Impressum
Neuausgabe
eBook: © Weidle Verlag bei
CulturBooks Verlag 2013
www.culturbooks.de
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten.
Erstausgabe: © Juni-Verlag 1989
Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
Erscheinungsdatum: 10.10.2013
ISBN 978-3-944818-21-4

cover

Besuchen Sie CulturBooks im Internet:

www.CulturBooks.de
www.facebook.com/CulturBooks
twitter.com/CulturBooks
plus.google.CulturBooks.com

Newsletter
Gern informieren wir Sie über unsere Neuerscheinungen und aktuelle Aktionen:
CulturBooks/Newsletter

Über das Buch
Worum geht es? Um alles und nichts, um Erinnerungen – Erlebtes und Angewandtes –, darum, wie Thelen und sein Oberschelm Vigoleis elektrifiziert worden sind, d. h. wie ein »Mann der Feder« »an das Stromnetz angeschlossen« worden und zu seiner ersten elektrischen Schreibmaschine gekommen ist. Es geht um die »hämtückischen« Tücken des Objekts, einer Schreibmaschine als der Inkarnation des Wesens der Technik, und um kopflos gewordene Vertreter; es geht um den Bruder Jupp aus Süchteln, der plötzlich »angersch Kallt«, und um einen heiligen Herrn, dem Vigoleis die Vorzüge einer Weltuhr anpreist, um eine groß- und starkbusige Leserin und um die »Casa Rocca Vispa«, die wir bereits aus Thelens Parabel »Glis-Glis« (1967) kennen.

Ja, und das soll schon alles gewesen sein? Ja und nein. Wer so fragt, kennt eben Thelen (noch) nicht, einen Schriftsteller, der sich zum eigenen Leidwesen, seinen Lesern dagegen zum höchsten Vergnügen immer selbst »ins Wort« fällt, der wie Ästhetiker seit je den Witz definieren, entfernte Ähnlichkeiten entdeckt und als Wortschatzmeister alle menschlichen (und insbesondere auch religiösen) Torheiten anprangert.

»Vigoleis ist Humorist. Seine Weltanschauung – sollte es denn überhaupt eine geben – ist skeptisch, ja pessimistisch; er misstraut dem großen Ganzen ebenso wie dem kleinen Teil, jenem Menschlich, Allzumenschlichen, hinter dessen Fassade nur der Wahnsinn wildgewordener Kleinbürger grimassiert. Und seine Stilmittel – die Waffen des Humoristen – sind Witz, Satire und Ironie, sind abschweifendes Erzählen wie der Einsatz barocker Sprachgesten und eines Wortwildwuchses: Mittel, mit denen er sein episches Welttheater inszeniert. «
Werner Jung

Über den Autor

Albert Vigoleis Thelen, geboren 1903 in Süchteln am Niederrhein, war Autor, Kritiker und Übersetzer. Sein Roman »Die Insel des zweiten Gesichts« gilt als eines der großen literarischen Werke des 20. Jahrhunderts. Es folgten u. a. der Roman »Der schwarze Herr Bahßetup. Ein Spiegel« und die Erzählung »Glis-Glis. Eine zoo-gnostische Parabel«. Der »große Unbekannte der deutschen Literatur« (Jürgen Pütz) verstarb 1989 in Dülken am Niederrhein.

Albert Vigoleis Thelen


Der magische Rand

Eine abdriftige Geschichte



CulturBooks Verlag
www.culturbooks.de

*

Diese ebenso nothafte wie leibhaftige und allerenden auch abtriftige Geschichte von einem magischen Rande beginne ich mit dem Wort eines Professors für Nervenverhedderung, dessen hochmögender Name freilich nicht ins Spiel kommt, weil er, Schopenhauerscher Welteinsicht zufolge, garnichts zur Sache tut, und ich anderweit bösfertiger Unterstellung vorbeugen möchte, wie mir solche, zum reinen Beispiel, die nicht minder nothafte, leibhaftige und noch abtriftigere Geschichte vom Schwarzen Herrn Bahßetup hat eintragen können seitens garstiger weißer Mucker und Luchser, denen die Wahrheit eines fremden Daseins unversehentlich zur eigenen Selbstbedrängnis zu werden drohte.

Möge man mir das getrost als klüglichen Vorbedacht deuten; indes gemach, mein geneigter Leser, gemach, da ich längstens nicht dafür einstehe, daß mir der Name nicht noch entwischt, während ich die Befahrnisse mit dem verhexten Rande elektrisch niederschreibe, in großen, das gefährdete Augenlicht leidlich schonenden Lettern, – Corpus 16 für den, der es wissen will: denn Wort für Wort auch auf das gefeite Ab- und Umwort bedacht zu sein, das widerstrebt mir; ja ich könnte mich dann gleich selber ganz abschreiben. Zudem wird auf niemandes Ehre geschmält, ob auch ein klitterkleiner Zahn die Ehre eines Hauses von Weltruf genugsam benagt.

