Die Neugestaltung Europas 1814/15
Verlag C.H.Beck
Der Wiener Kongress von 1814/15 gilt als die bedeutendste europäische Friedensordnung des 19. Jahrhunderts. Er ordnet die Hinterlassenschaften der Französischen Revolution und der Kriege Napoleons auf dem Kontinent, justiert das Kräfteverhältnis zwischen den Mächten neu und schafft die Voraussetzungen für eine längerfristige Friedensordnung. Heinz Duchhardt, als Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zur «Sattelzeit» einer der besten Kenner des Themas, stellt dieses gewaltige diplomatische Ereignis auf die historische Bühne, porträtiert die großen Darsteller wie Metternich oder Talleyrand, referiert die wichtigsten Verhandlungen und Ergebnisse und bettet den Kongress schließlich ein in eine bestechend klare Analyse des ganzen Zeitalters.
Heinz Duchhardt ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte und war von 1994 bis 2011 Direktor der Abteilung für Universalgeschichte des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. 2007 erschien seine große Stein-Biographie. Zuletzt erschien von ihm in der Reihe «Wissen» der Band «Freiherr vom Stein. Preußens Reformer und seine Zeit» (bsr 2487, 2010).
Vorwort
Einleitung
Das Vor- und das Nachspiel
Akteure und Aktricen
Gesellschaftsspiele
Spielregeln
Spiele mit dem Feuer
Finale furioso
Auswahlbibliographie
Personen- und Sachregister
Der Staatlichen Universität Smolensk zugeeignet
Πoсвящëн Cмолeнсκомy Yнивepситeтy
Mit dem vorliegenden Bändchen kehre ich gewissermaßen zu meinen wissenschaftlichen Anfängen, zugleich aber zu einer Thematik zurück, die sich wie ein roter Faden durch mein wissenschaftliches Leben zieht. Als mein zweites Buch habe ich 1976 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft ein Bändchen Gleichgewicht der Kräfte, Convenance, Europäisches Konzert veröffentlicht, in dem, dem Charakter der Reihe Erträge der Forschung entsprechend, die Strukturen frühneuzeitlicher Friedenskongresse und Friedensschlüsse skizziert und jeweils mit ausführlichen Forschungsberichten verknüpft wurden. Etwa die Hälfte dieses Büchleins war dem Wiener Kongress gewidmet, auf den ich auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten – unter anderem auch im Zusammenhang mit meinen Studien zum Freiherrn vom Stein – immer wieder zurückgekommen bin. Wenn man so will, schließt sich mit dieser Publikation ein Kreis, der annähernd 40 Jahre umgreift.
Einer kleinen Konferenz in meinem (früheren) Mainzer Institut zur Kirchenpolitik auf dem Wiener Kongress im März 2012 verdanke ich manche Anregungen, ebenso dem Austausch mit einer Reihe von Kollegen, von denen ich Wolfram Siemann hier namentlich erwähnen will. Die redaktionelle Betreuung beim Verlag lag in den Händen von Detlef Felken, dem mein herzlicher Dank gilt.
Ich widme dieses Bändchen zu einem europäischen Ereignis, das maßgeblich von Russland mit gestaltet wurde, der Staatlichen Universität Smolensk, die mir die Ehre erwies, mich als ersten Wissenschaftler überhaupt mit ihrer Ehrendoktorwürde auszuzeichnen.
Mainz, Spätsommer 2012 |
Heinz Duchhardt |
Als die britischen Politiker und Diplomaten 1919 damit begannen, sich auf die Pariser Friedenskonferenzen vorzubereiten, wurde eine Reihe von Fachleuten von der Historical Section des Foreign Office gebeten, Handbücher zu Ländern oder Gegenständen zu verfassen, über die in den Pariser Vororten diskutiert werden würde. Unter diesen Auftragswerken fällt eines ganz besonders auf: eine Geschichte des Wiener Kongresses 1814/15 aus der Feder des Liverpooler Professors für Neuere Geschichte, Charles Webster. Der Cambridge-Absolvent gehörte seit 1917 dem General Staff des War Office an und wurde dann als Sekretär der Militärabteilung Mitglied der britischen Friedensdelegation. Nachdem ihn später seine akademische Karriere fast um die ganze Welt geführt hatte, wiederholte sich das Muster des Ersten Weltkriegs im Zweiten: Webster wurde erneut für das Foreign Office tätig und war Mitglied der britischen Delegationen zu den Konferenzen in Dumbarton Oaks und in San Francisco, die an der Wiege der Vereinten Nationen standen. Er wurde dann auch zu deren erster Generalversammlung delegiert. Webster nahm darüber hinaus, sicher betroffen darüber, dass die 1919 gefundene Friedensordnung längst nicht die Dauerhaftigkeit derjenigen von 1815 gewonnen hatte, und daher auch mit einem Gefühl von Bitterkeit und Erwartungshaltung, als britischer Delegierter an der letzten Sitzung des Völkerbunds im April 1946 teil.
