Bernhard Zeller
Hermann Hesse
Rowohlt E-Book
Bernhard Zeller, 1919 in Dettenhausen bei Tübingen geboren, studierte Geschichte, Germanistik, Latein und war von 1955 bis 1985 Direktor des Schiller-Nationalmuseums und des Deutschen Literaturarchivs in Marbach. Zeller war Verfasser, Herausgeber und Mitherausgeber zahlreicher literarhistorischer Publikationen und Editionen, von Schriften- und Katalogreihen. Er war Mitglied mehrerer Akademien und wissenschaftlicher Gremien, Ehrendoktor der Universitäten Mainz und Norwich sowie Ehrensenator und Honorarprofessor in Tübingen. Bernhard Zeller starb 2008.
Rowohlt E-Book Monographie
Hermann Hesse genoss die Achtung seiner Schriftstellerkollegen und die Zuneigung immer neuer Generationen von Lesern. Thomas Mann hatte ihn früh «als den mir nächsten und liebsten erwählt», und Peter Handke befand 1970 auf dem Gipfel der Hesse-Renaissance, er sei «ganz gewiß ein vernünftiger, überprüfbar großer Schriftsteller», und in einer Vielzahl von Übersetzungen erreichte sein Werk alle Kontinente der Welt.
Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.
rowohlts monographien
begründet von Kurt Kusenberg
herausgegeben von Uwe Naumann
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2013
Copyright © 1963, 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Das Bildmaterial der gedruckten Buchausgabe ist im E-Book nicht enthalten
Redaktionsassistenz Katrin Finkemeier
Umschlaggestaltung any.way, Hamburg, nach einem Entwurf von Ivar Bläsi
(Abbildung: Suhrkamp Verlag, Berlin [Hermann Hesse. Foto])
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
Satz CPI books GmbH, Leck
ISBN Printausgabe 978-3-499-50676-5 (2. Auflage 2011)
ISBN E-Book 978-3-644-50141-6
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-50141-6
Hermann Hesse: Sämtliche Werke. Hg. von Volker Michels. Frankfurt a.M. 2001ff., Bd. 3, S. 235 (zitiert S.W. Band/Seite)
S.W. 1/185
S.W. 12/671
S.W. 2/513
S.W. 18/227f.
S.W. 12/524
S.W. 12/587
S.W. 12/579
S.W. 12/581
S.W. 9/176
S.W. 12/583
S.W. 9/176
S.W. 8/457
Adele Gundert: Marie Hesse, 1953
Ebd., S. 195
S.W. 12/46
S.W. 12/537
S.W. 12/29
S.W. 12/535
S.W. 12/78
S.W. 12/79
S.W. 1/230
Adele Gundert: Marie Hesse, 1953, S. 208
Ebd., S. 219
Ebd., S. 231
S.W. 12/76
S.W. 12/47
S.W. 12/77
S.W. 12/240
S.W. 12/82ff.
S.W. 12/84
S.W. 12/84
S.W. 12/48
S.W. 11/154
S.W. 12/86
S.W. 12/89ff.
Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert I. Hg. von Ninon Hesse. Frankfurt a.M. 1966, S. 79
S.W. 12/572
S.W. 2/178
S.W. 13/359
Kindheit I, S. 108ff.
Ebd., S. 133
Ebd., S. 145
Ebd., S. 112
Ebd., S. 142f.
Ebd., S. 155f.
Ebd., S. 165
Ebd., S. 170f.
Ebd., S. 186f.
Ebd., S. 190f.
Ebd., S. 194
S.W. 12/49
Kindheit I, S. 427ff.
Ebd., S. 468
Ebd., S. 466
S.W. 10/427
Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert II. Hg. von Ninon Hesse. Frankfurt a.M. 1978, S. 23
Ebd., S. 20f.
Ebd., S. 21
S.W. 12/137
S.W. 12/137
Kindheit II, S. 32
Ebd., S. 38
Ebd., S. 28
Ebd., S. 67
Ebd., S. 97
Ebd., S. 55
Ebd., S. 93
Ebd., S. 124
Ebd., S. 53
S.W. 14/452
Kindheit II, S. 285f.
Ebd., S. 302
Ebd., S. 209
Ebd., S. 205
Ebd., S. 66
Ebd., S. 133
Der Fremdling. Novalis Schriften I. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Stuttgart 1977, S. 400
S.W. 10/9
Kindheit II, S. 306
S.W. 10/22
S.W. 1/167ff.
S.W. 1/169
S.W. 1/170
In: Siegfried Unseld: Hermann Hesse. Werk- und Wirkungsgeschichte. Frankfurt a.M. 1985, S. 13
Kindheit II, S. 360
Ebd., S. 202f.
Ebd., S. 221
Ebd., S. 370f.
S.W. 1/253ff.
S.W. 12/79f.
S.W. 12/81
S.W. 15/650
Kindheit II, S. 413 und 418
Ebd., S. 389
Ebd., S. 423f.
Ebd., S. 458
Ebd., S. 522f.
S.W. 1/314
Gesammelte Briefe. 4 Bde. Frankfurt a.M. 1974–1986 (zitiert G. Br.), hier G. Br. I/94
S.W. 11/274
S.W. 1/221ff.
S.W. 1/171
S.W. 1/316
S.W. 1/314
S.W. 1/314
S.W. 1/493ff.
