Chico Buarque
Mein deutscher Bruder
Roman
Aus dem Brasilianischen Portugiesisch von Karin von Schweder-Schreiner
FISCHER E-Books
Chico Buarque ist der aufregendste Schriftsteller und berühmteste Sänger Brasiliens. Für die Musik gab er sein Architekturstudium auf.
Seine Kunst war ihm besonders in der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 Mittel, politisch aufzubegehren. Für seinen Roman Budapest erhielt Buarque den Prêmio Jabuti, den brasilianischen Man Booker Prize. Im S.Fischer Verlag erschien zuletzt sein Roman Vergossene Milch.
Karin von Schweder-Schreiner übersetzte u.a. Jorge Amado, Antonio Callado, Mia Couto, Rubem Fonseca, Milton Hatoum, Lídia Jorge und Moacyr Scliar. Sie wurde mit zahlreichen Übersetzungspreisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Bremer Albatros-Preis für die Übersetzung des Werkes von Lídia Jorge.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2014
unter dem Titel O irmão alemão
im Verlag Companhia das Letras, São Paulo, 2014
Für die deutschsprachige Ausgabe:
©2016S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Coverabbildung: Coverabbildungen: Norma Holt/Getty Images und Greg Conraux/plainpicture
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ISBN 978-3-10-403595-6
Für Sergios
Insektenflügel, wertlose Geldscheine, Visitenkarten, Zeitungsausschnitte, Zettel mit Notizen, Quittungen von der Apotheke, Beipackzettel für Schlafmittel, Beruhigungsmittel, Schmerzmittel, Grippemittel, Artischockenpräparat, alles Mögliche. Und Asche, ein Buch meines Vaters ausschütteln ist wie in einen Aschenbecher pusten. Dieses Mal las ich gerade Der goldene Zweig in einer englischen Ausgabe von 1922, und als ich die Seite 35 umblätterte, stieß ich auf einen Brief, adressiert an Sergio de Hollander, Rua Maria Angélica, 39, Rio de Janeiro, Südamerika, mit dem Absender Anne Ernst, Fasanenstraße 22, Berlin. In dem Umschlag ein mit der Maschine beschriebenes liniiertes Blatt Papier, vergilbt und brüchig:
Berlin, 21. Dezember 1931
Lieber Sergio,
Deinem Schweigen entnehme ich .………………………………………………………………
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Viele Grüße,
Anne
Auf Deutsch geschrieben, mit unzähligen Großbuchstaben, ich verstehe davon nur die Anrede und die nach rechts geneigte Unterschrift Anne. Ich weiß, dass mein Vater, damals noch nicht verheiratet, 1929 und 1930 in Berlin gelebt hat, und kann mir unschwer vorstellen, dass er dort mit einem Fräulein ein Verhältnis gehabt hat. Genau genommen, glaube ich, dass ich von einer ernsteren Geschichte gehört habe, ich glaube sogar, irgendwann habe ich etwas von einem Sohn in Deutschland gehört. Es war kein Streit zwischen Vater und Mutter, wie ein Kind ihn nicht vergisst, eher ein Flüstern hinter der Wand, ein kurzer Wortwechsel, den ich kaum hätte hören können oder kaum verstanden habe. Und den ich vergessen habe, so wie ich diesen Brief in dem Buch vergessen werde, wenn ich es in die hintere Reihe des doppelreihigen Regals im Flur zurückstelle. Ich muss es genau an seinen Platz zurückstellen, denn wenn mein Vater schon nicht gestattet, dass ich an seine Bücher gehe, was würde er erst von diesem sagen. Doch vor dem Regal hockt meine Mutter und sucht auf Anweisung meines Vaters nach einem Titel. Sie wird nicht lange brauchen, denn sie selbst organisiert die Bibliothek nach einem nicht zu entschlüsselnden System, wohl wissend, dass er, sollte sie sterben, verloren sein wird. Und kaum betritt sie, vier dicke Bände unter das Kinn geklemmt, mit ihren Trippelschritten das Arbeitszimmer, will ich rasch mein Buch zurückstellen. Ich weiß, dass es sich auf dem Brett oberhalb meiner Augen befand, hinter den portugiesischen Dichtern, eine Handbreit rechts von der Menschlichen Komödie, aber es wird nicht so einfach sein, seinen Platz wiederzufinden. Inzwischen haben die Bücher hinten im Regal es sich bequem gemacht, sie sind eng zusammengerückt, als würden sie dicker, wenn sie sich berühren. Auf Zehenspitzen ziehe ich einen Bocage aus der vorderen Reihe, dann taste ich die Buchrücken der beiden Engländer ab, die rechts und links von meinem Buch standen. Es hat etwas Erotisches, mit Ring- und Zeigefinger zwei Bücher auseinanderzuschieben, um den Goldenen Zweig in die Lücke zu zwängen.
