Ich bin im Jahre 18.. in London geboren. Mein Vater hinterließ mir ein bedeutendes Vermögen; auch die Natur hatte mich mit schönen Gaben bedacht. Ich war fleißig, wissbegierig und strebte danach, mir die Achtung und das Wohlwollen der Weisen und Guten unter meinen Mitmenschen zu erwerben. Unter solchen Umständen war ich berechtigt, einer ehrenvollen und glücklichen Laufbahn entgegenzusehen. Meine schlimmsten Fehler waren ein vielleicht zu lebhaftes, ungeduldiges Temperament und eine fast zügellose Vergnügungssucht. Viele Menschen sind unter ähnlichen Bedingungen glücklich gewesen, ich aber fand es schwer, meine heißblütigen Neigungen mit meinem Ehrgeiz, rein und geachtet vor der Welt dazustehen, in Einklang zu bringen. Ich fing an, meine Vergnügungen zu verheimlichen, und als ich das Mannesalter erreicht hatte und ernstlich über mich und meine gesellschaftliche Stellung nachzudenken begann, fand ich, dass ich unbewußt in einen Lebenswandel von Trug und Schein versunken war.
Mancher würde sich nicht entblödet haben, die Fehltritte, deren ich mich schuldig gemacht, der Welt zu zeigen, aber von dem hohen Standpunkte aus, den ich mir gesetzt, trachtete ich mit einem krankhaften Schamgefühl nur danach, dieselben zu verbergen. Bei meiner Eitelkeit schien es mir, dass es mehr mein hohes Streben war, welches mich zu dieser Verstellung trieb, als meine verderbten Neigungen, dass das Gute und Böse, wie es in der Doppelnatur eines jeden lebt, tiefer und schärfer in mir getrennt sei, als in anderen Menschen.
Ich dachte oft über die strengen Gesetze, die abtötenden Vorschriften nach, welche den Grundstein der christlichen Religion bilden, und denen zu gehorchen den Schwachen so schwer wird.
Trotz des zwiefachen Lebens, das ich führte, war ich doch kein Heuchler. Die beiden Naturen in mir waren eben vollständig voneinander geschieden und unabhängig. Wenn ich alle Schranken zerstörend, mich in die niedrigsten Ausschweifungen und Sünden stürzte, war ich ein ganz anderes Wesen, als der ernste, junge Arzt, dessen höchstes Streben es war, auf dem Pfade der Wissenschaft fortzuschreiten, den Kummer und die Leiden seiner Mitmenschen zu erleichtern.
Meine wissenschaftlichen Neigungen trieben mich zum Mystischen, zu allem, was über die menschliche Erkenntnis hinausgeht, und hier kam ich zum vollen Bewußtsein des unaufhörlichen Zwiespalts, der in mir war. Mit jedem Tage, sowohl vom Standpunkte der Moral als der Vernunft, näherte ich mich der unumstößlichen Wahrheit, die ich leider nur halb entdeckte, und die mich zugrunde gerichtet, dass der Mensch nicht aus einem, sondern in Wirklichkeit aus zwei Wesen besteht.
Ich sage absichtlich zwei, weil mein Wissen nicht weiter geht.
Andere werden mir folgen und auf der von mir betretenen Bahn weiter schreiten, und ich glaube, dass man schließlich zu der Erkenntnis gelangen wird, dass der Mensch aus verschiedenen, voneinander ganz unabhängigen Naturen besteht.
Ich erkannte in mir selbst die scharf begrenzte, ursprüngliche Zweiheit des Menschen, ich fühlte in mir den Kampf dieser beiden Naturen, die beide, auf immer getrennt, beide mein eigen waren.