G. Br. I/78. Die Notturni in S.W. 1/328–343
S.W. 12/624
S.W. 10/77
G. Br. I/97
Hermann Hesse. Sein Leben in Bildern und Texten. Hg. von Volker Michels. Frankfurt a.M. 1987, S. 80
S.W. 2/97f.
S.W. 12/196
S.W. 12/50
S.W. 9/127
Vgl. S.W. 12/138f.
S.W. 12/140f.
S.W. 12/140
S.W. 13/43f.
S.W. 13/46
S.W. 12/142
S.W. 12/143
S.W. 12/144
S.W. 12/309
Privatbesitz. Zit. nach Hermann Hesse. Eine Chronik in Bildern. Bearbeitet von Bernhard Zeller. Frankfurt a.M. 1960, S. 60
S.W. 12/396
S.W. 12/401
S.W. 12/678
G. Br. I/186
Herbert Belmore am 30. 7. 1913, nach Unseld: Wirkungsgeschichte, S. 31
G. Br. I/189
Unseld: Wirkungsgeschichte, S. 32
Ebd., S. 35
S.W. 10/156
S.W. 16/105
S.W. 16/102
«Es war um die Jahrhundertwende». München 1953, S. 66
Hauptstaatsarchiv Stuttgart
Hesse. Eine Chronik in Bildern, S. 63
S.W. 12/321
S.W. 12/324
G. Br. I/176
Deutsches Literaturarchiv Marbach, Hesse-Archiv
S.W. 10/136f.
S.W. 13/150f.
S.W. 12/145
S.W. 13/378f.
S.W. 13/277
S.W. 13/423
S.W. 12/145
G. Br. I/209f.
S.W. 12/115
S.W. 8/134ff.
S.W. 12/147
Hesse. Eine Chronik in Bildern, S. 70
S.W. 3/75
G. Br. I/242
An Peter Suhrkamp am 15. 1. 1942. Schriften zur Literatur, Bd. 1, S. 30 (WA 11)
S.W. 3/217
S.W. 15/13
S.W. 15/13f.
Hermann Hesse. Briefe. Erw. Ausg. Frankfurt a.M. 1964, S. 45
S.W. 15/54ff.
Vgl. S.W. 15/82
S.W. 15/646ff.
S.W. 14/186
Deutsches Literaturarchiv Marbach, Hesse-Archiv
Vgl. G. Br. I/353ff.
Hesse. Eine Chronik in Bildern, S. 82
S.W. 10/205
S.W. 14/354
S.W. 12/55
S.W. 3/235f.
Aus dem Vorwort der amerikanischen Ausgabe, Unseld: Wirkungsgeschichte, S. 63
S.W. 15/220ff.
S.W. 15/226
S.W. 15/226
S.W. 15/237
G. Br. I/382
S.W. 10/253
S.W. 12/211
S.W. 11/7ff.
S.W. 11/628
S.W. 12/212
S.W. 8/285f.
S.W. 8/314
S.W. 8/329
S.W. 8/330
Am 4. 8. 1919. vgl. Materialien zu Hermann Hesses Siddhartha. Bd. 1, Hg. von Volker Michels. Frankfurt a.M. 1975, S. 83f.
G. Br. I/341
S.W. 12/57
S.W. 12/559
S.W. 15/263f.
Vgl. Der Weg der Liebe, 1. Fassung in «Vivos voco», Juli 1920. S.W. 15/210ff.
S.W. 18/345
S.W. 11/629
S.W. 11/630
S.W. 11/638
S.W. 11/632
S.W. 12/190
S.W. 12/149
S.W. 19/105
S.W. 12/316
S.W. 18/139f.
S.W. 12/222
S.W. 3/461f.
S.W. 12/132
Briefe 1964, S. 217
G. Br. II/65
S.W. 12/172f.
S.W. 12/169
Brief vom 19. Januar 1924. Hesse. In: Sein Leben in Bildern und Texten, S. 212
S.W. 11/125
S.W. 11/118
S.W. 11/125
S.W. 11/161f.
S.W. 11/170
S.W. 11/177
S.W. 3/468
S.W. 4/245f.
S.W. 4/60
S.W. 4/23f.
S.W. 4/165
S.W. 4/202
S.W. 11/628
S.W. 12/123f.
4. 11. 1930, in: Hermann Hesse. Werk und Persönlichkeit. Katalog zur Sonderausstellung im Schiller-Nationalmuseum in Marbach. 1957, S. 30
S.W. 10/311f.
S.W. 12/150
S.W. 12/151
S.W. 14/163
S.W. 14/164
S.W. 14/396
S.W. 14/398
S.W. 14/298
G. Br. II/280
S.W. 12/593
Hesse zum 70. Geburtstag 1947, Gesammelte Werke. Bd. 10. Frankfurt a.M. 1960, S. 517
G. Br. II/379
Briefe 1964, S. 128
G. Br. II/380
In: Neue deutsche Bücher. Marbach 1965, S. 5
Briefe 1959, S. 111
Vgl. G. Br. II/378
Hermann Hesse/Thomas Mann. Briefwechsel. Hg. von Anni Carlsson und Volker Michels. Dritte erweiterte Ausgabe. Frankfurt a.M. 1999, S. 169
Briefe 1964, S. 340f.
G. Br. IV/269
Briefe 1964, S. 266
Ebd., S. 108
Hesse. Eine Chronik in Bildern, S. 188
S.W. 12/434
Briefe 1964, S. 88
Ebd., S. 105f.
