Stefan Oster / Peter Seewald
Gott ohne Volk
Die Kirche und die Krise des Glaubens
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Stefan Oster SDB, Jahrgang 1965, war zunächst als Zeitungs- und Hörfunkredakteur tätig, bevor 1995 dem Orden der Salesianer Don Boscos beitrat und in der Folge Theologie studierte. 2001 wurde er zum Priester geweiht. 2009 wurde er im Fach Dogmatik habilitiert und lehrte bis 2013 als Professor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Benediktbeuern. Bei seiner Weihe zum Bischof von Passau 2014 war er der damals jüngste Bischof in Deutschland.
Peter Seewald, Jahrgang 1954, arbeitete als Journalist für den STERN, den SPIEGEL und die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG und gilt heute als einer der erfolgreichsten religiösen Autoren Deutschlands. Seine Interview-Bücher mit Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. »Salz der Erde«, »Gott und die Welt« sowie »Licht der Welt« waren Weltbestseller. Peter Seewald ist verheiratet und lebt mit seiner Familie in München.
© 2016 Droemer Verlag
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Und weiter im Text: »Die Zukunft der Kirche kann und wird auch heute nur aus der Kraft derer kommen, die tiefe Wurzeln haben und aus der reinen Fülle ihres Glaubens leben. Sie wird nicht von denen kommen, die nur Rezepte machen. Sie wird nicht von denen kommen, die nur dem jeweiligen Augenblick sich anpassen. Sie wird nicht von denen kommen, die nur andere kritisieren, aber sich selbst als unfehlbaren Maßstab annehmen. Sie wird also auch nicht von denen kommen, die nur den bequemen Weg wählen … Sagen wir es positiv: Die Zukunft der Kirche wird auch dieses Mal, wie immer, von den neuen Heiligen neu geprägt werden. Von Menschen also, die mehr wahrnehmen als die Phrasen, die gerade modern sind.« (Joseph Ratzinger: Glaube und Zukunft. © 2007 Kösel-Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH)
Der Tag war noch nicht richtig angelaufen, aber als ich über den Domplatz eilte, blitzten erste Sonnenstrahlen vom blassblauen Himmel. In den Zierbäumen pfiffen keck einige Spatzen, und ich nutzte die Zeit, um noch kurz in den Dom zu springen.
Sonntags ist die Kathedrale von Passau meist gut besetzt, aber jetzt waren in dem gewaltigen Gotteshaus weit vorn am Alter nur fünf Beter mit einem alten Priester zur heiligen Messe versammelt, einsame, verlorene Gestalten, die von Ferne wirkten wie in einer anderen Galaxie. War dies ein Abbild unserer Lebenswirklichkeit? Sieht so die Kirche der Zukunft aus? Der Anblick war grotesk, aber er hatte zugleich etwas Tröstliches. Es war ein Bild der Treue, das Zeichen eines Lichts, das nicht verlischt.
Als junger Mann hatte ich um diese alte Stadt gekämpft wie um eine Geliebte, von der man nie genug bekommt. Ich war Kommunist geworden. Mit einem Luftsprung trat ich aus der Kirche aus. Jetzt kam ich zurück, um ein Interview mit dem Bischof zu führen, in dem viele den Typus einer neuen Generation von Hirten sehen, die anders ist.
Nicht mehr die Macht der Kirche stand zur Debatte, wie in meiner Jugendzeit, sondern ihre Ohnmacht. Und nicht mehr die Verheißungen einer glorreichen Zukunft bewegten uns, sondern eine Angst vor der Zukunft, die manchem bereits die Kehle zuschnürt. Über allem stand die Frage, ob es nicht einen Zusammenhang gebe zwischen der Krise der Kirche und der Krise der Gesellschaft. Ob man nicht inzwischen gar von einer Gottesfinsternis sprechen müsse, einem Spiel mit dem Feuer, an dem sich entscheidet, wie die Welt von morgen aussieht.
Die Deutschen haben eine besondere Geschichte mit ihrem Glauben. »Wie hältst du’s mit der Religion?«, Gretchens Ausruf in Goethes »Faust«, gehört nachgerade zur Wesens- und Schicksalsfrage dieser Nation. Kaum ein Volk hat mit Gott so gerungen, im Guten wie im Bösen.
Die Gottesfrage, das tiefe Schürfen nach Erkenntnis, war das Fluidum für den deutschen Genius, von Künstlern wie Dürer und Grünewald, Mozart, Bach und Haydn, von Geistesgrößen wie Kant und Hegel, Lessing und Leibniz, die ein »Land der Dichter und Denker« prägten, weltweit bewundert. Deutsche Geschichte ist Religionsgeschichte. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation wurde zum Urbild des heutigen Europa, vielleicht der modernen westlichen Welt überhaupt. Da waren der Aufbruch neuer Städte, die sich um Kathedralen gruppierten, die karolingische Minuskel, die der Alphabetisierung des Kontinents den Weg ebnete, oder auch die ersten Universitäten, die hohe Theologie, die das wissenschaftliche Zeitalter vorbereiteten.
