cover

Meg Cabot

Keine Schokolade ist
auch keine Lösung

Buch

Es könnte alles so schön sein! Sommerferien und endlich den richtigen Mann an der Seite: Heather Wells ist glücklich! Doch trotz der Ferien ist der Campus des New-York-Colleges, Heathers Arbeitsplatz, voller kreischender Teenies, die am großen »Tania-Trace-Rock-Camp« teilnehmen, benannt nach der Dame, die gerade Heathers Ex geheiratet hat. Doch was Heather wirklich Kopfschmerzen bereitet, ist nicht die Frischangetraute ihres Ex’, sondern der Mord an dem Producer des Camps. Es ist schnell sehr offensichtlich, dass eigentlich Tania das Opfer sein sollte.

Grant Cartwright, der Chef des Plattenlabels, reagiert sofort, denn schließlich will er seine Schwiegertochter (und bestverdienendes Pferd im Stall) beschützen. Er heuert ausgerechnet seinen Sohn Cooper an, der nicht nur Privatermittler ist, sondern vor allem auch Heathers Freund, den Mörder dingfest zu machen. Heather sollte sich natürlich aus der Sache raushalten, aber irgendwie gerät sie doch mitten hinein, und als Tania sie in ein schockierendes Geheimnis einweiht, kann sie gar nicht mehr anders: Heather Wells ermittelt wieder!

Autorin

Meg Cabot stammt aus Bloomington, Indiana. Nach dem Studium wollte sie Designerin werden, jobbte währenddessen in einem Studentenwohnheim und schrieb ihren ersten Roman. Inzwischen ist Meg Cabot eine international höchst erfolgreiche Bestsellerautorin. Sie lebt mit ihrem Ehemann in New York City und Key West.

Von Meg Cabot bei Blanvalet lieferbar:

Heather Wells – Amateurdetektivin wider Willen:
Darf’s ein bisschen mehr sein? · Schwer verliebt ·
Mord au Chocolat

Lizzie Nichols – Eine Frau ist nicht zu bremsen:
Aber bitte mit Schokolade · Naschkatze ·
Hokus, Pokus, Zuckerkuss

Traummänner und andere Katastrophen:
Um die Ecke geküsst · Der will doch nur spielen ·
Aber bitte für immer

Meena Harper – Liebe mit Biss: Eternity · Endless

Perfekte Männer gibt es nicht

Jenseits

Meg Cabot

Keine Schokolade ist
auch keine Lösung

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Claudia Geng


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Die Originalausgabe erschien 2012
unter dem Titel »Size 12 and Ready to Rock« bei William Morrow,
an imprint of HarperCollinsPublishers, New York

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Januar 2014 bei Blanvalet Verlag,

einem Unternehmen der

Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © 2012 by Meg Cabot

Copyright © 2014 für die deutsche Ausgabe

by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: © www.bürosüd.de

Umschlagfoto: Getty Images/Taxi/Catherine LednerDoyle;
Getty Images/Blend Images/JGI/Jamie Grill

Redaktion: Margit von Cossart

LH ∙ Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-10981-3
V002


www.blanvalet.de

1

Leave Alone

I’ve been called a fattie

I’ve been called big-boned

I’ve been called a leave-alone

As in »leave that one alone«

Sometimes love can suck

It can really, really suck

Sometimes love can suck

The life right out of you

Even fatties feel things

Big gals feel things too

And leave-alones feel so alone

Their hearts can break in two

Sometimes love can suck

It can really, really suck

But life has sucked a lot less

Since I finally met you

Leave alone
Von Heather Wells

Ich rase die Treppe hoch in den ersten Stock, und mein Herz hämmert – ich bin eine Walkerin, keine Läuferin. Ich vermeide es nach Möglichkeit zu rennen, außer in einem Notfall, und dem Anruf nach zu urteilen, den ich erhalten habe, ist das hier einer. Der Flur liegt dunkel und verwaist vor mir. Ich kann nichts sehen außer dem blutrot leuchtenden EXIT-Schild am anderen Ende. Ich kann nichts anderes hören als das Geräusch meines eigenen schweren Atems.

Trotzdem, sie sind hier. Ich spüre es. Nur wo?

Dann dämmert es mir. Natürlich. Sie sind hinter mir.