Ebd., S. 100
S.W. 10/568
S.W. 10/325
Ausgewählte Briefe. Suhrkamp Taschenbuch 211, S. 133
S.W. 15/556
Hesse. Neue deutsche Bücher, 1965, S. 148
Zit. nach Unseld: Wirkungsgeschichte, S. 156
S.W. 4/547
S.W. 4/584
G. Br. II/282
Schriften zur Literatur. Bd. 1, S. 87ff. (WA 11)
Briefe 1964, S. 129f.
S.W. 9/611f.
S.W. 9/613f.
Briefe 1964, S. 436ff.
S.W. 5/11
S.W. 5/7
Briefe 1964, S. 205
S.W. 5/405
S.W. 5/291
S.W. 5/289f.
Hermann Hesse. Musik. Hg. von Volker Michels. Frankfurt a.M. 1976, S. 79
Ebd., S. 81f.
S.W. 5/291f.
S.W. 5/173
S.W. 5/367
S.W. 5/71
S.W. 5/72
S.W. 10/366
Nachwort zur ersten Gesamtausgabe der Gedichte von 1942. In: Unseld: Wirkungsgeschichte, S. 166
S.W. 10/325
S.W. 10/329
S.W. 10/351
Briefe 1964, S. 101
Ebd., S. 109
Briefe 1959, S. 279
Ebd., S. 80
Ebd., S. 29
Briefe 1964, S. 366
S.W. 12/540
Briefe 1964, S. 227
S.W. 15/652
S.W. 15/654f.
S.W. 14/477
Hermann Hesse. Sein Leben in Bildern und Texten, S. 302
S.W. 12/467
Briefe 1964, S. 365
G. Br. IV/165
S.W. 12/508
S.W. 12/512
S.W. 12/598
S.W. 14/201
Briefe 1964, S. 35
Ebd., S. 418
S.W. 10/397
S.W. 10/398
S.W. 10/398
Briefe 1964, S. 436
Um meine Geschichte zu erzählen, muß ich weit vorn anfangen. Ich müßte, wäre es mir möglich, noch viel weiter zurückgehen, bis in die allerersten Jahre meiner Kindheit und noch weit über sie hinaus in die Ferne meiner Herkunft zurück.[1] Auch die Geschichte Hermann Hesses, der mit diesen Worten den Demian beginnt, muss, soll sie erzählt werden, weit vorn anfangen, denn Herkunft, Kindheit und Jugend haben sein Dichten und Denken ein Leben hindurch stets von neuem beschäftigt. Es ist den Dichtern gegeben, daß sie sich mehr als andere Menschen ihres frühesten Lebens erinnern, schrieb er bereits in Eine Stunde hinter Mitternacht[2] und ist nicht müde geworden, vom Erwachen der Kinderseele, von den Erlebnissen seiner Jugend mit all ihren Konflikten und Entwicklungsnöten zu erzählen. Wenige Dichter haben die kindliche Psyche so ernst genommen, bei wenigen stehen Probleme der Erziehung und Bildung so sehr im Zentrum ihres Werkes.
Immer wieder träumt sich Hesse, auch im hohen Alter noch, zurück in die kleine heimatliche Welt, jene heile Welt, aus der er einst ausgebrochen, und er beschwört in seinen Dichtungen die Gestalten der Eltern und Großväter, der Lehrer und Freunde, die heimatliche Landschaft mit Brücke, Fluss und alten Giebelhäusern, schildert sie bunter, beschwingter, zarter, als je ein Biograph es vermöchte. Der Achtzigjährige auf dem Krankenlager in Sils Maria wandert in Gedanken durch seine Vaterstadt und versucht sich Haus um Haus mit aller Genauigkeit zu vergegenwärtigen. Das Blättern in meinem Bilderbuch, das Aufrufen, Beschauen und Kontrollieren des Schatzes an Bildern, die mein Gehirn auf frühen und frühesten Stufen des Lebens aufgenommen hat[3], wird zum bewusst geübten Spiel, bringt Entdeckungen und die Freude des Wiederfindens.
Aber dieses Erinnern an die Jahre der Kindheit und Jugend ist nicht nur gefühlvolles Spiel mit «besonnter Vergangenheit», sondern wichtigster Teil eines Werkes, das sich die dichterische Gestaltung und Durchdringung der eigenen Erlebens- und Erfahrungswelt zur Aufgabe gesetzt hat. Es bedeutet Selbstdarstellung und Selbstanalyse, Auseinandersetzung mit sich und Kreisen um sich; es ist ein einziges großes, dichterisches wie menschliches Selbstbekenntnis, das in der Literatur unseres Jahrhunderts wenig Vergleiche kennt. Sehr bewusst bleibt Hesses Dichten in den Bezirken des eigenen Ich, des eigenen Erlebens. Er schreibt keine historischen, keine zeitgeschichtlichen Romane, sucht nicht Weite und Welt und will nicht kraft freier Phantasie ein Stück neuer Wirklichkeit aufbauen. Es geht ihm nicht um die Problematik der modernen Welt, umso mehr aber um die Probleme des Menschen in dieser Welt. Durch die Beschäftigung mit dem eigenen Subjekt, der Erhellung persönlichster Lebensschichten, erweitert er jedoch über das Autobiographische hinaus die Bereiche der inneren Wirklichkeit und erschließt in der eigenen zugleich ein Stück der allgemeinen geistigen und seelischen Situation seiner Zeit.