Der Gedanke, diese beiden Elemente ganz voneinander zu trennen, bemächtigte sich meiner mit unwiderstehlicher Macht, es war ein herrlicher Traum, ein solches Wunder zu vollbringen. Ich sagte mir, dass, wenn es nur möglich sei, jedes in eine besondere Individualität zu zwängen, alles, was das Leben unerträglich macht, aus dem Wege geräumt sei. Das Böse in uns würde dann frei von Gewissensbissen, frei von den bitteren Vorwürfen des Edlen und Guten sein; der Gerechte würde ruhig und ungehindert auf dem Pfade der Tugend wandeln, ohne der Gefahr der Schande, ohne den Schmerzen der Reue ausgesetzt zu sein, die ihm der Zwillingsbruder bereitet. Es schien mir der Fluch des Menschen, dass diese Widersprüche im schmerzenden Grunde seines Gewissens in unaufhörlichem Kampfe streiten.
Aber wie konnte man sie trennen?
Ich war so weit in meinen Forschungen gekommen, als mir ein Licht aus dem unermeßlichen Felde der Wissenschaft zu leuchten schien. Jetzt mehr wie je kam ich zur Erkenntnis der schwankenden Stofflosigkeit, der nebelhaften Vergänglichkeit unseres scheinbar festen Körpers. Ich machte die Entdeckung, dass es Mittel gibt, diese irdische Hülle zu zersetzen und wieder zusammenzufügen. Es gelang mir, ein Elixier herzustellen, das die beiden Naturen in mir trennte und eine zweite Gestalt erschuf, die in sich die niedrigen Elemente meiner Seele aufnahm.
Ich schwankte lange, ehe ich es wagte, meine Theorie in die Praxis zu übertragen. Ich wußte, dass ich in Todesgefahr schwebte, denn ich sagte mir, dass ein Medikament, das mächtig genug war, das Gehäuse meiner Seele zu erschüttern und zu verwandeln, im Falle der geringsten Unvorsichtigkeit oder eines ungünstigen Moments das ganze Gebäude zertrümmern konnte. Aber die Versuchung, eine so wunderbare Entdeckung wirklich zur Geltung zu bringen, überwand endlich alle Furcht.
Die zu dem Versuche notwendige Flüssigkeit hatte ich schon längst bereitet; ich verschaffte mir von einer Chemikalienfabrik ein gewisses Kristallsalz, welches nach meiner Überzeugung, die letzte notwendige Ingredienz war. An einem Abend, den ich jetzt verfluche, machte ich die Mischung fertig: ich sah, wie es gärte und kochte, und wie der Dampf aus dem Glase emporstieg, und als das Aufwallen vorüber war, nahm ich das Glas zur Hand, und mit erhöhtem Mut leerte ich es bis auf den Boden.
Unbeschreibliche Schmerzen zerrissen mir die Glieder, es war, als wenn meine Knochen von Mühlsteinen zermalmt würden, mir wurde übel, ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe, und ein Schrecken bemächtigte sich meiner, wie man ihn nur in der Todesstunde empfinden kann.
Nach und nach aber wichen aller Schmerz, jede beängstigende Empfindung von mir; es kam mir vor, als wenn ich von einer schweren Krankheit genesen; ein seltsames, unbeschreiblich neues und befriedigendes Gefühl bemächtigte sich meiner. Ich fühlte mich körperlich jünger, leichter, glücklicher, in mir gärte ein entzückender Leichtsinn; süße, verschwimmende, sinnliche Gebilde ohne Ende entfalteten sich vor mir wie ein wunderbares Panorama, die Fesseln gesellschaftlicher Verpflichtungen waren zersprengt, ich genoß eine ungeahnte Freiheit der Seele.
Zu gleicher Zeit fühlte ich, dass ich schlechter war, als je zuvor, ich frönte nur noch meinen bösen Leidenschaften, ich kannte keinen anderen Herrn mehr, und der bloße Gedanke erfrischte und erfreute mich wie ein Trunk feurigen Weines. Im Jubel dieser neuen Empfindungen streckte ich meine Arme aus; zum ersten Male bemerkte ich jetzt, dass meine ganze Gestalt bedeutend kleiner geworden war.