Es ist nicht nur das Faszinosum des Wechselspiels von Wissenschaft und Politik, das Websters Karriere so reizvoll macht, sondern in unserem Kontext auch das oben genannte Buch The Congress of Vienna, 1814/15. Es entstand dem Vorwort zufolge in der unglaublich kurzen Zeit von elf Wochen, zwischen Mai und August 1919, und sollte der Unterrichtung von Diplomaten und Politikern dienen, die offenbar zusammen mit dem Historiker im Wiener Kongress ein volles das Präzedenzbeispiel sahen für das, was vor ihnen lag – «the only assembly which can furnish even a shadowy precedent for the great task that lies before the statesmen and peoples of the world» (S. III). Aus der Geschichte lernen? Ein ähnliches Konstrukt auf die Beine stellen wollen, das sich im 19. Jahrhundert als so tragfähig und nachhaltig erwiesen hatte?
Diese offenkundige Hochschätzung der Leistung der Monarchen, Staatsmänner und Diplomaten von 1814/15 – die Webster im Übrigen dann auch noch bewog, seiner Synthese eine Quellensammlung folgen zu lassen (1921) und einer der Schlüsselfiguren von Wien, dem britischen Außenminister Lord Castlereagh, eine große zweibändige Biographie zu widmen (1925/31) – lässt sich mit leichten Abstrichen das ganze 19. Jahrhundert hindurch verfolgen. Zwar blieben die großen, auf aktenmäßiger Grundlage ruhenden Darstellungen – neben der von Johann Ludwig Klüber, einem Kongressteilnehmer und Herausgeber eines (nach wie vor unverzichtbaren) Aktenwerkes (Uebersicht der diplomatischen Verhandlungen des wiener Congresses […], Erlangen 1816) und von Gaëtan de Raxis de Flassan (Histoire du congrès de Vienne, Paris 1829), ebenfalls ein Augenzeuge und offizieller Historiograph des französischen Außenministeriums – zunächst noch rar. Goethes Prognose jedoch, die durchaus einem Verdikt nahekam, der Kongress eigne sich nicht zum Nacherzählen, weil er keinen Gehalt gehabt habe, erfüllte sich nicht. Selbst der erste Biograph des Freiherrn vom Stein, der auf dem Kongress über eine Nebenrolle nicht hinausgekommen war, Georg Heinrich Pertz, bescheinigte im Nachgang zu den revolutionären Ereignissen von 1848/49 den Architekten der Wiener Friedensordnung eine «weise und große Politik» und bei aller Unvollkommenheit im Einzelnen die «einzige gesunde und dauernde Grundlage des europäischen Lebens» gelegt zu haben.
Die Abstriche bei der positiven Einschätzung des Kongresses bezogen sich auf einen – freilich kardinalen – Punkt der Wiener Friedensordnung in ihrem umfassenderen Verständnis, nämlich das von den Großmächten reklamierte Interventionsrecht, das von vielen Staats- und Völkerrechtlern des 19. Jahrhunderts, etwa Johann Caspar Bluntschli, entweder offen kritisiert oder aber bezeichnend «beschwiegen» wurde. Vor der Folie der liberalen Tendenzen der Zeit und der offensichtlichen Neigung von Autoren, alle Arten von Bevormundungen – von Individuen, von Gesellschaften, aber auch von Staaten – ins moralische Abseits zu stellen, konnte man mit dem Anspruch der Großmächte, bei «Gefahr im Verzug» dritte Gemeinwesen zu kujonieren, nichts mehr anfangen. Aber es gab daneben immer auch wenigstens subtile Kritik daran, dass die Kongressväter sich bei den überfälligen gesellschaftlichen Reformen nicht so durchgesetzt hätten, wie es angebracht gewesen wäre – von einem deutlichen Zuwachs an Freiheit und Partizipation des Einzelnen, einem Abbau von Diskriminierungen, einer konstitutionellen Weiterentwicklung, was die «öffentliche Meinung» vielerorts erwartet hatte, konnte wenigstens flächendeckend ja noch keine Rede sein.
