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Fackel in tiefer Nacht
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Bernd Kemter
Fackel in tiefer Nacht
Spanien und der deutsche Philosoph Karl Christian Friedrich Krause
Roman
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© 2015 by ANTHEA VERLAG
Hubertusstraße 14
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Verlagsleitung: Detlef W. Stein
www.anthea-verlag.de
Coverbild und Illustrationen: Elke Sieg
Umschlaggestaltung: Thomas Seidel
Lektorat: Dörthe Rieboldt
Korrektorat: Thomas Seidel
Satz: Thomas Seidel
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
ISBN 978-3-943583-86-1
Karl Christian Friedrich Krause (1781 – 1832) – wohl auf keinen Vertreter seiner Zunft trifft das geflügelte Wort zu: Der Philosoph gilt nichts im eigenen Land. In Deutschland nahezu vergessen, stets im Schatten solcher Geistesgrößen wie Fichte, Schlegel, Schelling und Hegel stehend, verschmäht, geschmäht und als oft vergeblich sich abmühender Privatdozent in Jena, Dresden, Göttingen und München zumeist mit Geringschätzung bedacht, entfaltete seine Lehre im Spanien des 19. Jahrhunderts ihre volle Wirksamkeit. Sie strahlte ebenso auf lateinamerikanische und andere Länder aus. Doch zunächst: Wer war jener Denker, wie verlief sein Leben? Worin besteht der Kern seiner Lehre, des Panentheismus?
Krause wurde am 6. Mai 1781 in der thüringischen Kleinstadt Eisenberg als Sohn eines Lehrers geboren. Er studierte in Jena Theologie, Philosophie und Mathematik. Zu seinen Lehrern gehörten die berühmten Philosophen Fichte, Schelling und A. W. Schlegel. Auch sah sich Krause als Schüler Kants. 1801 erwarb Krause den Doktorgrad und habilitierte sich ein Jahr später mit einer philosophisch-mathematischen Schrift.
Weitere Publikationen folgten rasch, so die „Grundlagen des Naturrechts oder philosophischer Grundriss des Ideals des Rechts (I)“, „Grundriss der historischen Logik für Vorlesungen“, „Grundlagen eines philosophischen Systems der Mathematik“ (1. Teil), „Faktoren und Primzahlen“ und „Entwurf des Systems der Philosophie. 1. Abteilung“.
1802 schloss der 21-Jährige mit Amalia Concordia Fuchs aus Eisenberg den Ehebund. Das Paar hatte vierzehn Kinder, zwei starben allerdings kurz nach der Geburt. Die Vorlesungen des Privatdozenten in Jena waren zunächst gut besucht. Allerdings sanken die Studentenzahlen, und wie andere Dozenten auch, trug sich Krause mit dem Gedanken, aus Jena wegzuziehen. Er führte den Plan auch aus, was sich im Nachhinein als folgenschwerer Fehler für seine akademische Karriere erweisen sollte.
Die Familie zog zunächst nach Dresden, wo Krause Vorlesungen an einer Ingenieurschule hielt und zugleich Privatunterricht erteilte. Schon hier stellten sich enorme finanzielle Schwierigkeiten ein. Immer blieb Krause auf Geldzuwendungen des Vaters angewiesen. Die missliche Situation schien sich mit dem Umzug nach Berlin zu wenden. Immerhin durfte Krause mit Fichtes Fürsprache rechnen, weil er Vorlesungen in Mathematik zu halten beabsichtigte. Als sein einflussreicher Lehrer starb, hoffte Krause, ihn zu beerben, doch vergebens. Er konnte nicht in Berlin bleiben, zog 1815 wieder nach Dresden um. Die Jahre vergingen, die Familie fristete kümmerlich genug ihr Leben. Mehrere Umzüge in immer billigere Wohnungen waren an der Tagesordnung. Auch in Göttingen war Krause kein Glück beschieden. Die Hoffnungen, hier als Privatdozent aus den materiellen Nöten herauszukommen, zerschlugen sich. Schlimmer noch. Krause wurde mit dem Aufruhr 1831, der die Stadt erfasst hatte, in Verbindung gebracht, weil einige seiner Schüler darin verwickelt waren. Er musste die Stadt verlassen. Letzte Station des glücklosen Gelehrten war München. Hier strebte Krause eine Honorarprofessur an der Universität an, ersuchte bei König Ludwig um Beistand. Kein Geringerer als Schelling soll diesen Plan vereitelt haben. Wegen der Göttinger Affäre drohte Krause sogar die Ausweisung. Er wusste sich allerdings klug zu verteidigen, den König und seinen Minister, den Fürsten Ludwig von Oettingen-Wallerstein, von seiner Unschuld zu überzeugen. Letztlich gab das Ehrenwort des Philosophen Franz von Baader den Ausschlag.
Alle Not, alle Widrigkeiten, die Enttäuschungen seiner vergeblichen Versuche, ein einträgliches akademisches Amt zu erhalten, hinterließen ihre Spuren. Krause erkrankte ernstlich. Er suchte Heilung in Partenkirchen. Als er nach München zurückkehrte, erlag er am 27. September 1832 einem Schlaganfall. Wenige Menschen, unter ihnen seine weinenden Kinder, begleiteten den Sarg.
Soviel zum Leben dieses bedauernswerten Gelehrten. Und doch: Trotz aller Misserfolge, die nicht zuletzt auf den Neid mächtiger Brotgelehrter zurückzuführen waren, hat Krause eine originäre Philosophie hinterlassen. Dessen Kernpunkt bildet der Panentheismus. Was ist darunter zu verstehen?