Ich hatte damals keinen Spiegel in meinem Zimmer. Die Nacht war beinahe verstrichen, der Morgen nahte; meine Dienerschaft lag in tiefem Schlafe. Im Übermut meines Triumphes entschloß ich mich, in das Vorderhaus, in meine Schlafstube, zu gehen. Ich durchschritt den Hof, wo die Sterne, wie ich mir dachte, mit Staunen und Verwunderung auf mich herniedersahen, das erste Geschöpf dieser Art, das sie je erblickt! Ich schlich die Treppe hinauf, durch die Gänge und trat in meine Schlafstube. Dort, im Spiegel, sah ich zum ersten Male die Gestalt von Edward Hyde.
Ich gebe hier nur einer Theorie Ausdruck, ich sage nicht, was ich weiß, nur was ich für wahrscheinlich halte. Die böse Seite meiner Natur, die ich jetzt verkörpert hatte, war weniger kräftig, weniger entwickelt, als die gute, die ich zeitweilig abgeworfen. Der größte Teil meines Lebens war bis dahin dem Kampfe für das Gute und Edle, der Selbstbeherrschung geweiht, die böse Natur war weniger in Tätigkeit getreten und folglich weniger erschöpft. Daher kam es denn, so vermute ich, dass Edward Hyde viel kleiner und dünner, aber auch viel jünger war, als Henry Jekyll.
Güte und Ruhe drückten sich auf dem Gesicht des einen aus, Bosheit und Tücke waren frech und trotzend auf die Stirn des anderen geschrieben. Das Böse, das Erbteil Adams, hatte auf diesen Körper den Stempel des Mißgestalteten, der Verwesung gedrückt.
Und doch, als ich auf die hässliche Missgeburt blickte, die mir aus dem Spiegel entgegen grinste, fühlte ich weder Abscheu noch Furcht; im Gegenteil, ich begrüßte sie wie einen Freund. Sie war ja auch ein Teil von mir selbst; sie erschien mir natürlich und menschlich, sie gewährte einen wahreren, bestimmteren Ausdruck des Geistes, der sie beseelte, als das unvollkommene Gesicht, in welchem sich die geteilten Naturen aussprachen.
Ich hatte recht; denn ich bemerkte, dass jedermann, der sich Edward Hyde näherte, von einem Gefühl des Schauderns und des Abscheus erfaßt wurde. Alle anderen, denen man im Leben begegnet, tragen in sich die doppelte Natur des Guten und des Schlechten; Edward Hyde allein in der ganzen Welt war die Verkörperung des positiv Bösen.
Ich verweilte einige Minuten vor dem Spiegel. Der zweite und wichtigere Versuch mußte noch gemacht werden. Es mußte sich herausstellen, ob ich meine Identität auf immer verloren hatte, ob ich aus dem Hause fliehen sollte, das mir nicht länger gehören konnte. Ich eilte zurück in meine Arbeitsstube. Ich bereitete den Trank, ich leerte das Glas, ich fühlte wieder die Schmerzen der Auflösung, ich kam zu mir in der Gestalt und mit dem Gesicht von Henry Jekyll.
In dieser Nacht hatte ich den verhängnisvollen Schritt getan, ich war am Kreuzwege angelangt und hatte den falschen Weg eingeschlagen. Hätte ich meine Entdeckung zu höheren Zwecken verwandt, hätte die Verwandlung unter dem Einfluß edler humaner Bestrebungen stattgefunden, so wäre ich wie ein Phönix hervorgestiegen; aus den Qualen der Auflösung und der Wiedergeburt wäre ich als ein Engel, anstatt eines Teufels hervorgegangen. Das Elixier hatte eine rein physische Wirkung; es öffnete das Tor meiner irdischen Klause. Als die Metamorphose zum ersten Male stattfand, schlummerte das Gute in mir; das Böse war wach, auf der Lauer, gierig die erste Gelegenheit zu ergreifen, und so kam es, dass das neugeborene Geschöpf Edward Hyde wurde.
Ich hatte also zwei Naturen und auch zwei Gestalten, die eine war die Verkörperung ungemischten Nebels, die andere war der alte Henry Jekyll, jenes seltsame Problem, an dessen Lösung ich längst verzweifelt war. Und so kam es denn, dass sich alles zum Bösen wandte.