Hesse hat keine Tagebücher und keine Lebenserinnerungen hinterlassen, und er hat, sieht man von dem Kurzgefassten Lebenslauf, der Kindheit des Zauberers und kleinen autobiographischen Skizzen ab, keine zusammenhängende Darstellung des eigenen Lebens geschrieben. Aber Zeugnisse der Selbstdarstellung sind neben Tausenden von Briefen die vielen Betrachtungen, Gedenkblätter und Essays, die Rundbriefe, das Bilderbuch und die Traumfährte. Von eigenem Erleben erzählen Kurgast und Nürnberger Reise, und in vertieftem Sinn sind auch die meisten der Gedichte und der größeren epischen Dichtungen Fragmente eines großen Selbstporträts, Bruchstücke eigener Konfession. Kaum bedürfte es zusätzlicher Quellen. Die äußere und innere Geschichte des Dichters erschließt sich aus seinem Werk selbst, ja, sie ist mit ihm identisch.
Hermann Hesse wurde 1877 in Calw, einer kleinen Stadt im nördlichen Schwarzwald, der Vater Johannes Hesse 1847 als Sohn eines Arztes in Estland, die Mutter Marie Gundert 1842 als Missionarstochter in Indien geboren. Die Hesse waren ein baltendeutsches, die Gundert ein schwäbisches Geschlecht, doch hatte der Großvater Gundert eine Welsch-Schweizerin zur Frau. Der Dienst in der Basler Mission hatte die Familien zusammengeführt. Missionare waren Hermann Gundert, der Vater, und Charles Isenberg, der erste, früh verstorbene Mann von Marie Gundert gewesen, und zur Arbeit in der Mission hatte auch Johannes Hesse seine baltische Heimat verlassen. Im Nachwort zu dem Dokumentenband «Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert» hat Ninon Hesse die Geschichte der Hesse-Vorfahren genau geschildert.[4]
Hermann Hesse trägt den Vornamen seiner beiden Großväter. Beide gewannen Einfluss auf ihn, wenn er auch den baltischen Großvater, der 1896 im Alter von vierundneunzig Jahren starb, nie persönlich kennenlernte. […] die schönsten Geschichten, die ich als Kind gehört habe, waren die, die mein Vater uns von ihm und von seiner Heimat Weißenstein erzählte. Ich habe den Großvater, sein Städtchen und sein Haus, seinen Garten mit dem Ahorn und den grünen Bänken nie mit Augen gesehen, aber ich kenne sie genauer als viele Städte und Länder, die ich wirklich gesehen habe. Und obwohl ich nie ein Freund des historischen Denkens war und mich nie mit der Geschichte meiner Herkunft befaßt habe, ist dieser prachtvolle Großvater mir stets ein nah vertrauter Mensch gewesen.[5] Dr. Carl Hermann Hesse, dessen Vorfahren aus Lübeck stammten, war Kreisarzt und kaiserlich-russischer Staatsrat. Monika Hunnius, seine Nichte, hat in ihren Erinnerungen von ihm erzählt und ihn als eine höchst originelle, fröhlich tätige, gesellige und fromme Persönlichkeit geschildert. In Ein paar Erinnerungen an Ärzte hat Hesse am Ende seines Lebens dieses Großvaters, dessen Memoiren er in Abschrift besaß, nochmals besonders gedacht. Er ist jung, feurig, lustig, fromm und burschikos geblieben bis ins höchste Alter, ist mit 83 Jahren noch auf einen seiner Bäume gestiegen, um einen Ast abzusägen und samt der Säge abgestürzt, doch ohne Schaden zu nehmen. Er hat in seiner Stadt Weißenstein ein Waisenhaus gegründet, hat Feste mit Rheinwein gefeiert und Stegreifreden in Versen gehalten, aber auch Erbauungsstunden, hat allen Armen gegeben – er hieß «der Doktor, der alles wegschenkt» […]. Bis ins hohe Alter hat dieser Mann Lebenskraft, Lebensfreude, Gottvertrauen, Autorität und Liebe ausgestrahlt […].[6]
Auch der schwäbische Großvater Dr. Hermann Gundert, der gleich seinen Vorfahren und anderen Gliedern der Gundert’schen Familie einen sehr achtbaren Rang in der württembergischen Kirchengeschichte einnimmt, war zum Bengel’schen Pietismus bekehrt worden. Nicht ohne schwere innere Krise mag diese Wendung erfolgt sein, denn der hoch begabte junge Theologe, der sich für Goethe begeisterte und der mit sauber geschnittener Gänsekielfeder den Klavierauszug der «Zauberflöte» abschrieb[7], war im Seminar von Maulbronn noch persönlicher Schüler von David Friedrich Strauß gewesen. In dem kleinen Gedächtnisblatt Großväterliches[8] gab der Enkel ein Gedicht dieses Großvaters bekannt, das er 1833 als neunzehnjähriger Student geschrieben hat. Der Kundige erkennt leicht, daß es ein von Hegel und Indien beeinflußter, aber auch mit Hölderlin vertrauter Geist ist, der in dieser Dichtung um Ausdruck ringt. Der Autor dieser begabten Verse hat später keine solchen Gedichte mehr geschrieben. Diese jugendlich-genialischen Verse sind in der aufgewühltesten und gefährdetsten Zeit seines Lebens entstanden, kurz vor der endgültigen «Bekehrung» des Jünglings, die den enthusiastischen Pantheisten zum Entschluß brachte, sein Leben fortan der Heidenmission in Indien zu widmen.