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Mit 64 farbigen Fotos,
einer Schwarz-Weiß-Illustration
und sieben Karten
ISBN 978-3-492-97149-2
Dezember 2015
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015
Alle Fotos: © Sarah Marquis; mit Ausnahme der Fotos 8 (© Snow Leopard Trust), 31/32 (© Lynn Webb)
Covergestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München
Covermotiv: Sarah Marquis
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Datenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen
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Für meinen Hund D’Joe,
der mir so viel gegeben hat …
Für alle Frauen auf dieser Welt,
die immer noch um ihre Freiheit kämpfen
Einleitung
Ich erinnere mich an lange Sommernachmittage voller Unbekümmertheit, an denen ich frei und ungebunden durch die Wälder streifte. Mit jener Unbekümmertheit, die man nicht erwerben kann, sondern die uns am Anfang unseres Lebens geschenkt wird. Und die dann allmählich, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, in unserem Alltag verloren geht, bis sie schließlich ganz von der Vernunft verdrängt wird. Doch eines Tages drehen Sie sich plötzlich um, ohne einen bestimmten Grund, und sehen sie. Dort hinten ist sie, Ihre süße, junge Unbekümmertheit zieht in Ihren Erinnerungen an Ihnen vorbei wie ein alter Schwarz-Weiß-Film. Ich erinnere mich an die Intensität, mit der ich beschloss, mein Leben zu beginnen.
Damit man meine Abenteuer in ihrer Gänze begreifen kann, sollte ich vielleicht erwähnen, dass ich niemals gern mit Puppen gespielt habe. Mein erstes Kuscheltier war ein graues Nilpferd, das genauso groß war wie ich damals. Meine Freunde verstanden mich, sie begleiteten mich durch all das, was später mein Leben ausmachen sollte. Meine Eltern machten sich keine Sorgen und fragten sich auch nie, was ich in den endlosen Stunden trieb, die ich mit meinen heiß geliebten Spielkameraden verbrachte – den Hühnern, Kaninchen, Hunden, Katzen, Enten, Schafen …
Ich war etwa acht Jahre alt und hatte einen unstillbaren Durst, im übertragenen Sinn, aber auch wortwörtlich. Oft erwischte man mich dabei, wie ich mit meinem Mund am Wasserhahn hing, im Garten, im Bad oder in der Küche. Ich klammerte mich an der Armatur fest und stillte meinen Durst mit zur Seite geneigtem Kopf an dieser imaginären Amme, saugte das Wasser in meinen kleinen Körper. Ohne eine Pause zu machen, schnappte ich nach der kostbaren Flüssigkeit, füllte mich damit wie ein Kamel, das eine große Wüstenreise vor sich hat. Und holte erst im allerletzten Moment wieder Luft, um einen »Vakuumeffekt« in meinem Körper zu vermeiden.
Mein Leben war damals fast jeden Tag ein Abenteuer. Ich war der glücklichste kleine Wildfang unserer Gegend, auch wenn es vieles gab, das mir nicht passte. Ich wollte begreifen. Und mehr noch wollte ich alles entdecken, ohne mich entscheiden zu müssen, ohne Ziel oder Vorlieben – einfach »alles«. Ich kann nicht sagen, ob das normal war, aber ich träumte mit offenen Augen von anderen Landstrichen, von anderen Bäumen, anderen Tieren, von einem Anderswo, wo Vögel mit bunt schillerndem Gefieder durch die Lüfte glitten und wo man auf Tiere treffen konnte, die man als wilde Bestien bezeichnete.
Ich habe mich niemals gefragt, wie ich das wohl anstellen würde. Tief in meinem Inneren war ein Gefühl, das so stark war, dass es für mich »eine feststehende Tatsache« wurde: Ich würde später einmal Entdeckerin werden. Oder allgemeiner gesagt, eine Abenteurerin.
Viele Schritte waren nötig, zahlreiche Abenteuer, damit ich eine Antwort auf die eine große Frage finden konnte: Warum laufe ich? Die Erklärung ist von einer fast logischen und pragmatischen Schlichtheit. Und man muss sich fragen, ob all die Schritte in all diesen Jahren wirklich nötig waren, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Ich tendiere allerdings zu einem »Ja«. Ich lächle, wenn ich mich an diese Jahre zurückerinnere. Ich, die ich die ganze Zeit den Zeichen des Schicksals gefolgt bin.