»Alle großen Dichter haben diktiert«, sagte der namhafte Professor, der hier namenlos bleibt, »Goethe, Sokrates, Gerhart Hauptmann, Balzac –«, und schon war er mit seiner Literaturgeschichte am Ende. Ich hätte ihm noch ein paar mehr der Meister nennen können, doch begnügte ich mich damit, den Spieß gewissermaßen umzudrehen, indem ich ihm die Feststellung entgegenhielt, daß es kein Zeichen von Größe sei, ob ein Mann der Feder diktiere oder die Feder selber führe, und soviel ich wisse, sei Sokrates des Schreibens überhaupt nicht einmal kundig gewesen, wie desgleichen der göttliche Homer und viele Dichter des Alten Bundes, zu schweigen von manchem Steinzeit-Autor, der schon so dekadent gewesen sei, daß ihm rein körperlich die Kräfte gefehlt hätten, mit Hammer und Meißel sein Werk in die Höhlenwand zu hauen. Solchen Dichtern sei nichts anderes übrig geblieben, als ihr Wort einem muskelstrotzenden Sekretär buchstäblich ins Steinbeil zu sagen, immer vorausgesetzt, daß die Poesie bei ihnen eins gewesen sei mit dem vorgesagten Wort. Ich nämlich, so führte ich weiter aus, ich, weder groß noch klein, bei aller Stubenhockerei kein Höhlenliterat noch auch ein zukunftsträchtiger Reimzertrümmerer, sei zum Diktieren nicht geschaffen; die Gnade der Einsagung habe sich nicht über mich ergossen; mir sei das Bild der Schrift, das heißt des gerade Geschriebenen, vor den Augen zu haben wichtig für den Ablauf der Gedanken. Wie der Ackermann hinter dem Pfluge den Blick auf den sich schraubenförmig drehenden Erdbalken gerichtet halte, so müsse mein Blick sich unentwegt an die Wortfolge heften; nur so könne ich, um im Bilde der Bodenbestellung zu bleiben, die gerade Furche ziehen, möge zugegebenermaßen manch einem Leser mein literarischer Furchenrain noch so krumm erscheinen. Zudem sei es mir unangenehm, die eigene Stimme am Tun zu hören, Lauscher an der eigenen Wand zu sein. So habe eben jeder seine sich immer mehr einfleischende Eigenart zu schreiben, die nur ihm noch gemäße und wie oft nicht satanische Einspannung in das handwerkliche Joch und Maß. Der eine bestelle seine Wortsaat leise, sicher geborgen in der unterirdischen Dunk, wo der andere laut zu Werke gehe. Das Klappern der Schreibmaschine zum Beispiel habe mir nichts an, freilich sei es auch nicht anregend oder auch nur neutralisierend, wobei ich, wenn mir der Herr Professor das noch zu sagen erlaube, an den geschlürften und gebissenen Wein dächte, der eben besser munde als ein nur lautlos getrunkener Schluck; noch scheuche mir das Hämmern die Gedanken. Das technische Geräusch sei mir eine Selbstverständlichkeit geworden, es könne mich nie aus der Fassung bringen, wie etwa das Herz es vermöge, wenn wir es schlagen hören da oben im Halse, oder das gewisse Ohrensausen, bei dem man zuweilen Stimmen vernehme, sich angerufen wähne und man angstvoll horchen müsse, woher die Einflüsterung komme, – aus dem Jenseits doch wohl nicht?

Dies alles trug ich dem Nervenherrn vor, während ich auf der weiß bezogenen Pritsche lag, die neurologisch ersprießlichsten Teile des Leibes entblößt, woraus klar ersichtlich ist, daß ich mich nicht von einem reinen Seelenfroschmann aushorchen ließ, und vollends unnötig hinzuzufügen, daß die umstrittenen Freudschen Gemächtsame züchtig bedeckt blieben.

Der Arzt war ganz Ohr, oder er schien es wenigstens zu sein; doch die Hände waren in voller Wirklichkeit an mir am Werk. Denn der Professor stach mich mit langen Nadeln, und ich mußte an Cam ões denken, der von den Chinesen auch so gestochen wurde, was ich dem Arzt natürlich sagte. Da ich freilich den Namen des Dichters richtig aussprach, wußte er nicht, wen ich meinte, nickte aber beifällig und stach weiter. Dann schickte er galvanische Ströme durch meinen Leib, zog Funken aus mir und schlug mit einem zum Glück an anderen Nervenserblingen schon abgestumpften Punzhammer unverdrossen auf mich ein, als gelte es, einen neuen Adam aus mir herauszubosseln, den neuen Vigoleis, wiewohl er den alten nicht einmal kannte und der es, meiner Meinung nach, noch eine Zeitlang vollhalte. Auch kniff er mich überall hin, teils mit seinen geschickten Zwickfingern, teils mit einer eigens dazu ausgebildeten Zange, tätschelte mir den Rücken ab mit einer Fliegenklappe, schleuderte ganz unerwartet ein Bein hoch mit dem berühmten Zirkusgriff des eisernen Gustavs, und ließ es erbarmungslos auf die Matratze fallen, drehte mir einen Arm aus dem Gelenk und renkte ihn mit demselben Blitzgriff wieder ein, sodaß ich nur eine einzige Schmerzempfindung hatte, die ich freilich, obwohl sie mehr als heftig war, durch keinen Laut bekundete. Überhaupt hatte ich mir vorgenommen, als er zu der Folter schritt, mich bei aller zur Schau gestellten Gelöstheit so fest zu verkrampfen, daß ich mich nachher nicht als wehleidiger Jammerlappen von der Peinbank zu erheben hätte. Das gelang mir, doch scheint meine Heldhaftigkeit die Diagnose gestört zu haben. So hat auch der seelisch gekröpfteste Dichter noch seinen kleinen Stolz.

In der Strunztasche des Kittels trug der Arzt ein altmodisches Höhrrohr aus bernsteinfarbenem Holz mit schöner Flaserung, das wohl mehr als aeskulapisches Standeszeichen gedacht war, denn er bediente sich des bequemen, sei es auch völlig poesielosen Ohrenschlauchs, meine inneren Tonwerte zu erforschen.

