Arthur Conan Doyle
Die Abenteuer des Sherlock Holmes
Erzählungen
Neu übersetzt von Henning Ahrens
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
FISCHER E-Books
Arthur Conan Doyle, geboren am 22. Mai 1859 im schottischen Edinburgh, absolvierte dort ein Medizinstudium und unterhielt kurzlebige Praxen in Plymouth und Southsea. Aus Patientenmangel begann er zu schreiben, ab 1887 verfasste er Geschichten um die Detektivfigur Sherlock Holmes, die in den 1890er Jahren enorme Popularität erlangten. Außerdem verfasste er zahlreiche historische Romane und ab 1912 auch Science-Fiction. Doyle engagierte sich politisch und sozial, 1902 wurde er geadelt. Er starb am 7. Juli 1930 in Crowborough/Sussex.
Henning Ahrens lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Frankfurt am Main. Er veröffentlichte die Lyrikbände ›Stoppelbrand‹, ›Lieblied was kommt‹ und ›Kein Schlaf in Sicht‹ sowie die Romane ›Lauf Jäger lauf‹, ›Langsamer Walzer‹ und ›Tiertage‹. Für S. Fischer übersetzte er Romane von Richard Powers, Kevin Powers, Khaled Hosseini. Zuletzt erschien ›Glantz und Gloria. Ein Trip‹, 2015, der mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet wurde.
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»Ich folge einem alten Leitsatz, der besagt, dass das, was nach Ausschluss des Unmöglichen übrigbleibt, aller Widersinnigkeit zum Trotz die Wahrheit sein muss.«
Maskierte Besucher, verzweifelte Pfandleiher, todbringende Briefe mit fünf Orangenkernen, ein blauer Karfunkel: Die berühmtesten Geschichten des Meisterdetektivs – zwölf teuflisch vertrackte Fälle mit atemberaubenden Lösungen.
Die hier versammelten zwölf Kurzgeschichten kreisen alle um das Figurenpaar Sherlock Holmes und Dr. Watson. Erstmals erschienen sie zwischen Juli 1891 und Juni 1892 im »Strand Magazine«. Ein von Sydney Paget illustrierter Sammelband erschien unter dem Titel ›The Adventures of Sherlock Holmes‹ im Oktober 1892 in London.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die englische Originalausgabe erschien erstmals
1892 unter dem Titel ›The Adventures of Sherlock Holmes‹
Für die Übersetzung:
© 2016 Henning Ahrens
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH,
Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: www.buerosued.de
Coverabbildung: Arcangel Images/Roy Bishop
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403615-1
Für Sherlock Holmes ist sie stets die Frau. Wenn er von ihr spricht, dann nur unter dieser Bezeichnung. Für ihn überstrahlt und beherrscht sie ihr ganzes Geschlecht. Nicht, dass er Liebe oder dergleichen für Irene Adler empfunden hätte, denn sein sowohl kalter und präziser als auch bewundernswert ausgeglichener Geist verabscheute Gefühle, vor allem zärtliche. In meinen Augen war er die effektivste Denk- und Wahrnehmungsmaschine, die die Welt je gesehen hat, aber für die Rolle des Liebenden wäre er eine Fehlbesetzung gewesen. Wenn er sich zu zarten Empfindungen äußerte, dann ausnahmslos höhnisch und herablassend. Sie waren optimales Material für den Beobachter – bestens dazu geeignet, menschliches Handeln und dessen Motive bloßzulegen. Aber wenn sich ein geübter Denker solche Erschütterungen seines fragilen und fein justierten Wesens erlaubt hätte, dann hätte er einem Störungsfaktor Raum gegeben, durch den alle seine Erkenntnisse mit einem Makel behaftet gewesen wären. Für jemanden wie Holmes wäre ein so übermächtiges Gefühl verstörender gewesen als Schmutz in einem feinmechanischen Gerät oder ein Sprung in einer seiner hochwertigen Linsen. Trotzdem gab es für ihn nur eine Frau, und diese Frau war Irene Adler, obwohl die Erinnerungen, die er mit ihr verband, heikel und unangenehm waren.
In letzter Zeit hatte ich Holmes selten gesehen. Meine Heirat hatte für eine gewisse Entfremdung gesorgt. Ich war rundum glücklich, ging ganz im Nestbau auf – typisch für Männer, die zum ersten Mal Herr im eigenen Heim sind – und war deshalb vollständig abgetaucht. Holmes hingegen, ein Bohemien, der jede Form der Geselligkeit aus tiefster Seele verabscheute, blieb in der Baker Street inmitten seiner Berge aus alten Büchern, schwankte von Woche zu Woche zwischen Kokain und Ehrgeiz, der Abstumpfung durch die Droge und seiner unbändigen Energie. Das Studium des Verbrechens fesselte ihn nach wie vor, und er nutzte seine einmalige Wahrnehmungsgabe und seine unzähligen Talente, um jenen Hinweisen zu folgen und jene Rätsel zu lösen, vor denen die Polizei kapituliert hatte. Gelegentlich kamen mir nebulöse Berichte über seine Ermittlungen zu Ohren: Er war wegen des Trepoff-Mordes nach Odessa bestellt worden, hatte in Trincomalee die einzigartige Tragödie der Gebrüder Atkinson aufgeklärt und für die holländische Königsfamilie eine Mission mit viel Fingerspitzengefühl und großem Erfolg erledigt. Abgesehen von diesen spärlichen Hinweisen auf seine Aktivitäten, die ich wie jeder andere Mensch den Tageszeitungen entnahm, erfuhr ich aber kaum etwas über meinen früheren Mitbewohner und Freund.
Eines Abends – am zwanzigsten März 1888 – kam ich auf dem Rückweg von einer Visite bei einem Patienten (ich war wieder als Arzt tätig) zufälligerweise durch die Baker Street. Als ich die Tür passierte, die für mich mit der Werbung um die Hand meiner Frau und den unheimlichen Begebenheiten der Studie in Scharlachrot verknüpft ist, überkam mich plötzlich der Wunsch, Holmes wiederzusehen und zu erfahren, zu welchem Zweck er seine ungewöhnlichen Gaben gerade einsetzte. Seine Zimmer waren hell erleuchtet, und als ich aufblickte, sah ich den Schatten seiner großen, hageren Gestalt zweimal über das zugezogene Rollo gleiten. Er schien rasch und energisch im Zimmer auf und ab zu gehen, das Kinn auf der Brust, die Hände auf dem Rücken gefaltet. Da ich seine Stimmungen und Gewohnheiten bestens kannte, wusste ich sofort Bescheid. Haltung und Bewegungen verrieten mir, dass er wieder ermittelte. Er hatte sich aus seinen Drogenträumen gerissen und mit Feuereifer in ein neues Problem vertieft. Ich klingelte und wurde zu dem Zimmer hinaufgeführt, das früher auch das meine gewesen war.
Holmes empfing mich nicht gerade überschwänglich, dazu ließ er sich selten hinreißen. Trotzdem schien er sich über meinen Besuch zu freuen. Er bot mir fast wortlos, aber mit freundlichem Blick und schwungvoller Geste einen Lehnsessel an, warf mir das Zigarrenetui zu und wies auf eine Ecke mit Spirituosenschrank und Sodaapparat. Danach stellte er sich vor den Kamin und musterte mich mit seinem einzigartig durchdringenden Blick.