Wenn ich sie durch mein persönliches »Weitwinkelobjektiv« betrachte, kann ich diese Zeichen erkennen, erraten, fühlen. Je weiter ich mich entferne, desto mehr sehe ich. Aus diesem Grund fühle ich mich niemals allein. Mein Leben bestand bis jetzt aus einer süßen Mischung aus Aufregung, Schweiß, Abenteuer pur, nackten, behaarten Oberkörpern, an die ich für einen Moment meinen Kopf angelehnt habe, und all das gepaart mit der ständigen Gefahr, die einen wachsam bleiben lässt, durchsetzt mit wilden Tieren, die unaussprechliche lateinische Namen haben. Und immer wieder stand ich vor neuen Wahlmöglichkeiten in meinem Leben. Ich kann gar nicht alles zu Papier bringen, dabei möchte ich gerade das, ich wünschte, ich könnte insbesondere den Frauen all das hinterlassen wie ein Testament, das von der Freiheit erzählt, der Freiheit zu wählen.
Die Geschichte, die jetzt folgt, ist meine Geschichte. Ich widme sie allen Frauen überall auf der Welt, die immer noch um ihre Freiheit kämpfen, und denen, die sie zwar erreicht haben, aber nicht nutzen.
Ziehen Sie Ihre Schuhe an. Es geht los.
Nach dreijähriger Abwesenheit bin ich wieder in den Schweizer Alpen, und es sieht aus, als wäre alles mehr oder weniger so wie vorher. Und ich – die Abenteurerin, Frau, Gefährtin, Tochter, Schwester, Vortragsreisende, Freundin – kehre wieder an meinen Platz zurück. Mein Alltag ist überraschend, ja sogar aufregend. Ich bin ein wenig in der »Wiedereingliederungsphase« in mein früheres Leben, aber die Dinge haben sich verändert. Eigentlich ist gar nichts mehr wie früher. Als Allererstes: Ich habe drei Jahre voll turbulenter Abenteuer überlebt. Und glauben Sie mir, das war nicht immer selbstverständlich.
Heute finde ich in keinen Rhythmus, während ich versuche, die Sätze, die mir durch den Kopf wirbeln, getreu zu Papier zu bringen. Die Erinnerung kommt nur bruchstückweise. Ich habe den Eindruck, mein Wesen sträubt sich dagegen, sich zu erinnern. Ich bin wohl für immer gezeichnet von den feindseligen Regionen, die ich, als Mann verkleidet, allein mit Muskelkraft durchquert habe. In vielen Nächten habe ich mich in meinem Zelt zur Ruhe gelegt, während draußen Gefahren lauerten. Ich wandte mich dann an meinen »Schutzengel« und bat ihn, über mich zu wachen. Ich zwang mich in solchen Momenten, nur an Positives zu denken und negative Gedanken überhaupt nicht zuzulassen. Das war meine einzige Waffe. Noch heute verschmelze ich wie ein wildes Tier mit der Landschaft, so wie ich es in den letzten drei Jahren gemacht habe. In meinen alltäglichen Verrichtungen kommen immer wieder Überlebensinstinkte zum Vorschein. Wie ein großes Tattoo haben sich diese drei Jahre in meinen Körper, in meine Seele, in mein Herz gebrannt. Ich kann es nicht einfach wegwischen oder verbergen … Das bin jetzt ich.
Hier ist alles so bequem. Das Wasser kommt aus der Leitung, der Kühlschrank ist voller Leckereien, und ich habe sogar eine Kaffeemaschine. Schon schaue ich von meinem Text auf und steuere auf sie zu, um sie zum Fauchen zu bringen.
Ich wollte bei meinem Marsch allein sein, aber nicht nur das. Meine Mission war wesentlich ernsthafter und zugleich einzigartig.
Ein unbeschreibliches Gefühl machte sich in mir breit, als der Moment der Abreise allmählich immer näher rückte. Im Grunde meines Herzens wusste ich, dass mein Vorhaben die einzige Möglichkeit war, diesem Feuer, das in meinem Innersten glühte, treu zu bleiben. Ich spürte, wie es schwächer wurde, wie die Flamme nachließ … Es war an der Zeit, mich auf die Suche nach Brennholz zu machen, mit dem ich das Feuer meines Lebens erneut entfachen konnte.