Überdem lag sein großer, mit ersichtlichem Geld- und Geduldsaufwand gepflegter Testhund, ein lappländischer Vorsteher, dem sich noch die Schwimmhäute zwischen den Zehen spannten, auf einer ihm im Sprechzimmer zugewiesenen türkischen Ledertrommel und wechselte Blicke mit seinem Herrn, die mir natürlich nicht entgingen. Für die Diagnosen war der Hund dem Gelehrten unerläßlich, so wie Allvater Odin ohne seine Raben Hugin und Munin über Himmel und Erde überhaupt nicht hätte herrschen können, noch der Kirchenvater Hieronymus denkbar wäre ohne den auf das Wort seines Herrn und des Herrn seines Gottes dressierten Leiblöwen aus der Wüste Chalcis.

Wenn so die Dinge lägen, meinte endlich der Professor, – er saß immer noch auf der Kante des Schragens und tastete jetzt, während ich auf dem Bauche lag, meine Nackenwirbel ab, wobei er aber noch Gelegenheit fand, mir einen Stich in die linke Wade zu versetzen, was im rechten Arm eine Zuckung auslöste, im Halswirbel aber einen hörbaren Knax und beim Peiniger selbst ein Ah der Befriedigung, was vermutlich mit einem Kopfnicken des tieferen Verstehens verbunden war – wenn dem allen denn so sei und es so vertrackt stehe um mein Verfassertum, dann gebe es für den Fortbestand meiner Literatur – mens sano in corpore sano – nur einen Weg

» – und der wäre, Herr Professor?«

nur einen Weg, nämlich die elektrisch betriebene Schreibmaschine, weil –

»Elektrisch betrieben?«

weil zu allem Übel hinzukomme, daß die Finger allmählich taub würden –

»Seit Jahren sangern sie, Herr Professor, wie haben Sie das herausgefunden?«

»Seit Jahren tun sie was?«

»Sie sangern. Das ist ein verschollenes Wort, wie ich deren viele wieder an den Tag bringe, zum Ärgernis meiner Verleger, die das garnicht lieben, sie behaupten nämlich ‒« »Sangern, ich wußte nicht, daß wir für die Parästhesie ein eigenes Wort haben, vermutlich kommt es von sanguinis.«

Als er dies sagte, nahm er meinen Kopf in die Kluppe, als wolle er ihn mir ausreißen, – über welch herkulische Kräfte muß doch ein solcher Nervenarzt verfügen, dachte ich, obwohl mein Hirn jetzt auch zu sangern anfing und ich dem Herrn die Etymologie des Ausdrucks nicht mehr erklären konnte. Mit sanguinis hat das natürlich nichts zu tun.

Kurz, den Fingern könne das Tippen nicht mehr zugemutet werden, die elektrisch betriebene Maschine übernähme die Aufgabe des Anschlagens, und selbstverständlich nur eine Maschine mit großen Lettern, Corpus 16 vielleicht, damit die Augen auch zu ihrem Rechte kämen.

Das fand meine Billigung, denn schließlich hatte ich den weltberühmten Foltermeister ja nur meiner hämtückischen Sehstörungen wegen aufgesucht, für die ein halbes Dutzend namhafter Augenärzte keine auch nur einigermaßen annehmbare Erklärung abgeben konnten. Man hatte mir sogar Wahrsager, Kurpfuscher und Gesundbeter empfohlen, denen ich ein novellistisches Interesse nicht versagen kann, doch entschloß ich mich zu guter Letzt für den Mann, den die holländische Dichterin Vasalis mir empfohlen hatte, unter mehr als merkwürdigen Umständen, denn sie ist selber Nervenärztin, und dieser sollte mir noch vieles und sehr Beunruhigendes enthüllen; medizinische Waidsprüche wären es im wahrsten Sinne des Wortes, – doch muß ich es mir in dieser Geschichte versagen, näher auf alles Klinische einzugehen. In einem geschlossenen Bericht über meine Erlebnisse mit der ärztlichen Wissenschaft will ich mich in schwelgender Weitschweifigkeit mit diesem und einem Dutzend anderen ihrer Vertreter einlassen. Dann fällt sein Name bestimmt.

Das letzte, was der Professor mit einem kurzen Blick auf mich und einem sehr langen auf seinen vorstehenden Lappländer verlauten ließ, war die sachliche Ermunterung, mich wieder anzuziehen.

Der Arzt erhob sich von seinem Schemel, auf den er sich wegen der Ausübung eines besonders schmerzhaften Griffes in den Nierenbereich gesetzt hatte; der schwimmfüßige Hund erhob sich von der westöstlichen Pfülbe, und ich glitt von der Pritsche herunter, mit dem schämigen Verdruß des halbnackten Geschöpfes, das nichts davon gehabt hat.

Der Nervenscheiter aber setzte sich nun an seinen altfränkischen Schreibtisch, der in allem auf das Hörrohr abgestimmt war; der Hund legte sich auf eine härene Matte vor die Tür, und ich zog mich an, sehr langsam übrigens, wie ich das vor Ärzten immer tue; nichts könnte unangebrachter sein, als an solcher Stätte hastig in seine Kleider zu fahren.