[9] 1836 kam er als Missionar an die Malabar-Küste, wurde zu einem Pionier der pietistischen Indien-Mission und verbrachte Jahre und Jahrzehnte in den heißen Ländern des Ostens. Dort lernte er auch seine Frau Julie Dubois kennen, eine asketisch strenge junge Calvinistin aus einem Winzergeschlecht bei Neuchâtel, die zeitlebens Französisch sprach und mit brennendem Eifer missionierte. Nach seiner Rückkehr aus Indien übernahm Gundert die Leitung des Calwer Verlagsvereins. Er redigierte Missionszeitschriften und bearbeitete, kundig zahlreicher europäischer und asiatischer Sprachen, in 35 Jahren das große Lexikon der Malajalam-Sprache, das noch heute zu den grundlegenden Werken indischer Sprachforschung gehört. Der Großvater stak in einem Wald von Geheimnissen, wie sein Gesicht in einem weißen Bartwald stak, aus seinen Augen floß Welttrauer und floß heitere Weisheit, je nachdem, einsames Wissen und göttliche Schelmerei, erzählt Hesse in der Kindheit des Zauberers[10], und an anderer Stelle sagt er: In diesem Großvater, bei dessen Tode ich sechzehnjährig war, habe ich nicht nur einen weisen und unbeschadet seiner großen Gelehrsamkeit sehr menschenkundigen alten Mann kennengelernt, sondern auch einen Nachklang, eine unter Frömmigkeit und Dienst am Reich Gottes etwas verborgene, aber doch sehr lebendig gebliebene Erbschaft von der wunderlich aus materieller Enge und geistiger Großartigkeit gemischten Schwabenwelt, die in den schwäbischen Lateinschulen, in den evangelischen Klosterseminaren und im berühmten Tübinger «Stift» sich gegen zwei Jahrhunderte lang erhalten und immerzu mit wertvoller Tradition bereichert und ausgedehnt hat. Dies ist nicht bloß die Welt der schwäbischen Pfarrhäuser und Schulen, zu der auch Männer von großem Geist und vorbildlicher Seelenzucht wie Bengel, Oetinger, Blumhardt gehört haben, sondern in der auch Hölderlin, Hegel, Mörike großgeworden sind.[11]
Der Calwer Verlagsverein wurde im Jahr 1833 von Dr. Christian Gottlob Barth, Pfarrer in Möttlingen, gegründet, um auf literarischem Gebiet der «Aufklärung» entgegenzuwirken und um gute Bildungs- und Volksschriften zu schaffen. Zu diesem Zweck wurde drei Jahre später, 1836, die Calwer Vereinsbuchhandlung gegründet; sie begann mit Traktaten, Jugendschriften, Missionsblättern; dazu kam die «Calwer Familienbibliothek», die es hundert Jahre später, 1936, auf 72 Bände gebracht hatte.
Bis 1862 war Barth Vorstand und theologischer Leiter der Calwer Vereinsbuchhandlung. Ihm folgte Dr. Hermann Gundert, Missionar und Indologe, der Vater von Friedrich und David Gundert, welche die buchhändlerischen Geschäftsführer waren.
Nach Dr. Gunderts Tod 1893 wurde Johannes Hesse zum Vorstand gewählt. Er hatte dieses Amt bis 1905 inne.
Anders war mein Vater. Er stand allein. – […] abseits stand er, einsam, ein Leidender und Suchender, gelehrt und gütig, ohne Falsch und voll Eifer im Dienst der Wahrheit […]. – Nie verließ ihn die Güte, nie die Klugheit […]. – Mein Vater sprach mit der Mutter nicht in indischen Sprachen, sondern sprach englisch und ein reines, klares, schönes, leise baltisch gefärbtes Deutsch. Diese Sprache war es, mit der er mich anzog und gewann und unterrichtete, ihm strebte ich zuzeiten voll Bewunderung und Eifer nach, allzu eifrig, obwohl ich wußte, daß meine Wurzeln tiefer im Boden der Mutter wuchsen, im Dunkeläugigen und Geheimnisvollen. Meine Mutter war voll Musik, mein Vater nicht, er konnte nicht singen.[12] Schwer erkämpft war einst sein Entschluss, nach dem Besuch der vornehmen, berühmten Ritter- und Domschule zu Reval sich in der geistig so anders gearteten Welt Basels für den Missionsdienst auszubilden. Aber Johannes Hesse unterwarf sich, und so kam auch er nach Indien, studierte Leben und Sprache der Badaga und wurde schon nach kurzer Zeit an das Predigerseminar nach Mangalur berufen. Doch sein zarter Körper hielt dem tropischen Klima nicht stand. Nach kaum dreijähriger Missionstätigkeit musste er 1873 nach Europa zurück und wurde nun Dr. Gundert in Calw als Gehilfe für seine literarischen Arbeiten zugeteilt. Bereits im Herbst 1874 heiratet er dessen Tochter Marie, die seit dem Tode ihres ersten Mannes mit ihren beiden Söhnen Theodor und Karl im Haus des Vaters in Calw lebte. In die so völlig andere, schwäbische Mentalität hat sich Johannes Hesse nie ganz eingelebt, so gut er sich auch