Die Entdeckung des großen Geheimnisses verhinderte mich zwar nicht, meine Studien fortzusetzen, meine Patienten zu empfangen, aber der Dämon des Schlechten wurde mit jedem Tage stärker in mir. Jetzt, da es in meiner Macht war, die Gestalt des bekannten, ernsten, arbeitsamen Arztes und Professors in jedem Augenblicke abzuwerfen und in der des unbekannten Hyde hervorzutreten, setzte ich meinen sinnlichen Gelüsten keine Schranken mehr. Ich fand ein teuflisches Vergnügen in dieser Umwandlung, es war für mich etwas außerordentlich Humoristisches in diesem Doppelleben. Ich machte meine Vorbereitungen mit größter Sorgfalt. Ich nahm die Wohnung in Soho, möblierte sie nach meinem Geschmacke und mietete mir eine Haushälterin, ein gewissenloses niedriges Weib, das aber die Tugend der Verschwiegenheit besaß.
In meinem eigenen Hause gab ich der Dienerschaft Befehl, einem gewissen Herrn Hyde, den ich ihnen genau beschrieb, unumschränkte Freiheit zu gestatten, und um allem vorzubeugen, unternahm ich es, mich mehrere Male dort als Herr Hyde zu zeigen.
Es war auch zu dieser Zeit, dass ich das Testament aufsetzte, das dir soviel Sorge machte. Sollte Doktor Jekyll ganz verschwinden, so trat Herr Hyde die Erbschaft an. Und nun nach allen Seiten hin sicher gestellt, fing ich an, meine unbegrenzte Freiheit in vollstem Maße zu genießen.
Es gibt Menschen, die sich Banditen mieten, um Verbrechen zu begehen, und die somit jeder Gefahr entrinnen und ihren eigenen Ruf schützen. Ich war der erste, der aus reiner Lust am Bösen gesündigt hat.
Vor der Welt blieb ich der hochgeachtete, berühmte Arzt und öffentliche Wohltäter, zu jeder Zeit aber stand es mir frei, meine Rolle zu wechseln und mich gedankenlos in den Strudel der niederträchtigsten Leidenschaften zu stürzen. An Entdeckung war gar nicht zu denken, die Möglichkeit existierte nicht. Wenn ich nur wenige Augenblicke hatte, durch die Hintertür zu schlüpfen, das Elixier, das fertig auf dem Tische stand, zu trinken und Edward Hyde war verschwunden, wie ein Hauch vom Spiegel. An seiner Stelle fand man den ernsten, ruhigen Gelehrten, in seine Arbeiten vertieft, einen Mann, der über allen Verdacht erhaben war, den berühmten Doktor Henry Jekyll.
Die Ausschweifungen, denen ich mich früher als Jekyll hingab, waren niedriger Art; in Hyde wurden sie furchtbar, unbeschreiblich. Mitunter, wenn ich von meinen wüsten nächtlichen Vergnügungen zurückkam, staunte ich selbst über die Ungeheuerlichkeit meiner Laster. Der böse Geist, den ich aus meiner Seele heraufbeschworen und ungezügelt in die Welt geschickt, war die Verkörperung der Bosheit, der Niedertracht, ohne auch nur einen versöhnenden Zug; jeder Gedanke, jede Handlung war der niedrigsten Sinnlichkeit geweiht, mit tierischer Gier leerte er den Becher der Wollust bis auf den Boden; kalt und unbeugsam wie ein Stein.
Mitunter war Jekyll wohl von Grauen über die Niedertracht Hydes befallen, aber er beruhigte sich mit allerlei Spitzfindigkeiten. Es war Hyde, und Hyde allein, der schuldig war. Jekyll blieb derselbe, wie zuvor; seine guten Eigenschaften waren unvermindert; ja, er tat nach seinen Kräften alles, um das Böse, das Hyde getan, wieder gutzumachen und so schlummerte sein Gewissen wieder ein.
Ich kann mich nicht dazu bringen, Einzelheiten über das Schändliche von Hydes Lebenswandel niederzuschreiben. Ich will nur einiges erwähnen, um dir begreiflich zu machen, wie die Strafe langsam, aber sicher nahte.