Wenn im 19. Jahrhundert die Gesamtdarstellungen auf Aktenbasis wenigstens auf breiter Front noch ausblieben, so sollte sich das im 20. Jahrhundert dann nachhaltig ändern. Websters Darstellung, die der Autor seinerzeit noch glaubte durch eine ausführlichere ersetzen zu sollen, zu der es aber nicht kam, steht am Beginn einer stattlichen Reihe von Gesamtdarstellungen, von denen die von Karl Griewank (Leipzig 1942), von Harold Nicolson (London 1946), von Henry A. Kissinger (London 1957, deutsch 1962) und die aus der Perspektive Metternichs geschriebene von Enno E. Kraehe (Princeton 1983) hier Erwähnung finden sollen – Nicolson und Kissinger im Übrigen wie Webster Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Politik. Auch an spezielleren Darstellungen, etwa zur Politik der mindermächtigen deutschen Stände in Wien (Michael Hundt, Mainz 1996), zur Politik Russlands in Wien (Ulrike Eich, Köln 1986), zur Behandlung der Judenfrage in Wien (Salo Baron, Wien/Berlin 1920) und zur völkerrechtlichen Bedeutung des Wiener Kongresses (Robert Rie, Bonn 1957) – um nur einige wenige Themenkomplexe herauszugreifen –, fehlt es nicht. Ebenso wenig herrscht an großen Gesamtdarstellungen Mangel, die einen längeren Zeitabschnitt behandeln, aber den Wiener Kongress prominent berücksichtigen – sozusagen von Heinrich von Treitschke bis Paul W. Schroeder und Michael Erbe. Und erst recht liegt über die Akteure und Friedensarchitekten von 1814/15 ein reiches Schrifttum vor, ob man an Metternich oder Hardenberg denkt, an Castlereagh oder Graf Münster, den Freiherrn vom Stein oder Talleyrand oder die vielen Monarchen, die den Kongress besuchten.
Das alles wird aber übertroffen von der geradezu abundanten zeitgenössischen Literatur, den Flugschriften, Memoiren und «Denkwürdigkeiten», Tagebüchern, Briefwechseln der Beteiligten oder relativ Unbeteiligten, die den Wiener Kongress zu dem am besten erhellten Ereignis dieser Art in der gesamten neueren Geschichte machen. Diese Quellen betreffen nicht nur die Verhandlungen im engeren Sinn, sondern in viel stärkerem Maß noch die «Begleitmusik», die Hintergründe, die vielen Feste, die dem Kongress zu jenem Bild in der Öffentlichkeit verhalfen, das sprichwörtlich geworden ist: Er habe nicht gearbeitet, sondern getanzt. Gewiss hatten auch frühere Friedenskongresse schon Schriften von Augenzeugen zu dem provoziert, was der Kongressbeobachter Comte de La Garde in seiner «chronique scandaleuse» Gemälde des Wiener Kongresses 1814–1815 beschrieb und später dann August Fournier mit seiner Wiedergabe von Geheimdokumenten vom Wiener Kongress (1913) und Maurice-Henri Weil im Ersten Weltkrieg in den auf den Spitzelberichten der Wiener Polizeibehörden beruhenden Titel Les Dessous du Congrès de Vienne (Paris 1917) packten; zum Utrechter Kongress ein Jahrhundert vor dem Wiener hatte der Vielschreiber Casimir Freschot zum Beispiel ein Buch Histoire amoureuse et badine du congrès et de la ville d’Utrecht verfasst, das rasch auch ins Deutsche übersetzt wurde, also offenbar – vor allem wohl wegen des Nachweises der Verstrickung des diplomatischen Corps in das kommunale «Rotlichtmilieu» – ein Publikumserfolg war. Aber die entsprechenden Quellen zu den gesellschaftlichen, intriganten, nichtpolitischen, zwischenmenschlichen, amourösen Begleiterscheinungen des Wiener Kongresses stellen doch alles bisher Dagewesene bei Weitem in den Schatten. Dabei sollen die vielen – oft kolorierten – satirischen Kupferstiche meist französischer oder englischer Provenienz, die in dem Katalog der Wiener Jubiläumsausstellung 1965 reich dokumentiert worden sind, gar nicht weiter gewichtet werden, weil sie längst nicht immer den Weg bis zu den Wiener Straßen fanden. Insofern kann es in einer rezeptionsgeschichtlichen Perspektive auch gar nicht überraschen, dass der Wiener Kongress immer wieder als Folie für nichtwissenschaftliche Umsetzungen, Filme beispielsweise oder musikalische Werke, wenigstens in Erwägung gezogen wurde – sogar Richard Strauss ging mit dem Gedanken um, den Wiener Kongress zum Gegenstand einer Oper zu machen.