Aus der Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, entstand freilich auch die Verführung zum Streit, aus dem Streit ein Schisma, das den christlichen Westen in zwei Teile riss. Deutschland ist nicht nur die Wiege des Protestantismus, hier gründet auch der wissenschaftliche Sozialismus, der das Paradies auf Erden versprach. Es ist noch nicht so lange her, seit atheistische Systeme in West und Ost ein Europa ohne Gott schaffen wollten, den befreiten »neuen Menschen«. Hitlers »Tausendjähriges Reich« hinterließ nach zwölf Jahren zerstörte Städte, Millionen Tote und die Krematorien des Holocaust, durch den das »Volk Gottes« von der Erde getilgt werde sollte wie Ungeziefer.
Die heutige Krise von Kirche und Glauben kam nicht über Nacht, aber noch immer wird ihr wahres Ausmaß genauso totgeschwiegen wie die verheerenden Folgen, die sich daraus ergeben. Mit rund 500000 Austritten aus der katholischen und evangelischen Kirche hat der Exodus des Glaubens 2014 eine neue Rekordmarke erreicht. In den vergangenen 24 Jahren kehrten weit über acht Millionen Menschen ihrer Glaubensgemeinschaft den Rücken. Und das ist erst der Anfang.
Nach Umfragen renommierter Forschungsinstitute tragen sich mindestens zwanzig Prozent der verbliebenen Mitglieder ebenfalls mit dem Gedanken an Flucht. Manche Untersuchungen sprechen gar von fünfzig Prozent – ein Austrittspotenzial von bis zu zwanzig Millionen Bürgern, die einmal auf Christus getauft wurden.
Aber nicht allein die Kirche als Institution befindet sich im freien Fall. Weit gravierender noch ist der Verlust an Glaubenswissen, Glaubensbewusstsein und Glaubensbindung. Papst Franziskus spricht mit Blick auf den Glauben in Deutschland von einer »Erosion«. Aber es ist weit mehr. Die alte Volkskirche hat ihre Kraft verloren. Das Christentum erlebt einen Niedergang von historischem Ausmaß. Christlicher Glaube hat mit Gott zu tun, was sonst. Mit der Beziehung des Menschen zu etwas, das größer ist als er selbst. Aber auch mit Kultur, mit Recht, mit sozialer Balance. Mit Demokratie und Freiheit. Und wenn es Kirche und Glaube schlechtgeht, das wissen wir aus der Geschichte, ist das kein Grund zur Freude, sondern eine nationale Katastrophe, die auch jene angeht, die denken, damit nichts zu tun zu haben.
Ich hatte mir für das Gespräch mit dem Bischof ein strenges Programm vorgenommen. Passt eine zweitausend Jahre alte Religion, wollte ich wissen, noch zu einer »Zivilgesellschaft« und einer globalisierten Welt, die sich selbst genügt? Andererseits: Bekommen wir nicht längst zu Gesicht, was wir verlieren, wenn wir das Christentum auslöschen, wenn wir damit unsere kulturelle Erinnerung verlieren, die Orientierung, die einmal Halt und Zuversicht und ewiges Heil bedeutete? Bleibt nicht auch richtig, was Isaac Newton wusste: »Wer nur halb nachdenkt, der glaubt an keinen Gott; wer aber richtig nachdenkt, der muss an Gott glauben«? Er habe in seinem Leben, so Newton, einer der bedeutendsten Wissenschaftler der Menschheit, »zwei wichtige Dinge gelernt: dass ich ein großer Sünder bin – und dass Christus ein noch größerer Retter ist«.
Wie und wann hat es angefangen, dass unser Glaube begann, sich in Luft aufzulösen? Ist da eine Kirche der Langeweile entstanden, die aus dem Evangelium Christi eine spießige Veranstaltung macht, die niemanden mehr anturnt? Die Macht und Ohnmacht eines Riesen, dessen Kassen sich füllen, aber dessen Häuser sich leeren? Waren es die Verfehlungen und Missbräuche der Institution und Ihrer Träger, die den Aderlass begründeten?
Da sind ein Wir-tun-nur-so-als-ob-Christentum und die Verflachung der öffentlichen Diskussion, die sich an den Standards aufreibt. Woran liegt es, dass die Christen in diesem Land – immerhin gehören noch 50 Millionen Menschen den beiden Volkskirchen an – behandelt werden wie eine verschwindend kleine Minderheit – und vor allem, dass sie sich das sogar gefallen lassen? Ist nicht auch eine mediale Berichterstattung zu befragen, die nicht mehr differenziert, sondern jede Angriffsfläche benutzt, um christlichen Glauben und Kirche als Feindbild zu zeichnen, als etwas, was den Untergang verdient?
Das Appartement des Bischofs hatte nichts von der barocken Fülle früherer Amtsinhaber. Aber für die karge Einrichtung entschädigte der Ausblick auf den Fluss und die Wallfahrtskirche Mariahilf. Wir nahmen auf den Polstermöbeln Platz und kamen schnell ins Gespräch. Stefan Oster ist kein Bilderstürmer, aber ein Unbequemer, der aneckt: »Es stellt sich die Frage: Halten wir einen Betrieb aufrecht, der von innen her hohler und hohler zu werden droht?«
Dem Bischof geht es um Wahrhaftigkeit, um Authentizität, um geistliche Erneuerung für ein echtes, gelebtes, bekennendes Christentum, das wieder missionarisch ist. Man müsse sich selbst hineinbegeben in das Geheimnis des Glaubens, Gotteserfahrung machen, weil sich Offenbarung von außen nicht begreifen lässt. Vor allem junge Menschen bewegen sein Herz. Ähnlich wie seinen Ordensvater. »Don Bosco war ein Radikaler«, sagt Oster, »was Glauben angeht und was Liebe angeht. Und er lebte zutiefst in Christus.«
Reform der Kirche bedeutet für den Bischof von Passau Erneuerung aus der Bewahrung. Oster spricht von der Priorität der Christuskenntnis. Die Frage sei, »ob wir das Evangelium wieder neu zur Geltung kommen lassen«. Er steht dabei in der Tradition jener Reformer, die aus dem Ursprung schöpfen wollen, eine Reform aus dem Glauben selbst heraus in Bewegung bringen möchten, gegen alle Versuche von Anpassung und Verwässerung des Evangeliums. Sie sind unbequem, provozierend, hartnäckig und zuweilen auch penetrant. Dass sie von Zeitgenossen bekämpft werden, wenn sie gegen den Strich bürsten, ist der Preis für den aufrechten Gang. »Nicht Gott hat sich von uns entfernt«, betont er, »wir haben uns von Gott entfernt.« Auch in der Gottesfinsternis würde ein liebender, barmherziger Gott niemals die Menschen verlassen. Schon die Geschichte Israels sei gewissermaßen »ein Ringen Gottes um sein Volk und dessen Versuchungen, in die Gottlosigkeit abzugleiten«.
Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts hat ihre Grenzen erreicht. Ihre Weiterentwicklung wird Glauben und Vernunft wieder in einen Zusammenhang bringen. Die Botschaft: Mehr Glauben wagen. Zeit für neues Denken finden. »Ich glaube, damit ich erfahre«, hat jemand gesagt. Glauben heiße: gefunden haben. Es kann keinen Fortschritt geben, der nicht auch verankert ist in Traditionen, einem Common Sense an Werten und einem Bewusstsein, das sich nicht in der Selbstvergottung verschränkt. Ohne die Wiederentdeckung christlicher Spiritualität jedenfalls verlieren wir nicht nur den Zugang zu den Grunderfahrungen der Menschheit, die für ein humanes Leben unabdingbar sind, ohne sie kommt der ins Leere laufenden Moderne auch die knappe Ressource Sinn abhanden, verlieren wir den Zugang zu einer verlässlichen Ordnung und verantwortliches Handeln. Was Europa betrifft: Es hat mit der Negation seiner Herkunft seine Seele, seine Identität verloren, wovor Johannes Paul II. und Benedikt XVI. so eindringlich gewarnt haben. Der Kontinent fällt auseinander.
Religion ist kein Wert an sich. Es gibt verrückte Formen davon, und einige sind lebensgefährlich. Auf die Botschaft kommt es an. »Wir bezeugen es«, schworen die Apostel, »weil wir es gesehen haben.« Die Offenbarung Christi, sagt Karl Barth, übersteige alles bisher Dagewesene, alles Menschliche. Sie sei »der Richter über die Vernunft«. »Wer an Jesus glaubt«, so der große protestantische Religionsphilosoph, »der hört das ›Wort Gottes‹.«
Die Kirche in Deutschland steht vor grundlegenden Veränderungen. Was morsch ist, bricht zusammen. Der bisherige Anpassungskurs hat den Niedergang nicht aufgehalten, sondern noch beschleunigt. Dieses Buch geht den Gründen für die Krise nach und versucht, Antworten zu finden, wie Glauben wieder glaubwürdig werden kann. Es will eine Debatte anregen und Blickwinkel und Aspekte eröffnen, die vernachlässigt werden. Die Kirche wird in dieser Gesellschaft nicht mehr einfach so akzeptiert. Es genügt nicht, dass sie da ist, weil sie halt irgendwie dazugehört. Das mag man bedauern.
Für die Kirche selbst ist es die unverhoffte Chance zur Regeneration. Sie muss wieder zeigen, warum und für was es sie überhaupt gibt. Und wenn Gott eine Realität ist, lohnt es sich auch, nach Ihm zu fragen. Nicht Kapitulation sei die Frage der Stunde, so Bischof Oster, sondern der Mut, in der veränderten Welt einen neuen Aufbruch zu wagen.
München, im Februar 2016 Peter Seewald
Geschichte einer Berufung
Herr Bischof, Sie waren lange Zeit Radiomoderator. Hören Sie noch Rockmusik?
Hin und wieder hole ich schon mal die alten Kassetten raus.
»Highway to hell« vielleicht?
»Highway to Hell« mochte ich noch nie.
Man kann aber aus den Bischofsräumen gelegentlich laute Musik hören?
Hin und wieder, wenn ich so eine Retrophase habe. Dann ziehe ich mir die alten Songs rein. Bruce Springsteen zum Beispiel oder Huey Lewis & The News, und natürlich die Dire Straits. Das war damals die Band schlechthin für mich.
Die Süddeutsche Zeitung schrieb über Sie, da sei jemand, »der was vom Leben außerhalb der Kirche versteht, nicht alt, verkniffen, entrückt und streng wirkt«. Dazu jungenhaft, gut aussehend. Bei Ihrer Weihe zum Bischof begrüßten Sie im Passauer Dom die 2000 Besucher, die Ihnen stehend Applaus spendeten, mit dem Victory-Zeichen. Toller Start.
Ja, wunderbarer Start. Ich dachte, so ähnlich muss sich Pfingsten angefühlt haben. Irgendwie ein guter Geist, ein Geist der Leichtigkeit, des Aufbruchs. Ich fühlte mich sehr beschenkt. Das ist ja nichts, was man selbst macht, sondern worin man sich hineingestellt sieht. Und man darf spüren: Alle ziehen mit.
Ihr Wappen zeigt unter anderem einen flugbereiten roten Johannes-Adler. Klingt nicht unbedingt nach Kuschelkurs.
Ja. (lacht) Ich habe relativ schnell klargemacht, dass ich katholisch bin. Dass ich die Lehre der Kirche vertrete. Eines meiner wichtigen Anliegen ist, dass ich das, was auf viele Menschen sperrig wirkt, so gut wie möglich zu erklären versuche. Und das ist nicht immer nur bequem. Manche Menschen irritiert, dass da jemand, den sie offensichtlich irgendwie freundlich oder nett empfinden, bestimmte Positionen vertritt, die nicht dem Mainstream entsprechen.
Warum ausgerechnet Johannes?
Ich liebe das Johannesevangelium. Ich komme aus der Philosophie und aus dem dialogischen Denken. Johannes ist derjenige, der am tiefsten schaut und die Wirklichkeit am tiefsten ergründet. Sein Evangelium ist eine unglaubliche Vision von Gott und seinem Verhältnis zur Schöpfung. Auch die Gestalt des Johannes, die darin vorkommt, ist mir nahe. Seine innere Beziehung zu Jesus und seine starke Identität beschäftigen mich sehr. Jesus nennt ihn und seinen Bruder Jakobus die »Donnersöhne« – aber er selbst beschreibt sich immer nur als »der Jünger, den Jesus liebte«.
Und die rote Märtyrerpalme, ein weiteres Symbol in Ihrem Wappen?
Die steht für den heiligen Stephanus. Das ist mein Namenspatron und glücklicherweise auch der Patron der Stadt Passau und unseres Doms.
Er wird angerufen bei Besessenheit, Kopfschmerzen und Steinleiden.
Na ja, er ist der erste Märtyrer der Christenheit. Ich fand die Verbindung zwischen dem Patron von Stadt und Bistum und meinem Namen eine schöne Fügung, so dass ich die Symbole für Stephanus – die rote Märtyrerpalme, den Zweig und die drei Steine – in das Wappen integriert habe. Stephanus wurde für seinen Glauben gesteinigt.
Einer Ihrer Vor-Vor-Vorgänger auf dem Passauer Bischofsstuhl wurde immerhin schon mal aus der Stadt gejagt.
Ja, genau. (lacht)
Kann man das Amt eines Bischofs noch immer mit einem Martyrium vergleichen?
Wir Bischöfe sind in die Nachfolge der Apostel gestellt, und mich beschäftigt im Moment sehr der heilige Paulus. Wir neigen ja dazu, seine Geschichte als reine Erfolgsgeschichte zu sehen. Der größte Missionar der Christenheit. Der Heidenapostel. Die wuchtige Gestalt, dargestellt mit Schwert und Buch. Der mächtige Prophet. Aber wenn man seine Texte genau liest, sieht man: Er schreibt sehr oft aus dem Gefängnis. Er ist mehrmals verprügelt, gesteinigt worden. Die Leute sind vor ihm davongerannt. Es war ein Elend sondergleichen, zum Erbarmen! Aber er schreibt dann auch: Um euretwillen bin ich im Gefängnis und bin erniedrigt und verfolgt worden. Ja, das gehört in die Geschichte der Apostel hinein.
Wovor haben Sie sich gefürchtet vor der Amtsübernahme als 85. Bischof von Passau?
Na ja, da ist dieses riesige Maß an Verantwortung. Finanzen, unzählige Aufgaben, die Personalverantwortung für so viele Menschen, all diese Dinge, die mir nicht vertraut waren. Das war das eine. Das andere war die massive Einschränkung der persönlichen Freiheit. Man meint ja manchmal, diejenigen, die in der Hierarchie ganz oben stehen, sind die Freiesten, während man sich unten am meisten geknechtet fühlt. De facto fühle ich mich »oben« in einer bestimmten Weise mehr fremdbestimmt, als ich es je war. Es ist daher schon auch geistliche Aufgabe, diese Einschränkung von innen her, gewissermaßen als Kreuz, zu bejahen, anzunehmen und auszufüllen.
Sie hatten zuvor eine tolle Situation an der Hochschule in Benediktbeuern: die Stellung als der hippe Professor, die spannende Arbeit mit jungen Leuten, die angenehme Klostergemeinschaft; und all das auch noch in einer bezaubernden Landschaft am Fuße der bayerischen Alpen. Warum gibt man so etwas auf?
Ich hatte als Priester mit jungen Menschen viel sogenannte Berufungspastoral gemacht, wo wir uns auch immer wieder fragten: Welches sind die Spuren Gottes in deinem Leben? Und zweitens: Kann es sein, dass man darauf dann auch eine ernsthafte Antwort geben muss? Wenn wir sagen, die Bischöfe stehen in der Nachfolge der Apostel, dann geht es nicht einfach um ein hohes Amt, dann geht es zuerst um die Frage der Berufung. Dieser Auseinandersetzung habe ich mich gestellt: Gibt es einen Anruf, der sagt: »Der Herr möchte, dass du diesen Dienst übernimmst?« Und wenn man dann durch alles Ringen und Kämpfen hindurch spürt: Ja, Herr, es kann sein, dass du das willst, ich glaube das – dann kann man nicht ausweichen. Es sei denn, man hätte irgendwelche Leichen im Keller, wo man sagt: Um Gottes willen, wenn das irgendjemand erfährt …!
Zu den Leichen kommen wir noch. Nach Ihrer Berufung haben Sie ziemlich losgelegt: Transparenz in den Finanzen, ökologische Ausrichtung der kircheneigenen Wälder, Unterstützung für ein Frauenhaus. Hinzu kamen viele spirituelle Initiativen und nicht zuletzt die Einrichtung einer Kommission für Neuevangelisation.
Vieles war bereits vorbereitet. Zum Beispiel die Geschichte mit den Wäldern und auch die Transparenz in den Finanzen. Ich habe das gerne aufgegriffen und gefördert. Das Thema geistliche Erneuerung ist mir persönlich besonders wichtig. Und da setze ich auch Akzente. Beispielsweise mit der Jahrestagung unserer vielen pastoralen Mitarbeiter, gewissermaßen dem Flaggschiff unserer Fortbildung, die beim letzten Mal nicht ein externer Referent geleitet hat, sondern die ich selbst bestritten habe. Es ging – unter dem Evangeliumsmotto: »Brannte uns nicht das Herz?« – um die Frage: Wie geht Gebet? Was bedeutet geistliche Erneuerung? Was bedeutet Bekehrung? Das war eine dieser Initiativen, wo ich mich zusammen mit den Menschen frage: Wie finden wir in unserer Kirche Wege in die Tiefe, um unseren Glauben neu zu entdecken und zu verlebendigen?
Eindeutig positioniert haben Sie sich in der Flüchtlingsfrage.
Jesus selbst war ein Flüchtlingskind. Er musste mit seiner Mutter und mit Josef nach Ägypten fliehen, um seinen Mördern zu entkommen. Wenn Menschen in Not sind, dann müssen wir uns mit dem, was wir können – wir können natürlich nicht alles, jeder ist begrenzt –, zur Verfügung stellen und unseren Dienst tun. Die Politik ist aufgefordert, die Lasten gleichmäßig zu verteilen und Zuströme zu kanalisieren oder auch zu reduzieren. Wir sagen freilich: Achtet auch auf die Ängste von denen, die schon da sind. Auch da gibt es Arme und Benachteiligte. Aber grundsätzlich lässt das Christentum keinen Raum für Fremdenfeindlichkeit oder gar Fremdenhass. Schon gar nicht gegen Menschen in Not.
Sie sind in sozialen Netzwerken unterwegs und bekommen zu Ihren Texten schon mal 24000 Klicks.
Na ja, ich habe auch schon 60000 erreicht. Was für ein Format wie »Facebook«, das sich überhaupt nicht für lange Texte eignet, ganz erstaunlich ist. Ich merke jedenfalls, man erreicht hier eine große Anzahl von interessierten Menschen.
Auch das ist neu: Der Bischof wohnt nicht in einem feudalen Palais, sondern in einem bescheidenen Appartement. Ohne Haushälterin, sondern innerhalb einer WG, mit zwei Frauen und einem Mann.
Das sind Menschen, die am geistlichen Leben interessiert sind und mein Gebetsleben mittragen. Wir beten also miteinander, essen miteinander und teilen unser Leben. Kochen können meine Mitbewohner auch, wofür ich ganz dankbar bin. Etwas Besonderes ist auch, dass sie in einem ganz ausdrücklichen Sinn für mich beten. Wenn ich zum Beispiel irgendwo einen Vortrag halte, ein schwieriges Referat oder eine Predigt oder ein mühevolles Gespräch habe.
Als spirituelle Manpower?
Dann sind Sie jedenfalls da und beten im Hintergrund. Jedenfalls eine Person ganz intensiv. Das ist gewissermaßen meine geistliche Luftwaffe! (lacht)
In der vermutlich ersten Bischofs-WG Deutschlands.
Solche Modelle gab es schon immer. Deshalb fand ich es gar nicht so außergewöhnlich, dass hier auch Laien mitwohnen. Wir haben ein ganz normales Leben. Die haben auch Besuch, Übernachtungsgäste. Kürzlich zum Beispiel waren ein paar Leute da; wir hatten den Jugendgebetskreis und sind danach noch hierhergegangen.
Mit Prunk und Feudalismus hat Bischof Oster jedenfalls nichts zu tun.
Ich bin Ordensmann.
Das sind andere Kleriker auch – und führen dennoch einen luxuriösen Haushalt. Sie haben noch nicht mal eigene Möbel, oder?
Die wurden mir hier zur Verfügung gestellt. Bücher habe ich, aber das ist auch meine Versuchung. Versuchungen haben wir alle, aber Bücher zu besitzen, da muss ich mich schon ehrlich auch an der Nase packen. Gut, ich bin Theologieprofessor gewesen, und ein Professor darf Bücher haben oder braucht sie ja sogar. Aber die ehrliche Frage ist: Brauchst du sie wirklich? Da ringe ich schon auch damit.
Papst Benedikt sagt: Die Bücher sind meine Freunde!
Aber Sie wissen ja auch, dass kaum ein geistliches Thema so zweideutig ist wie das Verhältnis von Wissen und Macht. Warum beginnt in der Bibel, im Buch Genesis, der Sündenfall mit dem Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis? Es gibt zum einen das Wissen, das mir zur Verfügung steht, über das ich quasi machtvoll verfüge, das ich beherrsche. Das kann zu einer Versuchung werden, zum Herrschaftswissen zum Beispiel, oder um sich selbst gut darzustellen. Aber es gibt auch eine Form des Erkennens, die demütig macht, die das Herz aufschließt und die versteht, was in der Begegnung mit dem, was ich erkenne, wirklich geschenkt wird. Das ist noch mal etwas ganz anderes, als nur Information zu sammeln, um möglichst mächtig zu sein oder sich selbst gut darstellen zu können.
Mit Ihnen erlebt man einen Bischof in einem Kinderheim nicht nur beim Segnen, sondern auch beim Jonglieren. Fast wie einer der »Jongleurs de Dieu«, der Spielleute Gottes, wie man die Anhänger des heiligen Franziskus nannte.
Als junger Kerl bin ich viel per Anhalter verreist und habe irgendwann mal gedacht, ich muss was können, damit ich mir unterwegs Geld verdienen kann. Herumgeblödelt habe ich schon immer, aber ich konnte schlecht musizieren und schlecht singen. So habe ich eine Art jonglierende Clown-Nummer entwickelt und damit als Student auch Geld verdient. Und wenn ich heute Kinder treffe und ein paar Kunststücke mache, dann freuen die sich.
Sind Sie Vorreiter eines neuen Typus oder gar einer neuen Generation von Bischöfen, die anders ist?
Ich weiß das nicht. Ich mache mir nicht viele Gedanken darüber, wie man als Bischof zu sein hätte. Ich hoffe, dass das, so wie ich bin, einigermaßen kompatibel ist mit meinem Amt. Ich will kein Trendsetter sein, sondern einfach mein Amt ausüben – so gut es geht und mit dem, was ich halt mitbringe.
Warum wird ein Bischof noch immer als »Exzellenz« angesprochen? Warum gibt es noch immer diese hochherrschaftlichen Titel für Leute, die sich als die Nachfolger einfacher Fischer vom See Genezareth verstehen?
Ich tue mich auch nicht leicht mit solchen Titeln. Aber es gibt schon auch so etwas wie die Würde des Amtes. Das ist ja nicht so völlig verkehrt: Im Bischof wird qua Amt auch derjenige begrüßt, der ausdrücklich Jesus vertritt. Aber klar, in unserem persönlichen Umgang mit den Menschen, in meiner persönlichen Lebensweise, ist das wieder anders. Ich bin Ordensmann und ich glaube, dass die Gelübde, die ein Ordensmann verspricht, mehr oder weniger ausdrücklich auch für jeden Priester gelten müssten und damit auch für jeden Bischof. Gehorsam und Keuschheit sowieso, aber eigentlich auch die Armut. Wir sollen verfügbar sein für den Herrn und die Menschen, wir sollen um die Reinheit des Herzens ringen und immer neu überlegen, ob wir mit unserem Besitz wirklich auch verantwortungsvoll umgehen.
Jedenfalls gehören Sie zur ersten Bischofsgeneration in Deutschland seit der Nazi-Diktatur, die wieder damit konfrontiert ist, dass ihre Kirche massiv bedrängt wird und ins Abseits gerät. Vorab: Ist die augenblickliche Krise des Glaubens eine der größten in der langen Geschichte der Kirche in Deutschland? Oder vielleicht sogar die größte überhaupt, weil ihr das Ende der Kirche folgen könnte? Jedenfalls jener Kirche, wie wir sie bisher gekannt haben?
Die Krise ist groß. Und ich glaube, dass wir noch nicht am Ende der Talsohle angelangt sind. Der Säkularisierungsprozess wird sich womöglich noch dramatisch beschleunigen. Und vermutlich werden wir nur durch den Leidensdruck wieder zu anderen Formen finden. Aber ich will das nicht vorwegnehmen. Die Krise ist sehr groß, und wir spüren, dass ganz viel von dem, was wir gelernt haben, wofür wir ausgebildet wurden, plötzlich nicht mehr greift.
Was heißt das?
Als Beispiel: Wir sind mit Blick auf ein volkskirchliches Milieu davon ausgegangen, dass ein Kind in einer katholischen Familie aufwächst, in einen katholischen Kindergarten geht, den katholischen Religionsunterricht genießt, Kommunionvorbereitung, Firmvorbereitung hat, hin und wieder in den Gottesdienst geht, eine Wallfahrt macht, die Jugendgruppe besucht – und am Ende dieses Prozesses ist der 18-, 20-jährige junge Mensch ein fertig ausgebildeter Gläubiger. Und dann, sagt man, ist er bereit, in den Pfarrgemeinderat zu gehen, in den Frauenbund und womöglich noch im Kirchenchor zu singen. Aber tatsächlich merken wir schon seit Jahren: Dieses In-den-Glauben-Hineinwachsen, auch inhaltlich und geistlich, das funktioniert nicht mehr. Und wir wissen noch nicht allzu gut unter heutigen Bedingungen, wie geht das eigentlich, dass ein normaler junger Mensch von heute gläubig wird? Wir haben noch Geld, wir haben noch Personal, wir haben noch Strukturen, aber trotz dieses Reichtums, dieser Üppigkeit, haben wir keine durchschlagende Antwort auf diese Frage.
Ist der enorme Mentalitätswandel der Bevölkerung nicht sogar eine größere Herausforderung für die Kirche, als es die Aufklärung war?
Unsere Kultur – Konsumkultur, Medienkultur, Ich-Kultur – ist in jedem Fall eine Art Generalangriff auf die Aufgabe des Menschen, Innerlichkeit zu finden. Wir leben in einer Zeit, in der jedes Bedürfnis so schnell wie möglich gestillt werden muss. Und bleiben dadurch konstant an der Oberfläche. Aber der Mensch braucht immer auch Herausforderungen, um in die Tiefe zu kommen, ins Sich-selbst-Kennenlernen; dadurch zum Beispiel, dass man sich mal geduldig an einer Aufgabe abarbeiten muss, die einem die Wirklichkeit stellt.
Einst wurden aus Heiden Christen, jetzt werden aus Christen wieder Heiden. Dieses neue Heidentum durchdringt längst alle Lebensbereiche. Um nur wenige Beispiele zu nennen: Bei Beerdigungen spielen christliche Motive kaum noch eine Rolle. In Talkshows ist das Evangelium weder Argument noch Thema, auch nicht für Politiker sogenannter christlicher Parteien. Fernsehfilme zeichnen Jesus als Witzfigur und gläubige Christen als verdächtige Typen, die allenfalls Spott verdienen. Aus unseren Verfassungen wird der Gottesbezug gestrichen. Christliche Sonn- und Feiertage verkamen zu Wellness- und Brückentagen. Weihnachten, das unvergleichliche Fest der Christenheit, an dem Gläubige die Geburt Gottes auf Erden feiern, verkam zu einem hässlichen Shopping- und Sauf-Event. Erlebt Deutschland nun den Exodus des Christentums?
Wenn man die Akzente so deutlich setzt, wie Sie das jetzt tun, dann könnte man das wirklich denken. Ich bin freilich in der glücklichen Lage, in einem Bistum zu leben, in dem nominell noch deutlich über 80 Prozent der Einwohner Katholiken sind. Deswegen male ich aus dieser lokalen Perspektive nicht ganz so schwarz. Und jetzt mal mit der Hermeneutik des Wohlwollens gelesen: Es ist schon noch auch sehr viel da. Es gibt schon noch sehr viele engagierte gläubige Menschen. Sicher, auch hier gibt es keine wirkliche Antwort auf die Frage: Wie geben wir den Glauben an die nächste Generation weiter? Auch da fehlt zunehmend das Bewusstsein etwa für die Kategorie der Bekehrung oder des geistlichen Wachstums, die ja eine Aufgabe für jeden Menschen sind.
Ihre Diözese mag eine Ausnahme sein. Sie ist mit einem Katholikenanteil von rund 80 Prozent der Bevölkerung die stärkste in Deutschland, vielleicht sogar in Europa. Zum Vergleich: Das Bistum Görlitz hat vier Prozent, Dresden-Meißen drei Prozent, Hamburg, das flächenmäßig größte katholische Bistum, gerade einmal sieben Prozent. Muss man nicht konstatieren, dass die Ära der Volkskirche in Deutschland tatsächlich zu Ende ist?
Wir sind in Passau stark ländlich strukturiert. Es gibt hier noch eine volkskirchliche Prägung. Aber auch wir spüren, wie der geistliche Grundwasserspiegel sinkt, dass es allenthalben Traditionsabbrüche gibt und dass wir auch hier den Trend nicht aufhalten können. Anderswo ist es so, dass das Modell der Volkskirche als Sozialgestalt einer Kirche schon der Vergangenheit angehört, definitiv.
Die Diskussion um Reform und Richtung der Kirche setzt voraus, zu wissen, wovon man überhaupt spricht, wenn man von Kirche spricht. Viele begreifen sie nur noch als eine Art sozialer Gemeinschaft. Oder als bloßen Machtapparat, den ersten globalen Konzern der Welt.
Ich glaube, die Frage nach der Kirche ist sogar noch drängender als die Frage nach Jesus. Jesus finden irgendwie noch alle gut. Vor allem deswegen, weil jeder ein anderes Jesusbild hat. Aber wenn wir fragen: »Wo begegnen wir diesem Jesus?«, und zwar in seiner Tiefe, Klarheit und Wahrheit, in seiner ganzen Schönheit und Liebe, dann fällt vielen die Antwort schwer. Tatsächlich begegnen wir ihm im Herzen der Kirche. Das heißt, die Kirche ist zuerst der Ort, wo wir dem Herrn begegnen. Die Frage, was Kirche im Eigentlichen ist, erkläre ich gerne mit Maria. Maria als der Wohnort Gottes in der Welt, als Person. Das ist Kirche. Im tiefsten und ursprünglichsten Sinn.
Romano Guardini gab folgende Definition für die Kirche: Sie sei »keine erdachte und konstruierte Institution, sondern ein lebendiges Wesen. Sie lebt durch die Zeit weiter; werdend, wie alles Lebendige wird; sich wandelnd, dennoch im Wesen immer die gleiche. Ihr Innerstes ist Christus.«
Kirche ist etwas, was uns voraus ist, und nicht etwas, was wir dauernd manipulieren oder konstruieren könnten. Ja, das Innerste ist Christus. Und ich würde ergänzen: Das Herz der Kirche, also der Wohnort Gottes in der Welt, ist die Muttergottes.
Das Evangelium zeigt in der Figur des Petrus, wie Jesus Kirche gemeint hat. Dass sie die Gemeinschaft der Heiligen ist, aber nicht von der Art göttergleicher Heldengestalten, sondern von Menschen, die auch versagen können. Dass ihre Aufgabe Mission ist. Dass sie sich nicht der Welt anpassen darf. Dass sie mit Verfolgung rechnen muss. Vorgezeichnet ist allerdings auch, dass sie fallen kann.
Aber Christus hat ihr auch zugesagt, dass sie nicht untergeht. Wir wissen aus der Geschichte, dass die Kirche in ganzen Landstrichen völlig verschwinden kann. Auch in Ländern mit uralter christlicher Kultur. Im Augenblick sehen wir so etwas beispielsweise im Irak. Und wir wollen fest mithelfen und mitbeten, dass auch dort Kirche bleiben kann, trotz aller Verfolgung. Aber ja, es könnte sein, dass es irgendwann sogar in unserem Land keine wahrnehmbare Kirche mehr gibt. Das zeigt die Geschichte.
Ihre Diözese dehnte sich zur Zeit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation über Wien bis in den Westen Ungarns aus. Es sei leichter, hieß es damals, Bischof von Rom zu werden als Bischof von Passau. Heute ist das Bistum klein.
Ja, aber sehr schön und mit einer immer noch sehr reichen Geschichte – und mit einem der bedeutendsten Wallfahrtsorte Europas: Altötting.
Sind nicht auch Größe und Erfolg wichtige Kriterien für Kirche, für ihre Mission?
Erfolg ist keiner der Namen Gottes, sagt Martin Buber. Und trotzdem lesen wir – und das beschäftigt mich sehr –, dass die Apostel unter Einsatz ihres Lebens das Evangelium verkünden. »Und es wächst«, heißt es dann in der Schrift (Kol 1,6). Wenn die Kirche ein lebendiger Organismus ist, dann will dieser Organismus wachsen. Gleichzeitig wird solches Wachstum nie ohne Krisen vonstattengehen.
Deshalb ist das Thema Erfolg auch so ambivalent. Aber ja, wir wollen wachsen. Wir wollen Menschen ins Reich Gottes hineinführen. Das Allererste im Christentum ist immer eine Begegnung, eine Beziehung. Die Augen des Glaubens sehen die Welt und den Menschen ganz neu, weil sie Gott begegnet sind. Sich angenommen und geliebt zu wissen hilft, die Spuren der Gegenwart Gottes auch im anderen Menschen, in der Schöpfung, in der Geschichte zu erkennen. Man könnte auch sagen: Der Glaube hilft uns, die ganzen Brillen, die wir aufhaben, abzunehmen und die Wirklichkeit in ihrer Tiefe zu sehen. Aber eine solche Bekehrung ist auch nicht ohne Hingabe, nicht ohne Opfer zu denken.
Der englische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton, der Erfinder des »Pater Brown«, hat nach seiner Konversion zum Katholizismus den Wechsel der Perspektive einmal so beschrieben: »Viele tausend Dinge, die ich jetzt teilweise verstehe, hätte ich für völlig unverständlich gehalten. Viele Dinge, die mir jetzt klar und einleuchtend sind, weil ich sie gleichermaßen von innen sehe, hätte ich dunkel und barbarisch genannt.«