Jetta und Sam aufwuchsen. Oskar Kraft war Primarlehrer, Hanna gab ihre Berufstätigkeit als Sekretärin vor Sams Geburt auf, wie die meisten Frauen ihrer Generation. Oskars Lehrerlohn reichte für ein kleinbürgerliches Leben: Eigenheim mit Gärtchen, ohne Extravaganzen.
So weit Jetta sich zurückerinnern kann, nannte die Mutter sie immer Henriette, für den Vater war sie das Jetti, Sam und die Schulfreundinnen riefen sie Jettlä. Mit siebzehn hatte Jetta genug von der pompösen Anrede der Mutter und der Schulhoffassung. Sie bestand darauf, ab sofort heisse sie Jetta. Die Eltern boykottierten ihren Wunsch. Vater blieb kommentarlos beim Jetti, Mutter fand, Jetta klinge nach Filmstar und sei deshalb abzulehnen. Sam und die Freundinnen gewöhnten sich rasch an den Namen.
Wenn Jetta über ihre Kinder nachdenkt und sich überlegt, ob sie wohl glücklich seien, fragt sie sich manchmal, wie ihre eigene Kindheit verlaufen sei.
Mit Sam teilte sie eine Welt voller Schätze und Geheimnisse. Stundenlang lagen sie mit Bilderbüchern und Stofftieren unter Sams Bett und erschufen sich ihre Kinderwirklichkeit. In dieser lebten sie wie in einem Luftballon, schwerelos und für eine begrenzte Zeit den Erwartungen und Forderungen der Eltern entzogen. Unter dem Bettgestell, bei Streifzügen durch das Quartier, beim Spiel mit Gleichaltrigen war sie glücklich. Selbstvergessene Hingabe an den Moment war für sie mit ihrem Bruder und mit Freundinnen verbunden, kaum je mit den Eltern. Und mit der Mutter noch weniger als mit dem Vater.