‒ »dann zeige ich Ihnen die Eibi-em.«

Eibi-em? Das Wort kannte ich nicht, vielleicht war es eine Weiterentwicklung von Eibe oder Eibisch, Heilwurz und Ibiskraut, – das große Handbuch des deutschen Aberglaubens würde mich da sicher aufklären. Doch machte mir der Professor gar nicht den Eindruck eines Heilkünstlers, der mir nun sanfte Kräuter verschreiben werde, widerliche Aufschüttungen vom Laube des Hungerrechens. Wer so fleischlich in seinen Torturen zu Werke geht, um den Mucken des Geistes auf den Schlich zu kommen, der bleibt beim Fleische und rät zu einem schweren Burgunder, notfalls einem leichten Lavaux, doch nimmer zu den Säften einer geläuterten Wiese; zudem legt sich keiner, der zum Weidegang neigt, auf die Pritsche eines Neurologen. Die Natur scheidet die Geister schon im Wartezimmer. Aber Eibi-em? Den Blick ins Leere gerichtet, schlang ich den Knoten meiner Krawatte, – Eibi-em? Dann fragte ich:

»Eibi-em? Was ist das denn? Ich kenne das Wort nicht, vermutlich ein Kunstwort für einen der tausend Kunststoffe unserer Tage.«

»Eine Weltfirma, mein Dichter, mit deren Erzeugnis Sie wieder an die Arbeit kommen, Eibi-em ist die beste elektrische Schreibmaschine der Welt, ich werde sie Ihnen gleich zeigen«

Er erhob sich, ich zog mir den Rock an und strampelte die Beine zurecht, da sagte er noch, ohne diesen genialen Behelf sei er selber verloren.

Voran ging er mit mir in das angrenzende Zimmer. Der Hund folgte uns, blieb aber vor der Tür sichernd stehen.

Meiner Lebtage noch nie hatte ich von der Eibi-em als der besten elektrischen Maschine der Welt gehört; allerdings hatte ich mich in den verflossenen Jahren wenig im Reich der Technik umgesehen, und hinsichtlich der Schreibmaschinen, na, da war ich ganz zufrieden mit meiner Olivetti Lexicon, Modell Nummer 80.

In dem Raume, den ich nun betrat, befanden sich keine Marterwerkzeuge, er enthielt nur das geistige Rüstzeug des Inquisitors, Bücher, Bücher, die akademische Mantik dessen, der auf Leben und Tod ausgerichtet ist, will er dem Tod ein Leben streitig machen. Heilungen aus dem Affekt sind strafbar, alles geht den geweisten Weg über das Bücherwissen, dem sich die persönliche Einsicht gut oder schlecht verbindet. Gut – und wir haben den großen Arzt, den meinigen etwa, der um die Zeit, wo ich mich ihm klinisch unterzog, von einem khedivischen Machthaber im Mittleren Osten dazu bestellt worden war, des Allmächtigen Machtneurose wissenschaftlich zu unterpölzen und sie nach Möglichkeit noch aufzuputschen und zugleich an der ältesten Hochschule des Morgenlandes die Nervenweisheit zu lehren und seinen Punzhammer da zu schwingen, wo ehedem die Sterne gedeutet wurden und Weise einem heimlichen Könige kostbare Gaben brachten.

Ob der Lappenhund ihn begleiten wird? Wo das Übersinnliche so stark zur Geltung gekommen war, konnte getrost des Tieres Übersinn, der sein natürlichster ist, mit in das akademische Amt genommen werden.

Auf einem kleinen Tisch befand sich die Maschine, zugedeckt mit einer seidig schimmernden Haube. Silbern, dick, aber schlicht war die Beschriftung: IBM. Aus der Phonetik schloß ich auf ein Erzeugnis eines englisch schreibenden Landes, weshalb ich gleich die fesselnde Wanderung durch das Handbuch des Aberglaubens abschreiben konnte. Eine vermutlich amerikanische Wirklichkeit stand vor mir.

Der Professor zog die Hülle ab, und schlicht wie die Schutzkappe war auch der ganze Apparat; perlig-krustiger Hammerschlag, grau in der Farbe, das Gehäuse, schwarzblau die erhabenen Lettern des Zauberwortes.

Mit einem Griff unter das Tastenbord schaltete er den Strom ein, kaum hörbar rauschte es in dem Kasten, der fast blendungsfrei war. Ein paar auf Hochglanz polierte Metallteile ließen sich leicht – so ging es mir gleich durch den Kopf – mit einem Anstrich augenschonend dem Auge entziehen.

Als der Professor ein paar Tasten anschlug, flogen die Hebel alle wie wild durcheinander, und alles vollzog sich mit einer außergewöhnlichen Schnelligkeit. Das gehe ja wie wild durcheinander, sagte ich, könne dabei noch etwas Lesbares herauskommen? Anarchie der Technik.

»Das erscheint Ihnen nur so anarchisch, verehrter Dichter, lassen Sie mich aber einmal einen Bogen einspannen, dann mögen Sie sich selbst überzeugen, daß hier eines anderen Dichters heiliger Ordnung segensreiche Himmelstochter am Werke ist, – ich habe doch richtig zitiert?«

»Aufs Wort genau, und sogar von Schiller.«

»Ach so, Schiller? Ich dachte, Goethe habe das gesagt, der war ja besonders groß in derlei Zitaten.«

»Die großen Dichter überbieten sich in den gewagtesten Aussprüchen, die dann allmählich namenlos werden und, im Munde des Volkes zur Redensart entartet, erlangen sie erst die Unsterblichkeit. Überragende Dichtung ist immer anonym, und gerade an Ihrem Goethe habe ich das einmal nachgewiesen, obzwar der Anlaß dazu reichlich unziemend war, des Dichters zweihundertster Geburtstag, und so fiel ich aus dem Rahmen der Festschrift heraus, wohingegen Sie, Herr Professor ‒«

Der Professor reichte mir den Bogen, ich solle ihn einspannen und mich selbst überzeugen, daß diese Eibi-em meine Rettung sei aus paraesthesischer Schreibersnot, oder wie nennen Sie das schon wieder?

»Sangern, Herr Professor, sangernde Schreibersnot, doch der Wahrheit die Ehre, ich leide nicht an ungeschriebenen Büchern.«

»Darüber unterhalten wir uns ein andermal, wir kommen sonst aus dem Hundertsten ins Tausendste.«

»Was meine Spezialität ist, ich gehe sogar noch über die Tausend hinaus. Aber den Bogen, spannen Sie ihn bitte selbst ein, ich kenne die Maschine ja nicht.«

Der Bogen, ich sah es jetzt erst, trug den Aufdruck seines maurisch mediterranen Seeräubernamens, und gleich aus dem Stand schrieb sein Träger ihn nochmals hin, es war in der Tat verblüffend einfach; wie gestochen reihten sich die Lettern aneinander, es war das Werk von Sekunden, was sage ich, es waren Bruchteile einer Sekunde, schien doch ein einziger Anschlag mehrere Hebel hintereinander zum Fliegen gebracht zu haben. Dann bat er mich, es auch einmal zu versuchen.

Mir flogen die Tasten natürlich gleich davon, sie verstrengten sich, hockten eine auf der anderen, das Wort blieb ungeschrieben. Ein weißer Finger des Professors drückte auf eine geheime Taste, alle unbotmäßigen Hebel flitzten gehorsam in die Grundstellung zurück, – neues Spiel, neues Glück, sagte ich und wagte es noch ein Mal. Tatsächlich glückte mir nun ein Wort, an dem jeder Psychiater seine Freude gehabt hätte; auch war es vom Philologischen her gesehen vielseitig deutbar, und dem Neurologen erschien es wie aus der eigenen Offenbarung geflossen. Es lautete nämlich: eiseimein.

Ei sei mein!

»Ich dachte«, begann der Professor, »Sie würden jetzt auch Ihren Namen tippen, den haben wir ja immer bei der Hand, wiewohl er uns so selten auf der Zunge liegt. Daß aber diese Wunschformel aus Ihnen herausgekommen ist, zeigt mir, wie sehr mein Wort auf fruchtbaren Boden gefallen ist, und, wie sehr ich auf dem rechten Wege bin.«

»Meinen Namen schreibe ich bei solchen Gelegenheiten nie, dafür habe ich als Kind zu sehr Mißbrauch mit ihm getrieben, und Sie wissen es ja, die Namen der ‒«, ich wollte sagen: der Gecken, die an allen Ecken stünden, aber ich fing mich noch auf, denn nichts hätte mir ferner liegen können, als den berühmten, hier zwar namenlosen Mann unter die Ecken einzureihen, und ich fuhr etwas stotternd fort: » – ich meine, statt des Namens ist hier unbewußt mein so stark ausgeprägter Besitzkomplex zur Geltung gekommen. I be me, um es in der Sprache unserer Maschine zu sagen, basic-english.«

»Die Zusammenhänge liegen klar auf der Hand, Sie sind wie geschaffen für die elektrische Schreiberei, tun Sie sich eine solche Maschine zu, der Vertreter wohnt nicht weit von hier, gleich um die Ecke.«

»Tatsächlich geht das hier alles wie elektrisch, erst Ströme durch meinen Leib, dann Ströme der Schrift. Ein paar Jahrzehnte noch, und wir richten unsere Gedanken auf einen Schirm, wo sie als Bilderschrift aufleuchten, Fortschritt und Rückwendung zugleich. Mir aber können die Finger weiter absterben, ich krümme sie nicht mehr, meine Literatur vollendet sich durch das bloße Auflegen ihrer Kuppen auf die Tastenmulde. Freilich, eine falsche Antastung, und man schreibt an sich selbst vorbei.«

»Das ist Sache der Übung, Herr Schriftsteller, ein paar Wochen müssen Sie gleichsam mit sich schreiben lassen, dann schreiben Sie wieder selbst, und ‒« das aristokratische Pferdegesicht mir voll zuwendend, als künde er die letzte Weisheit seiner Sprechstunde an, – »und wie von selbst. Sie werden die Tasten nur noch liebkosen, alles in allem: Ihre künftigen Werke werden die Merkmale solcher Liebkosung tragen, soweit ich das als Arzt beurteilen kann.«

»Jedes meiner Bücher, Herr Professor, ist ein Werk der Liebherzung, oder zumindest einer liebherzenden Betrachtung, wenn auch – doch da frage ich besser zuerst, ob ich Ihnen einmal etwas von mir schicken darf.«

Dieser Eingriff in den Lesezirkel des Gelehrten ergab sich zwangsläufig, wie ja alles beim Arzt unter dem Zwang vor sich geht, daß man seiner selbst entohnigt ist. Denn im allgemeinen dränge ich nie einem Menschen etwas auf, am allerwenigsten die Erzeugnisse der oben erwähnten Liebkosung, die, genau besehen, eher der quälenden Zwingnis eines Halbschriftstellers ihr Dasein verdanken, – quälend, weil man im allgemeinen von einem Schriftsteller erwartet, daß er immer nur schreibt und dann auch das Geschriebene unter die Leute bringt. Liebe und Zwang aber, ist das nicht ein und dasselbe?

Statt einer Antwort deckte der Professor die Maschine zu, und wir begaben uns in sein Sprechzimmer zurück. Der Hund hatte uns den Weg freigegeben, er tauschte nun wieder seine Blicke mit dem Herrn, der ihm mit einer kaum wahrnehmbaren Handbewegung zu verstehen gab, daß der Patient kurz vor der Entlassung stehe. Dieser seinerseits wagte es nicht, weder durch einen Blick, noch durch eine Geste anzudeuten, daß er nur zu gerne wisse, wieviel so eine Eibiem wohl koste. Denn schließlich gehört es sich nicht, Geldfragen mit seinem Arzt zu erörtern, am allerwenigsten solche Geschäfte zu bereden, die, mögen sie auch im Bereich seines Heilzaubers liegen, doch schon einem anderen Soll und Haben pflichtig sind. Die Maschine wurde mir verschrieben: man nimmt ...

Indes auch eine richtige Arznei verordnete mir der Professor, das heißt, er gab mir das Mittel gleich mit, genau gesagt, er händigte es Beatrice aus, in einer neutralen Packung.

Von nun an war ich, der Patient, ausgeschaltet, an dem folgenden Gespräch war ich nicht mehr beteiligt, alles spielte sich zwischen dem Arzt und Beatrice ab. Sie unterhielten sich in ihrer schweizer Mundart. Der Professor sprach sein leutselig-demokratisches Berndütsch, während Beatrice sich des eher aristokratischen Baseldütsch bediente. Es ging um das Rezept, es sei eine Droge, aus dem Mutterkorngift entwickelt, ein äußerst gefährlicher Stoff, der –

Ich horchte auf. Mutterkorn? Da wußte ich manches im Zusammenhang mit dem deutschen Aberglauben, der mich zuweilen beschäftigt, die Veitstänze etwa im Mittelalter, Aborte, das heilige Feuer. Und war da nicht ein Aufputschmittel, Meskalin, von dem Ernst Jünger spricht, Huxley, Gottfried Benn, und auf Mallorca hatte sich mein alter Robert von Ranke-Graves seligen Insel-Gedenkens mit den eleusinischen Drogenkulten beschäftigt. Welch zusätzliche Giftpille mag den Geist des Dichters Benn soweit umgraben haben, daß er auf Hitler, Rosenberg und Genossen hereinfallen konnte: »Wie groß hat das alles angefangen!«

Der mir zugedachte Heilzauber war LSD, als d-Lysergsäure-Diäthylamid in den Handel gekommen.

Der Neurologe erklärte Beatrice die Wirkung dieses, wie er immer wieder betonte, in falschen Händen verderbenbringenden Stoffes. Er könne es mir somit nicht anvertrauen, sie selber müsse es mir verabreichen, nach seinen Angaben, über die er sich dann verbreitete, und nur in einem Zimmer mit geschlossenen Fenstern, am besten: vergittert.

Nanu, vergitterte Fenster in einer Asconeser Luxusvilla?

Im Giftrausch nämlich werde der Patient versucht sein, aus dem Fenster zu springen, da er wähne, er könne fliegen, – und was alles an schrecklichen Folgen der Behandlung noch aufs Tapet kam. Zum Positiven meinte er schließlich, mein Innenleben werde bloßgelegt, ich würde Gedichte schreiben wie noch nie –

»Wie Benn also, nicht schlecht«, warf ich ein, doch unser Professor nahm davon keine Notiz, einzig der Testhund warf mir einen vertränten Blick zu.

‒ und ich müsse meine Visionen aufzeichnen: darauf komme es an, eine Analyse meines aus dem Ich herausgefilterten Daseins. Dann wurde noch einiges über mein Gehirn gesagt, von den üblichen Verdrängungen war die Rede, Diskretes über Erotik, und immer wieder: Achtung! Lebensgefahr!

Beatrice, die schon gezählte 28 Jahre an der Seite eines selbstmordsüchtigen Dichters gelebt hat, blieb unbewogen und steckte die diabolische Droge in ihre Handtasche, so als handele es sich um harmlose homöopathische Tröpfli aus der Reiseapotheke ihres Großvaters Theophil Bruckner, der einer der ersten Apostel von Hahnemanns Similia Similibus war.

*

Bern ist die langsamste Stadt der Schweiz, man glaubt sich in die Steinzeit zurückversetzt, wenn man durch ihre Straßen und Gassen wandert, eine fortschrittliche Steinzeit, wohl zu verstehen, die dem Bären und seiner Höhle die Treue bewahrt hat und sich ihm im Urchigen angleicht.

Dennoch fand ich bald mit Hilfe meines Stadtplans und einiger willfähriger Bürger das Hochhaus, wo der Vertreter der Eibi-em seine Geschäftsräume untergebracht hatte. Ein Fahrstuhl beförderte mich nach oben, ein Herr öffnete mir die Etagentür, durch einen mit Kisten vollgestopften und teils verstellten Gang wurde ich vor die Tür eines Kontors geleitet, und jedes Mal, wenn ich hörbar aneckte, entschuldigte sich mein Führer, man hause noch eng, dabei nehme der Geschäftsbetrieb von Tag zu Tag zu, doch werde das alles bald anders.

Der groß gefragte Artikel also, ich war am richtigen Ort.

Die Geschäftsstube, die mich jetzt aufnahm, war durch eine Glaswand unterteilt, deren Sauberkeit alles zu wünschen übrig ließ. Daraus zog ich freilich keine falschen Schlüsse. Wer wie ich viele Jahre in den Niederlanden gelebt hat, nimmt rasch Anstoß an einem Stäubchen, einem Hauchfleck, einer Fliegenmatrikel auf der Fensterscheibe; dabei stehen auch die Schweizer im Ruf, auf Reinlichkeit sehr bedacht zu sein, was weder für, noch gegen die Eidgenossenschaft als Gemeinwesen spricht. Es ist eine Frage des Geldes, genau gesagt: wie weit man das liebe Geld in den Dienst des Behagens stellt, und da wieder vorausgesetzt, daß Sauberkeit Behagen schafft. Bei der Erschaffung der Welt war solche jedenfalls nicht im Spiel, und, sehe ich die Dinge immer noch recht, dann hat die Sonne das letzte Wort, zudem ist es ach so unbedeutend, welchen Grad der Blankheit die Trennscheiben darboten in der Stunde, wo ich durch sie den dahinter liegenden Betrieb ungehindert überblicken konnte.

An den Wänden, hüben und drüben, hingen Plakate, auf denen in großen Lettern ein einziges Wort gedruckt zu lesen war: THINK. Ich erinnere mich nicht mehr, ob ein Punkt oder ein Zeichen des Ausrufs den Aufruf typographisch abschloß.

So etwas hatte ich noch nie gesehen, ich meine eine solche großgedruckte Mahnung in den Geschäftsräumen einer Firma, – und halt, hingen sie nicht auch in den Gängen, die zugleich als Lager dienten?

Auf niedrigerer Stufe begegnet man den Ermahnungen in allen Eisenbahnzügen: sich nicht hinauszulehnen; nichts aus dem fahrenden Zuge zu werfen, und, wenn dieser mal halten muß, anderes zu verhalten und nicht auf den Boden zu spucken. An verschwiegenen Orten beliebt man den Hinweis anzubringen, beim Hinaustreten die Kleider zu ordnen, was meine Schämigkeit übrigens immer ein wenig verletzt, wogegen ich einmal in einem deutschen Park die Anordnung an einen Baum genagelt fand, daß Schamverletzer gleich welcher Art strafrechtlich verfolgt werden müßten, womit man sich zugleich höflich entschuldigte, den Paragraphen 183 anzuwenden, und Hunde seien sowieso an der Leine zu führen. Nun hätte ich, wäre ich Gesetzgeber in diesem Park gewesen, die Hunde gerade losgelassen, damit sie die Unholde hätten verbellen können. Man drückte also beide Augen zu, so daß es dazu kommen konnte, daß Jahre später gerade dort ein still vor sich hin schlachtender Massenmörder Kürten unter dem Zwang seines verirrten Geschlechts seine weltberühmten Verbrechen verübte. Kurz, Mahnungen, wohin das Auge blickt.

Ich bin ein historischer Christ, ein Schulchrist somit, und somit war mir auch das memento homo quia pulvis es et in pulverem reverteris bekannt, und das noch lapidarere memento mori, gedenke du, o Mensch, des Todes, ein Wort, das auf den Herrgott selbst zurückgeht und das, ganz allgemein betrachtet, die Philosophen einander gerne vorhalten. Sie wollen sich gegenseitig zu einem sittlichen Lebenswandel aufstacheln, wie ähnlich es die alten Ägypter hielten, wenn sie sich bei Begegnungen kleine Totengebeine gleichsam zum Gruße zeigten. Es waren dies entweder echte Menschenknochen oder kunstgerechte Nachbildungen aus Elfenbein, mit denen ein schwunghafter Handel getrieben wurde. Ob die Gebeinschnitzer und Händler dabei auch selber immer des Todes eindächtig waren? Ich glaube nicht, denn der wahre Gedanke an den Knochenmann hätte ihnen ins Handwerk pfuschen können und es wären die todesträchtigen Totenbeinchen Stück für Stück ihnen daneben geraten, und an sich selber wäre der Handel zu guter Letzt ganz aufgeflogen. So darf, wer um des Brotes willen den Tod predigt, sich nicht allzuviel um ihn scheren, sonst ist es bald aus mit der Grabeshomiletik.

Heute erweisen wir uns den Todesgruß auf ganz andere Art, nicht durch den Exhibitionismus eines Beinchens, doch es fliegen die Gebeine zu Myriaden, wenn wir dem Ritus nicht folgen.

An dem Ort, wo ich mich jetzt geweisten Weges eingefunden, galt das Denkschild dem Akt des Denkens schlechthin, hier war das Kartesische cogito ergo sum auf einen einzigen Nenner gebracht, mit dem sich wohl nur die Geschäftsleute in den Vereinigten Staaten von Amerika fruchtbringend auseinandersetzen, der Philosophie ansonst ziemlich abhold, wie aller Tradition: cogito lucrum facio, wenn ich denke, mache ich ein Geschäft, und bei wie vielen nicht hat sich das Geistgebilde in die verkartesianisierte Formel abgewandelt:

Wenn ich denke, was für ein schönes Geschäft ich da wieder gemacht habe!

Descartes hätte sich die Haare ausgerauft über einen solchen gedankenlosen Denk-Unfug, so wie viele seiner Zeitgenossen seine Unterstellung mit voller Wut bekämpften, es sei die Zirbeldrüse der Sitz der menschlichen Seele. Wut hin oder her, keine Menschenseele hat diese kühne Vermutung bis heute zu widerlegen vermocht, wir wissen immer noch nicht, wo denn unsere Unsterblichkeit behaust ist, aus welcher Ursprache und Urwissen kommt, und da könnte es doch sehr wohl die genannte Drüse sein, die sich der Seele erbarmte und sie bei sich aufnahm; denn bei näherer Betrachtung weist sie alle Eigenschaften für eine so anspruchsvolle Beherbergung auf, befindet sie sich doch als ein erbsengroßer Körper mitten drin im Gehirn, und im Innern ist sie sogar selber hohl, das heißt nicht immer, während sie bei Frauen größer sein soll als beim Manne. Inzwischen hat man auch herausgefunden, daß sie eine Drüse mit der sogenannten inneren Sekretion ist, eine Art Innenfilter, wie ich sie bei meinen Aquarien gar nicht mehr schätze, und zu allem Übel wirkt sie auch noch hemmend auf des Menschen geschlechtliche Entwicklung ein. Nach dem siebenten Lebensjahre, so steht es im ungesundesten aller Nachschlagewerke, dem Gesundheits-Brockhaus, bildet sie sich allmählich zurück.