mit seiner Frau und mit Hermann Gundert verstand. Er war ein Balte, ein Deutschrusse, und hat bis zu seinem Tode von den Mundarten, die um ihn herum und auch von seiner Frau und seinen Kindern gesprochen wurden, nichts angenommen, sondern sprach in unser Schwäbisch und Schweizerdeutsch hinein sein reines, gepflegtes, schönes Hochdeutsch. Dieses Hochdeutsch, obwohl es für manche Einheimische unser Haus an Vertraulichkeit und Behagen einbüßen ließ, liebten wir sehr und waren stolz darauf, wir liebten es ebenso wie die schlanke, gebrechlich zarte Gestalt, die hohe edle Stirn und den reinen, oft leidenden, aber stets offenen, wahrhaftigen und zu gutem Benehmen und Ritterlichkeit verpflichtenden, an das Bessere im andern appellierenden Blick des Vaters.[13]
Marie Hesse-Gundert war klein und beweglich. Sie besaß das französische Temperament ihrer Mutter. Sechs Kinder gingen aus ihrer zweiten Ehe hervor. Zwei davon verstarben früh. Vierzig Jahre lang hat sie Tagebücher geführt, und diese Aufzeichnungen, von ihrer Tochter in einem Auswahlband veröffentlicht[14], vermitteln ein sehr charakteristisches Bild von der geistig lebendigen, gütigen und glaubensstarken Frau. Die Tagebücher enthalten auch die frühesten Nachrichten über Hermann Hesse, der zwei Jahre nach seiner Schwester Adele als zweites Kind zur Welt kam. «Am Montag, 2. Juli 1877 nach schwerem Tag, schenkt Gott in seiner Gnade abends halb sieben Uhr das heißersehnte Kind, unsern Hermann, ein sehr großes, schweres, schönes Kind, das gleich Hunger hat, die hellen, blauen Augen nach der Helle dreht und den Kopf selbständig dem Licht zuwendet, ein Prachtexemplar von einem gesunden, kräftigen Burschen.»[15]
Meine Geburt geschah in früher Abendstunde an einem warmen Tag im Juli und die Temperatur jener Stunde ist es, welche ich unbewußt mein Leben lang geliebt und gesucht und, wenn sie fehlte, schmerzlich entbehrt habe.[16]
Die elterliche und die großelterliche Welt, in die der Junge hineinwuchs, atmete Enge und Weite zugleich. Sehr einfach waren die äußeren Verhältnisse. Mit Pfennigen musste gerechnet werden, auch wenn man den materiellen Dingen wenig Wert beimaß und bedürfnislos zu leben verstand. Im Rückblick hat sich dem Hesse der späten Jahre die Welt der Kindheit, die neben ihren Sicherheiten auch ihre großen Fragwürdigkeiten hatte, verklärt. Die gütige Weisheit des Großvaters, die unerschöpfliche Phantasie und Liebeskraft unsrer Mutter und die verfeinerte Leidensfähigkeit und das empfindliche Gewissen unsres Vaters, sie haben uns erzogen[17], schrieb er 1946 an die Schwester Adele, und an anderer Stelle heißt es: Viele Welten kreuzten ihre Strahlen in diesem [dem elterlichen] Hause. Hier wurde gebetet und in der Bibel gelesen, hier wurde studiert und indische Philologie getrieben, hier wurde viel gute Musik gemacht, hier wußte man von Buddha und Lao Tse, Gäste kamen aus vielen Ländern, den Hauch von Fremde und Ausland an den Kleidern, mit absonderlichen Koffern aus Leder und aus Bastgeflecht und dem Klang fremder Sprachen, Arme wurden hier gespeist und Feste gefeiert, Wissenschaft und Märchen wohnten nah beisammen.[18] – Es war eine Welt mit ausgesprochen deutscher und protestantischer Prägung, aber mit Ausblicken und Beziehungen über die ganze Erde hin und es war eine ganze, in sich einige, heile, gesunde Welt […]. Diese Welt war reich und mannigfaltig, aber sie war geordnet, sie war genau zentriert und sie gehörte uns, wie uns Luft und Sonnenschein, Regen und Wind gehörten.[19]
Im Frühjahr 1881 wurde Johannes Hesse als Herausgeber des Missionsmagazins nach Basel berufen. Auch sollte er im Missionshaus deutschen Sprach- und Literaturunterricht geben. Heimat war mir Schwaben und war mir Basel am Rheine, schreibt Hesse später und berichtet in seinen kurzen Basler Erinnerungen: Von 1881 bis 1886 lebten wir dann in Basel und wohnten am Müllerweg, dem Spalenringweg gegenüber, zwischen beiden lief damals die Elsässer Bahnlinie hindurch.[20] – Das Land begann schon ganz in der Nähe unsres Hauses, ein Bauernhof, gegen Allschwil hin gelegen, und eine Kiesgrube in seiner Nähe bot Gelegenheit zu ländlichen Spielen. Und die große, für mich Kleinen endlos große Schützenmatte, damals unbebaut vom Schützenhaus bis zum «Neubad» hinaus, war mein Schmetterlings-Jagdgebiet und der Schauplatz unsrer Indianerspiele.[21]