Dahinter sollen die Editionen der diplomatischen Akten und Ergebnisse des Kongresses selbstredend nicht zurückstehen. Unmittelbar nach Abschluss des Wiener Kongresses publizierte der badische Staats- und Kabinettsrat Dr. Johann Ludwig Klüber, der schon eine aufregende Karriere – unter anderem auch als Erlanger Professor und bis kurz zuvor als Anhänger Napoleons – hinter sich hatte und sich in den zurückliegenden Jahren mit vielen Studien und Editionen etwa zum Staatsrecht des Rheinbunds zu Wort gemeldet hatte, eine in Heftform erschienene und dann zu neun Bänden zusammengebundene Edition der Acten des Wiener Congresses in den Jahren 1814 und 1815, die bis heute die Grundlage jeder aktenmäßigen Beschäftigung mit dem Wiener Kongress bildet. Sie sollte im Übrigen nicht dem Schicksal entgehen, noch während ihres Erscheinens in sechs von Frédéric Schoell verantworteten Bänden unautorisiert, freilich in einer streng chronologischen Anordnung, nachgedruckt zu werden (Congrès de Vienne. Recueil des pièces officielles […], 1816–1818), was, nebenbei bemerkt, Klüber in seinem siebten Band und im achten zu einer Reihe sehr kritischer und süffisanter Anmerkungen bewog. Klüber hatte als beurlaubter Beamter seines Hofs den ganzen Kongress über in Wien geweilt, sein Editionsvorhaben war jedoch ein reines «Privatunternehmen», wie er im Nachwort unterstrich, das auch darunter litt, dass keineswegs alle Funktionsträger, die ihm Akten zugesagt hatten, auch Wort gehalten hätten. Die Lücken sind jedenfalls evident und notorisch. Zu einem Unternehmen, das etwa den Acta Pacis Westphalicae vergleichbar wäre und umfassend die Protokolle der Komitees, die Korrespondenzen führender (oder auch nachrangiger) Gesandter, die Memoranden oder auch bisher nicht edierte Tagebücher herausgegeben hätte, ist es freilich leider nie gekommen. Hier harrt der Geschichtsforschung eigentlich noch eine große Aufgabe, umso mehr als es sich um ein dezidiert «europäisches» Unternehmen handeln würde. Eine knappe, von Klaus Müller besorgte Auswahledition wichtiger Dokumente in der Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe kann dieses Defizit selbstredend nicht beheben, ebenso wenig ein Quellenbändchen von Hans-Dieter Dyroff. Dieses Defizit wird auch nicht ausgeglichen durch die recht zahlreichen modernen Editionen von Briefwechseln und Tagebüchern von teilnehmenden Ministern, ob man beispielsweise an den Freiherrn vom Stein oder Karl August von Hardenberg denkt. Zum Entstehen und der Konzeption des Deutschen Bundes liegt immerhin seit Neuestem ebenso eine wichtige, von Eckhardt Treichel besorgte Edition vor wie zur Politik der mindermächtigen deutschen Staaten in Wien, die von Michael Hundt herausgegeben wurde.
Spart man die Akteneditionen im engeren Sinn einmal aus, von denen die Bände 1–3 der British and Foreign State Papers (1838–1841) oder Georg Friedrich Martens’ zweiter Band seines Nouveau Recueil des Traités (1818) und vor allem die über Wien hinausreichende und zahlreiche Staatskanzleien europäischer Mächte ausschöpfende Aktenreihe des unter dem Pseudonym Comte d’Angeberg publizierenden polnischen Historikers und Politikers Leonard Borejko Chodzko (Le congrès de Vienne et les traités de 1815, 2 Bde., 1863) noch eigens erwähnt werden sollen, kann die Quellenlage zur politischen Seite des Kongresses trotzdem als sehr gut bezeichnet werden. Das kann aber auch nicht wirklich überraschen. Noch nie zuvor in der europäischen Geschichte war ein Kongress dieser Dimension zusammengetreten: mit Kaisern, Königen und Fürsten in beeindruckender Fülle, denen ihre säkulare und wegweisende Aufgabe voll bewusst war, die nach Jahren kriegerischer Anspannung aber immer auch ihre Erleichterung und ihre neu gewonnene Lebenslust auszukosten gedachten, mit Staatsmännern und Diplomaten, die – viele von ihnen Pfauen – einander auszustechen suchten und die für unterschiedliche politische Konzeptionen standen, mit zahlreichen Interessenvertretern von Kleinstaaten, sozialen Gruppen und Organisationen, die für die Berücksichtigung ihrer spezifischen Belange kämpften und vor allem auf eins angewiesen waren: an Informationen zu kommen, mit den Journalisten, die seriös zu arbeiten verstanden oder es auch ein wenig unseriös versuchten, den Ehefrauen und Töchtern vieler Teilnehmer, denen der Winter 1814/15 sehr lang zu werden drohte, den zahlreichen Künstlern, Händlern, Handwerkern, Freudenmädchen, die ein solches Ereignis anziehen musste wie das Licht die Motten und die darauf hofften, in irgendeiner Weise von ihm zu profitieren. Dabei soll von den Tausenden von Dienstpersonen aus der näheren und weiteren Umgebung der Kaiserstadt, den Stallburschen, Lakaien und dem Küchenpersonal, den Schreibkräften, den Glücksrittern und Scharlatanen gar nicht weiter die Rede sein. Die Herausgeberin eines wohlfeilen Büchleins Der Wiener Kongress in Augenzeugenberichten hatte deshalb auch überhaupt keine Schwierigkeiten, ein umfängliches einschlägiges Material zusammenzutragen, das den Kongress im wahrsten Sinn des Wortes illustriert. Wohl kaum jemals in der europäischen Geschichte hat eine Stadt ein vergleichbar quirliges und aufregendes Dreivierteljahr erlebt!
Phänomenologisch unterscheidet den Wiener Kongress von vorausgehenden Kongressen, die immer der Beendigung eines multilateralen Krieges gedient hatten – hier war es anders –, indes vor allem die Federführung durch die leitenden Staatsmänner der jeweiligen Gemeinwesen, deren Tätigkeit durch die gleichzeitige Anwesenheit etlicher gekrönter Häupter manchmal erleichtert, manchmal aber auch eher erschwert wurde. Von den Versammlungen subalterner Diplomaten, die in jeder Hinsicht auf die Weisungen ihrer weit entfernten Regierungen angewiesen waren – also das «Modell» des Westfälischen Friedens beispielsweise –, unterscheidet sich der Wiener Kongress somit grundlegend. Er produzierte zwar kaum weniger Papier als frühere Kongresse, aber trotzdem bleibt wegen des veränderten Stellenwerts der Mündlichkeit doch diese und jene Facette des Kongressgeschehens im Dunkeln.
Es ist davon auszugehen, dass das bevorstehende Jubiläum des Wiener Kongresses die Quellenbasis noch einmal verbreitern wird. Nachdem im Vorfeld des Zentenars des Wiener Kongresses in auffälliger Dichte quellenbasierte Darstellungen (Fournier) und Editionen (Eynard, deutsche Ausgabe La Garde) erschienen waren, offenbar trotz einer gegenüber heute deutlich weniger ausgeprägten Begeisterung von Wissenschaft und Öffentlichkeit für die runden Jahreszahlen also einige Jubiläumsaktivitäten geplant waren, die dann der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zunichtemachte, und nachdem es 1965 über eine (gut dokumentierte) Ausstellung in Wien nicht wesentlich hinausgekommen war, werden sich «Europa» und das Gastland die Chance, ein Ereignis und sein Schlussdokument zu feiern, in dem eins der Grunddokumente der Moderne gesehen werden kann, mit Sicherheit nicht entgehen lassen.
Bei der Gliederung des Stoffs wurde auf Begriffe des Theaters, des Dramas und des Theaterspielens zurückgegriffen. Spätestens seit Wicqueforts Klassiker L’Ambassadeur et ses fonctions (1680/81) zählt es zu den Gemeinplätzen des allgemeinen Bewusstseins und der modernen Forschung, dass das Kerngeschäft eines (vormodernen) Diplomaten darin besteht, auf einer Bühne vor einer höfischen Kulisse eine Rolle zu spielen. Und da die Metapher des Theaterspielens ohne jegliche Mühe und mit noch mehr Berechtigung auch auf die in Wien anwesenden Souveräne und ihre Entourage appliziert werden kann und «Wien» zudem eine Kulisse bot, die ihresgleichen suchte, hat sich eine auf das Spielerische abhebende Darstellungsweise geradezu aufgedrängt.
Der Wiener Kongress war ein Zufallsprodukt. Eigentlich hatten die in der Anti-Napoleon-Koalition vereinten Monarchen – Russlands (Zar Alexander I.), Österreichs (Kaiser Franz I.) und Preußens (König Friedrich Wilhelm III.) – geplant, die Neuordnung Europas nach dem militärischen und politischen Sturz Bonapartes gleich in Paris, also in der Hauptstadt des besiegten Frankreich, wo sich alle eingefunden hatten, zu regeln. Denn (schnell) zu regeln gab es genug: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation hatte 1806 mit der Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. (seit 1804 als Franz I. erster österreichischer Kaiser) aufgehört zu existieren – wie sollte es mit der seit jeher für die Befindlichkeit des alten Kontinents problematischen Mitte Europas weitergehen? Wie war mit den Verbündeten Bonapartes und mit den sog. Napoleonidenstaaten zu verfahren, denen in Deutschland und denen in Italien? Wie sollte sich die Zukunft der anderen Bestandteile des französischen «Empire» gestalten, etwa der Eidgenossenschaft oder der Niederlande, deren Schicksal in London als essentiell für die eigene Sicherheit eingestuft wurde und wo sich schon im Dezember 1813 ein Oranier zum «souveränen Fürsten» ausgerufen hatte? Wie sollte es mit Polen weitergehen, das in der Revolutionszeit durch die verschiedenen Teilungen der Anrainer als selbständiges Staatswesen von der Landkarte verschwunden war? Wie konnte garantiert werden, dass in Frankreich der «Spuk» des napoleonischen Systems definitiv beendet war und keine Wiederauferstehung feierte? Wie waren die riesigen Kunstraube Napoleons zu behandeln, die Gemälde, Plastiken und Artefakte jedweder anderen Art aus ganz Europa in Paris zusammengeführt hatten? Wie konnte eine europäische Ordnung aussehen, die eine Gewähr dafür bot, dass nach einem Vierteljahrhundert revolutionärer Umtriebe wieder ein gewisses Maß an Stabilität Einzug hielt? Die Agenda, die auf die Monarchen und ihre Minister wartete, war gewaltig. Und dabei soll ganz unbeachtet bleiben, dass auch außerhalb Europas Handlungsbedarf bestand, denn die Konflikte Großbritanniens mit Frankreich waren ja zugleich immer auch Hegemonialkriege um die Vorherrschaft jenseits der Meere gewesen – die Frage allerdings war, ob Whitehall damit einverstanden sein würde, diese Probleme auf einem europäischen Forum zu verhandeln, und ob wirklich ein Interesse bestand, die anstehenden europäischen Lösungen damit zu belasten.
Zudem hatte sich bereits während des «Befreiungskriegs» abgezeichnet, dass die grundsätzlichen Positionen der Mächte erheblich differierten – in jenem mit einem besonderen Begriff «geadelten» Krieg, dem sich, nachdem Preußen und Russland mit dem Bündnis von Kalisch (März 1813) gewissermaßen das Startsignal gegeben hatten, Österreich eher zögernd angeschlossen hatte und in dem Großbritannien, noch bis zum Hochsommer 1813 durch Wellington in Spanien engagiert, militärisch keine Rolle spielte. Es hatte schon erhebliche Überzeugungskraft – etwa Steins oder Ernst Moritz Arndts – gekostet, die preußischen und österreichischen Alliierten überhaupt zu bewegen, den Krieg nach über zwei Jahrzehnten erstmals wieder über die Rheinlinie nach Frankreich hineinzutragen und den Monarchen in Wien und in Berlin zu verdeutlichen, dass der Rhein als französische Ostgrenze kein Tabu war. Noch in dem Aufruf des preußischen Königs «An mein Volk» war ausdrücklich die Rede von Frankreichs «rechtmäßigen Grenzen» gewesen, in denen es «schön und stark durch sich selbst» leben solle – der Gedanke einer Rückkehr zu dem alten Modell des Gleichgewichts zwischen den europäischen Mächten, auf das sich die drei «Ostmächte» im Vertrag von Teplitz (9. September 1813) verständigt hatten, wird hier greifbar. Mit entscheidend bei der Neudefinition der alliierten Kriegsziele war das Eingreifen des britischen Außenministers Castlereagh gewesen, der bei der ersten förmlichen gemeinsamen Beratung der Minister der Koalitionspartner in Langres am 28. Januar 1814 die Rückführung Frankreichs in seine alten, vor der revolutionären Expansion geltenden Grenzen von 1792 als Basis aller künftigen Verhandlungen durchsetzte. Das sollte zwar die Wiener Hofburg nicht daran hindern, nicht nur die Rheinbundstaaten relativ rasch entgegen den Vorstellungen Berlins und Petersburgs wieder «hoffähig» zu machen, sondern weiterhin auf einen Friedensschluss mit Napoleon zu setzen, von dem sie – dynastisch verbunden mit dem Korsen – glaubte, er sei als integraler Bestandteil eines künftigen europäischen Gleichgewichtssystems unverzichtbar. Da auch die britische Regierung solchen Gedanken nicht gar so fern stand, blieb Zar Alexander mit seiner – von den Koalitionspartnern mit seiner angeblichen oder tatsächlichen Prestigesucht in Verbindung gebrachten – Vorstellung, an der Spitze der (siegreichen) Koalitionsarmee in Paris einzuziehen und Napoleon durch einen anderen Herrscher von Russlands Gnaden zu ersetzen, zunächst ziemlich allein. Bis zu einem bestimmten Punkt ging somit die politische Taktik Napoleons durchaus auf, auf die Labilität der Einigkeit der Koalitionspartner zu setzen und zu versuchen, sie auseinanderzudividieren.
Die nächste wichtige Etappe nach den ergebnislosen letzten Versuchen von Châtillon, doch noch eine Verständigung mit dem Kaiser der Franzosen zu erreichen, war dann die erneut maßgeblich von Castlereagh «gezimmerte» Allianz von Chaumont vom 1./9. März 1814, die sich darauf einigte, den Abschluss des Friedens auf dem Festland – die außereuropäischen Probleme wusste der britische Minister von diesem Forum (wie auch später vom Kongress) weitgehend fernzuhalten, hatte sich aber mit der Herausgabe der eroberten Kolonien einverstanden zu erklären – den vier Großmächten (Russland, Österreich, Preußen und England) vorzubehalten und die Friedenssicherung für zwanzig Jahre zu übernehmen. Wenig später verständigten sich die Alliierten, nachdem Bonaparte seine «Reduktion» auf das Niveau und den Titel eines bloßen «Königs von Frankreich» für abwegig erklärt hatte, auf die Wiedereinsetzung der alten Bourbonendynastie, die in sicherer Erwartung des baldigen Endes des napoleonischen Regimes in Nordfrankreich und in Paris wieder Fuß zu fassen begonnen hatte. Das führte dann auch rasch dazu, dass man dem «neuen» Frankreich,