Werner Streletz
Rohbau
Roman
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Titel
Impressum
Zitat
Erster Teil
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
Zweiter Teil
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
Weitere Bücher
Werner Streletz, geboren 1949 in Bottrop, lebt in Bochum; Mitglied des PEN-Club und der Internationalen Autorenvereinigung „Die Kogge“; seine literarischen Arbeitsgebiete sind Lyrik, Prosa, Theater, Hörspiel und Film; letzte Veröffentlichungen: die Romane „Kiosk kaputt“ (2008) und „Pokalkampf“ (2009), ein „Road-Movie in Versen“ mit dem Titel „Der Beifahrer“ (2010) sowie „Volkers Lied der Nibelungen. Eine Annäherung“ (2011). Zu seinem 60. Geburtstag erschien „Der Streletz-Block“, ein Schuber mit drei Büchern: „Kiosk kaputt“, „Pokalkampf“ und die Novelle „Vermessen“. Werner Streletz arbeitet als Schriftsteller und Kulturjournalist. Mehrfach ausgezeichnet, zuletzt ist ihm 2008 für sein Gesamtwerk der Literaturpreis Ruhr verliehen worden.
ISBN 978-3-89733-372-7
© projekt verlag, Bochum/Freiburg 2013
www.projektverlag.de
Cover Design: punkt KOMMA Strich, Freiburg
www.punkt-komma-strich.de
Bildnachweis: view7 / photocase.com
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
»Nur ein Trugbild trennt uns von unserem Glück«
(Farid Lariby, 1942 – 1990)
Das ist gleich geblieben. Nach wie vor benutzt der Linienbus nicht die ausgebaute Hauptverkehrsstraße. Er biegt stattdessen in Wohnbebauungen ein, die zwischen Tankstelle und Supermarkt eingezwängt liegen und an diesem heißen Tag mit ihren aufgesperrten Fensteröffnungen aussehen, als würden sie um Hilfe rufen. Um die verstreut liegenden Haltestellen zu bedienen, fährt der Bus weiträumige Schlenker, durch Brachgelände oder an gleichförmigen Eigenheimen vorbei, die nach einem festen Raster aneinandergereiht scheinen, durch enge Straßen hindurch, die auf eine Kirche oder einen zentralen Platz zulaufen – damit einen soliden Vorort markierend, einen gewachsenen Stadtteil mit eigenem Namen.
Früher hat Johny diese Kurvenfahrt oft nur schwer ertragen können. Wenn er glaubte, der Fahrer hätte ein Einsehen mit seiner Ungeduld und würde auf dem bequemen und breiten Asphalt verbleiben, mehr noch: vielleicht sogar kräftig Gas geben und ein Strafmandat oder eine Abmahnung riskieren – genau in dem Moment bog der Bus in eine neuerliche Holperstrecke ein. Der Fahrer drehte damals wie zwanghaft an seinem mächtigen Lenkrad, dabei – wie Johny vermeinte – seinen Atem anhaltend, als würde er vor Spannung berstend hinter dem Gebäude-Eck ein Abenteuer erwarten. Auch Johny beschlich sachte Aufregung, galt die Gegend, die sie dann durchquerten, doch als gefährlich, als hartes Pflaster. Dort würde die Miete mit dem Panzer eingetrieben, hatte er mal gehört. Mau-Mau-Siedlung wurde die Gegend genannt, oder Pampas. Die Kioske waren dort stets grob gezimmerte Holzkisten und nie fest gemauert, verrostete Fahrräder lehnten öfter als anderswo an den Baumstämmen. Schnell verließ Johny damals bei den Haken schlagenden Busfahrten die kribbelnde Erwartung auf irgendetwas, und Unmut machte sich wieder in ihm breit, weil er durch die Trödelei nur unnötig spät sein Ziel erreichen würde.
Diesmal allerdings drängt ihn nichts; er hat diesen Zickzack-Kurs absichtlich gewählt und nicht den bequemeren Zug benutzt, um sogleich möglichst viel von der alten Heimat wiedersehen zu können.
Im Vorbeifahren entdeckt er an einer Häuserfront der nach wie vor tristen Mau-Mau-Siedlung ein halb zerrissenes Bettlaken, auf dem etwas geschrieben steht: »Kein Abriss!«, kann er so eben noch entziffern. Das Laken flattert wie eine Fahne im Wind. Rund ums Gebäude kein Mensch. Johny weiß nicht, warum er das als ungewöhnlich empfindet und ihn ein Gefühl der Einsamkeit beschleicht. Obwohl der Bus ziemlich voll ist. Es ist Mittag.
Als Johny gedankenverloren zu lange durch das Busfenster schaut, zuckt er knapp und zackig zusammen. Sein Oberkörper biegt sich dabei kurz nach vorn, um sich – als hinge er an einem Gummizug – sogleich wieder aufzurichten. Johny verspürt dabei keinen Schmerz. ›Nervliche Sache, ganz klar‹, denkt er. Er versucht, sich daran zu gewöhnen. Immer noch angenehmer als die ausdauernden Schläge in die Magengegend, die ihn noch vor Kurzem nach dem Erwachen oder tagsüber in Minuten der Muße gequält haben. Immer, wenn er nicht angestrengt nachdenkt oder durch anderweitige Dinge abgelenkt wird, nur so vor sich hindöst, fährt dieses Zucken durch seine Muckis und die Brust. Immer, wenn er in einen inneren Tran verfällt, ruft ihn dieser unsichtbare Schlag in die Alltäglichkeit zurück. Als hätte ihm irgendein freundlicher Geselle von hinten kräftig auf die Schulter gekloppt. Eine herzliche Geste, für die ihn Johny allerdings hassen würde. Zucken! Die Hausfrau auf dem Sitz neben Johny schaut ihn an, als wäre er Opfer eines Attentats geworden. Linkisch lächelt er ihr zu.
Johny zieht einen Taschenkalender aus der Jacke und versucht, sich auf die darin aufgeführten Eintragungen zu konzentrieren. Der 4. Mai ist also ein Sonntag gewesen, am 24. Juli geht die Sonne um 5.43 Uhr auf, der 24. Oktober steckt mitten in der 43. Woche des Jahres. Johny hat sich so sehr in die festen und beweglichen Feiertage vertieft, dass er fast die Haltestelle am Bahnhof seines Heimatortes verpasst. Als er aussteigt, nickt ihm die Frau auf dem Nebensitz aufmunternd zu: wie jemandem, der sich auf den Weg zu einer alles entscheidenden Operation ins Krankenhaus begibt. ›Sie wird daheim einiges zu erzählen haben‹, denkt Johny.
Zumeist befindet sich der Hauptbahnhof im Zentrum einer Stadt, in Johnys Heimatort ist er aus unerfindlichen Gründen weitab angesiedelt, nahe der Grenze zur Nachbarkommune. Das Bahnhofsgebäude liegt zwischen zwei Gleisen, auf denen die Züge in die jeweils entgegengesetzte Richtung fahren. Seltsamerweise trägt das Gleis links von der Station die Nummer 1, das Gegenstück auf der anderen Seite ist dagegen mit 18 beziffert. Wo die übrigen 16 Gleise zu finden sind, ist Johny nie klar geworden. Sicher, er hätte einen Bahnbeamten fragen können, doch so wichtig scheint ihm die Auskunft wohl nie gewesen zu sein.