Im Hermann Lauscher, in dem Kapitel Meine Kindheit, und dann in der Geschichte Der Bettler hat Hesse diese Basler Jahre eindringlich und mit Liebe geschildert und erzählt von Spielen und dem ersten Schulbesuch im Knabenhaus der Mission, von den Gängen zum Münster, von Kinderängsten und ersten Konflikten mit der elterlichen Autorität. Besonders dankbar erinnert er sich der mütterlichen Erzählkunst. Woher haben die Mütter diese gewaltige und heitere Kunst, diese Bildnerseele, diesen unermüdlichen Zauberborn der Lippen? Ich sehe dich noch, meine Mutter, mit dem schönen Haupt zu mir geneigt, schlank, schmiegsam und geduldig, mit den unvergleichlichen Braunaugen![22]
Der junge Hesse war ein phantasiereiches Kind, voll Energie und Temperament, und die differenzierte geistig-seelische Erbschaft, die ihm von Eltern und Ahnen mitgegeben war, machte sich früh bemerkbar. «[…] der Bursche hat ein Leben, eine Riesenstärke, einen mächtigen Willen und wirklich auch eine Art ganz erstaunlichen Verstand für seine vier Jahre. Wo will’s hinaus? Es zehrt mir ordentlich am Leben dieses innere Kämpfen gegen seinen hohen Tyrannengeist, sein leidenschaftliches Stürmen und Drängen»[23], schreibt die Mutter und notiert sich in ihrem Tagebuch am 27. März 1882: «Hermännle hatte morgens heimlich die Schule geschwänzt, wofür ich ihn ins Gastzimmer einsperrte. Er sagte nachher: ‹Das hilft Euch nicht viel, wenn Ihr mich dahin thut, ich kann da zum Fenster hinaussehn u. mich unterhalten›. Neulich sang er Abends im Bett lang eigene Melodie u. eigene Dichtung und als Dadi hineinkam sagte er: ‹Gelt, ich singe so schön wie die Sirenen und bin auch so bös wie sie?›»[24] In einem Brief von Johannes Hesse vom 14. November 1883 lesen wir: «Hermann, der im Knabenhaus fast für ein Tugendmuster gilt, ist zuweilen kaum zu haben. So demütigend es für uns wäre, ich besinne mich doch ernstlich, ob wir ihn nicht in eine Anstalt oder in ein fremdes Haus geben sollten. Wir sind zu nervös, zu schwach für ihn, das ganze Hauswesen nicht genug diszipliniert und regelmäßig. Gaben hat er scheint’s zu allem: er beobachtet den Mond und die Wolken, phantasiert lang auf dem Harmonium, malt mit Bleistift oder Feder ganz wunderbare Zeichnungen, singt wenn er will ganz ordentlich und an Reimen fehlt es ihm nie.»[25]
1886 trat Johannes Hesse wieder in die Dienste des Calwer Verlagsvereins, dessen Leitung er als Nachfolger Hermann Gunderts später übernehmen sollte. Die Familie kehrte daher im Juli nach Calw zurück, wohnte zunächst wieder zusammen mit dem inzwischen verwitweten Großvater in dem alten, am Bergabhang gelegenen Haus des Verlagsvereins, vertauschte jedoch drei Jahre später die feuchte und ungesunde Wohnung mit einem sonnigen und behaglichen Haus in der Ledergasse. Hesse besuchte nun die Lateinschule des Städtchens, bis er 1890 zur Vorbereitung für das Landexamen an das Gymnasium Göppingen gebracht wurde. In diesen vier Jahren, dem neunten bis dreizehnten seines Lebens, ist Calw für ihn zu der Stadt geworden, die in so vielen seiner Dichtungen als Gerbersau verklärt wiederkehrt, zur schönsten Stadt zwischen Bremen und Neapel, zwischen Wien und Singapore[26].
Ich wußte Bescheid in unsrer Vaterstadt, in den Hühnerhöfen und in den Wäldern, in den Obstgärten und in den Werkstätten der Handwerker, ich kannte die Bäume, Vögel und Schmetterlinge, konnte Lieder singen und durch die Zähne pfeifen, und sonst noch manches, was fürs Leben von Wert ist.[27] – Wenn ich jetzt, schreibt er 1918, wieder eine Viertelstunde auf der Brückenbrüstung sitze, über die ich als Knabe tausendmal meine Angelschnur hinabhängen hatte, dann fühle ich tief und mit einer wunderlichen Ergriffenheit, wie schön und merkwürdig dies Erlebnis für mich war: einmal eine Heimat gehabt zu haben! Einmal an einem kleinen Ort der Erde alle Häuser und ihre Fenster und alle Leute dahinter gekannt zu haben! Einmal an einen bestimmten Ort dieser Erde gebunden gewesen zu sein, wie der Baum mit Wurzeln und Leben an seinen Ort gebunden ist.[28]
Je mehr das Alter mich einspinnt, je unwahrscheinlicher es wird, daß ich die Heimat der Kinder- und Jünglingsjahre noch einmal wiedersehe, desto fester bewahren die Bilder, die ich von Calw und von Schwaben in mir trage, ihre Gültigkeit und Frische. Wenn ich als Dichter vom Wald oder vom Fluß, vom Wiesental, vom Kastanienschatten oder Tannenduft spreche, so ist es der Wald um Calw, ist es die Calwer Nagold, sind es die Tannenwälder und die Kastanien von Calw, die gemeint sind, und auch Marktplatz, Brücke und Kapelle, Bischofstraße und Ledergasse, Brühl und Hirsauer Wiesenweg sind überall in meinen Büchern, auch in denen, die nicht ausdrücklich sich schwäbisch geben, wiederzuerkennen, denn alle diese Bilder, und hundert andre, haben einst dem Knaben als Urbilder Hilfe geleistet, und nicht irgendeinem Begriff von «Vaterland», sondern eben diesen Bildern bin ich zeitlebens treu und dankbar geblieben, sie haben mich und mein Weltbild formen helfen, und sie leuchten mir heute noch inniger und schöner als je in der Jugendzeit.[29]