Sehe ich mir das Seelenleben so vieler Menschen an, dann kann ich dem selbst-schlüssigen Cartesius nur beipflichten, wenn er deren Seele in den Hohlraum verlegt, der zuweilen überhaupt nicht vorhanden ist; auch hängen Seele und Geschlechtsleben sehr eng miteinander zusammen, es sind siamesische Zwillinge, die sich gegenseitig durchbluten, unbewußt einander beargwöhnen und die sich schneiden würden, gäbe es sie getrennt. Doch wie dem sein mag, das Denkschild hing da und dort, und unter dem geistigen Sporn saßen ziemlich gedankenlos die Angestellten beiderlei Geschlechts, also Mädchen oder Damen mit größeren, Herren schlechthin mit ihrem kleinen Zirbelvermögen, – und alle, unterschiedlos, schafften sie im Dienst der IBM, von der in Zukunft die Sekrete meiner eigenen Pinealdrüse abhängen sollten, deren Vorhandensein mir übrigens einmal von einem berühmten Verleger vor aller Öffentlichkeit abgestritten wurde.

Zwei der Fräulein, getrennt durch die schalldichte Glasverschalung, unterhielten sich telephonisch miteinander, wobei sie einander nicht aus den Augen ließen. So wird sich in Zukunft das Fernsehgespräch abwickeln, dachte ich mir, und es wird sich eine ganz neue Verleugnungstechnik herausbilden; neue Löschmethoden kommen auf, wie ja jedes Gift das Gegengift gleich in sich enthält; es gilt nur, es herauszusondern. Hier übte man sich in diesem Verkehr und leistete der Firma, die ja auf dem Gebiete der Fühlhorntechnik und Instinkterweiterung führend ist in der Welt, zwar keine bahnbrechenden, aber doch beachtenswerte Dienste.

Für die Technik war das Geplauder belanglos, es drehte sich um Puderquaste und ähnlich kosmetische Vertraulichkeiten, wie etwa die Erfrischung des Gesichtes, das Nackenreiben, der Brillantinehauch, der dem Haar Lichte aufsetzt, die alle Arbeitsstunden überstrahlen. Es ging um die Pflege der IBM-Schreibfinger, die, und da hörte ich aufmerksamer hin, so gut wie nichts mehr zu tun hätten. Das waren gewissermaßen archimedische Punkte in dem durch Glas getrennten Denk-Raum, und da ich die Einwände oder auch Anregungen des Gegenmädchens hinter der Scheibe nicht hören konnte, mußte ich um so schärfer aufpassen, dem Gespräch folgen zu können, wollte ich es auch für mich, dem künftigen IBM-THINK-Mann ersprießlich ausdeuten.

Während der ganzen Unterhaltung blickten sich die archimedischen Mädchen unentwegt an, ich sagte es wohl schon; sie ließen sich nicht aus den Augen, eine Blickfixierung, die auf mich faszinierend wirkte. So stelle ich mir Geisterseher bei der Arbeit vor, so habe ich schon Geisteskranke ins Leere blicken sehen; aber für diese alle ist das Leere gefüllt, es ist das hinter der Scheibe Wesende schlechthin, das sie bannt. Die Arbeitstische standen sehr günstig für diese magischfernsichtliche Plaudermuße. Nur ab und an glaubte ich ein Schielen bei dem mir selbst gegenübersitzenden internationalen Geschäftsmaschinen-Mädchen feststellen zu können, das freilich nicht mir, dem hereingeschneiten Kunden galt, wofür die Parallaxe auch zu klein gewesen wäre; es schielte nach der Tür, die sich auch bald auftat, und merkwürdigerweise just in dem Augenblick, wo die Freundinnen mit ihrem kosmetischen Erfahrungsaustausch an ein befriedigendes Ende gekommen waren und sich wieder dem Denk-Geschäft zuwenden konnten. Ich sage merkwürdigerweise, obwohl in einem solchen elektronisch geladenen Büro nichts mehr dem Zufall zugeschrieben werden kann. Die Geschäftswelt ist in das Stadium einer neuen Dämonie eingetreten, und wir alle haben allmählich Anteil an der Zellteilung.

Eine halbe Stunde später war ich im Besitz von Preislisten, bebilderten Katalogen in vielen Sprachen, die wie Kunstblätter aufgezogen waren und auch als solche behandelt werden wollten. Kostbare, hauchdünn durchflaserte Japanpapiere dienten als Deckblatt, dahinter barg sich wie ein Schemen das Profil eines Mädchens, dessen Kinn und Mund anatomisch-geophysisch genau in die Linie der fliehenden IBM-Stirn paßt, was in mir sofort den Gedanken wachrief an das sagenhafte Gondwanaland, aus dem sich durch freies Driften die Kontinente Afrika und Südamerika selbständig gemacht haben. Die Zeit der hochstirnigen, homo-sapientischen Maschinen ist vorbei; je weiter die Technik fortschreitet, als Ausfluß des Denkvermögens der hochgewölbten Stirn, um so halbmenschlicher werden die Profile der Geräte. Die Stromlinie ist ein Zug zurück in die Urzeit.