Während die Bahn in anderen Städten mit Neubauten prunkt oder ihre alten Stationen mit viel Glasfläche renoviert und neumodisches Gestühl in den Warteraum montiert, ist der Bahnhof in Johnys Heimatstadt stets der gewohnte Fachwerkbau geblieben – zweigeschossig, mehr Bauernhaus als ein Ort umtriebiger Reise- und Transporttätigkeit. Ein Freund sagte Johny einmal: »Wenn man bei euch aus dem Zug steigt, wundert man sich, dass man nicht von Hühnern umgackert und von Enten umschnattert wird.« Großzügig lachte Johny darüber.
Um den kleinen gepflasterten Bahnhofsvorplatz zu erreichen, muss man zunächst einen von zwei Seiten beschrankten Übergang passieren. Johny hatte es früher gelegentlich erlebt, dass beide Schranken geschlossen waren, wenn er aus der Bahnhofsgaststätte nach draußen trat. Dann war er gefangen zwischen den Gleisen, eingesperrt von der Bundesbahn. Manchmal hatte er die rot-weißen Barrieren als Schicksalswink und zum Anlass genommen, wieder an den Tresen zurückzukehren. Auch wenn er das dumme Geschwätz da drinnen schon mächtig satt hatte und befürchtete, eine gewisse Aggressivität nicht mehr völlig verbergen zu können.
Als er aus dem Bus aussteigt, der ein Stück vor dem Bahnhofsgelände in der Nähe einer Tankstelle gestoppt hat, bemerkt Johny, dass während seiner Abwesenheit zwischen den Gleisen ein Taxistand eingerichtet worden ist. Er kann sich nicht vorstellen, dass in den vier Jahren, da er nicht mehr hier gewesen ist, aus den meist proletarischen Bahnkunden, die entweder ihren Gebrauchtwagen bestiegen oder zu Fuß nach Hause trabten, plötzlich feine Herrschaften geworden sind, die mit lässiger Geste ein Taxi herbeiwinken. Doch irgendjemand muss sich ein lukratives Geschäft versprochen haben, als er den Droschkenplatz in die Zange zwischen zwei Bahnschranken platziert hat. Jedenfalls ist großstädtische Hektik ausgeschlossen, wenn ein eilig herbeigewinktes Taxi zunächst an der heruntergelassenen Schranke stoppen muss.
Johny hat eine Reisetasche dabei, da er über Nacht bleiben will. Wahrscheinlich wird er sich in der kleinen Pension einquartieren, neben der früher ein Vorstadtkino stand, das er regelmäßig sonntags zur Jugendvorstellung besucht hat. Später wurde im Kinosaal ein Supermarkt eingerichtet. Mit abschüssigen Regalen. So stellte Johny es sich vor. – Um die Hände freizubekommen, will Johny die Tasche in der Gepäckaufbewahrung des Bahnhofs abgeben. Die Schranke steht senkrecht, er kann die Gleise überqueren. Drei ausgetretene Stufen führen zur Eingangstür des Bahnhofs hinauf. Die graue Lackfarbe auf dem massiven Holz ist an vielen Stellen abgeblättert, gegen das helle Schutzmetall im unteren Türbereich haben schon Hunderte von Schuhen getreten, so schmutzig ist es. Mit Dreckkruste an den Rändern.
Als Kind hat Johny die gerahmten Plakate im Schalterraum mit den Abbildungen von fröhlichen Reisenden als übermächtig und riesengroß empfunden, ihr wie eingefroren wirkendes Lachen hat ihn fast verängstigt. Später schrumpften die Plakate auf Normalmaß, und die übertrieben heiteren Mienen sind ihm affig erschienen. Die Leere, die ihn damals im Schalterraum umgab, weckte in ihm Neugier und Reiselust. Über die grau-schwarz plattierte Bodenfläche schritt er langsam, maßvoll und genießerisch. Sie bildete für ihn den Übergang vom Alltag in ein Abenteuer, in das ihn die durch quäkende Lautsprecher ausgerufenen Züge befördern würden. Noch heute bedauert Johny, dass er diesem Lockruf nicht häufiger gefolgt ist, sondern allzu oft in der Bahnhofskneipe endete.
Der Schalterraum ist nicht mehr leer. Mitten drin steht ein mächtiger Kubus, der unterteilt ist in metallene Kästen, acht an der Zahl, vier in zwei Reihen übereinander, versehen mit Zahlen und kleinen Schlössern. Der Beamte, der früher Koffer und Kisten zur zeitweiligen Lagerung angenommen hat, ist gegen einen Automaten ausgetauscht worden. An manchen der schmalen Kästen sind die Türen verbeult oder verbogen. Als hätte ein Unhold sie aufbrechen wollen. Der beinahe wandhohe Mauerdurchbruch der ehemaligen Gepäckaufbewahrung ist durch ein Rollgitter versperrt. Der Fahrkartenschalter ist ebenfalls dicht, die Luke, durch die früher Auskünfte erbeten und manchmal Auszüge aus den Beförderungsbedingungen heruntergeleiert worden sind, ist mit Sperrholz verrammelt.
Neben dem Schalter hängt ein Fahrplan. Veraltet, wie Johny mit kurzem Blick feststellt. In der hinteren Ecke dieser Station Schwermut liegt ein Haufen von bröckeligem Mörtel und Verputz – erstes Zeichen für den Abbruch oder für eine grundlegende Renovierung? Nur die Tür zur Bahnhofsgaststätte scheint vor nicht langer Zeit frisch gestrichen worden zu sein. Die Klinke glänzt. Das Schild auf der Tür ist ausgewechselt worden. Das Wort »Schenke« steht darauf. Nicht mehr in Druckbuchstaben, sondern in elegant wirken wollender Schreibschrift. Hinter der Tür hört Johny leises Gemurmel, noch dünner ist das Klingeln eines Spielautomaten zu vernehmen. Die Kneipe ist also noch in Betrieb: Johny geht nicht hinein.
Zu sehr schreckt ihn die Vorstellung ab, drinnen alte Bekannte zu treffen; Kneipengänger sind treue Wesen. Jemanden, der ihn vielleicht nach seinem Woher und Wohin, nach seinem Verbleib in den letzten Jahren fragen würde. Nix zu machen. ›Ohne mich‹, denkt Johny. Er will die alte Heimat zunächst alleine wieder in sich aufsaugen, jedem Schritt die Bedeutung eines tief empfundenen Wiederentdeckens geben. Dabei wären dumme Sprüche am Wegesrand nur hinderlich. Und doch, wie gern hätte er auf die Klinke gedrückt! Riecht es in der Gaststätte noch immer leicht muffelig oder ist zwischenzeitlich eine Lüftung eingebaut worden?, überlegt er. Ist das Mobiliar das gleiche geblieben oder hat die Brauerei es für dienlich befunden, sich neuen innenarchitektonischen Trends anzupassen? Kaum wahrscheinlich in diesem Umfeld. Johny stellt seine Tasche in eine offene Gepäckbox, wirft die Münze ein und steckt den kleinen Schlüssel in die Tasche. Johny geht zum Ausgang. Den Kneipenbesuch verschiebt er auf später. Vielleicht sollte er gar nicht mehr hierher kommen. Denkt Johny. Völlig neu anfangen. Doch dafür hätte er in eine fremde Stadt umziehen müssen. An der Schranke kommt Johny ein älterer Mann in Bundesbahnuniform entgegen. Er wirkt wie ein Fremdling.
Johny erreicht über ein kleines Rondell die Friedrich-Ebert-Straße, die vom Hauptbahnhof in nördlicher Richtung in die Stadtmitte führt. Früher wurde die vierspurige Fahrbahn mit mäßig bepflanztem Grünstreifen in der Mitte Verbandsstraße genannt, ohne dass Johny je erfahren hätte, weshalb. Jeder nannte sie so. Als Kind kamen Johny dabei Mullbinden und Heftpflaster in den Sinn oder das schwarze, auf der rechten Schulter verknotete Tuch, das er nach einem Armbruch tragen musste. Verbandsstraße: Das klang für ihn nach Sanitätszügen mit Ärzten und Krankenschwestern, nach Pinzetten, Tupfern und vernähten Wunden. Vielleicht waren hier früher wehrhafte Verbände entlanggezogen und das Waffenmetall glänzte im Licht, denn der Krieg muss an dieser Stelle besonders haarig zugeschlagen haben. Als Johny den nachlässig gepflasterten Bürgersteig entlanggeht, schaut er noch einmal genauer hin, und der Eindruck früherer Jahre bestätigt sich: Kein altes Haus, nicht einmal ein Baum ist damals vor der Zerstörung bewahrt geblieben. Nichts konnte historische Patina ansetzen.
Neben der Friedrich-Ebert-Straße erstreckt sich Zeilenbauweise in Reinkultur. Einfallslos. Johny wird es unbehaglich von den eintönig gestaffelten, langen Gebäudekästen – vier Wände, ein Dach drauf, der Putz schon grau, die Fenster in monotoner Folge, die Treppenhäuser – ebenfalls in gleichbleibenden Abständen – sind von außen an schmalen, waagerechten Sehschlitzen erkennbar. Diese Bebauung ohne eigenständigen Charakter ist von hastigen Nachkriegsarchitekten am Reißbrett entworfen worden, gebrauchsfertig und ohne sonderliche Wärme. Hier waren Menschen untergebracht, einquartiert, nicht aber in ein neues, wohliges Heim entlassen worden – jeder Anflug von Luxus bleibt somit ein Hirngespinst. So denkt Johny, ohne das Bedürfnis zu verspüren, irgendeine seiner Vermutungen auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüfen zu wollen. Die Vorgärten erinnern ihn mit ihren ruppigen Rasenstücken und Blumenähnlichem nur an dumpfe Fron und nicht an heiter erlebtes Freizeitvergnügen. Entlang der Verbandsstraße hat sich seit Jahrzehnten nichts verändert. Kein gefälliger Bungalow oder irgendeine geschwungene Leuchtreklame verfeinert das überkommene Einerlei.
In eines dieser Mietshäuser wird Johny einziehen.
Ihm ist klar geworden, auf welche Ödnis er sich mit dieser Entscheidung eingelassen hat. Mitten hinein in die graue Menschenmasse, Fernsehen »1. Programm« hinter der Wohnungstür des Nachbarn rechts, Fernsehen »2. Programm« links, Wäscheleinen auf dem Speicher, Fahrradrudel im Keller. Von keinerlei Hochgefühl beflügelt wird er hier wohnen, freundlich jeden grüßen, der ihm treppauf, treppab begegnet. Er will sich dem aussetzen, auch wenn er sich nie wohlfühlen wird. In seiner jetzigen Verfassung ein gemütliches Zuhause genießen zu wollen, erscheint ihm frevelhaft. Und so wünscht er sich auch – vielleicht nicht ganz im Ernst –, dass in den anderen Wohnungen des Hauses schnauzbärtige Denunzianten, Miesmacher, Spießbürger und Korinthenkacker leben, die sich über jeden schwarzen Strich des Schuhabsatzes auf den gewienerten Treppenstufen aufregen und nie mit dem Perfektionsgrad an Sauberkeit zufrieden sein werden, der ihm in der Flurwoche möglich ist.
Als Johny auf dem Hinweg in der Nähe des Bahnhofs an einem Spielplatz vorbeikommt, neben dem ein Schwerverbrecher einmal einen Polizisten abgeknallt hatte, der lediglich dessen Personalien überprüfen wollte, verspürte er zum ersten Mal ein heimatliches Gefühl. Der Mörder hatte in einem Auto geschlafen, der Polizist klopfte gegen die Scheibe, der Mörder kurbelte diese nach unten und schoss ohne ein Wort. Wenn Johny früher mit Freunden auf dem Spielplatz zusammenhockte, breitete sich sogleich eine unbestimmte Spannung zwischen ihnen aus, wenn ein fremder Wagen auf das von Hecken umsäumte Areal mit Sandkasten und Klettergerüst zusteuerte. Die Straße bog kurz vor dem Spielplatz rechts ab, und meist folgte das Auto natürlich dieser Richtung. Manchmal hielt ein Fahrzeug an. Johny wollte schon in Deckung gehen hinter den Sitzbänken. Doch dann stieg meist nur ein Mann aus, der sich Zigaretten am Automaten in der Nähe ziehen wollte.
Durch die städtische Wohnungsbaugesellschaft war Johny an seine neue Bleibe im Zeilenbau geraten. Drei Zimmer, Küche, Diele, Bad. ›Wie gehabt, wie immer‹, hatte Johny gedacht. Der Schlüssel ist ihm vom Hausverwalter nach Köln geschickt worden. Damit sich Johny einmal umschauen könne. »Vielleicht verspäte ich mich ein wenig«, hatte der Verwalter am Telefon gesagt und angefügt: »Ich kann Ihnen ja vertrauen.« Johny kannte den Mann überhaupt nicht. Vierte Etage, kein Aufzug.
Johny weiß nur, dass eine betagte Dame vorher in der Wohnung gewohnt hat. Diese hat sich zuletzt nicht mehr selbst versorgen können und ist daraufhin bei ihrer Tochter untergekommen. Die Tochter hat die Wohnung nicht nur besenrein, sondern lupenrein hinterlassen. Kein Stäubchen auf den Fensterbänken.
Johny blickt hinunter auf das breite Gelände zwischen den Gebäuden. Holprige Wiese, Teppichstange. Niemand dort. Oder hat er im letzten Moment noch einen Mann gesehen, der in den Keller gegangen ist, zu dem eine kleine Treppe hinunter führt? ›Egal‹, denkt Johny. Die Dielenbretter in den Räumen sind grau gestrichen, an vielen Stellen jedoch abgewetzt. Hellere oder dunklere Schattierungen deuten an, dass hier und da ein Teppich gelegen oder über lange Jahre ein Möbelstück wie festgenagelt und unverrückbar gestanden hat. ›Wie auch immer‹, denkt Johny. Er verspürt keinerlei Neigung, sich mit Details zu befassen, die in ihm assoziative Geschichten auslösen könnten. Ihm würde dabei vielleicht jene Greisin aus Jugendtagen einfallen, die zu Weihnachten eine elektrische Melitta-Kaffeemaschine geschenkt bekommen hat. Und die trotzdem weiterhin – wenn sie allein war – in der alten angerosteten Kaffeemühle die Bohnen mit knarrenden und leise krachenden Begleitgeräuschen zerkleinerte. Im Wohnzimmerschrank waren ihre vergilbten Papiere verstaut, zwischen denen die Verwandten nach ihrem Tod ein unvermutetes Sparbuch mit einer ungewöhnlich hohen Summe entdeckt haben. All das soll ihm nicht einfallen.
Johny will sich vollständig auf die angenehme Stille konzentrieren, die hier oben herrscht, zumindest in den beiden Räumen zum Hof hin. Will die Leere der Wohnung auf sich wirken lassen, die durch keinen zurückgelassenen leeren Karton oder Wischlappen gestört wird. Nur die Spüle steht noch in der Küche. Johny schließt die Tür dorthin. Nun stören ihn die groß geblümten Tapeten im Wohnraum. Spielerisch reißt er in der Nähe des Fensters einen Fetzen davon ab. Sichtbar wird eine weitere Tapetenschicht, zart gestreift. Johny knibbelt weiter. Darunter noch eine Tapete, diesmal blau mit quadratischem Muster. Johny ahnt weitere Tapetenlagen unter den freigelegten Schichten. Die Renovierungsarbeiten werden ihn lange beschäftigen. Damit ist er einverstanden. Hat er doch nicht vor, seine Freizeit mit langen Spaziergängen zu verbringen, sondern ist fest entschlossen, sich in der neuen Umgebung als zerknirschter Stubenhocker zu profilieren. Dabei wird ihm eine ausgiebige handwerkliche Tätigkeit zugutekommen. Johny will die Renovierung allein bewerkstelligen.
Er hört eine Kinderstimme vom Hof herauf. Ein zweites kindliches Rufen, dann Lachen. Johny tritt nicht ans Fenster, um hinunterzublicken. Er wird daran erinnert, wie er früher nach irgendwelchen Verfehlungen von der Mutter zur Strafe Nachmittage lang in sein Bettchen verbannt worden ist. Hörte er dann – mit griesgrämiger Miene und in sich gekrümmt auf dem Laken liegend – solches Kindergeschrei von draußen her, erfüllte ihn ein sehnsuchtsvoller und fast unerträglicher Wunsch nach Freiheit, nach einem Rausrennen ohne jeden Plan.
In einer Zimmerecke klingelt das Telefon. Johny geht ran. Es ist der Verwalter. Er könne nicht kommen. Ein wichtiger anderer Termin. Doch Johny würde sich bestimmt auch alleine zurechtfinden. Den Mietvertrag schicke er ihm in Kürze mit der Post. Oder man könne sich später einmal auf ein Bier treffen.
Johny ist diese Absage nur recht. Am späten Nachmittag ist er mit seinem künftigen Arbeitgeber verabredet. Auf das Plauderstündchen mit einem Menschen, dessen Stimme schon fernmündlich unangenehm hechelt, kann er da gerne verzichten.
Rechts neben der schmalen Straße, die Johny entlanggeht, erstreckt sich ein Areal mit wenigstens einem Dutzend nebeneinanderliegender Schienenstränge: die Gleise des Güterbahnhofs, etwa 20 Minuten Fußweg in südlicher Richtung vom Hauptbahnhof entfernt. Ein ausgebeulter und arg verbogener Maschendrahtzaun soll das Betreten des Betriebsgeländes durch Unbefugte verhindern. Das ist nur unzulänglich gelungen, wie an niedergerissenen Teilen der ältlichen Absperrung deutlich wird, über die Trampelpfade führen – Abkürzungen über die Gleise hinweg zur anderen Seite hinüber. Hierhin verlaufen sich nur knutschsüchtige Liebespaare oder eigenbrötlerische Säufer. Denkt Johny.
Die Schwellen, auf denen die Schienen festgeschraubt sind, liegen in einem Schotterbett, das insgesamt so breit wie der Rhein oder der Mississippi ist und sich – vorbei an Stellwerken aus rotem Ziegelstein und unter eisernen Brückenkonstruktionen hindurch – weit hinten in den Ausläufern der Nachbarstadt verliert. Dort muss irgendwo das Gebäude des Güter- und Verschiebebahnhofs stehen, von dem aus die Loks und Waggons über die Weichen mal hierhin, mal dorthin dirigiert werden, um sie in einer ganz bestimmten Formation hintereinander ordnen zu können. Nach Wunsch der Kunden. Johny hat diese Rangier-Zentrale nie gesehen, sie sich manchmal als lichtdurchflutete Glaskanzel vorgestellt, in der – von draußen gut zu erkennen – geschäftige Bundesbahnbeamte auf die richtigen Knöpfe drücken, damit nicht plötzlich zwei Zugmaschinen aneinander gekuppelt sind oder ein Kohletransport mit den Bananenkartons kombiniert wird.
Wer beim Hauptbahnhof vermutet, dass es die Gleise 2 bis 17 möglicherweise gar nicht gibt und sich die Wirkung von derartig vielen Schienenlinien gar nicht vorstellen kann, dem wird hier am Verschiebebahnhof klar, welch beängstigende Wucht von 12 oder 15 nebeneinander verlaufenden Gleisen ausgeht: Stahl und Stein in Reinkultur, ohne dekorative Ablenkung, unterbrochen nur durch schüchternes Grün hier und da. Wobei die vermeintliche Ruhe des Schotterfeldes jederzeit durch eine Lokomotive durchbrochen werden kann, die auf einem dieser vielen Gleise heranzockelt. Übergroß – vielleicht haben Johny und seine Bande den Verschiebebahnhof deshalb nie als Spielplatz für irgendwelche Mutproben ausgesucht. Zumal ihm ein Freund einzureden versuchte, das Betreten des Geländes wäre auch deshalb verboten, weil die Schienen unter Strom stehen würden. »Sonst können die E-Loks nicht fahren«, sagte der. Obwohl Johny schon bald der Blödsinn dieser Behauptung klar war, glaubte er, verdächtiges Knacken und Knirschen in den Schienen zu hören, als er ihnen einmal zu nahe gekommen war. Schlugen nicht sogar kleine Blitze von einem Strang zum anderen? Immerhin warnten gelbe Schilder vor einer Lebensgefahr.
Nur einmal ist Johny zwischendurch hier gewesen. Er wollte einen Arbeitskollegen am anderen Ende des Ruhrgebiets besuchen. Die Direktverbindung führte über die Schienen des Güterbahnhofs. Zweimal am Tag verkehrte ein Triebwagen dorthin. Vom Hauptbahnhof aus hätte Johny zweimal umsteigen müssen. Ein trinkhallengroßes Gebäude hatte früher als Wartehalle gedient. Es war damals schon geschlossen worden, weil Rabauken aus der spartanischen Inneneinrichtung Kleinholz gemacht hatten. Und so musste Johny rechts an dem Häuschen vorbei einen Pfad hinaufgehen, um zu den Gleisen zu gelangen. Wie schon in Kindertagen faszinierte ihn sogleich wieder die Staffelung der Schienenstränge, die an jenem Nachmittag im milden Sonnenlicht zu glänzen schien. Kein Waggon, keine Lok zu sehen. Johny stand allein am Haltepunkt, der durch ein mannshohes Schild gekennzeichnet war. Er würde hier für immer vergessen werden, niemand würde ihn jemals hier abholen, ging es ihm durch den Kopf, und Johny genoss diesen Gedanken.
Nach einiger Zeit sah er am Horizont ein Fahrzeug auftauchen, das er beim Näherkommen als den roten Triebwagen identifizierte. Zeitweise wusste er nicht, auf welchem Gleis der Wagen fuhr, da die Schienen nach bekannten optischen Gesetzmäßigkeiten in der Ferne in einem Punkt zusammenzulaufen schienen. Dann war sich Johny sicher, dass das Gefährt auf einem Gleis weit von ihm entfernt am Haltepunkt vorbeizockeln würde. Doch irgendwo gab es eine Weiche, die den Triebwagen in seine Richtung lenkte. Johny stieg ein. Der Fahrer grüßte lächelnd. Johny war sein einziger Fahrgast.
Kurz bevor er das Gelände erreicht, auf dem ihn sein künftiger Arbeitgeber zum Gespräch erwartet, kommt Johny an jenem Wartehäuschen vorbei. Das Gebäude ist vollständig renoviert worden, mit Klinkern verblendet. Vielleicht dient es im Rangierbetrieb als Aufenthaltsraum, denn der Haltepunkt ist aufgegeben worden. Das weiß Johny seit Langem.
Von außen ähnelt der Ziegelbau einer Scheune. An der Giebelseite ein hohes hölzernes Flügeltor, dem man ansieht, dass es beim Öffnen über den Boden schaben wird. Daneben die schmale Eingangstür. Wie fürs Gesinde.
Johny tritt ein. Mitten in der weiträumigen Halle steht ein betagter Lkw, dem Johny keine TÜV-Plakette mehr zutrauen würde. Es riecht nach Öl. Seitwärts erstreckt sich an der Wand eine lange, wuchtige Werkbank, die – lädiert und wie rußgeschwärzt – aus sehr ferner Zeit in unsere Tage hinüber zu ragen scheint. ›Als hätten daran schon wackere Domhüttenmeister gearbeitet‹, denkt Johny, und weiß nicht, warum er auf diesen Vergleich verfällt, hat diese schlaffe Malocheridylle doch wenig gemeinsam mit dem himmelwärts strebenden, religiösen Schaffenseifer des Mittelalters. An einer Holzleiter, die an der Wand lehnt, sind mehrere Sprossen durchgebrochen. ›In diesem Raum ist schon lange kein wachsamer Vertreter der Berufsgenossenschaft mehr gewesen‹, denkt Johny. Schmutzige Lappen liegen auf dem dunklen, splittrigen Holz der Werkbank. Daneben stehen auf dem Boden Eimer, Bottiche, deren Ränder mit Speis verkrustet sind, Bretter, Zementsäcke … Weiter hinten sieht Johny graue Stahlschränke, manche als Spinde ausgebildet, andere mit Schubladen versehen oder mit Schiebetüren. Rechts, so nah neben dem Lkw, dass er die Kotflügel zu streifen scheint, steht ein Tisch aus grob behauenem Holz. Wie man ihn auf Rastplätzen im Wald findet.
Rund um den Tisch sind Stühle unterschiedlichster Art angeordnet, manche mit Beinen und Lehnen aus billigem Metall oder aus gedrechseltem Holz, manche mit Stoff – andere mit Plastikpolstern. Ein kunterbuntes Ensemble, als hätten die Leute ihre Sitzgelegenheiten von zu Hause mitgebracht. Die Stühle stehen krumm und schief zur Tischkante, mal mehr, mal weniger weit davon entfernt. Ein Stuhl ist umgekippt. Alles deutet auf einen fluchtartigen Aufbruch hin. ›Doch wahrscheinlich haben hier nur unordentliche Personen zusammengesessen‹, denkt Johny. Er jedenfalls legt Wert darauf, wenn eben möglich, nach dem Aufstehen seinen Stuhl akkurat unter den Tisch zu schieben. Keiner soll unachtsam dagegen stoßen und sich verletzen.
Kein Mensch zu sehen. Johny will sich gerade durch einen Ruf bemerkbar machen, da entdeckt er am hinteren Ende der Halle eine hölzerne Treppe, die an der Wand nach oben führt. Johny schaut hoch und entdeckt einen weiß gestrichenen Kasten, ähnlich einem Container vom Frachthafen; nur feiner, vornehmer wirkend, als wäre er unter die hohe Decke geklebt. Kleine erleuchtete Fenster – in der Halle ist es trotz der Tagesstunde dämmerig – gewähren keinen Einblick. Am Fuß der Treppe, die zur Tür einer eigenartigen Variante eines Baumhauses führt, ist ein knallroter, nach oben weisender Pfeil angepinnt. Johny folgt diesem eindeutigen Hinweis und steigt die Treppe hinauf.
Es gibt Leute, von denen man sogleich zu wissen glaubt, dass sie falsch an der jeweiligen Stelle sind. Bei denen man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass man sie schon woanders, in anderen Zusammenhängen gesehen hat, in Situationen, die ihnen stärker entsprochen haben als jene, in der sie sich im Moment befinden. Wenn jemand in einem feinen Zwirn auf dem Wochenmarkt Zwiebeln verkauft oder in einem weißen Smokingjackett in einer Spelunke Bier zapft, vermittelt sich ein Gefühl amüsierender Irritation. Auch die ältere Dame, die mit flottem Hütchen auf der Dauerwelle ein Schreibwarengeschäft betreibt, gehört dazu. Johny hat einmal in einem Bus gesessen, und der Fahrer erzählte an jeder Haltestelle übers Mikrofon eine kleine Geschichte über das nahe gelegene Schloss, das in der Vergangenheit heftig umkämpft worden wäre – mit Schwert und Knarre – oder über das Freibad gegenüber der Straßenkreuzung, das bald geschlossen werden sollte. Der Mann schob dabei seine Schirmmütze in den Nacken und plauderte so witzig, dass die Fahrgäste lachten, als befände man sich auf einer Klassenfahrt und nicht in einem Bus der Linie 315. Dieser Mann wird in Deutschland keine Karriere machen, dachte Johny damals. Auch der Thekengast fällt ihm ein, den sie alle den »Professor« nannten. Johny hat ihn nur von ferne gekannt, wusste jedoch davon, dass er mit der Zeit immer wirrer gesprochen und Fremdwörter in völlig unsinnigen Kombinationen gebraucht hat. ›Intelligenz versoffen‹, dachte Johny. Irgendwann saß der Professor nicht mehr an seinem angestammten Platz links neben dem Gang zur Toilette. Ob er in die Nasenbleiche oder eine Trauerhalle transportiert worden war, wusste Johny nicht.
Das Büro von Goldmann ist größer, als es von unten den Anschein hat. Es gleicht einer sterilen Zelle. Weiß gestrichene Raufasertapeten. Von Malerarbeiten, die Johny hin und wieder ausgeführt hat, weiß er, dass man der weißen Anstrichfarbe gern einen Stich gelb oder beige beimischt, um ihr die abweisende Schärfe zu nehmen. Hier ist eine solche augenfreundliche Abmilderung nicht vorgenommen worden. Der Schreibtisch, die hohen Schränke wirken in diesem Raum wie dunkelbraune geometrische Flächen, wie mit einem Lineal angelegt. Keine Bilder an den Wänden, künstliches Licht aus Neonröhren an der Decke. Wie kann es jemand in diesem Büro für längere Zeit aushalten? Hat ihn das unter der Decke montierte Gehäuse zuvor an die Fahrgastkabine eines Luftschiffes erinnert, so glaubt Johny nun, das aseptische Innere eines extraterrestrischen UFOs betreten zu haben. Der Gegensatz zur sympathischen Rumpelkammer unten kann kaum größer sein.
Auch Goldmann wirkt äußerlich nicht so, als würde er das herzliche Lachen gepachtet haben: dürr, in fein geschnittenem, seltsam kobaltfarbenem Anzug, der beim Gehen sicherlich um die schmalen Glieder schlottert. Große, dunkle Fliege unterm Kinn. Goldmanns Antlitz wirkt ausgemergelt, doch die Haut ist faltenfrei und straff: als bestünde die Gefahr, dass sie schon bald auf dem Nasenrücken mit gedämpftem Knall auseinanderplatzt. Goldmanns Augen tief liegend, davor die Brille mit dünnem Metall eingefasst. Sie erinnert Johny an das Gestell des verschwundenen Kneipenprofessors. In das Unbehagen, das Johny empfindet, mischt sich Vertrautheit. Goldmann hat lockiges Haar, das ziemlich kurz geschoren ist. Und damit verschwindet jeder Anflug von Heimeligkeit sofort wieder. Jetzt weiß Johny, dass sein künftiger Arbeitgeber nicht einem abgestürzten Thekenturner mit universitärem Bildungsweg ähnelt, sondern fatal einem seiner früheren Lehrer. Ein Rohrstockflorettist der unnachgiebigen Sorte, der Schüler an den beiden Ohren durch die Klasse gezogen hat. Das nannte er »Stier-Spiel«, weil der jammernde Junge bei dieser Tortur vornüber gebeugt durch den Gang zwischen den Bänken stolperte. Der meist gehasste Lehrer der Schule. Mancher von Johnys Schulkameraden hat als Berufswunsch »Mörder« genannt, nur, um diesem Lehrer den Garaus machen zu können.
Goldmann steht hoch aufgerichtet hinter dem Schreibtisch. Er habe ihn schon die Treppe hochkommen hören, sagt Goldmann nach knappem Gruß zu Johny, der sich dazu aufrafft, nicht zögernd, sondern ruhig und selbstsicher näher an den Schreibtisch heranzutreten. ›Schlurfte er wirklich so laut beim Gehen, dass man sein Heraufkommen durch die geschlossene Tür hat bemerken können?‹, denkt Johny. Es wäre ihm peinlich. Dann sitzen sie sich am Schreibtisch gegenüber, auf dem nur ein matt glänzendes schwarzes Telefon steht. Johny befürchtet, dass Goldmann ihm gleich Strafarbeiten aufbrummen wird. Seine Aversion wird gesteigert, als ihn sein künftiger Arbeitgeber mit dem vollen Namen Johannes Ewald Kaczmierzak anspricht.
Natürlich weist der Personalausweis diese hässliche Wortkombination als Johnys Namen aus, doch wenn er ihn hört, und dann so scheinbar genüsslich ausformuliert wie in diesem Fall, überfällt Johny ein Ekelreiz. Johannes Ewald Kaczmierzak: Was hatten sich die Eltern dabei gedacht, als sie ihm dieses Monstrum als lebenslangen Makel zuordneten? Johny hasst die überkommene Unsitte, Neugeborene mit den Vornahmen enger Verwandter zu behängen. Zumal er mit Opa Johannes und dem Taufpaten Ewald in seinem Leben nur wenig zu schaffen gehabt hat. Opa Johannes wohnte weit entfernt, und mit Onkel Ewald hatten sich die Eltern schon bald nach Johnys Geburt zerstritten.
Der Nachname bildet nicht das Hauptproblem. Kaczmierzak klingt zwar nicht nach einem Gutsbesitzer mit edlen Forsten, sondern erinnert an verarmten polnischen Landadel oder einen Püttrologen von der siebten Sohle, doch schon früh hat Johny seine Herkunft aus dem Ruhrgebiet zu akzeptieren gelernt. Das Minderwertigkeitsgefühl, das viele Koloniebewohner überfällt, wenn sie sich jenseits der Emscherauen aufhalten, konnte ihn nie verunsichern. Als hilfreich hat sich dabei sein eingefleischter Trotz erwiesen, der ihn manchmal allzu lange auf einer falschen Meinung beharren lässt, der bei ihm jedoch vitale Abwehrkräfte zu mobilisieren vermag. Ich bin Kaczmierzak, das braucht mir keiner zu verzeihen! Zur Weißglut treibt es ihn, wenn jemand seinen Nachnamen falsch ausspricht. Wenn die erste Silbe nach »Katz« wie bei »Katze« klingt und nicht als »Katsch« wie bei »Matsch« zu identifizieren ist. An der mittleren Silbe kann man eigentlich nichts falsch machen, die Endung verbirgt dann wieder eine Tücke: Mancher weiß es nicht besser und sagt »Tschak«. Wie bei »Tschako«, dem knochenharten Bullen-Helm vergangener Jahre. »Zack!«, wie bei »zack, zack!« verbessert Johny dann und fordert seinen Gegenüber auf, den Nachnamen zu wiederholen. »Aber zack, zack!«, ruft Johny. Die meisten reagieren mit sturem Widerwillen auf diesen Befehl und versuchen, das Gespräch in entspanntere Bahnen zu lenken. Einige jedoch lassen sich von Johnys herber Entschlossenheit beeindrucken und sind ihm zu Willen: »Katsch-mier-zzzack!«
»Geht doch!«, schnurrt Johny anschließend beinahe süßlich. Was die Situation vollends peinlich macht.
Mit seinem Nachnamen lebt Johny also in friedlicher Koexistenz. Viel Ärgernis aber steckt in den Vornamen. »Johannes« erinnert ihn unweigerlich an eine unterwürfige Dienerschaft. Eine Abkürzung für Johannes lautet Hannes. Auch so ist Johny schon genannt worden – für ihn ein Namenskretin übelster Sorte. Und Ewald? Bei diesem biederen Wörtlein sieht er Legionen von Skatspielern vor sich: Johny hasst derartiges Kartengekloppe, hat stets ungern dabei zugesehen, wie durch eine zufällige Blattkombination Freude oder verbiesterter Missmut in die Gesichter der Beteiligten schoss. Am liebsten ist es ihm, wenn er »Johny« genannt wird. Aber bitte schön mit langem »O« wie bei Zitrone! Johny stellt sich eine Zitronenscheibe vor, die auf ein Cocktailglas gesteckt ist, in dem ein verführerisches Gesöff schwappt. »Johny« mit kurzem »O« dagegen gibt ihm das Gefühl, als sei an seinem eigentlich wohlgelittenen Spitznamen, der ihm dann nach Rollmops, Flaschenbier und Kirmesboxer zu klingen scheint, etwas amputiert worden. Der »Johny« mit dem langen »O« indessen, der trägt die Schuhe blank geputzt, hält sich beim Gähnen die Hand vor den Mund und hat trotzdem ein Auge auf alles Unrecht dieser Welt. Auch mit »John« hat er sich von einer Freundin schon beturteln lassen. Doch dann mit schroffem, knappen »O«. Der Name bekam dadurch für ihn etwas Kraftvoll-Männliches, Wehrhaftes. Schon durch diesen stämmigen Namen zeichnete er sich als Beschützer aus.
Ein entfernter Bekannter hat Johny schon vor längerer Zeit auf Goldmanns Betrieb aufmerksam gemacht: »Wenn du doch einmal wieder nach Hause ziehen willst, greif zu!« Goldmann und seine Handwerker wären genau das Richtige für Johny, hatte der Bekannte gemeint. Keine stumpfsinnigen Malocher, die nur »ihren Akkord kloppen wollen«. Sondern alles »irgendwie schräge Typen«. Vielleicht nicht jedermanns Geschmack, doch Johny würde sich bei denen wohlfühlen.
Als Johny sich nach dem Desaster in Köln zur Rückkehr entschlossen hatte, kam ihm dieses Gespräch wieder in den Sinn. Er erkundigte sich: Den Betrieb gab es noch. Er rief den entfernten Bekannten an, der hatte sich als Vermittler angedient. Ohne persönliches Vorstellungsgespräch war Johny daraufhin »zur Probe« – so hieß es offiziell – angeheuert worden. Wie war Johny von dem entfernten Bekannten empfohlen worden? Dieser hatte eine kleinkriminelle Karriere hinter sich – oder steckte noch mitten drin – und war ein leichtfertiger Lügner. Beides bezog Johny in seine Überlegungen mit ein, hielt sich aber nicht allzu lange dabei auf. Er brauchte einen Job. Ganz gleich, welches Bild von ihm beim künftigen Arbeitgeber gezeichnet worden war und wie gewöhnungsbedürftig seine Kollegen sein würden.
Goldmann blickt Johny so ernst und eindringlich an, als wäre ihr Treffen konspirativer Natur. Überraschenderweise verfügt er – im Gegensatz zum kehligen Geröchel des leidigen Lehrers – über eine warme Stimme. Goldmann will keine Details über Johnys Vorleben wissen, fragt ihn nur nach seinen handwerklichen Fähigkeiten. Es freut ihn sichtlich, dass Johny in verschiedenen Gewerken fit ist. Das vereinfacht den Einsatz, sagt Goldmann. Ansonsten schauen sich Johny und Goldmann schon bald über längere Spannen stumm an, weil keiner mehr das Bedürfnis zu haben scheint, etwas zu sagen oder zu fragen. ›Ist das inneres Einverständnis oder fällt ihnen beiden tatsächlich nichts mehr ein?‹, fragt sich Johny. Ist das Schweigen für sie beide unbehaglich oder Zeichen erster Vertrautheit? Johny kann solchen kuriosen Überlegungen nicht lange nachhängen. Goldmann beendet den Besuch, indem er sich vom Stuhl erhebt, Johny die Hand reicht. »Ich denke, wir lassen jetzt die Praxis sprechen«, sagt er. Goldmann lächelt. Johny steht so schnell auf, als habe er auf das Stichwort gewartet, und ist sauer auf sich, dass er nicht durch gemächliche Bewegungen ein gerüttelt Maß an Souveränität und Gelassenheit vermittelt hat. Irgendwelche Nettigkeiten tauschen sie zum Abschluss ihres Gesprächs nicht aus.
Als sich Johny unten am Lastwagen vorbeidrückt – Goldmann ist oben in seinem UFO geblieben –, empfindet er es als durchaus zweckdienlich, nun über einen gestrengen Vorgesetzten zu verfügen. Jemand, der wahrscheinlich keine Albernheiten und Nachlässigkeiten durchgehen lässt. Der ahndet, der vergilt. Und Johny verspürt Lust, sich bestrafen zu lassen, eine masochistische Neigung, die er früher an sich nicht bemerkt hat. Doch vielleicht können Peitschenhiebe die Schuldgefühle aus ihm herausprügeln. Obwohl Goldmann zu solchen Mitteln sicherlich nicht greifen wird. ›Schade eigentlich‹, denkt Johny. Jetzt muss er lachen. Johny verlässt das Goldmann-Gelände wie einen Ort künftiger Rituale. Und will dort doch nur seinen Unterhalt verdienen.
Später glaubt Johny, die Schienen des Rangierbetriebs viel detaillierter sehen zu können als auf dem Hinweg. Er vermeint, an den großen eisernen Muttern, mit denen die Gleise auf den Schwellen festgeschraubt sind, jedes noch so feine Schrammengeflecht erkennen zu können. Und Johny malt sich das Riesen-Werkzeug aus, das notwendig ist, um das Gewinde etwas zu lockern. Fast körperlich verspürt er die Schwere der Muttern, würde er versuchen, sie hochzuheben. ›Welche Winzlinge sind im Vergleich dazu in seinem Werkzeugkasten daheim verstaut‹, denkt Johny. Er schreitet am renovierten Wartehäuschen vorbei, schaut durchs Fenster hinein. Der Hauptraum ist gemütlich eingerichtet – als würde darin jemand wohnen. Blumen auf dem runden Tisch. Welch ein Gegensatz zu den verrotteten Bauwagen, in denen Johny im Laufe seines Berufslebens die Mittagspause zu verbringen hatte. ›Bahnbeamte sind eben eine ganz besonders häusliche und bequeme Sorte Mensch‹, denkt Johny, ohne zu wissen, aus welchen Quellen sich dieses Vorurteil speist.
Er will noch einmal über die Weite der Bahngleise schauen. In der vagen Hoffnung, von Ferne wiederum einen Triebwagen herannahen zu sehen – wie damals. Im Nachhinein kommt es ihm so vor, als sei der Triebwagen seinerzeit direkt aus den Tiefen eines Traumes in die Wirklichkeit hineingesteuert worden. Dieses Gefühl will er intensivieren. Doch die Gleise – alle Gleise – sind leer und bleiben leer.
Nach zehn Minuten trollt sich Johny wieder. Ohne weitere Pause erreicht er den Hauptbahnhof, dort zieht er seine Tasche aus dem Gepäckfach. Ein Blick Richtung Schenke. Das kleine, in der Mitte geteilte Fenster in der Tür – Milchglas – kommt ihm plötzlich ungemein vertraut vor, wie die Kellertür, damals, daheim, in seiner Jugend. Im Keller stand sein geliebtes Fahrrad.
Johny kann der Versuchung nicht widerstehen. Er drückt die Klinke nach unten, die Kneipentür ist verschlossen. Frühe Abendstunde, eigentlich die normale Öffnungszeit für eine Gaststätte. Johny ist verwundert: Hat ein neuer Wirt den Thekenbetrieb auf den lichten Tag beschränkt, um nicht nachts torkelnde Stammgäste zum Taxi begleiten zu müssen? Steht jetzt ein Mann am Tresen, dem fahriges, unzusammenhängendes Gerede eine Pein bedeutet, eine Qual, der er bequemerweise durch einen frühen Feierabend entgehen kann? Oder muss der Wirt heute wegen eines Trauerfalles in der Familie zeitiger schließen? Letztere Möglichkeit behagt Johny am meisten. Obwohl auch er alkoholdurchpulste Rotznasen nicht gern zu Freunden hat, geht er ihnen nicht zwanghaft aus dem Weg. Er betreut sie gern, wenn sie in ihrem Schnapstaumel irgendwo nicht zurechtkommen. Als Samariter hat sich Johny schon immer wohlgefühlt. Ihm gefällt es, in Notfällen, welcher Art auch immer, die Lage zwangsläufig souveräner im Griff zu haben als die betroffenen Hilfsbedürftigen.
Auf eine Voranmeldung in der kleinen Pension hat Johny verzichtet. Wie er erwartet hat, kommt er dort ohne Probleme unter. Johnys Heimatort wird von Touristen eher gemieden, und ihm ist früher unklar gewesen, wie sich hier ein Hotelgewerbe überhaupt rechnen kann. Zeitweise glaubte er, die Stadt selbst würde die Betten subventionieren, um Fremden eine Matratze anbieten zu können. Eine ältere Dame gibt Johny den Schlüssel, weist ihm den Weg zu einem Zimmer, das ihn sogleich durch solide Mittelmäßigkeit langweilt. Spannender findet er die Beobachtung, dass in das Gebäude nebenan, in dem früher ein Kino und danach ein Supermarkt untergebracht waren, nunmehr ein Hygiene-Laden für Erwachsene eingezogen ist.
Am nächsten Morgen spaziert Johny nach bescheidenem Frühstück zum Hauptbahnhof hinunter. Er weiß nicht, warum er plötzlich das Gefühl verspürt, an einem Urlaubsort zu sein. Gleichviel. Johny will bei der Rückfahrt auf die Vieleckentour mit dem Linienbus verzichten. Darum setzt er sich im Hauptbahnhof in den Bummelzug zur Nachbarstadt. Von dort wird Johny den IC nehmen, mit dem er gestern angekommen ist.
Ruhig blickt Johny aus dem Fenster des altertümlichen grünen Waggons, sieht eine Wiese, die früher ein Acker war, sucht jenen Weg mit den Baumwurzeln als Fußangeln. Überraschenderweise wird Johny bei seinem müßigen Schauen nicht durch das lästige Zucken in seinem Oberkörper gestört. Dann geht ihm durch den Kopf, dass er während seines Gesprächs mit Goldmann von ferne des Öfteren dumpfes Zusammenprallen gehört hat. Als wären draußen die Rangierarbeiten in vollem Gange. Und Johny verwundert im Nachhinein, dass die Gleise später, als er vorbeikam, völlig verwaist gewesen sind.
Nach dem schrecklichen Geschehen damals in Köln musste Johny auf der Polizeiwache warten, da ein Arzt gerufen wurde, der ihm die Blutprobe abnehmen sollte. Zwar hatte Johny beteuert, nüchtern zu sein, doch die Beamten blieben misstrauisch. Ein Polizist schnüffelte an Johnys Atem, der höchstens nach dem jugoslawischen Essen riechen konnte, das sich Johny vor dem nicht vorhersehbaren Unheil gegönnt hatte. Vielleicht dachten die Beamten, der Knofi diene als Tarnung. Sie wollten sichergehen.
Bis der Arzt kam, saß Johny auf der langen, blank polierten Holzbank im Flur. Zeitweise wurde er dort allein gelassen, die Beamten, die ihn mitgenommen hatten, kramten irgendwo anders herum. Er hatte wohl einen derart verstörten und hilflosen Eindruck auf die Polizisten gemacht, dass sie ihm eine flotte Flucht nicht zutrauten. Johny war orientierungslos fast vor die Wand neben der Eingangstür des Präsidiums gelaufen und hatte sich danach mit dem letzten Schwung vor der endgültigen Erschöpfung beinahe neben die Holzbank gesetzt. Nur kräftige Polizistenhände hatten ihn vor einem bösen Sturz bewahrt. Er schien für die Polizisten ein armes Würstchen zu sein. An ein spontanes Entkommen war durch den gut bewaffneten Beamten an der Pforte ohnehin nicht zu denken.
Es war still auf dem Gang der Wache. Flackerte die Neonleuchte an der Decke oder hatte sich Johny durch die Aufregung Sehstörungen eingehandelt? Er blinkerte mit den Augen und begann, an dieser harmlosen Beschäftigung Gefallen zu finden.
Später hörte er zwei dunkle Stimmen aus einem weiter entfernten Dienstraum, dessen Tür offen stand. Die Männer schienen nicht zu wissen, dass ein fremder Lauscher draußen saß, denn sie unterhielten sich mit kräftigem Vokabular über einen Kollegen, der wohl zu viel soff und deshalb kurz vor einschneidenden beruflichen Konsequenzen zu stehen schien. Nachdem sich die beiden versichert hatten, dass man zwar durchaus hin und wieder sein Lämpchen zum Glühen bringen darf (»Wir wollen ja nicht genießen, wir haben Durst!«), klang es wie ein Schwur hinaus auf den Flur: »Aber man muss es auch vertragen können …«
Sie hätten da alles im Griff. Und einer der beiden sagte: »Traurig eigentlich. Der Kalle lebt doch seit Langem nur noch im magischen Dreieck von Kneipe, Bett und Wache!« Der mitleidige Satz bekam für Johny beinahe einen Signal-Klang, da der Mann ihn in klarem Hochdeutsch gesprochen hatte. Sein Gegenüber redete in breitem Kölsch. Wie alle Polizeibeamte, die Johny seit dem Schrecknis getroffen hatte. Den hochdeutschen Satz empfand Johny deshalb als knochentrocken und hart – fernab jeglicher regional gefärbten Beschwichtigung. Das Wort »magisch« kam ihm zudem ungemein zauberisch vor, in dieser tristen Umgebung mit den Garderobenhaken aus Billigmetall und den angepinnten Steckbriefen: Mord, Sexualverbrechen. Johny hoffte, der Raum, die beklemmende Situation könnten sich plötzlich wie durch eine Wunder wirkende Formel verändern, würden sich in Luft auflösen oder sich zumindest in ein angenehmes, unbekümmertes Erlebnis verwandeln. Die Blutprobe ergab erwartungsgemäß null Promille.
Magisches Dreieck: Johny hat lange selbst in dieser geometrischen Form gelebt. Baustelle, Bahnhofskneipe, Bett hießen bei ihm die Eckpunkte. Wie oft hat er, wenn ihn wieder einmal eine Ungerechtigkeit im Arbeitsleben oder anderwärts zur Weißglut getrieben hatte, wenn er Strategien hatte ersinnen müssen, um einem Gehandicapten wieder frohe Stunden zu ermöglichen, die Sehnsucht nach dem Ausklinken gehabt. Der Wunsch, alle Verantwortung abgeben und jede Mitmenschlichkeit hintanstellen zu können, war nüchtern nicht zu erfüllen. Darum hat Johny gelegentlich in der Bahnhofsgaststätte den Deckel rund gemacht. Nie hat er das als lässliche Sünde empfunden. Irgendwo muss Robin Hood seine Kraft ja hernehmen, dachte er dann. Auch die späteren Nörgeleien seiner Trinkkumpane, er habe wieder einmal ein recht freches Maul geführt, ja, selbst Beleidigungen haben sie wegstecken müssen, berührten ihn seinerzeit nicht sonderlich.