»Gebt auf«, brülle ich und kicke die Tür zur Studentenbibliothek auf. »Macht euch auf was gefasst …«

Die Kugel trifft mich in den Rücken. Der Schmerz schießt durch meine Wirbelsäule.

»Ha!«, ruft ein Maskierter, der aus einer Nische hervorspringt. »Ich hab dich erwischt! Du bist tot. So was von tot!«

Regisseure läuten den Tod ihrer Heldin oft mit Rückblenden von den bedeutendsten Momenten in deren Leben ein, von der Geburt bis zur Gegenwart. Aber seien wir ehrlich: Wer kann sich schon an seine eigene Geburt erinnern?

In meinem Fall passiert das nicht. Während ich sterbend dastehe, kann ich nur an Lucy denken, meinen Hund. Wer kümmert sich um ihn, wenn ich nicht mehr da bin?

Cooper. Natürlich, Cooper, mein Vermieter und neuer Verlobter. Gut, unsere Verlobung ist nicht mehr ganz so neu – es ist drei Monate her, dass Cooper um meine Hand angehalten hat. Nicht dass wir jemandem von unseren Hochzeitsplänen erzählt hätten … Cooper möchte nämlich heimlich heiraten, um seine unerträgliche Familie nicht einladen zu müssen. Und Lucy hat sich so sehr daran gewöhnt, Cooper in meinem Bett vorzufinden, dass sie für ihr Frühstück und ihre Morgenrunde immer direkt zu ihm geht, weil er ein Frühaufsteher ist und ich … nicht.

Tatsächlich geht Lucy inzwischen für alles zuerst zu Cooper, weil er oft von zu Hause aus arbeitet und somit viele Stunden am Tag mit ihr verbringt, während ich hier in der Fischer Hall bin. Um die Wahrheit zu sagen, Lucy scheint Cooper lieber zu mögen als mich. Sie ist eine kleine Verräterin.

Lucy wird gut versorgt werden, wenn ich tot bin. Sie wird wahrscheinlich nicht einmal merken, dass ich nicht mehr da bin. Das ist so entmutigend – oder vielleicht auch ermutigend –, dass meine Gedanken zu meiner Puppensammlung abschweifen. Es ist peinlich, wenn jemand, der knapp dreißig ist, Puppen sammelt. Aber ich tue das. Ich habe mehr als zwei Dutzend, eine aus jedem Land, in dem ich mal auftrat, als ich noch eine schrecklich überkandidelte Teenie-Popsängerin war. Da ich mich in keinem dieser Länder lange genug für Besichtigungstouren aufhielt, sondern nur, um im dortigen Frühstücksfernsehen aufzutreten und ein Konzert zu geben, gewöhnlich als Vorprogramm von Easy Street, einer der populärsten Boygroups aller Zeiten, kaufte meine Mutter mir an jedem Flughafen-Souvenirshop eine Puppe in der jeweiligen Landestracht. Sie behauptete, das sei sowieso besser, als die Koalas in Australien zu besuchen oder die buddhistischen Tempel in Japan oder die Vulkane in Island oder die Elefanten in Südafrika und so weiter, weil es Zeit sparen würde.

Das alles war natürlich, bevor mein Vater wegen Steuerhinterziehung verhaftet wurde und meine Mutter praktischerweise etwas mit meinem Manager Ricardo anfing, um dann außer Landes zu fliehen – das Geld von meinen Sparkonten hat sie natürlich mitgenommen.

Du armes Kind, lautete Coopers Kommentar, als er die erste Nacht in meinem Zimmer verbrachte und sein Blick auf die Puppen fiel, die auf einem Wandregal hockten und zu uns herunterstarrten. Als ich ihm erklärte, woher sie stammten und dass ich all die Jahre an ihnen festgehalten hatte, weil sie alles waren, was mir von meiner zerrütteten Karriere und Familie geblieben war, auch wenn mein Vater und ich versucht hatten, uns wieder einander anzunähern, seit er aus dem Gefängnis entlassen worden war, schüttelte Cooper nur mit dem Kopf. Du armes, armes Kind, sagte er noch einmal.