»Die Ehe bekommt Ihnen«, bemerkte er. »Seit unserer letzten Begegnung haben Sie siebeneinhalb Pfund zugelegt, Watson.«
»Sieben!«, erwiderte ich.
»Scheint mir doch etwas mehr zu sein. Ein klein wenig mehr, Watson. Und Sie praktizieren wieder, wie ich sehe. Sie haben mir verschwiegen, dass Sie in die Tretmühle des Berufslebens zurückkehren wollten.«
»Wie können Sie es dann wissen?«
»Ich schaue genau hin und ziehe meine Schlüsse. Wie sollte ich sonst wissen, dass Sie kürzlich klitschnass geworden sind und ein sehr ungeschicktes, schlampiges Dienstmädchen haben?«
»Mein lieber Holmes«, sagte ich, »das reicht. Hätten Sie vor ein paar Jahrhunderten gelebt, dann hätte man Sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Am Donnerstag bin ich tatsächlich auf dem Land gewandert und durchgeregnet und dreckig heimgekehrt, aber da ich frische Kleidung angezogen habe, frage ich mich, worin Ihre Anhaltspunkte bestehen. Was Mary Jane betrifft, so ist sie unverbesserlich, und meine Frau hat ihr gekündigt, aber auch hier kann ich nicht nachvollziehen, wie Sie darauf gekommen sind.«
Er lachte in sich hinein und rieb seine langen, sensiblen Hände.
»Ein Kinderspiel«, sagte er. »Mir ist aufgefallen, dass das Leder auf der Innenseite Ihres linken Schuhs, dort, wo der Feuerschein hinfällt, sechs nahezu parallele Kerben aufweist. Diese wurden von einer Person verursacht, die sehr unachtsam getrockneten Matsch von den Sohlen gebürstet und dabei das Oberleder beschädigt hat. Daher meine Schlussfolgerungen, dass Sie bei schlechtem Wetter draußen waren und einen besonders böswilligen, da Stiefel demolierenden dienstbaren Londoner Geist in Ihrem Haushalt haben. Und was Ihre Arbeit betrifft: Wenn ein Gentleman mein Zimmer betritt, der nach Jodoform riecht, einen Rest schwarzen Silbernitrats auf dem Zeigefinger hat und einen Zylinder trägt, der rechts ausgebeult ist, weil sich das Stethoskop darin verbirgt, dann müsste ich schon ziemlich beschränkt sein, um keinen Angehörigen der ärztlichen Zunft in ihm zu erkennen.«
Das erschien so einleuchtend, dass ich trotz allem lachen musste. »Ihre Erklärungen«, sagte ich, »klingen so kinderleicht, dass sogar ich darauf hätte kommen müssen. Trotzdem verblüffen mich Ihre Schlussfolgerungen jedes Mal von neuem, und Sie müssen mir immer wieder erläutern, was Sie dorthingeführt hat. Und das, obwohl meine Augen nicht schlechter sind als Ihre.«
»Richtig«, erwiderte er, zündete sich eine Zigarette an und sank in seinen Lehnsessel, »Ihre Augen sind gut, aber Sie schauen nicht richtig hin. Ein entscheidender Unterschied. Sie haben die Treppe, die vom Hausflur zu diesen Zimmern hinaufführt, sicher oft gesehen.«
»Ja, sehr oft.«
»Wie oft?«
»Hunderte Male, nehme ich an.«
»Und wie viele Stufen hat sie?«
»Wie viele? Keine Ahnung.«
»Da haben Sie es! Sie haben nicht richtig, sondern nur flüchtig hingeschaut. Genau das meine ich. Ich weiß, dass es siebzehn Stufen sind, weil ich ein genauer Beobachter bin und nicht schläfrig aus der Wäsche gucke. Ach, übrigens – da Sie sich für kleine Probleme dieser Art interessieren und so nett waren, ein oder zwei meiner banalen Abenteuer festzuhalten, dürfte Sie auch dies interessieren.« Er warf mir ein rosa getöntes, kräftiges Blatt Briefpapier zu, das auf dem Tisch gelegen hatte. »Kam mit der letzten Post«, sagte er. »Lesen Sie laut vor.«
Der Brief war undatiert und wies weder Unterschrift noch Adresse auf. Er lautete:
Heute Abend, gegen Viertel vor acht, wird ein Gentleman Ihren Rat in einer Angelegenheit von höchster Wichtigkeit suchen. Die Dienste, die Sie einem europäischen Königshaus kürzlich erwiesen haben, beweisen, daß man Sie mit Angelegenheiten betrauen kann, deren Bedeutung nicht hoch genug einzustufen ist. Dies wurde uns allenthalben bestätigt. Bitte seien Sie zur angegebenen Uhrzeit zu Hause und stören Sie sich nicht daran, daß Ihr Besucher eine Maske trägt.
»Klingt tatsächlich sehr rätselhaft«, sagte ich. »Was kann das bedeuten?«
»Ich habe noch keine Informationen. Theorien zu entwickeln, bevor Fakten auf dem Tisch liegen, ist ein Kardinalfehler, weil man die Tatsachen unweigerlich den Theorien anpasst, nicht die Theorien den Tatsachen. Immerhin haben wir das Schreiben. Was schließen Sie daraus?«
Ich unterzog die Worte und das Papier, auf dem sie standen, einer genauen Betrachtung.
»Der Absender muss sehr wohlhabend sein«, bemerkte ich schließlich in dem Versuch, die Methoden meines Freundes anzuwenden. »Ein Packen solchen Papiers kostet bestimmt eine Krone. Es ist ungewöhnlich stark und fest.«
»Ungewöhnlich – stimmt genau«, sagte Holmes. »Das Papier wurde nicht in England hergestellt. Halten Sie das Blatt ins Licht.«
Daraufhin entdeckte ich mehrere Wasserzeichen: Ein »E« mit einem »g«, ein »P« und ein »G« mit einem »t«.
»Was könnte das bedeuten?«, fragte Holmes.
»Zweifellos der Name des Herstellers, besser gesagt sein Monogramm.«
»Oh, nein. ›G‹ und ›t‹ bedeuten ›Gesellschaft‹. Unsere entsprechende Abkürzung lautet ›Co.‹. ›P‹ steht natürlich für ›Papier‹. Bleibt noch das ›Eg‹. Schauen wir mal in das Continental Gazetteer.« Er zog ein dickes, braunes Nachschlagewerk aus dem Regal. »Effelsberg, Egeln – ah, da haben wir es ja: Eger. Stadt im deutschsprachigen Böhmen, in der Nähe von Karlsbad. ›Bekannt für seine vielen Papiermühlen und Glasmanufakturen sowie als Ort, an dem Wallenstein ermordet wurde.‹ Tja, alter Junge, was halten Sie davon?« Seine Augen funkelten, und er blies triumphierend dichten, blauen Zigarettenrauch in die Luft.
»Das Papier wurde in Böhmen hergestellt«, sagte ich.