Und so brach ich wieder auf. Zu Fuß. Das war für mich selbstverständlich … Und natürlich lief ich wieder allein.
Missverstehen Sie mich nicht. Ich bin nicht eines Tages in ein Flugzeug gehüpft und habe gesagt: »Cool, ich werde jetzt mal eben die Welt von Norden nach Süden zu Fuß durchqueren!«
Mit viel Entschlusskraft und Energie musste dafür ein richtiges Unternehmen auf die Beine gestellt werden, und zwar bereits lange vor dem ersten Schritt. Ich brauchte ein Team, auf das ich mich verlassen konnte, und als Erstes musste ich einen Expeditionsleiter finden. Bei meinen vorherigen beiden Expeditionen war mein Bruder Joël an meiner Seite gewesen. Und seine Lebensgefährtin Sabrina hatte sich um die Logistik für meine Expedition durch die Anden gekümmert. All das hatten wir bei einem Kaffee geplant, ohne uns groß die Köpfe zu zerbrechen, unter viel Gelächter und absolut ohne Reibereien, in dem Wissen, dass wir unsere Arbeit dennoch gut und mit Liebe machten. Nach meiner letzten Expedition hat Joël allerdings seine Zelte bei seiner Lebensgefährtin und ihrer gemeinsamen Tochter aufgeschlagen. Er hat sein eigenes Unternehmen1 in den Bergen gegründet und investiert seine ganze Zeit in die neue Firma. Ich wusste also, dass diese Expedition ohne ihn stattfinden würde.
Zwanzig Jahre Erfahrung auf diesem Gebiet haben mich gelehrt, dass man unbedingt alles vorhersehen sollte, was man gemeinhin »Probleme« nennt. Ich habe mir daher in jedem Land, das ich durchqueren wollte, jemanden gesucht, der die englische Sprache beherrschte und im Notfall eine Rückreise organisieren, mit den lokalen Behörden reden und sich um Visa und Ähnliches kümmern konnte.
Wenn man von Vorbereitungen spricht, muss man die Komplexität des Projekts im Auge behalten. Im Klartext: sechs Länder, durch die meine Reise gehen würde, unterschiedliche Klimazonen und Gegenden, vom Dschungel bis zur Wüste, von kalt bis heiß, von Schnee bis Sand. Und wie gewohnt würde ich nicht ohne meine guten alten topografischen Landkarten aus Papier aufbrechen, die in meinen Augen so wichtig sind. Mein neuer Expeditionsleiter schlug mir allerdings digitale Karten vor, die den Vorteil hätten, dass sie wesentlich leichter wären. Eine Idee, die man im Hinterkopf behalten sollte, vielleicht für einen Plan B.
All diese Operationen verursachen Kosten, die man bestimmen und kalkulieren muss, um dann zum nächsten Schritt überzugehen: der Suche nach Partnern, die sich an meiner Expedition – die ich inzwischen »ExplorAsia« getauft hatte – beteiligen würden. Parallel dazu musste ich mich körperlich fit machen mit einem entsprechend angepassten und intensiven Training, vor allem zur Steigerung meiner Ausdauerleistung.
Dies ist die Zusammenfassung von zwei Jahren Vorbereitung. Ich habe den Motor für dieses Riesenunternehmen ganz allein angeworfen. Nach und nach sind die ersten konkreten Zusagen eingetroffen und liebe, manchmal auch weniger liebe Menschen dazugestoßen. Ich konnte nun von der Planungsphase zur operativen Phase meiner Expedition übergehen.
Es ist erst drei Uhr nachmittags, aber ich bin erschöpft, lege mich zu meinem Hund und teile das Lager mit ihm. Ich bin traurig, denn ich muss ihn in der Schweiz zurücklassen. Jedes Mal, wenn mein Blick auf seinem ungezähmten, rot, weiß und eisgrau gefleckten Fell ruht, habe ich den Geruch von Australien in der Nase, er erinnert mich an unsere verrückten Abenteuer, die wir dort erlebt haben. Das Feuer, bei dem er mir das Leben gerettet hat, unsere langen Tage ohne etwas zu essen, unsere Touren durch viel zu heiße Wüsten, unsere Nachtmärsche, als er eigentlich nur noch schlafen wollte …
D’Joe ist, betrachtet man die Hunderasse, mit dem Dingo am nächsten verwandt. Er ist ein Red Heeler, ein australischer Hütehund. Ich habe ihm auf einer Farm das Leben gerettet, als er ungefähr sieben Jahre alt war.
Das war bei meiner Expedition durch Australien von 2002 bis 2003, als ich 14000 Kilometer durch die entlegensten Gebiete dieses Kontinents marschierte, 10000 Kilometer davon in seiner Begleitung. Am Tag unserer Begegnung habe ich ihm eine Art Rucksack gebastelt, und seither ist er Teil meines Lebens. Von da an haben wir alles geteilt. Daher war es selbstverständlich, dass D’Joe im Winter 2003 nach einem außergewöhnlichen Flug Schweizer Boden betreten hat. Da ich keinen Cent mehr hatte, musste ich die Leute, die mich seit Beginn meiner Expedition unterstützt hatten, bitten, die Transport- und Quarantänekosten für meinen treuen Freund zu übernehmen. Ich kann Euch nicht genug für Eure Großzügigkeit danken, Euch allen, die Ihr dazu beigetragen habt, meinen D’Joe in seine neue Heimat zu bringen …
Mein Herz krampft sich zusammen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich D’Joe bei meiner Rückkehr nicht wiedersehen werde. Ich habe mich um alles gekümmert, von Tierarztterminen bis zu osteopathischen Behandlungen seiner schmerzenden Hinterpfoten. Ich werde in meinem Zimmer meinen Geruch mithilfe getragener Kleidung hinterlassen, damit er keinen Stress empfindet und meine Gegenwart zumindest noch ein paar Monate spüren wird. Ich bin traurig.
Acht Tage vor meiner Abreise ist mein acht mal vier Meter großes Wohnzimmer mit Ausrüstung vollgestellt. Es gibt nirgendwo auch nur zehn Zentimeter, die nicht mit Material bedeckt sind, und die Stapel türmen sich. Ich habe für jedes meiner (hypothetischen) Bedürfnisse vorgesorgt. Dabei hat mir der Yosemite-Shop in Lausanne geholfen, unter anderem hat er die Logistik der Bestellungen übernommen. Ganze Vormittage habe ich mit Alain und Sabrina verbracht, die mir bei der Auswahl all dieses Materials eine wertvolle Hilfe waren. Meine größte Sorge galt der Auswahl meiner Schuhe. Da die Firma Raichle nicht mehr die Schuhe herstellt, die ich all die vergangenen Jahre benutzt habe, musste ich die Marke wechseln. Das gute alte Schweizer Traditionshaus war aufgekauft worden, und mein Lieblingsmodell ist aus den Katalogen verschwunden. Hoffen wir mal, dass meine Füße die neuen Schuhe der Marke Sportiva lieben werden, ich habe acht Paar davon gekauft.
Während dieser letzten Woche schlafe ich nur ein paar Stunden. Ich empfinde eine Mischung aus Freude und Niedergeschlagenheit. Schweren Herzens betrachte ich meinen Hund, der sich auf diesem Vorratslager aus Campingkochern und dicken Winterjacken mitten im Wohnzimmer niedergelassen hat. Stumm sagt er mir: »Geh nicht weg … bitte!«, mit Augen, die noch trauriger sind als meine.
Aber dann schnallt sich meine Mutter, die ins Basislager von Vevey gekommen ist, um mitzuhelfen, meinen Rucksack um, der viel zu groß ist für sie, und schiebt meinen Handwagen vor sich her. Unser Gelächter vermischt sich, die Spannung löst sich. Währenddessen überprüft Gregory, der Expeditionsleiter, im Garten, ob die Verbindung des Satellitentelefons mit dem Sonnenpanel gut funktioniert.
Um in einem fremden Land überleben zu können, muss man zunächst seine Geschichte kennen. Ich habe mich also auf die der Mongolei gestürzt. Und da ich weiß, dass im Allgemeinen bloß sieben Prozent der zwischenmenschlichen Kommunikation auf Sprache basiert, habe ich eine Chance von 93 Prozent, dass alles gut gehen wird. In der Mongolei ist die Macht des Clans aus näheren oder entfernteren Verwandten die einzige Überlebenschance für den Einzelnen. Daher haben Begriffe wie »Eigentum« und »Privatsphäre« in dieser Gesellschaft ihren Sinn verloren. Und so haftet den Mongolen schon seit grauer Vorzeit der Ruf von Räubern und Dieben an. Für sie ist es allerdings eine Art der Identität.
In meinem Rucksack verbergen sich ein kleines, leichtes Wörterbuch Englisch-Mongolisch sowie meine altbewährte Bildersammlung, die mir bislang stets geholfen hat, mich zu verständigen. Sie enthält schematische Abbildungen fast aller Grundsituationen, mit denen ein Tourist in einem fremden Land konfrontiert wird. Und in meinem Fall handelt es sich noch dazu um eine weiße Frau, die allein in der Steppe unterwegs ist und zwangsläufig mit angespannten, gefährlichen oder komischen Situationen zu tun hat.
Das traditionelle mongolische Alphabet entstand aus einer verbesserten Version der Buchstaben, die die Uiguren verwendet haben. Doch man muss außerdem unbedingt Kyrillisch lernen, das neben der klassischen Schrift verwendet wird – in dieser Sprache sind all meine Landkarten verfasst. Zum Glück sind die Entfernungen in Kilometern angegeben …
Vor Ort habe ich später, so gut es ging, meine Ohren gespitzt und die Nomaden, die meinen Weg gekreuzt haben, gebeten, die Namen der nächstliegenden Dörfer zu wiederholen, bis ich die exakte Aussprache beherrschte. Seit ich in so vielen unterschiedlichen Kulturen unterwegs bin, weiß ich, dass eine Sprache nicht nur aus Worten besteht, sondern ihre eigene Melodie, besondere Betonungen und ihren eigenen Rhythmus hat, die man ganz genau kennen sollte.
Jede Kultur ist eine Art Wundertüte, in der man mit Neugier und Verwunderung die Sitten und Gebräuche eines Landes entdeckt. In der Mongolei habe ich mich in bestimmten Situationen oft unwohl gefühlt, zum Beispiel als ich zum ersten Mal überraschend auf zwei Männer getroffen bin, die sich offen und hemmungslos anbrüllten. Bis ich begriff, dass sie gar nicht stritten, sondern nur miteinander plauderten. Mongolisch kann wie eine gewalttätige Ansammlung von Wörtern wirken, die aufeinanderprallen, sobald sie durch die Luft schwirren. Sogar Reiseführer warnen vor der scheinbaren Wildheit, die diese Sprache ausstrahlt.
Ein anderer Kulturschock und kein geringerer: Bei jeder unserer zufälligen, ungeplanten Begegnungen bauen sich die Nomaden vor mir auf und starren zum Horizont, während ihre Hand unter dem Bauch suchend nach ihrem Geschlechtsteil tastet, und schließlich pinkeln sie los. Dann folgt eine schier endlose Operation, die in vielfältigem Gerüttel und Geschüttel endet … Erst danach wenden sie die Augen vom Horizont ab und heften sie, glühend und schwarz, auf mich. Während der ganzen Szene wird kein Wort gewechselt. Ich erröte immer noch, wenn ich daran denke, wie viele Penisse ich zu Gesicht bekam. Nach langen Monaten voller »Ich sitze mal eben von meinem Pferd ab, um vor der wandernden Frau zu pinkeln« habe ich mir einen Spaß daraus gemacht, die männlichen Fortpflanzungsorgane der Größe nach zu ordnen. Am Ende war mir dieses Ritual auch nicht mehr peinlich. Es brachte etwas Leben in das im Allgemeinen doch eher eintönige Szenario aus Steppe und Wind. Die Statistikerin, zu der ich inzwischen geworden war, erlaubte sich sogar, das »Teil« lautstark zu kommentieren, mit dem sie vor meiner Nase herumwedelten. Und wenn mal welche nicht pinkelten, schoben sie doch zumindest das T-Shirt über ihrem wohlgerundeten Bauch hoch und starrten mir dabei in die Augen.
Ich werde meine Erzählung kurz unterbrechen. Das ist wohl der geeignete Moment, um mich an Regel Nummer 1 für eine Reise zu erinnern: niemals urteilen … Nur weil ich ein Verhalten nicht verstehe, darf ich es nicht verurteilen. Auch wenn das nicht immer so einfach ist …
Die Geste der Nomaden war nicht anzüglich gemeint. Nein, es war etwas anderes, erdverbundener und animalischer. Für mich war es vor allem eine Reviermarkierung und sollte bedeuten: »Wir haben dich gesehen, wir behalten dich im Auge, du bist auf unserem Gebiet.« Und für das T-Shirt, das über den Schmerbauch hochgeschoben wird, bekam ich mit etwas Verzögerung die Erklärung nachgeliefert: In diesem Teil Asiens bedeutet ein dicker Bauch Wohlstand und Reichtum. Die eher drastische, direkte Zurschaustellung soll eine klare Botschaft vermitteln: »Ich bin reich und deswegen zu respektieren.«
Damals fand ich, dass die Wundertüte der mongolischen Kultur doch sehr überraschende Sitten und Gebräuche bereithielt. Aber ich war bereit für weitere tolle Überraschungen.
Es kam auch zu derberen Erlebnissen: Berittene Jugendliche haben mich in der Steppe verfolgt, weil sie dachten, ich würde ihnen »six« geben, womit sie »Sex« meinten. Es ist traurig, aber das war das einzige Wort auf Englisch, das ich von der jungen Generation hörte. Die Mongolen hielten mich für eine Amerikanerin und dachten, dass sie mit so einer unbedingt »six« haben müssten. Sie haben das bestimmt im Fernsehen gesehen, denn auch die abgelegensten Nomaden besitzen ein solches Gerät. Die viereckige Kiste hört erst auf zu flimmern, wenn die Solarbatterie ihren letzten Energietropfen des Tages ausgespuckt hat.
Die Mongolei war eines der wenigen Länder, wo meine Sicherheit sieben Tage die Woche und rund um die Uhr bedroht war. Ein Land, in dem gemäß der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Diphtherie, Hepatitis A, Typhus, Japanische Enzephalitis, Lungenentzündung und Tuberkulose vorkommen. Und die Liste ist noch lange nicht zu Ende. Einige Krankheiten wie Pest und Maltafieber treten in der Steppe immer noch auf. Die Mongolei erlebt immer wieder Epidemien von Hirnhautentzündungen und Cholera …
Ich hatte meine letzte Impfung vor zwanzig Jahren erhalten. Und ich wurde daraufhin so krank, dass ich diese Erfahrung seitdem nicht wiederholen wollte. Aber diesmal habe ich mich trotz allem entschlossen, meine Tetanusimpfung aufzufrischen. Dann wollte ich mich noch vor Tollwut schützen. Weil aber für eine Immunisierung drei Spritzen in längeren Abständen nötig sind, hatte ich bei all dem Stress rund um die Abreise keine Zeit mehr dafür. Ich sollte also besser aufpassen und mich von keinem wilden Tier oder Hund beißen oder ablecken lassen.
Meine Vorbereitung hat zwei Jahre gedauert und war sehr anstrengend. Völlig erschöpft und ausgelaugt sitze ich schließlich in dem Flugzeug, das mich in die Mongolei bringen soll, Platz 24B … Ich schlafe ein, noch bevor das Flugzeug vom Boden abhebt.
Mit jedem Schritt vermischt sich ein Stück von mir mit der Erde.
Mit jedem Schritt gibt mir die Erde etwas von sich zurück.
Kein Schritt ist umsonst, alles hat einen Sinn. Ich bin seit zwanzig Jahren zu Fuß unterwegs, und die dabei zurückgelegte Strecke entspricht einer Erdumrundung. So lange habe ich gebraucht, um auf die eine Frage zu antworten, die mir fast alle gestellt haben: »Warum läufst du?«
Ich habe bislang immer geantwortet: »Ich weiß es eigentlich nicht.«
In meinem Inneren spürte ich die wahre Antwort, doch ich konnte sie nicht in Worte fassen.
Rückblickend erkenne ich, dass ich es nicht wissen konnte, dass meine Schritte mich noch vieles lehren würden.
1 Für mehr Informationen: www.verbier-excursions.ch.