Kurz übersetzt bedeutet dieser von Krause geprägte Begriff „Alles ist und lebt in Gott“. Gott ist der Welt einbegriffen und zugleich außer ihr. Gegenüber dem landläufig verstandenen Pantheismus Spinozas meint diese Lehre folglich, dass Gott und Natur nicht identisch sind. Angenommen wird somit ein vollkommenes göttliches Wesen, das sowohl in der Natur als auch im menschlichen Leben wirkend gegenwärtig ist. Dieses göttliche Wesen führt die Menschheit auf den Endzustand einer ethischen und sozialen Idealordnung hin. Das Wichtigste in diesem Kontext sind Krauses „Realer Harmonismus“ und seine „Lebenskunstwissenschaft“. Demnach entwickelt sich die Menschheit vom Individuum, von einfachen Bünden wie Familie und sozialen Zusammenschlüssen bis hin zum Staat letztlich zum „Menschheitsbund“. Hier ist der Höhepunkt erreicht, es folgt der Abstieg, und der Zyklus beginnt von Neuem. Immer aber ist Gott gegenwärtig, sein Prinzip der Liebe durchdringt das gesamte Dasein. Von daher rührt auch Krauses Leitspruch „Die Liebe trägt den Sieg davon“. Interessanterweise entwickelt Krause, insbesondere in seinem Hauptwerk „Das Urbild der Menschheit“, recht modern anmutende Auffassungen und dies ‒ man muss es hervorheben ‒ anfangs des 19. Jahrhunderts: Souveränität der Völker, Gleichberechtigung der Frau, Rechte des Kindes und Eigenrecht der Natur. Darunter fallen ebenso Rechte der Tiere; Rechte, die außerhalb jeglichen menschlichen Nützlichkeitsdenkens angesiedelt sind.
Warum fiel seine Lehre gerade in Spanien auf fruchtbaren Boden?
Reformerische Kräfte beauftragten im Jahre 1842 Julian Sanz del Rίo (1814 – 1859), Doktor des Kirchenrechts und nachmaliger Professor für Geschichte der Philosophie an der Madrider Zentral-Universität, mit einer Reise nach Deutschland. Er sollte sich dort nach modernen Philosophien umsehen, die geeignet schienen, das geistig weit zurückgebliebene Spanien in die neue Zeit zu retten. Sein Weg führte ihn im Jahre 1843 über Paris nach Brüssel, wo er mit dem Krause-Schüler Heinrich Ahrens (1808 – 1874) zusammentraf. Dessen Werk „Naturrecht oder Philosophie des Rechts“ war bereits 1841 in Madrid erschienen; Sanz del Rίo war es bekannt. An der Heidelberger Universität traf der junge spanische Doktor mit zwei weiteren Krause-Anhängern zusammen, die ihn in seinem Entschluss bestärkten, der Krause’schen Philosophie im Heimatland zum Durchbruch zu verhelfen. Mit ihrem Hang zum Harmonismus stand die Krause’sche Philosophie dem zutiefst religiös geprägten Denken der Spanier weitaus näher als etwa die Widerspruchsdialektik Hegels, die ungeachtet dessen dennoch eine gewisse, aber weitaus schwächere Wirkung auf der iberischen Halbinsel zeitigte. Doch auch der zu jener Zeit vorherrschende französische Eklektizismus eines Victor Cousin (1792 ‒ 1867) stand nicht nach dem Sinn der Spanier. So erhielt die Krause-Philosophie, zumal sie sehr klug eine Brücke zur katholischen Gefühlswelt dieser Menschen schlug, eine erfolgsträchtige Chance.
Der Krausismo stand rasch nach Sanz’ Rückkehr für eine echte geistig-moralische Erneuerung. Diese praktische Philosophie wandte sich gegen die verknöcherte Scholastik und ihre geistige Führerschaft. Die Reaktion folgte prompt: Die Werke von Julian Sanz del Rίo, so sein wichtigstes Werk „Ideal de la humanidad para la vida“, und von Heinrich Ahrens wurden verboten. Krausismo-Professoren verloren ihre Lehrstühle. Dennoch blieb die geistige Konterbande lebendig. Dies zeigte sich sofort in der Revolution von 1868. Erfolgreich rangen Krausisten um sozialliberale Rechte, sie beförderten Reformen. Dabei kritisierten sie durchaus den im bloßen markt-wirtschaftlichen Denken befangenen Liberalismus und das Modell eines ausschließlich technokratisch organisierten Staates. Ihr Sinnen und Trachten lief gewissermaßen auf eine „partizipative Demokratie“ hinaus. Der Staat sollte die Gesellschaft nicht dominieren. Krausistische Reformer waren vor allem auf den Gebieten der Bildung und des Rechtswesens erfolgreich.
Einige entlassene Professoren, unter ihnen der überragende Krausist Giner de los Rίos, gründeten im Jahre 1876 die „Institución Libre de Enseñanza“. Dieses fortschrittliche Bildungsinstitut bestand über Jahrzehnte und wurde erst von Franco geschlossen. Nach dessem Tod blühte der Krausismo rasch wieder auf. In Lateinamerika hat er immer geblüht.
Das vorliegende Buch soll die Wirkungsgeschichte der Krause’schen Philosophie in Spanien mit belletristischen Mitteln ein wenig erhellen. Es vernachlässigt im Interesse der Handlung Lebensdaten einiger Personen sowie die konkreten Daten geschichtlicher Ereignisse der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere die Eisenberger Ereignisse während der bürgerlichen Revolution von 1848/49 sowie die Lyoner Seidenweberstreiks der Jahre 1831, 1834 und 1848, fokussiert sie vielmehr in freier Darstellung um das Jahr 1860, das Erscheinungsjahr des „Ideal de la humanidad para la vida“. Durch diesen Kunstgriff sollen die großen sozialen und geistigen Bewegungen dieser Zeit deutlich gemacht werden. Viele Personen haben wirklich gelebt, neben den bereits erwähnten Sanz del Rίo und Giner de los Rίos sind hierzu Gumersindo de Azcárate, Jaimes Balmes und Fernando de Castro zu nennen. Andere werden in die frei erfundene Handlung eingeführt. Dies betrifft beispielsweise Ernsts Geliebte Ines sowie andere Mitglieder der Familie Pajares (mit Ausnahme des Fernando de Castro y Pajares), Ernsts Widersacher Adolfo Castelar, die Jesuitenpater Albrecht und Jordanus sowie weitere Personen. Auch die Reise des Krause-Sohnes Ernst nach Spanien ist Fiktion. Gleichwohl wäre sie als „Übersetzungshilfe“ des schwierigen Krause’schen Begriffsapparates durchaus möglich gewesen. Hinter dem Pseudonym Rodolfo Eugenos verbirgt sich der Jenaer Nobelpreisträger Rudolf Eucken, dessen glänzende Festtagsrede im Jahre 1881 anlässlich des 100. Geburtstages von Karl Christian Friedrich Krause referierend ins Manuskript einbezogen wurde. Schließlich vermochte bislang kein anderer Text die Gedanken des Eisenberger Philosophen so brillant und zugleich verständlich einzubeziehen wie dieser.
Der Autor möchte einen Beitrag leisten, jenen überragenden, wenn auch einsamen Denker bekannt zu machen, der sich ebenso mit Mathematik, Anthropologie, Pädagogik, Logik, Sprachwissenschaft, Musik und den Anfängen der Soziologie beschäftigte. Sein Panentheismus steht durchaus ebenbürtig neben den großen geschlossenen Systemen eines Fichte, Schelling und Hegel. Dies allein ist Grund genug, Krause dem Vergessen zu entreißen. Erfreulicherweise hat sich seine Heimatstadt Eisenberg ihres großen Sohnes nach Jahrzehnten der Geringschätzung wieder erinnert. Es gibt ein saniertes Denkmal, einen Krause-Platz und eine Schule, die seinen Namen trägt. Konferenzen und Vorträge in den vergangenen Jahren ließen das Krause’sche Erbe wieder lebendig werden.
Bei der Erschließung der Philosophie Krauses in ihrer systematischen und historischen Dimension konnte ich mich u. a. auf folgende Publikationen stützen: Klaus-M. Kodalle (Hrsg.): „Karl Christian Friedrich Krause (1781 – 1832) und der ,Krausismo’“. Schriften zur Transzendentalphilosophie Bd. 5, Hamburg (Verlag Felix Meiner) 1985; K.-M. Kodalle: Art. „Karl Christian Friedrich Krause“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 4, S. 624 – 631; K.-M. Kodalle: „Die Wirtschaftsphilosophie Krauses und des ,Krausismo’“, unveröff. Vortrag; Enrique M. Ureña: „K. C. F. Krause. Philosoph, Freimaurer, Weltbürger. Eine Biographie“, frommann-holzboog Stuttgart-Bad Canstatt 1991, in: Spekulation und Erfahrung. Texte und Untersuchungen zum Deutschen Idealismus, Abt. II: Untersuchungen, Bd. 22; Sabine Schmitz: „Spanischer Naturalismus: Entwurf eines Epochenprofils im Kontext des Krausopositivismo“, Tübingen Niemeyer 2000; Kurt Riedel: „Wie Karl Ch. F. Krause wurde, was er uns sein soll“, Dissertation; Peter Landau (München): „Geschlechtergerechtigkeit bei Karl Christian Friedrich Krause“, Vortrag; Claus Dierksmeier: „Der absolute Grund des Rechts. Karl Christian Friedrich Krause in Auseinandersetzung mit Fichte und Schelling“, frommann-holzboog Stuttgart-Bad Canstatt 2003. In: Spekulation und Erfahrung. Texte und Untersuchungen zum Deutschen Idealismus, Abt. II: Untersuchungen, Bd. 52; Wilfried Warsitzka: „Bürger unterm Mohrenwappen, Aus der Geschichte der Stadt Eisenberg und ihrer Bewohner“, Verlag Bussert & Stadeler, Jena, Quedlinburg, Plauen 2010; Archivalien des Stadtarchivs Eisenberg.
Ich bedanke mich bei Prof. Dr. Peter Landau (München) für die wohlwollende fachliche Beratung. Dank gebührt ebenso meiner Erst-Lektorin, Dörthe Rieboldt (Eisenberg), für ihre professionelle Durchsicht des Manuskripts.
„Nun passen Sie doch auf!“ Fluchend reißt der Fuhrknecht an den Zügeln, mit knapper Not kann Ernst Krause den beiden sich aufbäumenden Brabanter Pferden ausweichen. Immer noch grollend lenkt der Mann hoch oben auf dem Kutschbock sein Gefährt durch all die Wagen und Karren hindurch, die vor dem Eisenberger „Gasthof zum Mohren“ auf ihre Weiterfahrt ins Naumburgische oder Weißenfelsische warten. Tabaksqualm weht dem jungen Mann entgegen, als er die Schankstube der Ausspanne betritt. An den klobigen Tischen sitzen dicht gedrängt die Fuhrleute, zwischen deren Füßen ein Haderlappen wuselt. Die Schankmagd hat zuvor die Tische und Bänke abgewischt, Gäste unwirsch beiseite geschoben, die ihr nicht rasch genug Platz machten. Die Magd muss sich sputen, Carl Stichel, der Wirt, pocht auf Reinlichkeit und hat Versäumnisse stets mit dem Ziemer geahndet.
Für Krause hat sie nur ein barsches „Dort hinein!“ übrig, als er sich nach der Familiengesellschaft erkundigt. Während sich der Neuankömmling zum gewiesenen Hinterzimmer hindurchzwängt, erscheint in der Klappe zur Küche das verschwitzte Gesicht des Wirts, der eine Schüssel dampfender Klöße herausreicht.
„Nun greif schon zu, du nichtsnutziges Ding“, schimpft Stichel. Die Frau stemmt entrüstet die Arme in die Hüften. „Stellen Sie doch endlich eine zweite Magd ein“, keift sie. „Ich kann mich nicht zerreißen.“ Krachend schlägt die Klappe zu.
Ernst öffnet die Tür. Er erschrickt, als er die gesamte Familie bereits versammelt sieht. Bedeutungsvolles Räuspern an der Stirnseite. Auf einen Schlag wenden sich alle Köpfe dorthin: zum Jüngsten in der Runde, Cousin Wolfgang. Dessen feistes Gesicht mit dem sorgfältig verschnittenen Backenbart, der neue, tadellos sitzende Frack, all dies weckt Ernsts höchstes Unbehagen. Wolfgang zieht seine Uhr aus der Westentasche. „Du kommst eine Stunde zu spät, lieber Vetter.” ‒ „Wieso?”, rechtfertigt sich der Getadelte. „Wir wollten uns doch jetzt, genau zur Mittagsstunde, treffen.” Mit weit ausholender Geste weist Wolfgang in die Runde. „Du siehst, wir sind allesamt zur rechten Zeit gekommen und haben eine Stunde auf dich gewartet.”
Ernst hätte schwören mögen, dass Mittag vereinbart gewesen war, und ihm schwant, dass der Cousin die Frist eigenmächtig geändert und die Geschwister verständigt hat – nur ihn nicht. Ernst ahnt den Grund. Um ihn zu demütigen. Und wie sich zeigt, gedenkt Wolfgang noch eines draufzusetzen. „Du siehst, lieber Ernst, alle Plätze sind besetzt. Schaffe dir rasch einen Stuhl herbei, damit wir endlich beratschlagen können.”
Ernst bricht der Schweiß aus. Doch wider Erwarten wird in der Schankstube gerade ein Schemel frei. Nicht auszudenken, schießt es ihm durch den Kopf, er wäre mit leeren Händen zurückgekehrt. Zum Gespött der Familie wäre er geworden. Aufatmend stellt er den Schemel an die Wand.
„Nun rückt doch zusammen”, lässt sich wieder Wolfgang hören. „Der Ernst gehört doch zu uns, an unseren Tisch.”
Gehorsames Stühle Rücken. Jetzt erst nimmt der Neuankömmling die Sitzordnung wahr.
Wolfgang hat sie allem Anschein nach nicht nach dem Alter festgelegt, sondern nach gesellschaftlichem Rang und persönlichem Besitz. Links von Wolfgang, dem Jenaer Notar, haben Wilhelm, Rechtsanwalt in Dresden, Julius, praktizierender Arzt in Eisenberg, und Otto, Arzt und Stadtrat in Gotha, mit ihren Frauen Platz genommen. Es folgen Carl Erasmus, Jurist in München, sowie Friedrich, Ludwig und Hugo, Kaufleute aus der näheren Umgebung. Ans Ende der Tafel sind Sophie, Sidonie, Maria und Emma gerückt. Ganz steif sitzen sie auf ihren Stühlen. „Wie die Hennen auf der Stange”, blitzt es Ernst durchs Gehirn. „Und reichlich gackern werden sie gewiss.”
Wolfgang räuspert sich. „Nun, da wir vollzählig sind, müssen wir in einer Angelegenheit beraten, die keinen Aufschub duldet. Der Fall ist uns ja allen bestens bekannt.”
Ernst verschlägt es den Atem: Kein Wort hat er je hierzu gehört. Welch Infamie!
„Wie ihr wisst, ist unserer Familie ein Schreiben der Madrider Universität zugegangen, das euren verstorbenen Vater betrifft”, fährt Wolfgang fort. „Im Ungefähren ließ sich das Anliegen erraten, ich habe das Schreiben allerdings genauer übersetzen lassen und mache euch nun mit seinem Inhalt vertraut.”
In das ehrfurchtsvolle Schweigen hinein erläutert er, dass der Senat der Universität die hochverehrte Familie bäte, ihm bei der Deutung einiger schwer verständlicher Kapitel aus dem philosophischen Nachlass des Karl Christian Friedrich Krause behilflich zu sein. Der Senat ersuche um baldige Anwesenheit eines urteilsfähigen Familienmitgliedes, um die Edition des in die spanische Sprache zu übertragenden Manuskripts zu einem glücklichen Ende zu bringen. Es handele sich um das Werk des Julian Sanz del Río „Ideal de la humanidad para la vida“. Die Kosten für den Aufenthalt des erbetenen Lektors übernehme die Akademie.
Ratlosigkeit malt sich auf den Gesichtern. „Ja, was sollen wir denn tun?”, hebt Friedrich hilflos die Hände. „Wer wäre von uns dazu in der Lage? Und überhaupt: In die Fremde reisen und das Geschäft im Stich lassen? Wir haben doch allesamt an unseren Pflichten zu tragen.”
„Wohl wahr”, stimmt Wolfgang zu, während er seine Hände über der Weste faltet. „Aber es handelt sich um euren Vater. Es ist unsere Pflicht und Schuldigkeit, dem Ruf nach Madrid zu folgen. Wen sollen wir schicken?” Schweigen fällt in die Runde wie eine Wand.
„Vielleicht dich, lieber Wilhelm?”, lässt sich Sophie hören. „Du als Rechtsanwalt kannst den guten Leuten sicherlich am besten helfen.”
„Ja, aber nur, wenn es um juristische Texte ginge, ganz zweifellos”, nickt Wilhelm. „Gern wäre ich in diesem Fall zur Reise bereit. Aber Philosophie”, er breitet bedauernd seine Arme aus, „sie ist ganz und gar nicht mein Fall.”
„Meiner auch nicht”, wirft Carl Erasmus ein. „Da sollte sich lieber unser Otto als Pfarrer der Sache annehmen. Soweit ich unseren Vater kenne, sind seine Ansichten der Theologie eng verwandt.”
„Unmöglich”, wehrt Otto ab. „Meine Gothaer Gemeinde würde mir die Reise in dieses katholische Land sehr übel nehmen. Und im Stadtrat werde ich dringend gebraucht.”
„Vielleicht kann jemand von euch einspringen?”, wendet sich Wolfgang jetzt an die untere Seite der Tafel. Doch Ludwig, Friedrich und Hugo lehnen ab. Sie seien unabkömmlich. Die Leipziger Messe stünde bevor. Wenn sie dort ihre Ware nicht anbieten könnten, blieben ihre Leute ohne Lohn und Brot. Hatten sie ihre geschäftlichen Verpflichtungen dem lieben Cousin gegenüber nicht längst schon kundgetan? Und überhaupt: Wie sollten sie, einfache Leute, in gelehrten Sachen behilflich sein?
„Das sehe ich ein”, pflichtet Wolfgang bei, während Ernst ahnungsvoll stutzt: Gab es bereits Absprachen – ohne ihn?
„Nun, wie es scheint, werde ich wohl die Reise antreten müssen, obwohl auch ich Pflichten und Sorgen zu tragen habe”, dehnt Wolfgang seine Worte. „Aber um des lieben Verstorbenen willen werde ich es tun.”
Stühle scharren. Man drängt sich um Wolfgang, um ihm zu danken, als sich plötzlich Julius erhebt und ans Glas klopft: „Ich bitte ums Wort.”
Erstauntes Gemurmel, alle nehmen wieder Platz.
„Zunächst sollt ihr wissen, weshalb ich die Reise ausschlagen muss”, setzt Julius an. „Ich darf als Arzt meine Patienten nicht im Stich lassen. Daher danke auch ich dir, lieber Wolfgang, dass du den weiten Weg auf dich zu nehmen gedenkst. Doch sei die Frage erlaubt: Musst du dich nicht um dein Notariat kümmern? Auch möchte ich wissen: Wie willst du dich mit den dortigen Leuten verständigen, wenn du ihre Sprache nicht beherrschst? Du magst ein tüchtiger Fachmann auf deinem Gebiet sein, aber für jene Aufgabe halte ich dich für gänzlich ungeeignet, zumal du nichts von unseres Vaters gelehrten Sachen verstehst.”
„Aber wer sollte diese Aufgabe sonst übernehmen?”, wirft Hugo ratlos ein.
Schweigen und lange Gesichter. „Ich wüsste jemanden”, erwidert Julius und weist auf Ernst. „Den da!”
Ernst zuckt zusammen. Sein Blut rast in den Schläfen, ihm wird dunkel vor Augen.
„Ich habe gute Gründe für meinen Vorschlag”, fährt Julius fort. „Ernst ist aller geschäftlichen und familiären Verpflichtungen ledig. Er ist nicht nur bewandert in Theologie, er hat zudem philosophische Vorlesungen an der Jenaer Universität gehört. In dieser Neigung zur Philosophie ist er unserem Vater gefolgt, ja mehr noch: Wie wir alle wissen, hat Vater gerade ihn an seine Lehre herangeführt. Ist dies so?“
Ernst muss dem Bruder widerwillig Recht geben und er erinnert sich an manche Stunde, in der ihn der Vater in Philosophie und in den Anfangsgründen seiner Lehre unterrichtete.
„Außerdem ist Ernst des Französischen und natürlich des Lateinischen mächtig und wird sich somit in der spanischen Sprache behelfen können“, fährt Julius fort. „All dies spricht für ihn, zumal nicht sicher ist, ob er die verheißene Pfarrstelle in Nobitz auch bekommt.”
Niemand sagt ein Wort, doch alle Geschwister und auch Wolfgang wissen, wie schwer es Ernst gefallen war, für sein Theologiestudium in Jena aufzukommen. Stets fehlte das Geld, und so hatte er sich immer wieder um schlecht bezahlte Hofmeisterdienste bemühen müssen. Und man weiß in der Familie nur zu gut, mit welcher Geringschätzung Julius, der erfolgreiche Arzt, auf seinen armen, studierenden Bruder herabgeblickt hat, welcher nebenher unbedingt noch Philosophievorlesungen hören musste. Dazu hatte Julius nur den Kopf geschüttelt: Waren diese zusätzlichen Ausgaben denn nötig? Nun war Ernst, dem Vikar, die Pfarrstelle in Nobitz in Aussicht gestellt worden, die schon der Vater betreut hatte. Alle Not sollte ein Ende haben. Die Pfarrstelle führt Ernst jetzt ins Feld, schildert seine missliche Lage. Vergisst auch nicht zu erwähnen, dass ihm sein Superintendent die Reise ins katholische Spanien kaum erlauben würde. Aber er hütet sich, ein weiteres Argument zu nennen. Denn da ist Angelika, seine Verlobte, von der die Geschwister noch nichts wissen dürfen und die er über Jahresfrist zu heiraten gedenkt.
„Alles zugestanden, lieber Vetter”, räumt Wolfgang ein. „Wir wollen deine Beweggründe gut überdenken. Wer wünscht das Wort?”
Auf diese Aufforderung scheinen die Schwestern nur gewartet zu haben. „Ja, der Wolfgang hat Recht. Du bist der Jüngste unter uns Geschwistern, nur du kommst in Betracht”, stellt Sidonie resolut fest. Neben ihr erhebt sich Sophie: „Ja, wegen deiner Jugend bist du den Strapazen am besten gewachsen. Und für dein Fortkommen wird man später sorgen. Die Nobitzer Pfarre wird nach deiner Rückkehr zwar besetzt sein, aber man wird dir gewiss eine andere geben.”
Emma legt nochmals dar, dass für die Reise einzig und allein Ernst in Betracht käme, kein anderer verfüge über solche Fähigkeiten und Kenntnisse wie er; Julius habe diesen Umstand auf höchst einsichtige Weise begründet.
Ein abgekartetes Spiel, wird Ernst klar.
„Somit müssen wir als Familienrat beschließen, dass Ernst die Reise antritt”, fordert der Cousin. „Gibt es Einwände?” Niemand meldet sich, der Beschluss erfolgt ohne Gegenstimme.
„Da die Universität für deinen Unterhalt aufkommt”, verkündet Wolfgang, „müssen wir lediglich deine Reisekosten bestreiten. Dafür haben wir bereits Sorge getragen.”
Der Geldbeutel wiegt leicht in Ernsts Hand. „Die Summe aufzubringen, ist uns durchaus schwer gefallen”, erwidert Wolfgang auf dessen befremdeten Blick. „Die Geschäfte gehen nicht gut. Aber sicherlich wirst du bei deinen Glaubensgenossen und später bei gastfreundlichen katholischen Christenmenschen Kost und Logis finden.” – „Unsere guten Wünsche begleiten dich”, erhebt sich Maria, um Ernst zu umarmen. Die anderen Schwestern folgen ihrem Beispiel.
Inmitten des Aufbruchs hält ihn Julius zurück. „Ich soll dir noch ausrichten, dass du nicht allein reisen wirst. Albrecht, ein Jesuit, wird dich begleiten.” – „Ein Jesuit?”, braust Ernst auf. „Ich bin Lutheraner.” – „Na, wenn schon”, legt der Bruder begütigend seine Hand auf Ernsts Schulter. „So hat es der Wolfgang mit deinem Superintendenten ausgemacht und zuvor natürlich um Dispens für deine Person ersucht. Der Pater kann dir in katholischen Landen nützlich sein. Du kommst im Übrigen nicht umhin, ihn aufzusuchen, denn er ist im Besitz mehrerer Manuskripte unseres Vaters. Die Jesuiten haben sie auf Wolfgangs Wunsch hin durchgesehen und sie vermutlich für akzeptabel befunden, so dass dir Schwierigkeiten von Seiten der spanischen Kirchenbehörden erspart bleiben. Du kannst die Niederschriften während der Reise studieren. Albrecht wird dich in drei Wochen im Kloster Waldsassen erwarten. Von Wolfgang soll ich dir das Tagebuch unseres Vaters übergeben. Er hat dir in Jena zudem ein spanisches Wörterbuch besorgt. Nimm alles, es ist zwar ein schweres Konvolut, aber du musst es halt tragen.”
Lärm des Aufbruchs. Fassungslos nimmt Ernst die Segenswünsche entgegen. Wie schmählich hat ihn doch die Familie hintergangen. Er schlägt Julius’ Einladung auf Abendessen und Nachtquartier aus; nein, er wolle lieber im „Mohren” bleiben. Verstimmt wendet sich der Bruder zur Tür. Nachdenklich setzt sich Ernst zu den Fuhrleuten in der Schankstube und lässt sich einen Humpen Eisenberger Bier bringen. Nicht an das soeben Erlebte zu denken, nimmt er sich vor. Es dauert jedoch geraume Zeit, ehe sein Groll verflogen ist. Insgeheim die Familie verwünschend, beginnt er zu begreifen, dass er sich in sein Schicksal fügen muss. Vielleicht würde es ihm sogar für sein weiteres Fortkommen nützen, ein fremdes Land kennengelernt zu haben. Er beschließt, das Beste daraus zu machen. Allmählich fesseln ihn die denkwürdigen Begebenheiten, die sich die Fuhrleute einander erzählen. Sie werden umso redseliger, als er eine Runde ausgibt, erkundigen sich nach dem Woher und Wohin des freigebigen Spenders. Ein Fuhrmann verspricht, ihn ins reußische Gera mitzunehmen, wenn ihm der junge Herr die Morgensuppe bezahle. Rasch werden sie handelseinig. Doch Ernst besteht darauf, erst aufzubrechen, nachdem er sich von einer lieben Person verabschiedet habe. Seine Zechkumpane werden nun hellhörig: Wer denn das glückliche Frauenzimmer sei, wollen sie wissen. Mürrisch wehrt Ernst ihre zudringlichen Fragen ab. Es ist bereits gegen Mitternacht, als er mit brummendem Schädel die schmale Stiege zu seiner Kammer emporsteigt, um sich wohlig auf seinem Lager auszustrecken.
*
In aller Herrgottsfrühe schnürt Ernst sein Bündel. Die kleine Stadt ist noch nicht zum Leben erwacht, als er aus dem „Mohren” tritt. Doch die Morgensonne spiegelt sich bereits in den Fenstern des stattlichen Fachwerkhauses, gleitet über das Walmdach, belässt die Mansarden zur Hofseite im Schatten. An der Toreinfahrt mit den beiden, von steinernen Kugeln bekrönten Pfeilern wartet bereits eine Gestalt. Es gibt Ernst einen freudigen Stich ins Herz: Angelika.
Sie umarmen sich innig. Doch in den Augen des Mädchens stehen Tränen. „Wie lange werden wir doch getrennt sein”, flüstert sie. „Wie sollen wir nur diese Zeit überstehen?” – „Ich komme heim, sobald mein Auftrag erfüllt ist”, beteuert Ernst. „Warte auf mich, dann wird alles gut. Schreib mir, so oft du kannst.”
Wenige Augenblicke bleiben ihnen, bis der Fuhrmann mit seinem Knecht aus der Tür tritt und zum Aufbruch drängt. Ein letzter Kuss, eine letzte Umarmung, dann schwingt sich Ernst in den Planwagen. Nun rumpelt das Fuhrwerk über das Pflaster, biegt rechts auf die Chaussee gen Kursdorf ein, rollt unterhalb der Schlossmauern am Nassen Wald vorbei. Die beiden Männer auf dem Kutschbock schwatzen ausgiebig, spötteln über das dünne Eisenberger Bier, das so gar nicht zu vergleichen sei mit dem Naumburgischen oder Apoldaer Gerstensaft, und schimpfen über die schlechte Straße.
Lange noch verweilen Ernsts Gedanken bei Angelika, kaum nimmt er Kursdorf und Rauda wahr. Doch dann fällt ihm das väterliche Tagebuch ein, das er bei sich trägt. Seine Neugier ist geweckt und er schlägt die ersten Seiten auf.
„Krause wurde am 6. Mai 1781 in Eisenberg, einer kleinen Stadt im Herzogtum Altenburg, geboren”, liest er verwundert und fragt sich, weshalb der Vater in der dritten Person schreibt. Schon erhält er Antwort: Die als „Entwurf zu der Skizze meiner Lebensgeschichte” betitelte Biographie sollte in eine Enzyklopädie aufgenommen werden. Nun findet sich ein Eintrag des Großvaters, Johann Friedrich Gotthard: „Im Jahre 1781 hat mir meine liebe Ehefrau Christiana Friederika, geborene Böhmin, den 6. Mai, abends halb 11 Uhr, das erste Söhnchen zur Welt geboren, wodurch mich Gott gar sehr erfreuet hat. Wir sorgten dafür, dass es dem Heiligen Geiste in der Heiligen Taufe vorgetragen und in die Geistliche Kirche aufgenommen wurde. Es hat den Namen Karl Christian Friedrich Krause erhalten.”
Großvater, evangelischer Theologe, sei seinerzeit als „vierter Schullehrer am Lyceo zu Eisenberg” tätig gewesen, liest Ernst weiter. Aus einer hiesigen Zeughändlerfamilie stammte die Großmutter. Sie gebar noch eine Tochter, Johanna Sophie Ernestine, und einen Sohn, bei dessen Geburt sie jedoch starb. Kurz darauf verschied auch ihr Jüngster.
Die zweite Ehe – mit der Witwe eines Eisenberger Goldschmiedes – muss für den Großvater wohl weniger glücklich verlaufen sein, ahnt Ernst. Er blättert in den Papieren, findet darin mehrere Briefe, in denen der Knabe Karl zwar kindliche Liebe zur Stiefmutter bezeugt, im Weiteren jedoch eine tiefe Zuneigung zur verstorbenen, leiblichen Mutter erkennen lässt, die wohl sein ganzes Leben bestimmt haben muss: „Dich, o meine liebliche, himmlisch heitere Mutter habe ich nur bis ins vierte Jahr gehabt.” Und weiter schreibt der Vater: „Meine Mutter war seit 1805 oft bei mir im Geiste.”
Streng muss hingegen Großvater zu seinem einzigen verbliebenen Sohn gewesen sein, wird Ernst klar. Immer wieder beschwert sich der Alte in den Briefen über unnötige Ausgaben: für eine Drechselbank, ein Piano, für teure Bücher. Auch seine Schwiegertochter Amalia war ihm keineswegs recht. Aber dieses hartherzige Verhalten war offensichtlich nur vermeintlicher Natur, finden sich doch in dem Konvolut zahlreiche Rechnungen, Mahnungen und Wechsel. Sie bezeugen, dass Johann Friedrich Gotthard immer wieder seinem Sohn aus den schlimmsten Geldnöten half. Ernst berührt es zutiefst, als ihm ein Dankesschreiben in die Hände fällt. „Für Ihre väterliche Liebe in der frühesten Jugend, von der mir noch ein seliger Traum übrig ist, wird das Gefühl der Dankbarkeit nie erlöschen”, so heißt es dort. Der nächste Brief muss wohl kurz vor dem Tod des Ahnherrn geschrieben worden sein, vermutet Ernst und liest: „Wenn ich heute mir einen Vater wählen sollte, so kenne ich keinen Menschen, den ich ihm vorwählen würde, mit dem ich wiedervereint zu leben wünsche und hoffe.”
Nachdenklich lässt Ernst das Blatt sinken. Er beginnt, sich zu erinnern. Welche Freude herrschte doch in der Familie, wenn Geldsendungen des Großvaters aus der Nobitzer Pfarre eintrafen und alle Not für kurze Zeit ein Ende fand. Dennoch: Auch mit Widerwillen denkt der junge Mann an seine Kindheit zurück. Wie oft waren sie umgezogen. Nirgendwo wurden sie heimisch. An keinem Ort fand der Vater eine besoldete Anstellung, weder in Dresden noch in Berlin und Göttingen und auch in München nicht. Ernst verzieht die Mundwinkel: Wie denn auch, baute der Vater doch stets nur Luftschlösser in seiner einsamen Studierstube. Es kümmerte ihn, den Menschheitsretter, wenig, dass er eigentlich ein Dutzend hungrige Mäuler zu stopfen hatte. Ernst seufzt, als er an die zahlreichen Umzüge in immer billigere Wohnungen denkt. Wie hatten sie winters sogar in Gartenlauben hausen und jämmerlich frieren müssen. Nein, nimmt sich der junge Mann vor, an Vater würde er sich kein Beispiel nehmen, an Großvater hingegen ganz gewiss. Der hatte in der Nobitzer Pfarrstelle ein gesichertes Einkommen, und eine Pfarre sollte eines Tages auch ihm gehören, nimmt sich Ernst vor. Weder Angelika noch die künftigen Kinder sollten jemals hungern müssen.
Vor dem „Grünen Baum” in Gera hält das Fuhrwerk, um nach der Mittagszeit weiter nach Dresden zu rollen. Herzlich verabschiedet sich Ernst von den beiden Fuhrleuten. Nun würde er mehrere Tage zu Fuß ins Fränkische hinein unterwegs sein.
*
Waldsassen. Die Nacht hat Ernst noch weitab, am Ufer der Wondra, verbracht. Frühmorgendlicher Nebel durchzieht den Wald, die Sonne ist noch nicht aufgegangen, dunkel und schweigend stehen Baum und Dickicht. Allmählich durchdringt Vogelgezwitscher die Stille. Ein Kanten Brot ist Ernst noch geblieben, die Wondra löscht den Durst. Er bricht auf, nachdem er sich erste spanische Vokabeln eingeprägt hat. Das Treffen mit dem Jesuitenpater ist zwar erst um die Mittagsstunde angesetzt, doch Ernst will sich keinesfalls verspäten. Nach einer Stunde Wanderung zeigen sich ihm die beiden Kuppeln der barocken Klosterkirche mit ihren Zwiebeltürmen und dem Dreiecksgiebel, der eine Christusfigur trägt. Wenig später durchschreitet der junge Mann den weitläufigen Klostergarten und gelangt auf einer Brücke über die Wondra in den Vorhof. Er schließt sich einigen Besuchern an und steigt mit ihnen die Treppe zur Bibliothek empor. Ernst bestaunt die drolligen Holzfiguren, die nur scheinbar die Empore stützen. Und er durchschaut rasch, dass diese Figuren Allegorien menschlicher Schwächen darstellen: Dummheit, Eitelkeit, Arroganz, Prahlsucht, Ignoranz, Verschlagenheit, Stolz, Hochmut und Heuchelei. Nun wandert sein Blick staunend über die farbenfrohen Deckengemälde.
„Sie sind vom Bayreuther Maler Karl Hofreither geschaffen worden und stellen das Leben des heiligen Bernhard von Clairveaux dar”, lässt sich plötzlich eine Stimme hinter ihm hören.
Der Jesuitenpater ist noch jung. Sein schlaff herabhängendes Gewand lässt einen mageren Leib erahnen. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch das hagere, bartlose Gesicht, in dem die Wangenknochen spitz hervortreten. Der Kragen des langen Umhangs gibt den Ausschnitt eines dürren und faltigen Halses frei. Kasteiungen, durchfährt es Ernst, und er wundert sich: Der Mann hat sich selbstquälerische Bußübungen auferlegt, was bei Jesuiten eigentlich unüblich ist.
„Pater Albrecht”, verbeugt sich der Jesuit verbindlich. „Sie müssen Ernst Krause sein. Ich freue mich, dass wir uns bereits vor der gesetzten Frist begegnen. Nehmen wir dies als Zeichen dafür, dass unserer Reise ein gedeihliches Miteinander beschieden sein wird.”
Beide Männer reichen sich die Hand. „Auf Geheiß meines Provinzials sollen wir uns ins Kollegium nach Eichstätt begeben, wo er uns weitere Instruktionen erteilen wird”, erklärt Albrecht liebenswürdig. „Mein hoher Ordensbruder hält sich dort für einige Tage zur Visitation auf. In Eichstätt werden wir Näheres über unsere Reise erfahren, die uns in weiten Teilen auf den Pilgerweg nach Santiago de Compostela führen wird. Ich soll Ihnen einige bereits geprüfte Schriften Ihres Vaters überreichen. Überdies wird Ihnen mein Provinzial sein Urteil über weitere Manuskripte mitteilen, wie ich Ihnen ausrichten soll.”
Ernst fühlt sich wie vor den Kopf gestoßen. „Weitere Manuskripte meines Vaters?”, stammelt er verwirrt. „Was hat ein katholischer Geistlicher mit ihnen zu schaffen?”
„Mich erstaunt Ihre Frage”, erwidert Albrecht mit hochgezogenen Augenbrauen. „Haben Sie denn nicht gewusst, dass Ihre Familie besagte Manuskripte meinem Oberen zur Prüfung übergab, da sie ihr recht bedenklich erschienen?”