»Genau. Und der Schreiber ist Deutscher. Haben Sie bemerkt, dass er ein ›ß‹ benutzt hat? Diesen Buchstaben verwenden weder die Russen noch die Franzosen, sondern einzig und allein die Deutschen. Jetzt müssen wir nur noch abwarten, welches Anliegen dieser Deutsche hat, der auf böhmischem Papier schreibt und eine Maske trägt. Wenn mich nicht alles täuscht, kommt er gerade, und er wird sicher für Aufklärung sorgen.«
Während er sprach, kam von draußen Hufgeklapper. Räder schrammten die Bordsteinkante entlang, und kurz darauf klingelte es laut. Holmes pfiff leise.
»Klingt nach einem Zweispänner«, sagte er. »Ja«, fuhr er mit einem Blick aus dem Fenster fort. »Ein elegantes, kleines Coupé und zwei prächtige Pferde, jedes hundertfünfzig Guinea wert. Bleibt abzuwarten, ob der Fall die Mühe lohnt, aber in finanzieller Hinsicht wird er sich bestimmt auszahlen, Watson.«
»Ich sollte wohl besser gehen, Holmes.«
»Nichts da, Doktor. Sie bleiben hier. Ohne meinen Biographen wäre ich aufgeschmissen. Und der Fall ist vielversprechend. Wäre ein Jammer, wenn Sie ihn verpassen.«
»Aber Ihr Klient …«
»Vergessen Sie ihn. Gut möglich, dass ich Ihre Hilfe brauche, und er vielleicht auch. Da kommt er. Setzen Sie sich in den Lehnsessel, Doktor, und passen Sie gut auf.«
Die langsamen, schweren Schritte, die auf der Treppe und im Flur erklungen waren, verstummten vor der Tür. Dann wurde laut und herrisch geklopft.
»Herein!«, sagte Holmes.
Der eintretende Mann maß über einen Meter neunzig und hatte den Brustkasten und die Gliedmaßen eines Herkules. Er war prachtvoll gekleidet, wenn auch in einem Stil, den man in England als geschmacklos empfunden hätte. Dicke Kordeln aus Astrachan zogen sich über Ärmel und Brust seines zweireihigen Mantels, und der dunkelblaue, mit feuerroter Seide gesäumte Umhang, der auf seinen Schultern lag, wurde am Hals von einer Brosche gehalten, die aus einem großen, glänzenden Beryll bestand. Die halbhohen Schaftstiefel, oben mit braunem Fell besetzt, vervollständigten den Eindruck barbarischer Opulenz. Der Mann hielt einen breitkrempigen Hut und trug eine schwarze, bis über die Wangenknochen reichende Maske. Er schien sie kurz vor dem Eintreten zurechtgerückt zu haben, denn seine Hand hing noch in der Luft. Der untere Teil seines Gesichts, mit dicker, schwerer Unterlippe und einem weit und gerade vorspringenden Kinn, das an Sturheit grenzende Entschlossenheit verriet, deutete auf einen starken Charakter hin.
»Sie haben meinen Brief erhalten?«, fragte er mit tiefer, rauer Stimme und schwerem deutschen Akzent. »Ich habe mein Kommen angekündigt.« Sein Blick zuckte zwischen uns hin und her, als wüsste er nicht, an wen er seine Worte richten sollte.
»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte Holmes. »Dies ist mein Freund und Kollege, Dr. Watson, der so freundlich ist, mir hin und wieder bei meinen Ermittlungen zur Seite zu stehen. Mit wem habe ich die Ehre?«
»Nennen Sie mich Graf von Kramm. Ich gehöre dem böhmischen Adel an. Ich gehe davon aus, dass dieser Gentleman, Ihr Freund, ein verschwiegener Ehrenmann ist, dem eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit anvertraut werden kann? Wenn das nicht der Fall ist, würde ich lieber mit Ihnen allein reden.«
Ich stand auf und wollte gehen, aber Holmes zog mich am Handgelenk wieder auf den Sessel. »Beide oder keiner«, sagte er. »Sie können diesem Gentleman genauso sicher vertrauen wie mir.«
Der Graf zuckte mit den breiten Schultern. »Dann muss ich Ihnen zuerst das Versprechen abnehmen«, sagte er, »zwei Jahre von dieser Angelegenheit zu schweigen wie ein Grab. Danach ist die Sache unwichtig. Gegenwärtig, das kann ich wohl ohne Übertreibung sagen, hat sie ein solches Gewicht, dass sie den Lauf der europäischen Geschichte beeinflussen könnte.«
»Ich verspreche es«, sagte Holmes.
»Ich auch.«
»Bitte verzeihen Sie die Maske«, fuhr unser sonderbarer Gast fort. »Die erlauchte Persönlichkeit, in deren Diensten ich stehe, möchte, dass ich unerkannt bleibe. Ich gebe übrigens gern zu, dass die von mir genannte Anrede nicht ganz der Wahrheit entspricht.«
»War mir klar«, erwiderte Holmes trocken.
»Die Angelegenheit ist überaus delikat, und es bedarf jeder nur denkbaren Vorsichtsmaßnahme, damit sie sich nicht zu einem Skandal auswächst, der eine europäische Herrscherfamilie schwer in Verruf bringen würde. Offen gestanden betrifft die Angelegenheit das Haus Ormstein, die Erbkönige Böhmens.«
»War mir auch klar«, murmelte Holmes, sank tiefer in seinem Lehnsessel zurück und schloss die Augen.
Unser Besucher starrte den im Lehnsessel lümmelnden Mann, der ihm zweifellos als scharfsinnigster Analytiker und hartnäckigster Ermittler ganz Europas geschildert worden war, verblüfft an. Holmes öffnete träge die Augen und warf seinem hünenhaften Klienten einen ungeduldigen Blick zu.
»Wenn sich Eure Majestät dazu herablassen würden, mir den Fall zu schildern«, sagte er, »könnte ich Sie auch vernünftig beraten.«
Der Mann sprang vom Stuhl auf und lief erregt im Zimmer hin und her. Schließlich riss er mit einer verzweifelten Geste die Maske ab und warf sie auf den Fußboden. »Ja, richtig«, rief er, »ich bin der König. Warum verstecken?«
»Ja, warum?«, murmelte Holmes. »Eure Majestät hatten noch kein Wort gesprochen, da wusste ich schon, dass ich mich in der Gegenwart Wilhelm Gottesreich Sigismund von Ormsteins befinde, Großherzog von Cassel-Felstein, Erbkönig von Böhmen.«
»Aber Sie begreifen vielleicht«, sagte unser Besucher, der sich wieder setzte und sich über seine hohe, weiße Stirn strich, »Sie begreifen vielleicht, dass ich es nicht gewohnt bin, dergleichen selbst in die Hand zu nehmen. Leider ist die Sache so heikel, dass ich mich keinem Agenten hätte anvertrauen können, ohne eine Erpressung zu riskieren. Ich bin inkognito von Prag nach London gereist, um mit Ihnen zu reden.«
»Dann reden Sie, wenn ich bitten darf«, sagte Holmes und schloss wieder die Augen.
»Die Fakten in aller Kürze: Vor ungefähr fünf Jahren lernte ich während eines längeren Aufenthalts in Warschau die bekannte Abenteurerin Irene Adler kennen. Sie haben sicher von ihr gehört.«
»Schlagen Sie die Frau bitte in meiner Kartei nach, Doktor?«, murmelte Holmes, ohne die Augen zu öffnen. Er führte seit langem eine Kartei, die alle möglichen Einträge umfasste. Kaum eine Person oder ein Thema, die sich darin nicht sofort gefunden hätten. Die betreffende Biographie steckte zwischen der eines Rabbis und eines Geschwaderkommodore, der eine Monographie über Tiefseefische verfasst hatte.
»Schauen wir mal!«, sagte Holmes. »Hm! Geboren 1858 in New Jersey. Altsängerin – hm! La Scala – hm! Primadonna an der Kaiserlichen Oper, Warschau – ja! Abschied von der Opernbühne – ha! Lebt in London – sieh an! Wenn mich nicht alles täuscht, haben Eure Majestät mit dieser jungen Frau nähere Bekanntschaft geschlossen und ihr kompromittierende Briefe geschrieben, die Sie nun dringend zurückhaben möchten.«
»Ganz genau. Aber wie …«
»Gab es eine heimliche Eheschließung?«
»Nein.«
»Juristische Dokumente oder Urkunden?«
»Nein.«
»In diesem Fall kann ich Eurer Majestät nicht ganz folgen. Wie könnte die junge Frau, sollte sie die Briefe zur Erpressung oder auch anderweitig nutzen, deren Echtheit beweisen?«
»Anhand meiner Handschrift.«
»Ach, was! Könnte gefälscht sein.«
»Mein privates Briefpapier.«
»Gestohlen.«
»Mein Siegel.«
»Nachgemacht.«
»Mein Foto.«
»Gekauft.«
»Das Foto zeigt uns beide.«
»Oje! Sehr schlecht. Eure Majestät haben sich tatsächlich eine Indiskretion erlaubt.«
»Ich war wie von Sinnen – nicht mehr bei Trost.«
»Sie haben sich ernsthaft kompromittiert.«
»Damals war ich Kronprinz. Ich war jung. Heute bin ich gerade einmal dreißig.«
»Wir müssen das Foto in die Hand bekommen.«
»Das habe ich mehrmals vergeblich versucht.«
»Dann müssen Eure Majestät dafür bezahlen. Es muss zurückgekauft werden.«
»Sie will nicht verkaufen.«
»Bleibt nur Diebstahl.«
»Es gab fünf Versuche. Ihr Haus wurde in meinem Auftrag zweimal von Einbrechern auf den Kopf gestellt. Außerdem ist sie zweimal auf der Straße ausgeraubt worden. Alles ergebnislos.«
»Keine Spur des Fotos?«
»Nicht die geringste.«
Holmes lachte. »Nettes, kleines Problem«, sagte er.
»Für mich ein sehr ernstes«, erwiderte der König vorwurfsvoll.
»Das stimmt. Hat sie gesagt, was sie mit dem Foto vorhat?«
»Sie will mich ruinieren.«
»Auf welche Weise?«
»Ich heirate in Kürze.«
»Ist mir zu Ohren gekommen.«
»Und zwar Clothilde Lothmann von Saxe-Meiningen, die zweitgeborene Tochter des Königs von Schweden und Norwegen. Wie Sie vielleicht wissen, folgt ihre Familie strengen Prinzipien, sie selbst ist der Anstand in Person. Der leiseste Zweifel an meinem Betragen, und die Heirat wäre vom Tisch.«
»Und Irene Adler?«
»Droht, das Foto meiner Braut zu schicken. Und sie wird Ernst machen. Davon bin ich fest überzeugt. Sie kennen sie nicht, aber sie hat einen eisernen Willen. Sie ist bildschön, denkt aber wie ein felsenfest entschlossener Mann. Sie würde vor nichts zurückschrecken, um zu verhindern, dass ich eine andere heirate – vor gar nichts.«
»Sind Sie sicher, dass sie das Foto noch nicht verschickt hat?«
»Hundertprozentig.«
»Aus welchem Grund?«
»Weil sie angekündigt hat, das Foto am Tag der Bekanntgabe der Eheschließung zu verschicken. Also am nächsten Montag.«
»Dann haben wir drei Tage Zeit«, sagte Holmes gähnend. »Das trifft sich gut, denn es gibt noch ein oder zwei andere wichtige Fälle, die geklärt werden wollen. Eure Majestät bleiben sicher zunächst in London?«
»Selbstverständlich. Sie finden mich unter dem Namen Graf von Kramm im Langham.«
»Dann werde ich Sie schriftlich über unsere Fortschritte informieren.«
»Ich bitte darum. Ich werde wie auf heißen Kohlen sitzen.«
»Und die finanzielle Seite?«
»Sie haben freie Hand.«
»Voll und ganz?«
»Ich würde eine Provinz meines Königreichs für dieses Foto geben.«
»Und die ersten Auslagen?«
Der König zog eine schwere Lederbörse unter dem Umhang hervor und legte sie auf den Tisch.
»Hier sind dreihundert Pfund in Gold und siebenhundert in Scheinen«, sagte er.
Holmes quittierte den Empfang des Geldes auf einer Seite seines Notizbuches, die er dem König gab.
»Wo wohnt die Mademoiselle?«, fragte er.
»Briony Lodge, Serpentine Avenue, St. John’s Wood.«
Holmes schrieb die Adresse auf. »Noch eine Frage«, sagte er. »Welches Format hat das Foto?«
»Kabinettformat. Ungefähr Postkartengröße.«
»Dann wünsche ich Eurer Majestät einen guten Abend. Ich bin mir sicher, dass wir bald gute Nachrichten für Sie haben. Auch Ihnen einen guten Abend, Watson«, fügte er hinzu, als sich das königliche Coupé auf der Straße entfernte. »Wenn Sie so nett wären, morgen um fünfzehn Uhr vorbeizukommen, könnten wir diese kleine Angelegenheit besprechen.«
Ich war pünktlich um fünfzehn Uhr in der Baker Street, aber Holmes war noch unterwegs. Wie ich von seiner Vermieterin erfuhr, hatte er das Haus morgens um kurz nach acht Uhr verlassen, und ich setzte mich vor den Kamin, um auf ihn zu warten. Dieser Fall interessierte mich schon jetzt brennend. Zwar fehlten ihm die befremdlichen, ja unheimlichen Begleitumstände der beiden Verbrechen, die ich nacherzählt hatte, aber er stellte schon aufgrund seiner Art und der herausgehobenen Stellung unseres Klienten etwas Besonderes dar. Von der Natur der Ermittlungsmethoden meines Freundes einmal abgesehen, sorgten seine meisterhafte Handhabung der Situation und seine scharfsinnigen, tiefschürfenden Überlegungen dafür, dass es mir wieder einmal eine große Freude war, seine Arbeitsweise zu studieren und die sowohl feinen als auch hochwirksamen Methoden zu verfolgen, mit denen er Licht in das tiefste Dunkel brachte. Weil ich daran gewöhnt war, dass seine Ermittlungen stets von Erfolg gekrönt waren, dachte ich keine Sekunde an ein mögliches Scheitern.
Um kurz vor sechzehn Uhr ging die Tür auf, und ein betrunken wirkender Pferdeknecht mit Backenbart, struppigen Haaren, knallrotem Gesicht und liederlicher Kleidung betrat das Zimmer. Obwohl ich die Verkleidungskünste meines Freundes kannte, musste ich dreimal hinschauen, um ihn zu erkennen. Er nickte mir zu und verschwand in seinem Schlafzimmer. Fünf Minuten später kam er wieder zum Vorschein, würdevoll und wie üblich im Tweedanzug. Er streckte seine Beine vor dem Feuer aus, schob die Hände in die Hosentaschen und lachte dann minutenlang aus vollem Hals.
»Oh, Mann!«, rief er, verschluckte sich und begann danach wieder schallend zu lachen, bis er schließlich ermattet und schicksalsergeben in den Sessel zurücksank.
»Was ist denn los?«
»Die Sache ist urkomisch. Jede Wette, dass Sie nicht darauf kommen, wie ich den Vormittag verbracht und was ich am Ende getan habe.«
»Keine Ahnung. Ich nehme an, dass Sie die Gewohnheiten, vielleicht auch das Haus von Miss Irene Adler ausgeforscht haben.«
»Stimmt. Aber was sich zum Schluss abgespielt hat, war äußerst ungewöhnlich. Ich erzähle Ihnen alles. Ich habe das Haus um kurz nach acht in der Verkleidung eines arbeitslosen Pferdeknechts verlassen. Männer, die mit Pferden arbeiten, bilden eine innige und verschworene Brüderschaft. Gehört man dazu, dann erfährt man sofort alles Wissenswerte. Briony Lodge habe ich problemlos gefunden. Ein Schmuckstück von Villa, zweistöckig, direkt an der Straße gelegen und mit einem Garten auf der Hinterseite. Haustür mit Sicherheitsschlössern. Rechts ein großes Wohnzimmer, hübsch eingerichtet und mit fast fußbodentiefen Fenstern, versehen mit diesen lächerlichen, da kinderleicht zu öffnenden englischen Riegeln. Auf der Rückseite fiel mir nur auf, dass man ein Flurfenster über das Dach des Wagenschuppens erreichen kann. Ich bin um das Haus gegangen und habe es aus jedem Blickwinkel betrachtet, ohne etwas Auffälliges entdecken zu können.
Danach bin ich durch die Straße geschlendert und wie erwartet in einer Gasse, die auf einer Seite des Gartens an der Mauer entlangführt, auf einen Pferdestall gestoßen. Ich half den Stallknechten beim Striegeln der Pferde und erhielt dafür zwei Pence, ein Glas Ale mit Porter, zwei Pfeifenfüllungen Shagtabak und unzählige Informationen, nicht nur über Miss Adler, sondern auch über ein halbes Dutzend andere Leute aus der Nachbarschaft, an denen ich kein Interesse hatte, deren Lebensläufe ich mir aber trotzdem anhören musste.«
»Und Irene Adler?«, fragte ich.
»Oh, sie hat allen Männern im Umkreis den Kopf verdreht. Gibt auf diesem Planeten kein entzückenderes Geschöpf unter einer Haube als sie. Das jedenfalls raunen die Knechte der Serpentine-Ställe in trauter Männerrunde. Sie lebt zurückgezogen, singt bei Konzerten, fährt täglich um siebzehn Uhr aus und kehrt um Punkt neunzehn Uhr zum Abendessen zurück. Davon abgesehen geht sie nur aus, wenn sie Auftritte hat. Ihr Männerbesuch beschränkt sich auf eine Person, einen gut aussehenden, schneidigen Mann mit dunklen Haaren, der täglich einmal, oft sogar zweimal vorbeischaut, ein gewisser Mr Godfrey Norton, Jurist am Inner Temple. Sie merken, wie nützlich es sein kann, das Vertrauen der Droschkenkutscher zu gewinnen. Sie haben ihn von den Serpentine-Ställen aus mehrmals nach Hause kutschiert und sind bestens über ihn im Bilde. Nachdem ich alles in Erfahrung gebracht hatte, was sie wissen, bin ich vor der Briony Lodge auf und ab spaziert, um meine Schlachtpläne zu durchdenken.
Godfrey Norton scheint in dieser Sache eine wichtige Rolle zu spielen. Er ist Anwalt, was sicher nichts Gutes zu bedeuten hat. In welcher Beziehung stehen die beiden zueinander und worin besteht der Zweck seiner regelmäßigen Besuche? Ist sie seine Klientin, eine Freundin oder seine Geliebte? Sollte Ersteres der Fall sein, dann hätte sie ihm das Foto wohl zur Aufbewahrung überlassen. Im letzteren Fall wäre das eher unwahrscheinlich. Von der Beantwortung dieser Fragen hing ab, ob ich mich auf die Briony Lodge oder auf das Anwaltsbüro Mr Nortons am Inner Temple konzentrieren musste. Eine schwierige Frage, die eine Ausweitung meiner Ermittlungen bedeuten konnte. Ich fürchte, dass ich Sie mit diesen Details langweile, aber damit Sie die Situation besser verstehen, muss ich Ihnen wohl oder übel meine kleinen Probleme schildern.«
»Ich höre aufmerksam zu«, erwiderte ich.
»Ich dachte noch über all dies nach, als eine einspännige Droschke vor der Briony Lodge hielt. Ein Gentleman sprang heraus, ein bemerkenswert gutaussehender Mann mit dunklen Haaren, römischer Nase und Schnurrbart – eindeutig jener, von dem mir erzählt worden war. Er schien es sehr eilig zu haben, denn er bat den Kutscher, auf ihn zu warten, und als ich sah, wie selbstverständlich er am Hausmädchen vorbeirauschte, das ihm die Tür öffnete, war mir klar, dass er sich in der Briony Lodge wie zu Hause fühlt.
Er hielt sich eine gute halbe Stunde in der Villa auf. Ich konnte ihn wiederholt im Wohnzimmerfenster sehen, denn er lief hin und her, fuchtelte mit den Armen und schien aufgeregt zu reden. Miss Adler bekam ich nicht zu Gesicht. Beim Verlassen des Hauses wirkte er noch aufgewühlter als zuvor, zückte auf dem Weg zur Droschke eine goldene Taschenuhr und warf einen hektischen Blick darauf. ›Fahren Sie wie der Teufel‹, rief er, ›zuerst zum Juwelier Gross & Hankey’s in der Regent Street, danach zur Kirche St. Monica in der Edgeware Road. Eine halbe Guinea, wenn Sie es in zwanzig Minuten schaffen!‹
Er raste davon, und während ich überlegte, ob ich ihm folgen sollte, kam ein adretter, kleiner Landauer auf der Straße angerollt. Der Kutscher hatte den Mantel nur halb zugeknöpft, sein Schlips saß schief, und die Riemen des Pferdegeschirrs waren nur halb durch die Schnallen gezogen, also in aller Eile festgezurrt worden. Der Landauer hatte das Haus noch nicht ganz erreicht, da schoss Miss Adler aus der Tür und sprang in die Kutsche. Ich sah sie nur flüchtig, aber sie scheint tatsächlich so schön zu sein, dass ein Mann sein Leben für sie geben würde.
›Zur Kirche St. Monica, John‹, rief sie. ›Einen halben Sovereign, wenn Sie in zwanzig Minuten dort sind.‹
Diese Gelegenheit durfte ich mir nicht durch die Lappen gehen lassen, Watson. Ich fragte mich noch, ob ich laufen oder hinten auf den Landauer springen sollte, als eine Droschke durch die Straße rumpelte. Der Kutscher starrte mich an, weil ich immer noch meine Lumpen trug, aber ich kam einem Einwand zuvor, indem ich kurzerhand einstieg. ›Zur Kirche St. Monica‹, sagte ich. ›Einen halben Sovereign, wenn Sie es in zwanzig Minuten schaffen.‹ Es war fünf nach halb zwölf, und was die beiden vorhatten, war klar.
Mein Kutscher trieb das Pferd an. Schneller bin ich wohl noch nie gefahren, aber die beiden waren mir eine Nasenlänge voraus. Einspänner und Landauer standen schon vor dem Portal, die Pferde dampften. Ich bezahlte meinen Kutscher und rannte in die Kirche. Bis auf die Personen, die ich verfolgt hatte, und einen Geistlichen im Chorrock, der ihnen Vorhaltungen zu machen schien, war sie menschenleer. Die drei standen dicht gedrängt vor dem Altar. Ich schlenderte durch das Seitenschiff, als wäre ich ein zufällig hereingeschneiter Besucher. Plötzlich drehten sich alle zu mir um, und Godfrey Norton spurtete auf mich zu.
›Gott sei Dank‹, rief er. ›Sie schickt der Himmel. Kommen Sie! Kommen Sie!‹
›Und warum?‹, fragte ich.
›Los, Mann, kommen Sie schon. Dauert nur drei Minuten. Ohne Sie wäre es nicht rechtskräftig.‹
Er zog mich zum Altar, und bevor ich mich versah, murmelte ich Antworten, die mir ins Ohr geflüstert wurden, bürgte für dieses und jenes, obwohl ich beide nicht kannte, und half der ledigen Irene Adler und dem Junggesellen Godfrey Norton, den Bund der Ehe zu schließen. Die Zeremonie ging ruck, zuck! über die Bühne. Danach bedankten sich der links von mir stehende Gentleman und die rechts von mir stehende Dame, und der Geistliche, den ich direkt vor der Nase hatte, strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Eine so absurde Rolle habe ich noch nie spielen müssen, darum habe ich vorhin so laut gelacht. Wegen eines kleinen Problems mit der Heiratserlaubnis hatte sich der Geistliche geweigert, die Ehe ohne einen Zeugen zu schließen, und durch mein zufälliges Auftauchen blieb es dem Bräutigam erspart, die Straßen nach einem Trauzeugen abzugrasen. Die Braut drückte mir einen Sovereign in die Hand, den ich zum Andenken an diesen Vorfall an meiner Uhrkette tragen werde.«
»Eine sehr unerwartete Wendung der Dinge«, sagte ich. »Und danach?«
»Tja, danach schienen meine Pläne ernsthaft gefährdet zu sein, denn es sah so aus, als wollte das Paar umgehend abreisen, was sehr rasche und drastische Maßnahmen erfordert hätte. Aber nach dem Verlassen der Kirche trennten sich die beiden, er fuhr zurück zum Temple, sie kehrte heim. ›Ich fahre wie immer um siebzehn Uhr zum Park‹, sagte sie noch zu ihm. Mehr bekam ich nicht mit. Sie verschwanden in unterschiedliche Richtungen, und ich brach auf, um eigene Maßnahmen zu ergreifen.«
»Welcher Art?«
»Kaltes Fleisch und ein Glas Bier«, antwortete er und läutete die Glocke. »Ich hatte zu viel um die Ohren, um an Essen denken zu können, und heute Abend werde ich vermutlich noch mehr zu tun haben. Übrigens werde ich Ihre Unterstützung brauchen, Doktor.«
»Wird mir ein Vergnügen sein.«
»Sie haben kein Problem damit, das Gesetz zu brechen?«
»Nicht im Geringsten.«
»Oder eine Verhaftung zu riskieren?«
»Nicht, wenn es einem guten Zweck dient.«
»Oh, der Zweck ist einwandfrei!«
»Dann bin ich dabei.«
»Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann.«
»Was soll ich tun?«
»Ich erkläre Ihnen alles, nachdem Mrs Turner das Tablett gebracht hat.« Als er schließlich heißhungrig über das schlichte Mahl herfiel, das seine Vermieterin serviert hatte, sagte er: »Ich muss während des Essens mit Ihnen reden, denn die Zeit ist knapp. Es geht auf siebzehn Uhr. In zwei Stunden sollten wir vor Ort sein. Miss, besser gesagt Mrs Irene kehrt immer um neunzehn Uhr von ihrer Spazierfahrt zurück. Wir erwarten sie vor der Briony Lodge.«
»Und dann?«
»Das müssen Sie mir überlassen. Ich habe alles vorbereitet. Eines müssen Sie allerdings beachten: Sie dürfen sich auf keinen Fall einmischen, egal was passiert. Einverstanden?«
»Ich soll mich zurückhalten?«
»Sie rühren nicht einmal den kleinen Finger. Die Sache könnte unangenehm werden, aber Sie halten sich heraus. Zu guter Letzt wird man mich ins Haus bringen. Vier oder fünf Minuten später wird sich das Wohnzimmerfenster öffnen. Sie stellen sich möglichst dicht davor.«
»Gut.«
»Behalten Sie mich im Auge. Sie werden mich sehen können.«
»Gut.«
»Und wenn ich meine Hand hebe – so – dann werfen Sie etwas in das Zimmer, das ich Ihnen gleich geben werde, und schreien gleichzeitig ›Feuer!‹. Können Sie mir folgen?«
»Voll und ganz.«
»Das Wurfobjekt ist nichts Besonderes«, sagte er und zog eine längliche, zigarrenförmige Röhre aus der Tasche, »sondern eine handelsübliche, selbstzündende Rauchbombe, wie Klempner sie verwenden, um Rohre auf Dichtheit zu überprüfen. Das ist Ihre einzige Aufgabe. Wenn Sie Feueralarm geben, werden viele Leute in Ihren Ruf einstimmen. Sie begeben sich dann zum Ende der Straße, wo ich zehn Minuten später zu Ihnen stoße. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«
»Ich soll mich nicht einmischen, dicht vor das Fenster treten, Sie im Auge behalten, auf Ihren Wink hin dieses Ding werfen, Feueralarm geben und danach an der Straßenecke auf Sie warten.«
»Stimmt genau.«
»Sie können sich ganz auf mich verlassen.«
»Hervorragend. Und nun muss ich mich auf die neue Rolle vorbereiten, die ich spielen werde.«
Er verschwand in seinem Schlafzimmer und kam einige Minuten später als netter und einfältiger nonkonformistischer Geistlicher wieder zum Vorschein: breitkrempiger, schwarzer Hut, weite Hose, weißes Beffchen, freundliches Lächeln und eine so treuherzige, neugierige Miene, wie sie der Schauspieler John Hare nicht besser hätte aufsetzen können. Holmes wechselte nicht nur die Kleidung, nein, auch sein Gesichtsausdruck, seine Art, ja sein ganzes Wesen waren bei jeder Verkleidung, für die er sich entschied, wie ausgewechselt. Wäre er kein Spezialist für das Verbrechen geworden, dann hätte er als Mime das Theater und als Meisterdenker die Wissenschaft bereichern können.
Wir brachen um Viertel nach sechs in der Baker Street auf und waren schon um zehn vor sieben in der Serpentine Avenue. Es begann zu dämmern, und während wir in Erwartung der Hausherrin vor der Briony Lodge auf und ab gingen, wurden die Laternen entzündet. Das Haus entsprach dem Bild, das ich mir anhand von Holmes Beschreibung gemacht hatte, nur war das Viertel nicht so still wie erwartet. Stattdessen war die kleine Straße bemerkenswert belebt. In einer Ecke stand eine Schar rauchender, lachender Männer in abgerissener Kleidung, ein Scherenschleifer hatte seinen Schleifstein aufgebaut, zwei Gardisten flirteten mit einem Kindermädchen und mehrere elegante junge Männer, jeder mit Zigarre im Mund, flanierten durch die Straße.
»Wissen Sie«, bemerkte Holmes, während wir vor dem Haus hin und her liefen, »diese Heirat vereinfacht die Sache. Das Foto ist jetzt eine zweischneidige Waffe. Unser Klient will verhindern, dass seine Prinzessin die Aufnahme zu Gesicht bekommt, und genauso dürfte Mrs Irene verhindern wollen, dass Mr Godfrey Norton das Bild sieht. Fraglich ist nur, wo es sich befindet.«
»Ja, wo?«
»Sehr unwahrscheinlich, dass sie das Foto bei sich trägt, denn es ist ein Kabinettformat, zu groß, um es unauffällig unter dem Kleid verbergen zu können. Außerdem weiß sie, dass der König nicht davor zurückschreckt, Ganoven anzuheuern, die ihr auflauern und sie ausrauben, was ja schon zweimal passiert ist. Wir können also davon ausgehen, dass sie es nicht bei sich hat.«
»Wo könnte es sonst sein?«
»Bei ihrer Bank oder ihrem Anwalt. Beides wäre denkbar, und dennoch halte ich beides für unwahrscheinlich. Frauen sind von Natur aus geheimniskrämerisch, sie hüten gern ihre kleinen Geheimnisse. Warum sollte sie das Foto jemandem zur Aufbewahrung überlassen? Sie kann sich auf ihre Wachsamkeit verlassen, weiß aber nicht, welchem indirekten, vielleicht auch politischen Einfluss ein Geschäftsmann unterworfen wäre. Sie müssen außerdem bedenken, dass sie das Foto innerhalb der nächsten Tage verschicken und deshalb sicher rasch zur Hand haben möchte. Es muss sich in ihrem Haus befinden.«
»Aber es wurde zweimal eingebrochen.«
»Na, und? Die Einbrecher wussten nicht, wo sie suchen mussten.«
»Und Sie wissen es?«
»Ich werde nicht suchen.«
»Was dann?«
»Ich werde sie dazu bringen, es mir zu zeigen.«
»Sie wird sich doch bestimmt weigern.«
»Sie wird gar nicht anders können. Hören Sie das Rumpeln? Ihre Kutsche naht. Sie müssen meine Anweisungen jetzt genau befolgen.«
Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, da erschienen Kutschlaternen in der Straßenbiegung, und ein kleiner, aber feiner Landauer rollte zur Briony Lodge. Als er vor der Tür hielt, sauste einer der Müßiggänger, die in der Ecke lungerten, zum Schlag, um für das Öffnen etwas Kleingeld abzustauben, wurde aber von einem Kumpan, der in der gleichen Absicht gekommen war, zur Seite gerempelt. Daraufhin entbrannte ein heftiger Streit, den die beiden Gardisten, die sich auf die Seite eines der Müßiggänger schlugen, und der Scherenschleifer, der dem anderen mit Feuereifer beisprang, noch weiter anheizten. Ein Faustschlag wurde ausgeteilt, und die ausgestiegene Dame fand sich plötzlich mitten in einer Rotte zornesroter, raufender Männer wieder, die mit Fäusten und Stöcken wild aufeinander eindroschen. Holmes rannte hin, um die Dame zu beschützen, schrie aber kurz vor dem Ziel auf und ging mit blutüberströmtem Gesicht zu Boden. Bei seinem Sturz flohen die Gardisten in die eine, die Müßiggänger in die andere Richtung, während einige besser gekleidete Passanten, die die Rauferei beobachtet hatten, ohne einzugreifen, losrannten, um der Dame zu helfen und sich um den Verletzten zu kümmern. Irene Adler, wie ich sie weiter nennen möchte, war die Stufen hinaufgeeilt, blieb jedoch in der offenen Haustür stehen und blickte auf die Straße, wobei das Flurlicht ihre einzigartige Figur umriss.
»Ist der arme Gentleman verletzt?«, fragte sie.
»Er ist tot«, schrien mehrere Leute.
»Nein, nein, er lebt noch!«, rief ein anderer. »Aber er wird wohl sterben, bevor man ihn in ein Krankenhaus schaffen kann.«
»Ein mutiger Mann«, sagte eine Frau. »Man hätte der Dame Handtasche und Uhr geraubt, wenn er nicht gewesen wäre. Das war eine ganze Bande skrupelloser Schurken. Ah, jetzt atmet er.«
»Er kann nicht auf der Straße liegen bleiben. Dürfen wir ihn in Ihr Haus tragen, Madam?«
»Natürlich. Bringen Sie ihn in das Wohnzimmer. Dort steht ein bequemes Sofa. Hier entlang, bitte!«
Man trug Holmes langsam und gemessen in die Briony Lodge. Währenddessen beobachtete ich die Vorgänge von meinem Posten vor dem Fenster. Man hatte die Lampen entzündet, die Vorhänge aber nicht zugezogen, so dass ich Holmes auf dem Sofa liegen sah. Schwer zu sagen, ob er Gewissensbisse wegen seiner Komödie hatte, doch ich muss gestehen, dass ich mich in Grund und Boden schämte, als ich die wunderschöne Frau sah, gegen die wir uns verschworen hatten, und beobachtete, mit welcher Anmut und Hingabe sie sich um den Verletzten kümmerte. Trotzdem hätte ich Holmes verraten und verkauft, wenn ich die mir zugedachte Rolle jetzt aufgegeben hätte. Also verhärtete ich mein Herz und zog die Rauchbombe unter dem Mantel hervor. Immerhin, dachte ich, taten wir ihr keine Gewalt an, sondern verhinderten, dass sie jemandem Schaden zufügte.
Holmes hatte sich inzwischen aufgerichtet und fuchtelte mit den Händen, als müsste er um Atem ringen. Ein Hausmädchen öffnete rasch das Fenster. Im gleichen Moment sah ich, wie er die Hand hob, warf die Rauchbombe in das Zimmer und schrie: »Feuer!« Das Wort war kaum über meine Lippen gekommen, da wurde es von allen Schaulustigen, ob elegant oder zerlumpt – Gentlemen, Stallknechte, Dienstmägde –, wie aus einer Kehle wiederholt: »Feuer!« Dichte Rauchwolken wogten durchs Wohnzimmer und quollen aus dem Fenster. Ich konnte umhereilende Gestalten sehen und hörte kurz darauf, wie Holmes rief, es handele sich um falschen Alarm. Ich schlängelte mich durch die Menge bis zum Ende der Straße. Zehn Minuten später merkte ich erfreut, dass Holmes sich bei mir einhakte. Wir ließen den Tumult hinter uns und gingen ein paar Minuten schnell und schweigend, bis wir in eine der ruhigen, zur Edgeware Road führenden Straßen einbogen.
»Gut gemacht, Doktor«, sagte er. »Hätte nicht besser laufen können. Es hat funktioniert.«
»Sie haben das Foto?«
»Ich weiß, wo es ist.«
»Wie haben Sie das herausgefunden?«
»Sie hat es mir gezeigt, genau wie vorhergesagt.«
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Ich will kein Geheimnis daraus machen«, sagte er lachend. »Die Sache war ganz einfach. Wie Sie sicher gemerkt haben, waren die Passanten allesamt Komplizen, die ich für diesen Abend engagiert hatte.«
»Dachte ich mir schon.«
»Als der Streit ausbrach, hatte ich etwas frische, rote Farbe in der Hand. Ich rannte los, fiel hin und schmierte mir die Farbe ins Gesicht, um einen möglichst kläglichen Anblick zu bieten. Ein alter Trick.«
»Das dachte ich mir auch.«
»Danach wurde ich eingelassen. Sie konnte gar nicht anders. Was hätte sie tun sollen? So gelangte ich ins Wohnzimmer, wo ich das Foto vermutete. Auch das Schlafzimmer kam in Frage, und ich wünschte Klarheit. Man bettete mich auf das Sofa, ich rang um Atem, man musste das Fenster öffnen, und so kamen Sie zum Zug.«
»Und wie hat Ihnen das geholfen?«
»Das war von entscheidender Bedeutung. Wenn eine Frau glaubt, ihr Haus stehe in Flammen, besteht ihr erster Impuls darin, ihren wertvollsten Besitz in Sicherheit zu bringen. Dieser Impuls ist so stark, dass er alles andere verdrängt. Ich habe ihn schon mehrmals zu meinem Vorteil nutzen können. Er hat mir sowohl bei dem Erbenschwindel in Darlington als auch in der Sache von Arnsworth Castle geholfen. Eine Ehefrau schnappt sich ihr Baby, eine ledige Frau ihre Schmuckkassette. Mir war bewusst, dass die Dame nichts Wertvolleres hortet als das von uns gesuchte Foto, das sie natürlich sofort in Sicherheit bringen würde. Der Feueralarm wirkte beeindruckend echt. Rauch und Geschrei hätten sogar jemanden mit Nerven wie Stahlseile erschüttert. Und sie hat goldrichtig reagiert. Das Foto liegt hinter einem Gleitpanel in einer Wandvertiefung, direkt über dem rechten Glockenzug. Sie eilte sofort dorthin und holte es heraus, so dass ich es kurz sehen konnte. Nach meiner Entwarnung legte sie das Foto wieder hinein, warf einen Blick auf die Rauchbombe und stürzte aus dem Zimmer. Danach blieb sie verschwunden. Ich stand auf, entschuldigte mich und verließ das Haus. Ich erwog, das Foto sofort sicherzustellen, aber der Kutscher war hereingekommen, und da er mich im Auge behielt, fand ich es ratsamer abzuwarten. Zu große Hast kann alles ruinieren.«
»Und nun?«, fragte ich.
»Wir sind fast am Ziel. Morgen werde ich der Dame gemeinsam mit dem König einen Besuch abstatten – und mit Ihnen, wenn Sie möchten. Man wird uns in das Wohnzimmer bitten, wo wir auf die Dame warten werden, aber wenn sie erscheint, wird sie wahrscheinlich weder uns noch das Foto vorfinden. Es wäre bestimmt eine große Befriedigung für Seine Majestät, das Foto eigenhändig sicherzustellen.«
»Wann soll der Besuch stattfinden?«
»Um acht Uhr morgens. Dann haben wir freie Bahn, weil Irene Adler noch im Bett liegt. Außerdem müssen wir rasch handeln, denn die Heirat könnte ihr Leben und ihre Gewohnheiten auf den Kopf stellen. Ich muss dem König sofort telegraphieren.«
Wir hatten die Baker Street erreicht und standen vor der Tür. Holmes kramte in seinen Taschen nach dem Schlüssel, als jemand im Vorbeigehen sagte: »Gute Nacht, Mister Sherlock Holmes.«
Auf dem Bürgersteig waren etliche Passanten unterwegs, aber der Grüßende schien ein schmaler, junger Mann im Ulster gewesen zu sein.
»Die Stimme kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte Holmes und starrte auf die dämmerige Straße. »Wer zum Teufel war das?«
Ich übernachtete in der Baker Street, und wir saßen morgens bei Kaffee und Toast, als der König von Böhmen in das Zimmer stürzte.
»Sie haben es wirklich?«, rief er, packte Sherlock Holmes bei den Schultern und starrte ihn begeistert an.
»Noch nicht.«
»Aber Sie sind zuversichtlich.«
»Ich bin zuversichtlich.«
»Dann kommen Sie. Ich brenne darauf loszufahren.«
»Wir brauchen eine Droschke.«
»Nein, mein Coupé steht draußen.«
»Das vereinfacht die Sache.« Wir gingen nach unten und fuhren ein weiteres Mal zur Briony Lodge.
»Irene Adler hat geheiratet«, erwähnte Holmes.
»Geheiratet! Wann?«
»Gestern.«
»Und wen?«
»Einen englischen Anwalt namens Norton.«
»Sie kann ihn nicht lieben.«
»Ich hoffe doch.«
»Und warum?«
»Weil Eure Majestät dann in Zukunft keine Probleme mehr zu befürchten hätten. Wenn die Dame ihren Ehemann liebt, kann sie Eure Majestät nicht lieben. Und wenn sie Eure Majestät nicht liebt, hat sie keinen Grund, die Pläne Eurer Majestät zu durchkreuzen.«
»Richtig. Und dennoch … Tja! Ich wünschte, sie wäre standesgemäß! Sie hätte eine prachtvolle Königin abgegeben!« Er versank in brütendem Schweigen, das andauerte, bis wir die Serpentine Avenue erreichten.
Die Tür von Briony Lodge war offen, und auf den Stufen stand eine ältliche Frau, die uns hämisch beobachtete, während wir aus dem Coupé stiegen.
»Mr Sherlock Holmes, wenn ich mich nicht irre?«, sagte sie.
»Ja, der bin ich«, antwortete mein Begleiter mit fragendem, ziemlich verblüfftem Blick.
»Ah! Meine Herrin hat Ihr Kommen angekündigt. Sie ist heute früh um 5.15 Uhr mit ihrem Ehemann von Charing Cross zum Kontinent aufgebrochen.«
»Was?« Sherlock Holmes stolperte ein paar Schritte rückwärts, bleich vor Ärger und Überraschung. »Wollen Sie damit sagen, dass sie England verlassen hat?«
»Für immer.«
»Und die Briefe und das Foto?«, fragte der König mit rauer Stimme. »Ich bin verloren.«