Aus dem Geleitwort zu «Gerbersau», einer Sammlung der Erzählungen und Geschichten, die in Calw und in Schwaben spielen
Weniger glücklich sind die Erinnerungen an die Schulerlebnisse dieser Zeit. In den acht Jahren, welche ich in den niederen Schulen zubrachte, fand ich nur einen einzigen Lehrer, den ich liebte und dem ich dankbar sein kann.[30] Alle anderen Lehrer waren gefürchtet und gehasst, wurden belächelt oder verachtet. Die Schule galt als eine feindliche Macht, gegen die anzukämpfen jedes Mittel recht und billig war. Bei jenem Herrn Schmid aber, der Hesse gegen Ende der Calwer Schulzeit in die Anfangsgründe der griechischen Sprache einwies, erlebte er neben der Furcht die Ehrfurcht und erfuhr, daß man einen Menschen lieben und verehren kann, auch wenn man ihn gerade zum Gegner hat.[31] Er verliebte sich in das Griechische und war insgeheim stolz, die Sprache lernen zu dürfen, welche man nicht lernte um Geld zu verdienen oder um die Welt reisen zu können, sondern nur um mit Sokrates, Plato und Homer bekannt zu werden.[32]
Bereits zu jener Zeit füllten Verse, Gedichte und Geschichten so manches Schulheft. Das Reimen, ob in deutscher oder lateinischer Sprache, fiel dem jungen Hesse leicht, und in seinem Kurzgefassten Lebenslauf erklärt er: Von meinem dreizehnten Jahr an war mir das eine klar, daß ich entweder ein Dichter oder gar nichts werden wolle.[33] Jahrzehnte später, bei einem Gang durch das nächtliche Tuttlingen, erinnerte er sich des Augenblicks, der ihn vielleicht zum Dichter werden ließ. Dies war so: in unserm Schullesebuch, das wir als zwölfjährige Lateinschüler hatten, standen die üblichen Gedichte und Geschichten, die Anekdoten von Friedrich dem Großen und Eberhard im Barte, und alles las ich gern, aber mitten zwischen diesen Sachen stand etwas anderes, etwas Wunderbares, ganz und gar Verzaubertes, das Schönste, was mir je im Leben begegnet war. Es war ein Gedicht von Hölderlin, das Fragment «Die Nacht». Oh, diese wenigen Verse, wie oft habe ich sie damals gelesen, und wie wunderbar und heimlich Glut und auch Bangigkeit weckend war dies Gefühl: das ist Dichtung! Das ist ein Dichter! Wie klang da, für mein Ohr zum erstenmal, die Sprache meiner Mutter und meines Vaters so tief, so heilig, so gewaltig, wie schlug aus diesen unglaublichen Versen, die für mich Knaben ohne eigentlichen Inhalt waren, die Magie des Sehertums, das Geheimnis der Dichtung mir entgegen!
– die Nacht kommt,
Voll mit Sternen, und wohl wenig bekümmert um uns
Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen,
Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf.
Nie mehr, so viel und so begeistert ich auch als Jüngling las, haben Dichterworte mich so völlig bezaubert, wie diese damals den Knaben.[34]
Am 1. Februar 1890 brachte Marie Hesse ihren Sohn nach Göppingen. Es geschah dies zum Teil aus erzieherischen Gründen, denn ich war damals ein schwieriger und sehr unartiger Sohn geworden, und die Eltern wurden nicht mehr fertig mit mir. Außerdem aber war es notwendig, daß ich möglichst gut auf das «Landexamen» vorbereitet werde. Diese staatliche Prüfung, die jedes Jahr im Sommer für das ganze Land Württemberg stattfand, war sehr wichtig, denn wer sie bestand, der bekam eine Freistelle in einem der theologischen «Seminare», und konnte als Stipendiat studieren. Diese Laufbahn war auch für mich vorgesehen. Nun gab es einige Schulen im Lande, an denen die Vorbereitung auf diese Prüfung ganz speziell betrieben wurde, und auf eine von diesen Schulen wurde ich also geschickt. Es war die Lateinschule in Göppingen, wo seit Jahren der alte Rektor Bauer als Einpauker fürs Landexamen wirkte, im ganzen Lande berühmt und Jahr für Jahr von einem Rudel strebsamer Schüler umgeben, die ihm aus allen Landesteilen zugesandt wurden.[35]
Bis zum Sommer 1891 gehörte Hermann Hesse zu den Göppinger Landexamenskandidaten. Er wohnte bei einer strengen Pensionsmutter und fand wenig Gefallen an der etwas nüchternen Industriestadt. Fruchtbar und auch menschlich wichtig wurde der Unterricht bei dem alten Rektor Bauer. Mit Anhänglichkeit und Verehrung erinnert er sich seiner noch nach Jahrzehnten. [36]