Als ich zu Thelonius komme, erwartet er mich schon an der Haustür mit einer Taschenlampe und einem Draht mit umgebogenem Ende. Wir schlendern durch die baumgesäumten Straßen des Viertels, bis wir am frühen Abend einen Skoda finden, der sehr günstig an einer spärlich beleuchteten, abschüssigen Ecke geparkt ist. Ich presse die Handflächen wie Saugnäpfe auf das Seitenfenster, drücke nach unten, und die Scheibe gibt ungefähr zehn Zentimeter nach. Weit genug, damit Thelonius den Draht hineinstecken, um den Türknopf legen und den Knopf hochziehen kann, darin ist er ein Meister. Ich bitte, mich ans Steuer zu lassen, ich löse die Handbremse, lasse den Skoda den Hang hinunterrollen, und noch bevor ich ihn am Kantstein anhalte, liegt Thelonius schon fast zu meinen Füßen, die eingeschaltete Taschenlampe zwischen den Zähnen und den Kopf hinter dem Armaturenbrett. Er entfernt ein paar Teile, welche, kann ich nicht richtig sehen, verbindet Drähte miteinander, es knistert, Funken sprühen, und dann springt der Motor an. Ich fahre an, lege den zweiten Gang ein, jage den Motor hoch, ziehe eine enge Kurve, rase mit quietschenden Reifen am Friedhof entlang, und als es hinunter ins Zentrum geht, lobt Thelonius meine Fahrkünste mit einem Grunzer und hochgerecktem Daumen, ist aber mehr damit beschäftigt, mit der Taschenlampe im Mund das Handschuhfach zu durchwühlen. In ein fremdes Auto steigen, seinen Geruch riechen, nach und nach seine Tücken kennenlernen, den Hintern auf dem Sitz zurechtrücken, über das Steuer streichen, das Spiel der Lenkung ausprobieren, das gefällt mir, das Beste aber ist das Kramen im Handschuhfach, zwischen anderen Dingen einen Ausweis mit dem Namen, dem Geburtsdatum und dem Foto des Besitzers oder der Besitzerin finden. Mir ist ein Mann lieber, das Auto eines anderen Mannes zu benutzen macht mir mehr Spaß, ich sehe mir gern das dümmliche Gesicht an, das sie im Allgemeinen auf dem Ausweisfoto machen. Und ich würde viel dafür geben, ihr Gesicht zu sehen, wenn sie merken, dass ihr Auto weg ist, ihr Gesicht, mit dem sie Fotos in der Verbrecherkartei der Polizei ansehen. Bei einer Frau dagegen habe ich etwas Mitleid, vielleicht, weil ich mir vorstelle, wie sie durch die Stadt irrt und nicht weiß, wo sie geparkt hat, wie von Sinnen auf der Suche nach einem Sohn, der auf der Straße schläft. Und in der Rua Aurora lässt Thelonius mich neben zwei alten Huren anhalten und fragt, ob sie nicht einsteigen wollen, unverbindlich, nur um Auto zu fahren. Er lässt von den Nutten ab, steigt aus, schickt mich auf den Beifahrersitz und übernimmt das Kommando. Er fährt kreuz und quer durch Kopfsteinpflasterstraßen, um einen Funkstreifenwagen abzuschütteln, der, wie er schwört, hinter uns her war. Dann, in einer Avenida in der Zona Leste, die ich nicht kenne, bringt er mir bei, auf das Motorgeräusch zu achten, auf das Drehmoment zu horchen, den Bruchteil der Sekunde zu erwischen, wo man den Gang wechseln kann, ohne die Kupplung zu treten. Es geht um Offbeat und Downbeat, sagt er, wie beim Jazz. Er wechselt den Gang mehrmals auf diese Weise, aber was ich höre, ist fast immer ein gereiztes Quietschen von sich reibendem Metall. Wir überqueren Bahnschienen, und nach einem Ruck stellt Thelonius fest, dass der Wagen ein für alle Mal im dritten Gang hängengeblieben ist. Er fährt weiter über rote Ampeln, überholt Schlafmützen, bemüht sich, das Tempo zu halten, bis er hinter einer Straßenbahn bremsen muss, wodurch der Motor erst stottert und dann absäuft. Wir lassen den Skoda an Ort und Stelle auf den Schienen stehen, was Thelonius nicht weiter kümmert, der Tankzeiger stand sowieso schon auf Reserve. Für die Bahn haben wir kein Geld, für den Weg zurück zu Fuß brauchen wir Stunden, weil sich unterwegs kein einziges anständiges Auto anbietet. Wir kommen durch düstere Viertel mit Fabriken, Lagerhallen, Massenwohnblocks, Autowerkstätten und geschlossenen Läden. Wir laufen durch gewundene Straßen, sie führen zu einem Viadukt, das im Zentrum mit seinen leeren Straßen und unbeleuchteten Wolkenkratzern endet. Dann gelangen wir in ein vornehmes Viertel mit alteingesessenen Familien und englischen Autos in den Garagen neben den Häusern, die mir schon immer für ihre Grundstücke zu groß vorgekommen sind. Und die von innen noch größer wirken müssen als von außen. Und die, weil sie so schmucklose Fassaden haben, auf der Kehrseite prächtiger, auf der Kehrseite, wo die Leute wohnen, aufregender sein müssen. In so ein Haus durch das Fenster einzusteigen dürfte für uns so aufregend sein, wie es für meinen Vater ist, wenn er ein altes Buch zum ersten Mal aufschlägt.
Es ist nach Mitternacht, als Thelonius und ich uns an der Ecke zwischen unseren Häusern trennen, und von der Straße aus sehe ich im Arbeitszimmer meines Vaters Licht. Ich gehe die Treppe mit den Schuhen in der Hand hinauf, um meiner Mutter keine Erklärungen geben zu müssen oder sie nicht zu wecken, falls sie schon schläft. Im Flur werfe ich aus dem Augenwinkel einen kurzen Blick auf das Bücherregal, und auf dem Weg zu meinem Zimmer komme ich an der stets offenen Tür zum verräucherten Arbeitszimmer vorbei, wo ich glaube, meinen Vater und meinen Bruder nebeneinander sitzen zu sehen. Ich lege mich voll angezogen ins Bett, dann wird mir bewusst, dass ich das Licht nicht ausgeschaltet habe. Aber ich finde, es ist nicht nötig, ich kann mir die Decke über das Gesicht ziehen, und unter der Decke ist es nicht zu warm und nicht zu kalt. So kann ich über meine Freundschaft mit Thelonius nachdenken, was mich dazu bringt, über meinen Vater und meinen Bruder nachzudenken, der nach Belieben das Arbeitszimmer betritt, aber nur Comics liest, was mich auf den Gedanken bringt, irgendwann meinem Vater zu erzählen, dass ich Krieg und Frieden mehr recht als schlecht bis zur Hälfte auf Französisch gelesen habe und dass ich mich jetzt mit Hilfe des Englischwörterbuchs gequält habe, Der goldene Zweig zu verstehen, bis ich den deutschen Brief gefunden habe, wobei dieser Brief mir in Erinnerung ruft, dass Thelonius, als er sich noch Montgomery nannte, mit einem anderen befreundet war, einem Schweizer oder Österreicher, mit einem, dessen Eltern ihn ins Internat gesteckt haben, und plötzlich sitze ich aus irgendeinem Grund mit Thelonius in einem Oldsmobile, er fährt mich zu einem Internat namens Instituto Benjamenta, wo der Österreicher oder Schweizer, ein Rotblonder mit vor lauter Pickeln verquollenem, rotem Gesicht, wo dieser Tedesco den Brief liest und hämisch lacht mit seinem grässlichen Mund, mit Pickeln, die auf seinen Lippen wuchern, mit Pickeln sogar auf der Zunge und dem Zahnfleisch, und er ist wirklich hilfsbereit und sehr taktvoll, er übersetzt mir den Brief von Anne ganz langsam, erklärt mir die Bedeutung jeden Wortes, den Ursprung, die Etymologie, in so sanftem Ton, dass ich gar nicht hinhöre und schließlich einschlafe.
Ich weiß nicht, was für ein Haus das war, vielleicht ein Krankenhaus, ich erinnere mich nur an eine unvorstellbare Leere. Und ich sehe mich wie gelähmt in der Mitte eines Raums mit weißen Wänden stehen, kann mich kaum auf den Beinen halten. So etwas hatte ich noch nie gesehen, und als ich sah, dass meine Mutter sich der Wand näherte, schrie ich auf, ich glaubte, sie würde in eine noch leerere Leere stürzen. Dann sah ich nichts mehr, als sie mich hochhob, grub ich den Kopf in ihren Busen und machte die Augen erst zu Hause wieder auf. Bis dahin hatten Wände für mich aus Büchern bestanden, ohne diese Stütze würden Häuser wie unseres, das selbst im Badezimmer und in der Küche Regale vom Fußboden bis zur Decke hatte, einstürzen. Und an Büchern habe ich schon von ganz klein auf bei realer wie auch phantasierter Gefahr Halt gesucht, so wie ich noch heute, wenn ich oben stehe, den Rücken an die Wand drücke, sobald mir schwindlig wird. Und wenn niemand in der Nähe war, verbrachte ich Stunden damit, seitlich dicht an den Regalen entlangzugehen, es bereitete mir eine gewisse Lust, mit dem Rückgrat von Buch zu Buch zu streichen. Auch rieb ich gern die Wangen an den Lederrücken einer mehrbändigen Ausgabe, die ich später, da ich sie schon in Brusthöhe berührte, als die Predigten des Padre Antônio Vieira identifizierte. Und auf einem Regalbrett über den Predigten las ich im Alter von vier Jahren mein erstes Wort: GOGOL. Bis zum Alter von neun, zehn, elf Jahren, bis zur Höhe des vierten oder fünften Regalbretts, während meiner ganzen Kindheit behielt ich diese sinnliche Beziehung zu Büchern. Selbst Schulbücher liebte ich, dass mein Bruder sie speckig und vollgekritzelt an mich weitergab, war ein Jammer. Ich ging mit meinen Arbeitsheften und Lehrbüchern von der Schule immer direkt nach Hause, nur gelegentlich machte ich einen Halt und besuchte Captain Marvel, der nicht nur mein Nachbar war, sondern auch mein bester Freund. Sein Zuhause mit den Wänden voller Bilder und einem Balkon, wo wir Fußball Tor gegen Tor spielten, wirkte auf mich nicht befremdlich. Aber irgendwann wurde ich unruhig und wollte meine Bibliothek wiedersehen, selbst an die Kakerlaken dachte ich sehnsüchtig. Sie kamen hinter den Büchern hervor, liefen über die Buchrücken auf den Regalbrettern hin und her, und wer weiß, womöglich verspürten sie auf dem Bauch das gleiche schöne Gefühl wie ich an der Wirbelsäule. Ich sah staunend zu, wie sich die größten gepanzerten, lackglänzenden Kakerlaken im Nu zwischen zwei Bücher quetschten, zwischen denen keine Lücke war, kein Fingernagel hätte dazwischen gepasst. Wenn es mir gelang, eine Kakerlake am Fühler zu greifen, zeigte ich sie meiner Mutter, aber sie sagte nur, ich solle die Schabe nicht in den Mund stecken. Mama waren Kakerlaken auch vertraut, als sie heiratete, wusste sie genau, was sie erwartete. Wäre sie nicht so unerschrocken, hätte sie gleich kehrtgemacht, als sie das Haus meines Vaters zum ersten Mal betrat. Ich vermute, dass mein Vater damals mit seinen gut dreißig Jahren schon fast die Hälfte der Bücher besaß, die er im Laufe seines Lebens zusammengetragen hat. Und ich stelle mir vor, dass diese Bücherberge sich nicht nur in seinem Arbeitszimmer stapelten, sondern auch die beiden leeren künftigen Kinderzimmer wie Schutt von Aztekenpyramiden füllten. Mama ließ sofort an den Wänden unseres Hauses Regale anbringen, und als sie schwanger wurde, dekorierte sie das Kinderzimmer mit Linguistik- und Archäologiebüchern, außerdem mit der Landkartensammlung, den Spaniern und den Chinesen. Für mein Zimmer zwei Jahre später reservierte sie die Skandinavier, die Bibel, die Thora, den Koran sowie Meter um Meter Wörterbücher und Enzyklopädien. Als ich schon groß war, habe ich noch erlebt, dass für vereinzelte oder nicht klassifizierbare Bücher drei weitere Doppelregale angeschafft wurden, die Mama an den Wänden der Garage anbringen ließ, denn wir haben nie ein Auto besessen, niemals Luxus gehabt. Mama kümmerte sich um den Haushalt, und Bücher waren der Luxus, den mein Vater sich leistete. Allein für seltene Bücher gab er die Hälfte seines Erbes aus, als er die Druckerei verkaufte, die mein Großvater Arnau de Hollander in Rio de Janeiro besaß. Die Krone seiner Bibliothek waren elf Bände, in einer Nische im Wohnzimmer untergebracht, wie auf einem Altar in die Mitte des Regals gesetzt, mit dicken Palisanderwänden, die sie gegen die sozusagen plebejischen Bücher abschirmten. Die Rarität hatte einmal aus zwölf Bänden bestanden, doch eine Erstausgabe von Hans Staden aus dem 16. Jahrhundert hatte ich freundlicherweise unbrauchbar gemacht. Und zwar an dem Tag, als mein Bruder mir erzählte, mein Vater habe mich, als ich geboren wurde, für mongoloid gehalten. Ich wusste zwar nicht, was mongoloid ist, aber das Gelächter meines Bruders hatte mich getroffen. Ich zog einen Stuhl heran, reckte mich zur Nische und griff nach dem Buch, das mir am kostbarsten erschien, wegen der Goldschrift auf dem festen Buchdeckel. Ich bohrte in jede einzelne Seite Löcher, zum Schluss pinkelte ich noch auf das Buch. Den Buchdeckel zu zerreißen schaffte ich nicht, und als ich ihn anzündete, kam Mama dazu und gab mir eine Ohrfeige, die tat aber gar nicht weh. Doch als mein Vater mit dem Pantoffel in der Hand die Treppe herunterkam, machte ich mir die Hose voll und pinkelte mehr, als ich überhaupt pinkeln konnte.
Immer mit der Ruhe, Ciccio, sagte meine Mutter, als ich, inzwischen groß geworden, sie fragte, warum mein Vater nicht selbst ein Buch schrieb, wenn er Bücher so sehr liebte. Er wird das beste Libro del Mondo schreiben, sagte sie und riss die Augen weit auf, ma prima muss er alle anderen lesen. Die Bibliothek meines Vaters umfasste damals rund fünfzehntausend Bände. Zum Schluss zählte sie mehr als zwanzigtausend, es war die größte Privatbibliothek von São Paulo, abgesehen von der eines bibliophilen Rivalen, der nach Aussage meines Vaters nicht einmal ein Drittel seines Bestandes gelesen hatte. Wenn ich davon ausgehe, dass mein Vater seit seinem achtzehnten Lebensjahr Bücher gesammelt hat, kann ich mir ausrechnen, dass er nicht weniger als ein Buch pro Tag gelesen hat. Nicht mitgerechnet die Zeitungen, Zeitschriften und die für gewöhnlich umfangreiche Post mit den jüngsten Neuerscheinungen, die ihm die Verlage schickten. Den größten Teil sortierte er schon nach einem Blick auf den Umschlag oder nach kurzem Blättern aus. Bücher, die er auf den Fußboden warf und die Mama am Morgen einsammelte und in die Spendenkiste für die Kirche legte. Und wenn ihn zufällig einmal eine Neuerscheinung interessierte, fand er immer ein Detail, in dem er einen Bezug zu früher Gelesenem sah. Dann rief er mit seiner sonoren Stimme: Assunta! Assunta!, und schon lief meine Mutter einen Homer, einen Virgil, einen Dante holen und brachte ihm das Buch, bevor er den Faden verlor. Und die Neuerscheinung blieb so lange liegen, bis er das alte Buch von vorn bis hinten durchgelesen hatte. Weshalb es nicht verwundert, dass meinem Vater so häufig ein aufgeschlagenes Buch auf die Brust fiel und er mit einer Zigarette zwischen den Fingern auf seinem Kanapee einschlief, wo er dann von Papyri, illuminierten Handschriften, der Bibliothek von Alexandria träumte und beim Aufwachen ihn der Gedanke an die vielen Bücher quälte, die er nie würde lesen können, weil sie verbrannt oder gestohlen oder in Sprachen geschrieben waren, zu denen er keinen Zugang hatte. Er hatte eine so große Menge Lektüre abzuarbeiten, dass es mir unwahrscheinlich schien, er könnte eines Tages das beste Libro del Mondo schreiben. Wenn ich beim Verlassen meines Zimmers das Klick-klack der Schreibmaschine hörte, zog ich vorsichtshalber die Schuhe aus, hielt die Luft an und machte einen weiten Bogen um das Arbeitszimmer. Ich duckte mich ganz klein, wenn er zufällig in diesem Augenblick das Papier aus der Maschine riss, ich dachte dann, die Wut, mit der er das Blatt Papier zu einer Kugel knüllte und wegwarf, gelte zum Teil mir. Oder aber die Maschine verstummte, und mein Vater brauchte Hilfe: Assunta! Assunta!, es ging um ein Zitat, das er dringend aus einem ganz bestimmten Buch abschreiben musste. So verbrachte er Monate mit Schreiben, Überarbeiten, Durchstreichen, Papierkugelnwerfen, neu Anfangen, Korrigieren, ins Reine Schreiben und fraglos widerstrebend all das zur Veröffentlichung abgeben, was Entwürfe für das Gerüst des großen Buches seines Lebens sein sollten. Es waren Artikel über Ästhetik, Literatur, Philosophie, Geschichte der Zivilisation, die in einer Zeitung in einer Spalte oder einem Kasten abgedruckt wurden. Als Papa starb, erschien ein Verleger, der die von ihm im Laufe seines Lebens verfassten Artikel gesammelt veröffentlichen wollte. Ich war dagegen, ich zeigte meiner Mutter sogar die unzähligen Korrekturen und unleserlichen Verbesserungen, die mein Vater über den Text geschrieben oder am Rand der aus der Zeitung ausgeschnittenen Artikel vermerkt hatte. Aber Mama war überzeugt, das Buch würde in den Akademikerkreisen begeistert aufgenommen, womöglich sogar in Deutschland veröffentlicht werden wegen der in seiner Jugend dort geschriebenen Artikel. Und sie deutete an, ich hätte schon als Kind gegen meinen Vater gearbeitet, zum Beispiel bei dem Essay, der durch meine Schuld die gesammelten Werke unvollständig machen würde. Was die halbe Wahrheit war, denn nicht mir, sondern meinem Bruder vertraute mein Vater ab und zu einen Umschlag an, der in der Redaktion von A Gazeta am anderen Ende der Stadt abgegeben werden sollte. Das belohnte er, abgesehen vom Geld für die Straßenbahn, mit einem Betrag, der für eine Woche Milchshakes ausreichte. Aber hin und wieder gab mein Bruder das Straßenbahngeld und den Umschlag an mich weiter, und ich brachte ihn zu Fuß zur Redaktion. Es ging mir nicht um das Geld, das reichte gerade mal für zwei Lutscher, ich platzte vor Stolz über so viel Verantwortung. Außerdem waren die Angestellten der Zeitung nett zu mir, und es machte mir nichts aus, dass sie mich für einen verschwitzten Laufburschen meines Vaters hielten, dem sie noch ein paar Münzen in die Hand drückten. Doch einmal machte ich auf dem Weg zur Redaktion halt, um auf der Straße Fußball zu spielen, das war damals üblich. Autos fuhren nur hin und wieder vorüber, und wenn die Jungs sie von weitem sahen, riefen sie: Achtung, der Tod! Wir sammelten schnell unsere Schulbrottaschen, Schultaschen und Jacken ein, die als Torpfosten dienten, warteten auf dem Bürgersteig, bis das Auto vorbeigefahren war, und spielten dann weiter. Doch an diesem Tag war es nicht der Verkehr, sondern ein plötzlicher Regen, der uns zwang, unsere Sachen schnell einzusammeln und uns unter dem Vordach eines Krämerladens unterzustellen. Dann hagelte es sogar, wir sammelten die Hagelkörner auf, lutschten sie, bewarfen uns gegenseitig, ein Mordsspaß. Aber plötzlich fiel mir der Umschlag meines Vaters ein, den ich unter einen Pullover gelegt hatte, und da lag er mitten im Regen. Ich lief los, um ihn zu retten, und wurde um ein Haar überfahren, denn in diesem Moment kam ein Chevrolet vorbei, ein Reifen erfasste den Umschlag und gab ihn erst zwei Häuserblocks weiter wieder frei. Ich hob die Reste auf, es war nichts mehr zu machen, der Artikel meines Vaters war eine unkenntliche graue Masse, ein Klumpen nasses Papier. In meiner Qual wollte ich nicht mehr nach Hause gehen. Ich pfiff vor der Haustür von Bill Haley, er kam herunter und empfing mich auf der Terrasse mit einer Schachtel Mentholzigaretten seiner Mutter. Und er wollte mir unbedingt zum ersten Mal seine Sammlung der Kühlerfiguren zeigen, die er von den Motorhauben der Autos abbrach, darunter ein Mercedes-Stern und der Jaguar von einem Jaguar. Es war kalt auf der Terrasse, meine Sachen waren durchnässt, ich hoffte, er würde mich zu einem Milchkaffee oder etwas Ähnlichem einladen. Ich wäre auch über Nacht in diesem Haus voller Bilder geblieben, aber er ließ mich nicht gern hinein. Ich glaube, er genierte sich für seine Mutter, eine getrennt lebende Malerin, die als verrückt galt. Sie schmetterte bis spät in der Nacht Arien, und die Nachbarn erzählten, sie male nackt.
Am frühen Abend hupt Thelonius unten in einem nagelneuen, bis auf ein Loch in der Scheibe des rechten Fensters makellosen Karmann Ghia. Ich muss mich ziemlich schief hinsetzen, denn auf dem Beifahrersitz liegt ein Scherbenhaufen, außerdem ein Pflasterstein, den lege ich auf den Fußboden. Wir sind spät dran für das Treffen mit Udo, einem Freund von ihm, der für die Ferien in der Stadt ist, nach sechs Monaten Eingesperrtsein in einem frommen Internat in der Provinz. Thelonius hatte mir schon von diesem Deutschen erzählt, dem besagten, den seine Eltern beim Kiffen erwischt hatten und der, um genau zu sein, aus einem Land namens Liechtenstein stammt. Er erwartet uns in einem Restaurant nicht weit vom Zentrum, und Thelonius beschließt, das Auto in einer ruhigen Straße in der Nähe abzustellen. Er hält mitten auf der Straße, die ziemlich steil abfällt, und beginnt zu zählen: one … two … one, two, three, four … Wir springen gleichzeitig aus dem Auto, und er fragt: rechts oder links? Ich tippe auf links und habe Pech, denn der Karmann Ghia setzt sich nach rechts in Bewegung, schaukelt, gewinnt an Fahrt und knallt wie ein Bolide auf den Kofferraum eines am Taxistand wartenden Taxis. Gleich in der Parallelstraße liegt das Zillertal, ein großes Bierlokal mit einer Bühne hinten im Raum, auf der Musiker und Tänzerinnen auftreten, die Frauen in weiten Röcken und die Männer in kurzen Hosen mit Hosenträgern. Udo sitzt an einem Tisch in Türnähe und steht mit einem Bierkrug in der Hand auf, um uns zu begrüßen. Er umarmt Thelonius und verschüttet dabei Schaum, reicht mir die Hand und sagt, wir seien im richtigen Augenblick angekommen, genau in dem Moment, als die Kapelle die Liechtensteiner Polka spielt. Udo ist siebzehn Jahre alt, so wie wir, aber ein ganzes Stück größer, er sieht richtig gut aus, sehr blond, er spricht mit leicht geschnarrtem R, und nach jedem Satz bläst er die Haare hoch, die ihm in die Stirn fallen. Doch kaum haben wir uns gesetzt, merke ich, dass ich einer zu viel am Tisch bin. Ich sitze neben Udo, und der richtet sich nur an Thelonius ihm gegenüber und erzählt Begebenheiten aus dem Internat, die mir nichts sagen. Natürlich müsste Thelonius nur einen halben Meter weiter nach rechts rücken, dann würden wir ein nicht so parteiisches, ein gleichseitiges Dreieck bilden. Aber Thelonius, ich weiß nicht, warum Thelonius mich mitgeschleppt hat. Er sitzt still da, nickt zustimmend, während der andere redet, lacht jedes Mal, wenn der andre eine Pause macht und seinen Pony hochbläst. Ausgerechnet Thelonius, sonst immer so beherrscht, heute sitzt das Lachen bei ihm locker, er findet jeden Mist, den Udo ihm erzählt, witzig: Wenn keine Frauen da sind, was tun? Dann vernascht man eben den Priester. Mit einem leeren Stuhl als Gegenüber bleibt mir nichts anderes, als mit den Füßen im Takt der Kapelle zu klopfen und die Leute zu beobachten, viele mit hellen Haaren, rosigen Wangen, ein guter Teil ganz bestimmt deutscher Abstammung. Dabei fällt mir der Brief ein, den ich neulich zufällig gefunden habe, und ehe ich mich versehe, beginne ich, mir die heimliche Liebschaft meines Vaters in Berlin auszumalen, und tue zum Spaß, als suchte ich einen deutschen Bruder im Saal. Er muss um die Dreißig sein, vermutlich mit Brille, blond, vorstehendes Kinn, sehr langes Gesicht, hoher Scheitel. Vorläufig ist der Einzige, der diesen Merkmalen entspricht, der Posaunist der Kapelle, ein blasser Blonder mit Pausbacken, wie mein Vater ausgesehen haben muss, bevor er alt wurde. Doch bis auf den Dirigenten, einen Dunkelhäutigen mit behaarten Beinen, eine ziemlich groteske Figur in seinen kurzen Hosen, müssen die Musiker auf der Bühne Nachfahren von Einwanderern sein, vielleicht Enkel der Pommeraner aus Espírito Santo, und ich glaube nicht, dass mein Bruder Musiker einer Folklore-Kapelle in Brasilien geworden sein könnte. So oder so finde ich es normal, dass er irgendwann unruhig geworden ist, seine Mutter fragt, woher sein Name kommt, auf sein Recht pocht zu erfahren, wer sein Vater ist. Und früher oder später würde er auch ohne ihren Segen seine Ersparnisse zusammenkratzen und mit Hilfe der väterlichen Adresse im Stadtteil Jardim Botânico in Rio de Janeiro landen. Mühelos würde er herausfinden, dass Sergio de Hollander, der sich noch kaum davon erholt hatte, nacheinander Arnau de Hollander und Clementina Moreira de Hollander verloren zu haben, als Generalintendant des Cambesp – Verwaltungsrat der Museen und Bibliotheken des Bundesstaates São Paulo – verpflichtet worden war. Im Telefonbuch der Hauptstadt des Bundesstaates stand ein Hollander Sergio, doch bevor er 51 87 761930