Ich darf nicht sterben, wird mir plötzlich bewusst. Selbst wenn Cooper sich tatsächlich um Lucy kümmert, wird er nicht wissen, was er mit meinen Puppen anfangen soll. Ich muss leben, zumindest so lange, bis ich sichergestellt habe, dass meine Puppen zu jemandem kommen, der sie zu würdigen weiß. Vielleicht zu jemandem aus dem Heather-Wells-Fanclub. Die Seite auf Facebook hat knapp zehntausend Likes.

Aber bevor ich dazu komme, mir darüber Gedanken zu machen, wie ich das bewerkstellige, springt direkt vor mir eine zweite maskierte Gestalt hinter einer Couch hervor.

»O nein!«, schreit sie und schiebt ihre Schutzbrille hoch. Ich bin mehr als nur ein bisschen erstaunt, als ich sehe, dass es Jamie Price ist, eine Studentin. Sie wirkt entsetzt. »Gavin, das ist Heather. Du hast Heather erwischt! Heather, tut mir furchtbar leid. Wir haben nicht gewusst, dass Sie es sind.«

»Heather?« Gavin schiebt seine eigene Maske hoch, dann lässt er seine Waffe sinken. »Oh, shit. Mein Fehler.«

Ich schließe aus seinem »mein Fehler«, dass Gavin die Schuld auf sich nimmt dafür, dass ich an der großkalibrigen Kugel sterben werde, die er mir in den Rücken gejagt hat. Er tut mir ein bisschen leid, weil ich weiß, wie viel ich ihm bedeute, vielleicht sogar mehr als seine Freundin Jamie. Gavin wird wahrscheinlich eine jahrelange Therapie brauchen, um darüber hinwegzukommen, dass er mich aus Versehen getötet hat. Er schien nämlich an seiner Rolle in unserer Mai-bis-Dezember-Romanze Gefallen gefunden zu haben, die nur in seiner Einbildung existiert hat, weil unsere Liebe niemals Wirklichkeit werden kann. Gavin ist ein Filmstudent, und ich liebe Cooper Cartwright. Außerdem bin ich die stellvertretende Leiterin eines Studentenwohnheims, und es verstößt gegen die Vorschriften für Verwaltungsangestellte des New York College, mit Studenten zu schlafen.

Nun wird aus unserer Romanze natürlich definitiv nie etwas werden, weil Gavin mich erschossen hat. Ich spüre, wie mir das Blut den Rücken hinunterrinnt.

Ich bin mir nicht sicher, warum ich noch fähig bin zu stehen, angesichts des Umstands, dass meine Wirbelsäule zerschmettert ist. Es ist schwer zu erkennen, wie tief die Wunde ist, da die Bibliothek in Dunkelheit gehüllt ist. Es dringt nur ein wenig Außenlicht durch die ehemals eleganten Flügelfenster herein, durch die man die Schachtische im Washington Square Park eine Ebene tiefer sehen kann.

»Gavin«, sage ich mit schmerzverzerrter Stimme. »Würdest du dafür sorgen, dass meine Puppen an jemanden gehen, der …«

Augenblick.

»Ist das Farbe?«, frage ich, während ich meine Finger dicht vor mein Gesicht halte, um sie genauer zu untersuchen.

»Es tut uns furchtbar leid«, sagt Jamie verlegen. »Auf der Packung steht, dass die Farbe sich aus den meisten Stoffen ganz leicht rauswaschen lässt.«

»Ihr spielt Paintball im Haus?« Ich habe kein Mitleid mehr mit Gavin. Tatsächlich entwickle ich gerade eine Stinkwut auf ihn. »Und ihr denkt, ich mache mir Sorgen wegen meiner Klamotten

»Ja … nein …«

Obwohl, ehrlich gesagt ist diese Bluse zufällig eins meiner Lieblingsstücke. Sie sitzt locker an den Stellen, die ich nicht unbedingt betonen möchte, ohne mich schwanger aussehen zu lassen, und lenkt das Augenmerk auf die Bereiche, die ich den Leuten gern präsentiere –Dekolleté – meins ist perfekt. Das sind extrem seltene Eigenschaften einer Bluse. Hoffentlich hat Jamie recht, und die Farbe geht tatsächlich wieder raus.

»Großer Gott, Leute. Ihr könntet jemandem ein Auge ausschießen!«

Es ist mir egal, dass ich wie die Mutti in einem dieser Weihnachtsfilme klinge. Ich bin echt sauer. