Buch
Wandlitz – ein kleiner Ort in Brandenburg. 2013 wurde hier ein Flüchtlingsheim eröffnet. Was viele zunächst als Bedrohung empfanden, wird heute als Bereicherung gesehen. In Wandlitz sind aus Fremden Freunde geworden. Wie das funktioniert hat, davon erzählt Bürgerrechtler Mathis Oberhof in diesem Buch. Darüber hinaus gibt er nützliche und konkrete Tipps, wie ein gelungenes Miteinander zu gestalten ist, und zeigt auf, wie man helfen kann, damit aus Willkommenskultur Integrationskultur wird.
Autoren
Mathis Oberhof, geboren 1950, war von 2012 bis 2013 Koordinator des Runden Tisches Wandlitz, der die Willkommenskultur für Flüchtlinge organisierte. Für diese Arbeit wurde er mit verschiedenen Ehrungen ausgezeichnet, zuletzt mit der Ehrenmedaille des Landes Brandenburg. Der Vater von drei Söhnen lebt als Rentner mit seiner Frau in Wandlitz bei Berlin.
Carsten Tergast wurde 1973 in Leer/Ostfriesland geboren. Nach einer Lehre als Sortimentsbuchhändler absolvierte er ein Literatur- und Medienwissenschaftsstudium in Paderborn. Er ist freiberuflicher Journalist, Autor und Texter für verschiedene Print- und Onlinepublikationen. Seit 2008 hat er an 20 Buchprojekten mitgewirkt, so etwa an Michael Winterhoffs Bestseller Warum unsere Kinder Tyrannen werden.
Mathis Oberhof
mit Carsten Tergast
»Refugees Welcome!«
Die Geschichte einer gelungenen Integration
So können Sie Flüchtlingen helfen
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1. Auflage
Originalausgabe März 2016
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
© 2015 der Originalausgabe
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Uno Werbeagentur, München
Redaktion: Angela Kuepper
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
MZ · Herstellung: cb
ISBN 978-3-641-18997-6
V001
www.goldmann-verlag.de
Für Aylan Kurdi,
geboren 2012 in Syrien,
ertrunken im Mittelmeer vor der türkischen Stadt Bodrum am 2. September 2015,
und für die Zehntausenden Namenlosen, die auf dem Weg nach Europa ihr Leben lassen mussten.
Inhalt
Geleitwort von Ministerpräsident Dr. Dietmar Woidke
Prolog: Samirs Lächeln
So fing alles an
Wir heißen euch willkommen! Der Tag ist da
Gelebte Flüchtlingshilfe mit dem »Runden Tisch«
Die unterschiedlichen Rollen: Zivilgesellschaft – Verwaltung – Parlamente
Ehrenamtlicher Sprachunterricht
So können Sie helfen: Alles rund um den Sprachunterricht
Wen heißen wir willkommen? Khalid – geflohen, weil er schwul ist
Schatten und Probleme
Medien- und Öffentlichkeitsarbeit für die Willkommenskultur
So können Sie helfen: Wie kann Presse- und Öffentlichkeitsarbeit aussehen?
Gemeinsamkeit erleben
So können Sie helfen: So organisieren Sie Begegnungen
Wen heißen wir willkommen? Asha, zwangsverheiratet mit 17
Eine »Halle der Solidarität«
So können Sie helfen: Organisation von Spenden
Wen heißen wir willkommen? Omar – Singen als Rettung
Schulen als Kommunikationszentren
Die Hetzer kommen
Magomeds Abschiebung und Rückkehr
Willkommensglück: Auch eine Bereicherung für das eigene Leben
Wie andere Städte und Gemeinden von unseren Erfahrungen profitierten
Willkommen im Wandlitz des Jahres 2035 – Eine kleine Utopie
Anhang
Ein Brief an alle Neuankommenden
Geleitwort der Bürgermeisterin von Wandlitz, Dr. Jana Radant
Anmerkungen
Internet-Links und Adressen
Danksagung
Sachregister
Geleitwort von Ministerpräsident Dr. Dietmar Woidke
Liebe Leserinnen und Leser,
Brandenburg ist weltoffen und bekennt sich zu seiner Tradition, in der Toleranz einen herausgehobenen Platz hat. In den letzten Jahren haben immer mehr Menschen in unserem Land öffentlich zu dieser Tradition gestanden.
Ein bekanntes Beispiel ist der »Runde Tisch« in Wandlitz. Er wurde zu einem Katalysator, der anfängliche Angst und Sorge vor einem in Wandlitz geplanten Asylbewerberheim in eine »Willkommenskultur« umwandelte. Maßgeblich daran beteiligt war der Autor Mathis Oberhof. Nun hat er seine Erinnerungen verfasst und damit auf sehr authentische Weise den Fokus auf die Ereignisse 2012/2013 in Wandlitz gelenkt, wo die Flüchtlinge willkommen geheißen werden.
Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre und hoffe, dass das Wandlitzer Vorbild Schule machen wird.
Ihr
Dr. Dietmar Woidke
Ministerpräsident des Landes Brandenburg
Prolog: Samirs Lächeln
Es ist ein schüchternes Lächeln, das sich auf Samirs Gesicht ausbreitet. Aber es ist ein Lächeln, und ich bin froh darüber, dass es dieses Lächeln gibt. Samir lächelt, weil er gerade von seinem Traum erzählt hat. Er möchte ein bekannter Sänger werden, auf der Bühne stehen, Musik machen und die Menschen mit seiner Kunst erfreuen. Er, der ganz andere Gedanken im Kopf haben könnte, schaut in die Zukunft und sieht sich mit dem Mikrofon in der Hand vor dem Publikum stehen. »Ich war schon immer ein Romantiker«, sagt Samir und wird ein wenig rot dabei, »und Deutschland finde ich romantisch.«
Der Ort, an dem Samir diese Sätze sagt, ist eigentlich wenig romantisch, dafür sehr deutsch. Wir sitzen zusammen im Verwaltungsbüro des Flüchtlingsheims in Wandlitz. Aktenordner und Papierstapel zeugen vom bürokratischen Aufwand, der hier jenseits jeglicher Romantik getrieben werden muss. Draußen allerdings scheint die Sonne, es ist ein schöner Spätsommertag, obwohl wir jahreszeitlich eigentlich schon im Herbst sind. Hier, nur 30 Kilometer vom Moloch Berlin entfernt, scheint die Welt an diesem Tag ziemlich in Ordnung zu sein und vielleicht sogar ein wenig romantisch. Für mich. Aber eben auch für Samir und seinen Freund Azmi, der neben ihm sitzt und ebenfalls ein zufriedenes Gesicht macht.
Samir und Azmi sind Syrer, vor wenigen Wochen erst in Wandlitz angekommen, sie sprechen schon ein wenig Deutsch, dazu etwas Englisch, sind aber sichtlich erleichtert, als mit etwas Verspätung der Dolmetscher erscheint. Nun können sie sicher sein, dass wir ihre Erzählungen richtig verstehen werden. Dass wir verstehen werden, warum sie hier in Wandlitz sind und nicht in Aleppo, ihrem Heimatort in Syrien, wo beider Familien zum Zeitpunkt unseres Gesprächs immer noch leben.
Ich hatte Samir gebeten, zunächst seine Geschichte zu erzählen, und bis er lächelnd zum Ende kommt mit dem Wunsch, ein Gesangsstar zu werden, hat er jene Fluchterlebnisse geschildert, die nicht nur seine, sondern so viele Biografien in diesen Tagen um dramatische Details erweitern.
Ich fühle in diesem Moment, wie Freude in mir hochsteigt. Freude darüber, dass Samir mir diese Geschichte im geschützten Rahmen des Wandlitzer Flüchtlingsheims erzählen kann. Denn das ist nicht selbstverständlich angesichts der Ereignisse, die Deutschland und ganz Europa zurzeit scheinbar überrollen. Hunderttausende Menschen sind zu diesem Zeitpunkt auf der Flucht, sehr viele davon haben Deutschland als Ziel. Überwältigende Aufnahmebereitschaft einerseits und Widerwille sowie echter Hass und reale Aggression auf der anderen Seite. Was dominiert? Ich will hier zeigen und beweisen: Die Mehrheit will sich den Herausforderungen konstruktiv stellen. In Wandlitz haben wir es geschafft.
Von dieser sprunghaften und dramatischen Entwicklung war noch nichts zu merken, als im Januar 2013 die ersten Asylbewerber in das Heim in Wandlitz einzogen. Und doch profitieren wir jetzt, Ende 2015, genau von den Dingen, die sich damals zutrugen und von denen ich in diesem Buch berichten möchte, um zu zeigen, wie eine Willkommenskultur, die diesen Begriff umfassend ernst nimmt, aussehen kann.
Das unscheinbare Wörtchen »umfassend« ist mir dabei sehr wichtig. Obwohl dieses Buch »Refugees Welcome!« heißt und es natürlich in erster Linie um die Flüchtlinge geht, die zu uns nach Deutschland kommen und die wir hier willkommen heißen möchten, zielt meine Absicht auf einen sehr viel weiteren Willkommensbegriff. »Willkommen« soll nach meiner Vorstellung etwas sein, das jeder Mensch überall für sich in Anspruch nehmen kann. Kommst du irgendwohin, wo nicht deine Heimat ist, sollst du willkommen sein. Bist du anders als andere, sollst du willkommen sein. Dieses »Anderssein« muss sich dabei nicht auf die Herkunft beziehen, sondern es meint jede Abweichung von einer gefühlten oder von außen willkürlich gesetzten Norm: andere Hautfarbe, andere Religion, andere Weltanschauung, körperlich anders, geistig anders. Eine Willkommenskultur, die diesen Begriff ernst nimmt, lehnt all dieses andere nicht ab, sondern heißt es willkommen und integriert es in die vorhandenen Strukturen. Einer meiner Wahlsprüche lautet: »Respect! Empower! Include!« Dieser Dreiklang, der dem Wahlkampf von Barack Obama vor einigen Jahren entlehnt ist, enthält für mich das Geheimnis der Willkommenskultur: Wir sollten das andere respektieren. Dieser Respekt wird sowohl uns als auch die anderen stärken. Und gestärkt können wir das andere in unsere Gemeinschaft aufnehmen, inkludieren.
Davon handelt dieses Buch auf einer höheren Ebene. Diese Gedanken stehen im Hintergrund, wenn ich erzähle, wie wir es in Wandlitz geschafft haben, eine Erfolgsgeschichte aus dem angstbesetzten Umstand zu machen, dass ein Flüchtlings- bzw. Asylbewerberheim vor Ort eröffnet werden sollte. Und wie andere aus dieser Erfolgsgeschichte lernen können, wenn sie selbst gern helfen möchten.
Doch nun will ich zunächst Samir seine Geschichte erzählen lassen, um gleich zu Beginn dieses Buches in Erinnerung zu rufen, warum es wichtig ist, all diese Menschen nicht abzulehnen, sondern willkommen zu heißen.
Woher stammen Sie?
Ich komme aus Aleppo, einer großen Stadt im Norden Syriens, die ganz massiv vom Krieg in meinem Land betroffen ist. Genauer gesagt, stamme ich aus einem der Vororte von Aleppo.
Was haben Sie in Syrien gemacht, und warum haben Sie sich zur Flucht entschlossen?
Ich war Student der Biologie an der Universität von Aleppo. Eines Tages wollte ich von der Universität zurück in den Vorort fahren, in dem meine Familie wohnt, doch ich fand nur noch Trümmer vor. Alles war von Bomben getroffen worden, es stand kaum noch ein Stein auf dem anderen.
Haben Sie Ihre Familie wiedergefunden?
Ja, zum Glück waren alle unverletzt, aber wir hatten kein Dach mehr über dem Kopf und mussten sehen, wo wir bleiben. Wir sind dann in einem anderen Teil Aleppos bei Verwandten untergekommen, aber das war der Moment, in dem klar war, dass es so nicht weitergehen konnte und der Älteste aus meiner Generation sich auf die Flucht begeben musste. Ich habe dann angefangen, meinen Weggang zu planen, denn ich wusste, dass es ein schwieriger und langer Weg werden würde.
Und dann haben Sie sich direkt auf den Weg nach Westeuropa gemacht?
Nein, so einfach ist das nicht. Die Flucht kostet viel Geld, das war mir von Anfang an klar. Ich hatte etwas gespart, aber ich wusste, dass das nicht reichen würde, um die ganze Strecke zu schaffen. So habe ich mich zunächst in die Türkei durchgeschlagen und in Istanbul nach einer Arbeit gesucht. Das klappte zwar, aber es war sehr hart und sehr schlecht bezahlt. Als syrischer Flüchtling war ich dort nicht viel wert, und es war leicht, mich und andere meiner Landsleute auszubeuten. Für einen Zwölfstundentag in der Fabrik, in der ich gearbeitet habe, habe ich pro Monat nur etwa 300 Euro verdient. Davon habe ich noch einen großen Teil an meine Familie geschickt, um sie zu unterstützen.
Da muss es lange gedauert haben, bis Sie das Gefühl hatten, genug Geld zusammenzuhaben.
Ja, ich habe dort fast zwei Jahre gearbeitet. Irgendwann hatte ich genug Geld gespart, um die weitere Flucht wagen zu können. Gemeinsam mit anderen Syrern habe ich mich auf die Suche nach Schleppern gemacht, die uns mit Booten von Bodrum an der türkischen Mittelmeerküste zur gut 20 Kilometer entfernten griechischen Insel Kos rüberbringen sollten.
Was waren das für Boote, und was hat die Überfahrt gekostet?
Zum Zeitpunkt meiner Flucht musste ich für die Überfahrt 1000 Euro bezahlen. Ich habe aber gehört, dass die Schlepper mittlerweile weit mehr verlangen. Je mehr Flüchtlinge kommen, desto teurer wird die Fahrt. Das Boot war vollkommen überfüllt, es war vielleicht sechs Meter lang und eineinhalb Meter breit. Darauf waren wir mit insgesamt 54 Leuten. Dass wir es überhaupt bis nach Kos geschafft haben, ist ein kleines Wunder, denn wir hatten irgendwann ein Leck an Bord, sodass das Boot zu kentern drohte. Die Küstenwache hat uns dann aufgegriffen und nach Kos gebracht.
Hatten Sie die ganze Zeit einen Plan, wie es weitergehen soll?
Ja. Es war klar, dass Deutschland das Ziel der Reise sein würde, und die Route dorthin war bekannt. Ich hatte mein Handy dabei und wusste durch das GPS-Signal immer recht gut, wo ich mich befand. Durch den Kontakt zu anderen Geflüchteten, die die Reise schon hinter sich hatten, wusste ich auch, wie es weitergehen sollte. Von Kos aus mussten wir es nach Athen schaffen und von dort weiter über die sogenannte Balkanroute Richtung Ungarn und Österreich.
Das war alles vollkommen klar und durchgeplant?
Der Weg an sich ja. Wie man durchkommt, natürlich nicht. In Serbien sind wir fast 120 Kilometer zu Fuß gelaufen. Haben im Wald geschlafen. Egal welches Wetter war, einfach immer weiter und hoffen, dass der Akku des Handys hält und das GPS nicht ausfällt.
Wo war es am unangenehmsten?
In Ungarn. Dort geht es nur darum, Flüchtlinge abzukassieren. Ich hatte es bis Budapest geschafft und mich dort orientiert. Zuerst bin ich in einem Hotel untergekommen, dessen Besitzer sich derzeit an der Flüchtlingskrise eine goldene Nase verdient. Die ungarische Polizei guckt weg und lässt die Leute gewähren, da wäscht eine Hand die andere.
Also möglichst schnell wieder weg?
Ja. Ich bekam dann mit, dass es eine Möglichkeit geben würde, mit Privatautos über Österreich Richtung Deutschland zu kommen. Wir mussten uns alle mitten in der Nacht an einer bestimmten Stelle einfinden, wo eine ganze Kolonne hochwertiger Autos wartete, lauter große Audis, Mercedes und BMW und ein paar Mittelklassewagen. In jedes Auto wurden so viele Insassen gezwängt wie nur möglich, nachdem wir alle mehrere Hundert Euros bezahlt hatten.
Hatten Sie Angst?
Die ganze Zeit. Ich habe kein Wort gesagt und immer nur gehofft, dass die Schleuser wenigstens Wort halten und uns wirklich bis nach Deutschland bringen. Ich hatte von mehreren Leuten gehört, die noch auf österreichischer Seite einfach rausgeschmissen und sich selbst überlassen wurden. Oder sogar noch in Ungarn, irgendwo auf dem Land. Bezahlt hatten sie ja schließlich schon, also waren sie Freiwild für die Schleuser.
Sie haben es aber auf diese Weise bis nach Deutschland geschafft?
Ja, glücklicherweise fuhr das Auto, in dem ich saß, bis kurz vor München, dort mussten wir aussteigen. Ich war so froh, als ich sicher wusste, dass ich tatsächlich Deutschland erreicht hatte!
Wie sind Sie dann nach Wandlitz gekommen?
Von München aus wurde ich in das Erstaufnahmelager nach Eisenhüttenstadt gebracht. Dort gab es nur Zelte, und es war ziemlich kalt, das hat mich etwas erschreckt, weil ich dachte, Zeltlager gäbe es in Deutschland nicht. (Samir zeigt auf seinem Handy ein Foto von sich, dick eingepackt im Schlafsack, auch hier schon sein typisches schüchternes Lächeln auf dem Gesicht.) Aber es war o.k., Hauptsache Deutschland. Von Eisenhüttenstadt aus wurde ich dann nach Wandlitz geschickt, und hier fühle ich mich zurzeit sehr wohl.
Das ist schön! Welche Vorstellung hatten Sie von Deutschland, als Sie Syrien verließen?
Ich bin Kurde, und die Kurden, die ich kenne, wollten schon immer alle nach Deutschland. Für uns ist es eine Art Sehnsuchtsort. Daher war die Vorstellung gar nicht so wichtig, ich wollte einfach nur hierhin.
Was gefällt Ihnen am besten in Wandlitz?
Die Landschaft. Der Wald, die Seen. Alles sieht so romantisch aus, und ich bin Romantiker. (Da ist es wieder, das schüchterne Lächeln.) Und natürlich, dass die Leute hier so freundlich zu uns sind. Wir haben auch von anderen Dingen gehört, aber hier sind alle nett und bemühen sich um uns.
Wenn Sie an die Zukunft denken, was stellen Sie sich für sich selbst in etwa fünf Jahren vor? Wo sind Sie dann?
Hoffentlich immer noch in Deutschland. Ich würde gerne hierbleiben. Eine Familie gründen. Und natürlich ein bekannter Sänger werden. (In diesem Moment verwandelt sich das Lächeln, und ein begeistertes Funkeln ist in seinen Augen auszumachen.)
Danke, Samir, für dieses interessante Gespräch!
Als wir das Gespräch führten, waren die Ereignisse, die eigentlich der Anlass für dieses Buch sind, bereits zweieinhalb Jahre her. Und niemand konnte damals ahnen, wie wichtig es schon bald werden würde, eine echte Willkommenskultur zu etablieren. Die Zahlen, um die es damals ging, sind mit denen, über die wir heute diskutieren, nicht mal ansatzweise zu vergleichen. Die Reaktionen von Teilen der Bevölkerung jedoch sind es sehr wohl. Das merkten wir in jenem November 2012, als sich im großen Saal der Kulturbühne »Goldener Löwe« in Wandlitz jene fast schon legendäre Einwohnerversammlung abspielte, die den Grundstock für alles legen sollte, auf das wir heute in Wandlitz im Hinblick auf unseren Umgang mit Flüchtlingen, aber auch mit dem »anderen« allgemein stolz sind.
So fing alles an
Rückblende. Wandlitz, 5. November 2012
Im »Goldenen Löwen« haben sich fast 400 Bürgerinnen und Bürger zur größten Bürgerversammlung seit der Wende versammelt. Es gibt nur einen einzigen Tagesordnungspunkt: das geplante Asylbewerberheim in der Bernauer Chaussee. Eine Bürgerinitiative hat in wenigen Tagen mehr als 300 Unterschriften gegen das Heim gesammelt. Wie ich mit einem Stirnrunzeln feststellen muss, sind unter den Unterzeichnern auch fast alle Mitglieder der örtlichen Gemeindevertretung.
Am Eingang wird ein Fragebogen mit zehn Fragen verteilt. Jede einzelne suggeriert dabei, dass es sich bei neu eintreffenden Flüchtlingen vor allem um ein stark erhöhtes Kriminalitätsrisiko in Wandlitz handelt. Die Luft ist zum Schneiden, die Stimmung extrem angespannt, latente Aggressivität schwingt im Raum mit. Nach der Einführung durch den Landrat Bodo Ihrke melde ich mich als einer der Ersten zu Wort und bekomme schon Gegenwind, kaum dass ich den Mund geöffnet und die ersten Sätze gesagt habe.
So fing alles an: Protestversammlung am 5.11.2012
© Ulli Winkler
»Das gehört nicht hierher!«
Immer häufiger kommen diese Zwischenrufe.
Ich gehe ganz nah ans Mikrofon. Bemühe mich, leise und deutlich zu sprechen, will nicht aufgeregt sein. Ich wusste doch, dass es so kommen wird!
»Wenn wir von Asylbewerbern, von Flucht und von Flüchtlingen sprechen, denken wir natürlich auch an die wenige Kilometer von hier entfernte Berliner Mauer, an der beim Versuch, von Ost nach West zu gelangen, an einer Grenze, die zwei Systeme voneinander trennte, mindestens 138 Tote zu beklagen waren. Die wenigsten von uns wissen aber, wie viele Tote an der Grenze zwischen Europa und Afrika zu beklagen sind:
Von 1988 bis Mai 2011 starben vor den Grenzen Europas 16.981 Menschen. Allein im letzten Jahr waren es über 1500. Erstickt, verdurstet, ertrunken. 265 auch von europäischen Polizisten erschossen. 6000 sind noch immer im Mittelmehr verschollen. Das Nachdenken über diese Zahlen gehört in den Kontext der Frage, wie wir mit AsylbewerberInnen in Wandlitz umgehen.«
Wieder Zwischenrufe:
»Zur Sache!«
»Was soll denn das!«
Hinter mir wird es immer unruhiger. Ich zwinge mich, langsam und deutlich zu sprechen, ruhig zu bleiben. Immerhin: Ein Drittel meines Textes habe ich schon hinter mir.
»Als jemand, dessen Tante Elisabeth 1943 von den Nazis im Rahmen der Euthanasie ermordet wurde, weil sie Depressionen hatte, bin ich für immer froh, dass in allen Ländern und Kontinenten während der Nazizeit Tausende verfolgter Deutscher Asyl bekamen.
Nur eine winzige Auswahl von bekannten Namen führt uns das in Erinnerung: Schriftsteller wie Oskar Maria Graf, Anna Seghers, Bertolt Brecht, Theaterleute wie Lilli Palmer, Marlene Dietrich, Ernst Busch, Politiker wie Willy Brandt, Ernst Reuter, Clara Zetkin. Daneben Abertausende namenloser Juden und anderer Verfolgter des Naziregimes!«
Es wird immer unruhiger. Kein Tumult, eher eine Murmelmauer. Als ich »Marlene Dietrich« sage, ruft einer laut: »Die hat aber am Alex keinen Kerl totgeschlagen.« Die Wut steigt in mir hoch: Als ob Flüchtlinge alle Mörder wären, wie jene, die vor einem Monat am Alexanderplatz Jonny totgeschlagen haben. Doch ich bleibe ruhig, während um mich herum der Geräuschpegel so stark steigt, dass ich kaum noch zu hören bin.
Kurz unterbreche ich meinen Beitrag und sage: »Bitte haben Sie die Toleranz, mich ausreden zu lassen! Ich bin gleich fertig!« Und tatsächlich: Das Wort »Toleranz« scheint wie Baldrian zu wirken. Es wird ruhiger, ich habe das Gefühl, als ob in diesem völlig überfüllten Saal unter den Hunderten Menschen auf einmal viele zu ihrem Sitznachbarn sagen: »Lasst ihn doch ausreden!«
»Ich finde, das Signal von heute sollte nicht so lauten wie das Plakat der neonazistischen Republikaner: ›Das Boot ist voll!‹ Und es sollte nicht so heißen, wie es der Tischler Josef und seine Frau Maria vor 2000 Jahren hörten: ›Es ist kein Platz in der Herberge!‹ Sondern: Auch wenn es Konflikte gibt: Wir haben noch Platz! Wir reichen euch die Hand! Kirchen, Vereine und Privatpersonen sind aufgerufen!«
Nun setzt rhythmischer Beifall ein. Ich bin einen Moment sehr irritiert, fühle mich fast an Parteitage erinnert, auf denen jeder Beitrag des Vorsitzenden laut beklatscht wird. Doch dann verstehe ich: Eine Minderheit klatscht und will sagen: »Hört ihm zu. Wir finden gut, dass er redet.« Und vielleicht auch, was er sagt. Eine Gänsehaut überzieht mich, jetzt kurz vor dem Ende meiner Rede übermannt mich die Emotion, meine Stimme beginnt zu zittern. Jetzt bloß ruhig bleiben.
»Jeder kann was tun. Heute hat mich ein Syrer, der in der Nachbargemeinde im Mühlenbecker Land wohnt, angerufen, dass er bereit zu Dolmetscherdiensten ist.
Ich selbst will Spielzeug spenden und bin bereit zu kostenlosem Deutschunterricht.
Vergessen wir nie, was uns unsere Eltern erzählt haben, die aus Schlesien und Ostpreußen in den Westen geflüchtet sind! Wie froh sie waren, wenn sie nach vielen verschlossenen Türen endlich eine fanden, die sich öffnete.«
Länger hätte ich nicht ruhig bleiben können. Ich habe das Gefühl, meine Halsschlagader platzt. Ich bin froh, dass ich es geschafft habe. Aber noch viel schöner ist die Überraschung, auf die ich nicht eingestellt war: Es gibt Beifall. Nicht die Mehrheit, ganz bestimmt nicht, dazu sind die Ängstlichen und die Aggressiven zu verblüfft. Aber es gibt Beifall! Viel mehr Zustimmung, als ich erwartet habe.
Als ich mich wieder auf meinen Platz setze, legt Margot, meine Frau, ihre Hand auf meinen Arm. »Toll«, flüstert sie. Jetzt hängen mir die Tränen in den Augen. Ich musste mich so konzentrieren, um nicht laut zu werden, und bin jetzt ziemlich fertig. Fertig, aber eben auch glücklich. Ich musste all diese Dinge sagen, nie habe ich auch nur einen Moment daran gezweifelt. Dabei haben mir viele geholfen. Sie haben meine Rede, meine Meinung, mein Bemühen inmitten dieser aufgeheizten Stimmung willkommen geheißen und in mir das Gefühl verstärkt, dass es sich zu kämpfen lohnt.
»Bleibet hier!« – Was Wandlitz mit dem Merkel’schen »Wir schaffen das« zu tun hat
»Meine Seele ist betrübt bis zum Tod. Drum bleibet hier und wachet mit mir.« Ein Bibelzitat aus dem Matthäusevangelium. Scheinbar vollkommen ohne jeden Zusammenhang zur Flüchtlingskrise, scheinbar aus der Luft gegriffen. Doch für mich ist es ein wegweisender Spruch geworden, ein Motto gleichsam, ein Antrieb, der mich immer wieder Auftritte wie den zuvor beschriebenen in der Gemeindeversammlung hinlegen ließ.
Es gibt ein Lied, das dieses Matthäuszitat wieder aufgreift, ein Lied, das ich mit den anderen Mitgliedern des Chores sang, nachdem ich die Gemeindeversammlung schließlich verlassen hatte, um zur Probe zu eilen. Vielleicht war es ganz gut, dass ich nur diese begrenzte Zeit zur Verfügung hatte, so konnte meine Rede in Ruhe ihre Wirkung entfalten, ohne dass jemand die Gelegenheit hatte, mich direkt dafür anzugreifen.
Meine Chorprobe ist mir heilig, ich versäume sie nie und hatte mir auch für jenen Abend vorgenommen, diesen Vorsatz nicht zu brechen. Mulmig war mir zumute, als ich an den Leuten vorbeiging, die während meiner Rede besonders aggressiv dazwischengerufen hatten, noch dazu hinter meinem Rücken, weil ich mitten in der Versammlung stand. Erst später wurde mir bewusst, wer da schrie, und das war sicher in dem Moment ganz gut so. Denn es handelte sich um die spätere NPD-Kreisvorsitzende Aileen Rokohl und den harten Kern der Neonazi-Szene in Barnim-Uckermark.
Kaum war ich an den Nazi-Schreihälsen vorbei, wurde ich am Ärmel gezupft: »Toll gemacht! Das war Klasse!«, ruft einer, und eine Frau flüstert mir zu: »Danke, dass Sie aufgestanden sind.« Ein Dritter gibt mir seine Visitenkarte. Ihn treffe ich nur kurze Zeit später wieder, er wohnt schräg gegenüber vom Heim und wird mein erster Kontakt für das, was sich dann so schnell zur Wandlitzer Willkommenskultur entwickelt.
Als ich in die Chorprobe kam, schlug mein Puls immer noch schneller. Aber Körperlockerungen, Atemübungen und 90 Minuten komplizierte Chorsätze singen, das ist zwar anstrengend, doch es entspannt. Ich kann abschalten, mich beruhigen, in meinen Körper zurückfinden und mich auf der tiefen Basslinie der Notensätze erden. Zum Schluss jeder Probe darf sich, wer in der letzten Woche Geburtstag hatte, ein Lied wünschen.
Heute ist Wolfgang dran. Und da ist es dann: Sein Wunschlied lautet: »Bleibet hier.« Und obwohl es von Kreuzigung und Tod handelt, von der Verzweiflung des Gekreuzigten, ist es für mich an diesem Abend das Begrüßungslied für die angekündigten Flüchtlinge. Als ich auf dem Motorroller nach Hause fahre, lasse ich meinen Tränen freien Lauf, daheim angekommen, fühle ich, wie die Last dieses Tages endlich weicht. Mit ist warm ums Herz, ich spüre, dass dies ein guter Auftakt gewesen ist. Was ich nicht wissen konnte, war, welch ein Wahnsinnsjahr mir und allen in Wandlitz noch bevorstehen sollte. Was ich nicht wissen konnte, war, dass wir, lange bevor die Kanzlerin ihren berühmten Ausspruch tat, davon überzeugt waren, dass wir das schaffen würden. Wobei niemand so genau wusste, was »das« während der kommenden Monate sein würde. Und tatsächlich änderte sich »das« auch des Öfteren, bis heute ist es so, dass »das« eine immer wieder neue und andere Aufgabe meint, die sich uns stellt. Doch gleich bleibt die Überzeugung, dass wir »das« schaffen. Und so waren wir auch überzeugt, dass wir das »Bleibet hier« schaffen würden. Bleibet hier, weil ihr willkommen seid und wir das gemeinsam schaffen werden. Genau das sprach für mich im Moment des Singens aus dieser Liedzeile.
Filmbericht über die Bürgerversammlung am 5.11.2012
Erste Warnungen – Willkommenskultur fällt nicht vom Himmel
Fünf Tage vor der großen Gemeindeversammlung saßen wir mit den üblichen Teilnehmern im Vorbereitungskreis für den jährlichen Adventsbasar beisammen. Als alles besprochen war, holte der immer etwas hektische Adrian eine Liste hervor.
»Gestern hat die gesamte Gemeindevertretung die Unterschriftensammlung gegen das Heim unterzeichnet!« Er klang geradezu euphorisch und schob mit stolzem Gesichtsausdruck nach: »Für menschenwürdiges Asyl in Wandlitz.«
Die ganze Gemeindevertretung? Schon 300 Unterschriften? Ich schaute die Pfarrerin an, deren Gesichtsausdruck genau widerspiegelte, was sie von der Unterschriftensammlung hielt. Als alle gegangen waren, saßen wir noch mit ihr im Gemeindehaus zusammen, um die Situation zu besprechen. Sie berichtete uns, dass die Integrationsbeauftragte des Kreises sich an sie gewandt und die Kirchen um Unterstützung gebeten habe. Montag finde die Bürgerversammlung statt, da werde es heiß hergehen, aber sie sei verhindert. Ob wir nicht ... Für Margot und mich war klar: Da müssen wir hin.
Erst nach diesem Gespräch merkte ich, was sich zusammenbraute, ja schon zusammengebraut hatte. Natürlich hatte ich die Diskussion in der Lokalzeitung verfolgt: Da ging es vor allem auch um die Frage nach Einzelunterbringung oder Heimunterkunft. Spontan würde wohl jeder für die Einzelunterbringung als menschlichere Alternative plädieren. Der Pferdefuß war erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Einzelwohnungen für Asylbewerber, für die, wie ich viel später lernte, das Asylbewerberleistungsgesetz ganze 4,75 Euro pro Quadratmeter vorsieht, solche Wohnungen gibt es in Wandlitz am Speckgürtel Berlins kaum oder gar nicht. Die scheinbar soziale Frage, ob Einzelunterkunft oder Heim, lief letztlich nur auf eins hinaus: Packt das Heim irgendwohin, aber nicht zu uns nach Wandlitz!
Heute weiß ich von vielen, dass sie damals unterschrieben haben, weil sie gute Bedingungen für Flüchtlinge wollten, nicht weil sie keine Flüchtlinge in Wandlitz gewollt hätten. Diese Erkenntnis ist mir immer wieder Warnung vor Vereinfachungen und pauschalen Schuldzuweisungen wie auch der sofortigen Ausgrenzung von Menschen. Es lohnt stets ein zweiter Blick, ein Gespräch über die Fakten, oft klärt sich in diesem Moment schon sehr vieles.
Think positive! Warum »Willkommen« nicht einfach nur ein Wort ist
»Wir wollen nicht das Böse bekämpfen, sondern das Gute unterstützen!«
Diesen Vorschlag hatte die Wandlitzer Pfarrerin Janet Berchner einfach in die Runde geworfen, als wir uns nach der aufregenden Gemeindeversammlung im kleineren Kreis trafen, um zu überlegen, wie wir nun vorgehen könnten, um tatsächlich aktiv zu werden und etwas zu tun, das Wandlitz ein positives Erlebnis im Zusammenhang mit den Flüchtlingen bescheren würde. Der Satz der Pfarrerin stand einen Moment im Raum, wirkte in uns und kreiste in unseren Köpfen. Es war deutlich spürbar, wie jeder von uns spontan versuchte, diese Aussage in die nahe Zukunft zu wenden und mit konkreten Inhalten zu füllen.
Der Hintergrund war uns recht bald klar. Wenn man heute im Fernsehen Talkshows zum Thema sieht, in Zeitungen oder im Internet Artikel und Kommentare liest oder auch nur mit anderen Menschen spricht, ist eins immer schnell bei der Hand: Vorwürfe gegen all die, die das Böse verkörpern.
Das war nicht die Richtung, die wir einschlagen wollten. Natürlich kam auch bei uns oft genug Abscheu auf, wenn wir fremdenfeindliche Kommentare lasen oder hörten, natürlich spürten wir Wut, wenn es wieder irgendwo Aufmärsche aus der rechtsextremen Ecke gab. Aber wir wussten auch: Wut und Abscheu sind schlechte Ratgeber. Sie fressen Energie, Produktivität, sie machen schlechte Laune und helfen damit letztlich niemandem und schon gar nicht den Gästen, die wir doch willkommen heißen wollten, denen wir doch zeigen wollten, dass Wandlitz, dass Deutschland ein weltoffenes Land ist, in dem man die Arme ausbreitet, statt sie zu verschränken, wenn Menschen in Not Hilfe brauchen.
Inspiriert zu diesen Gedanken hatten mich unter anderem Konstantin Wecker, der sich seit Jahrzehnten auf und neben der Bühne für Zivilcourage und soziale Gerechtigkeit einsetzt, sowie der Zenmeister Bernard Glassman aus New York, eine der eindrucksvollsten Persönlichkeiten des sozial engagierten Buddhismus. Beide waren seit Jahren auf der Suche nach neuen Antworten auf die ewig gleichen Fragen. Unter dem Untertitel »Engagement zwischen Wut und Zärtlichkeit« stellten sie ein noch relativ neues Konzept politischen Handelns vor: Machen, anfangen, eingreifen, nicht klagen, nicht siegen wollen, das leiten die beiden links engagierten Anhänger des Buddhismus aus ihrem langen politischen Leben als Schlussfolgerung ab. Der Titel ihres Buches lautet: »Es geht ums Tun, nicht ums Siegen.« Daraus entstand für mich das Hauptmotto meines Engagements am Runden Tisch in Wandlitz. Wir fingen bei null an, und spontan entwickelten sich aus der Fantasie der Beteiligten die unterschiedlichsten Bausteine.
Das WILLKOMMEN-Transparent
Gemeinsam mit meiner Frau Margot saß ich vor dem Bildschirm, um einen Entwurf für ein Transparent zu machen, mit dem die Flüchtlinge in Wandlitz begrüßt werden sollten. Unser Hauptwort stand da längst fest, es hatte sich aufgrund der eben beschriebenen Gedankengänge sehr schnell herauskristallisiert:
WILLKOMMEN!
Wir waren von Anfang an fest davon überzeugt, dass es darauf ankäme, die Spaltung in der Wandlitzer Bürgerschaft nicht zu vertiefen, sondern zu überwinden. Deshalb keine Ablehnungslosung, keine politischen Forderungen wie »Stoppt Rassismus!« oder »Bleiberecht für alle!«.
Viel wichtiger war uns, alle sollten (und sollen bis heute) WILLKOMMEN geheißen werden: die Touristen, die im Sommer zu Tausenden um die Wandlitzer Seen und durch die Waldgebiete radeln, die jungen Familien, die sich am Speckgürtel von Berlin ein neues Zuhause bauen, die Gewerbetreibenden genauso wie ausländische Mitbürger und Flüchtlinge!
Wir probierten unterschiedliche Sprachen und Schriften aus, um herauszufinden, wie das WILLKOMMEN für ausländische Mitbürger am besten zu visualisieren wäre. Schließlich landeten auf dem Transparententwurf neben dem deutschen Wort 13 Sprachen der Welt:
Armenisch: !
Arabisch: !
Englisch: Welcome!
Baskisch: ongi etorri!
Polnisch: powitanie!
Norwegisch: Välkommen!
Japanisch: !
Persisch: !!
Hindi: !
Griechisch: καλωσόρισμα!
Finnisch: tervetuloa!
Vietnamesisch: Chào mừng!
Serbokroatisch: добродошли!
Bald hatten wir acht verschiedene Schriften außer der lateinischen gefunden, die auch optisch den Eindruck der Sprachenvielfalt der Welt vermitteln sollten.
Zum Schluss kam meine Frau noch auf eine weitere tolle Idee: Warum das große Wort »WILLKOMMEN« in deutscher Sprache nicht dadurch extra hervorheben, indem wir es in den Farben des Regenbogens schreiben? Diese Farben haben in den letzten Jahren einen so starken Symbolcharakter bekommen, einerseits als Fahne der Friedensbewegung und andererseits für die Bewegung der Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender, dass hier gestalterisch noch einmal ganz stark der Anspruch betont werden würde, wirklich alle mit ins Boot zu holen.
Und wenn es erst mal läuft, ist die konkrete Umsetzung meist kein großes Problem mehr. Sehr schnell fanden wir in Würzburg eine Druckerei, die 3,5 mal 1,5 Meter große Transparente für unter 100 Euro vierfarbig herstellt. Ganz einfach online zu bestellen und kurze Zeit später geliefert. Die evangelische und die katholische Gemeinde bestellten gleich vier Transparente für ihre Kirchen. Das Transparent an der katholischen St.-Konrad-Kirche hing sogar senkrecht vom Kirchturm herunter, welch ein wunderbares Bild!
Und die helfenden Hände wurden nicht weniger. Die Bürgermeisterin bot die Hilfe der IT-Mitarbeiterin der Gemeinde bei der Aufbereitung der Druckdatei an, gleichzeitig bestellte sie ebenfalls ein Transparent für den großen Zaun am Sportplatz der Grundschule mitten im Ort. Einige Wochen später ließen wir noch 2000 Willkommensaufkleber im Postkartenformat drucken. Bis heute sieht man sie auf Briefkästen, den Hecks von Autos oder an Eingangstüren von Geschäften. Mit den Ladenbetreibern haben wir besprochen, dass der Aufkleber bedeutet: »Lieber Flüchtling, auch wenn der Einkauf ein wenig länger dauert, weil du noch nicht unsere Sprache sprichst und verstehst, bist auch du bei deinem Einkauf in diesem Geschäft herzlich WILLKOMMEN!«
Bürgermeisterin Dr. Jana Radant (l.) und Pfarrerin Janet Berchner enthüllen das erste WILLKOMMEN-Transparent.
© Gemeinde Wandlitz
Ab dem ersten Advent hatten wir dann die Transparente überall im Ort hängen. Glücklicherweise gab es keinerlei Sachbeschädigungen, offenbar wirkte das, was wir da geschaffen hatten, so frisch und einladend, dass niemand sich traute, Hand anzulegen. Für mich ein weiterer Beweis für die Richtigkeit der »Positivitätsthese«. Plakate mit einer aggressiven Grundhaltung (»Nazis raus« oder das Symbol »Nazis in den Mülleimer«) hätten vermutlich wesentlich mehr zu einer Aufheizung der Stimmung beigetragen. So war alles auf eine friedliche, zugewandte Art und Weise geregelt, die dem einen oder anderen ein spontanes Lächeln auf die Lippen gezaubert haben mag, bevor überhaupt die Hauptadressaten der Plakate in Wandlitz angekommen waren.
»Es ist noch Platz in der Herberge« oder: Ein wahrhaft heiliger Abend
Für den Heiligabendgottesdienst der evangelischen Gemeinde hatte Pfarrerin Berchner sich etwas Besonderes einfallen lassen. Da die Wandlitzer Dorfkirche wegen Bauarbeiten ohnehin geschlossen war, schlug sie vor, den Weihnachtsgottesdienst unter freiem Himmel auf dem großen Platz vor dem Bahnhof Wandlitz zu zelebrieren. Um zu betonen, dass dieser Gottesdienst sich unter anderem auch an die richte, die da demnächst eine Herberge bei uns in Wandlitz suchen würden, bat sie uns, das größte Transparent über dem Eingangsbereich zur Bahnhofshalle anzubringen.
Und was war das dann für ein Erlebnis! In die Wandlitzer Dorfkirche passen normalerweise maximal 150 Besucher. Hier nun, auf dem Vorplatz des Bahnhofs, hatten sich über 400 Menschen versammelt, darunter mit Sicherheit viele, die nie oder nur sehr selten eine Kirche von innen sehen. Man konnte fühlen, wie die berüchtigte Schwellenangst verschwunden war, wie diese Feier ohne Mauern drum herum als einladend wahrgenommen wurde, ja: wie eben alle, die sich hier versammelten, sich willkommen fühlen durften und das auch sichtbar spürten. Hätte es noch einer Bestätigung bedurft, dass wir mit unserer »Willkommensstrategie« richtiglagen, hier war sie auf die schönste vorstellbare Art.
Die Menschen wärmten sich in der Gemeinschaft beim Singen der Weihnachtslieder, vielleicht wärmten sie sich auch an der »frohen Botschaft«, die vor dem aktuellen Hintergrund besonders hell strahlte. Da war es fast logisch, dass unser Transparent in den 14 Sprachen das Aufmacherbild und die Schlagzeile der Heimatzeitung bildete, die über diesen einzigartigen Open-Air-Gottesdienst berichtete. Auch in der Redaktion hatte man unsere positive Botschaft verstanden und somit zum Mittelpunkt der Berichterstattung gemacht. Diese Botschaft lautete gerade vor dem Hintergrund der Weihnachtsgeschichte: Im Gegensatz zu vielen Menschen in den Zeiten von Maria und Josef vor 2000 Jahren sagen wir denjenigen, die in Armut, Not und Verzweiflung an unsere Tür klopfen: »Ja, es ist noch Platz in der Herberge!« Im Artikel hieß es:
»Nahezu 400 Menschen dürften es gewesen sein, die Heiligabend den Weihnachtsgottesdienst unter freiem Himmel am Bahnhof Wandlitzsee feierten. Pfarrerin Janet Berchner hatte dazu eingeladen, weil die Kirche in Wandlitz-Dorf wegen Sanierung derzeit ohne Dach und in der Basdorfer Kirche die Heizung defekt ist. Mit einem großen Plakat, auf dem »Willkommen« in 14 Sprachen steht, wollte sie besonders die Verantwortung für das Asylbewerberheim betonen. Die Pfarrerin schilderte dann die Weihnachtsgeschichte. Maria und Josef fanden keine Herberge, sodass Jesus in einem Stall geboren wurde. Junge Leute haben das Bild von Maria und Josef an der Krippe mit dem Jesuskind dargestellt. Daneben leuchtete das Friedenslicht aus Bethlehem, das Pfadfinder nach Wandlitz gebracht hatten.«1
Bis zu diesem Zeitpunkt war noch kein einziger Flüchtling eingetroffen. Aber die Diskussion war spürbar in Gang gekommen, und sie hatte die von uns erhoffte positive Note. Sie war eher von Neugier als von Furcht bestimmt, der Großteil der Wandlitzer war offenbar fest entschlossen, die Hilfesuchenden tatsächlich willkommen zu heißen. Vielleicht hatten wir mit dieser optischen Aktion die Herzen so mancher ängstlicher Bürgerinnen und Bürger einen klitzekleinen Spalt geöffnet. Auch ausländische Touristen und polnische Arbeiterinnen und Arbeiter, die die Woche über in Berlin beschäftigt waren und auf dem Rückweg durch Wandlitz fuhren, nahmen das vielsprachige WILLKOMMEN dankbar entgegen. Wir alle vom Runden Tisch freuten uns mittlerweile richtig auf die Bekanntschaft mit den ersten Flüchtlingen, die gleich zu Beginn des neuen Jahres eintreffen sollten.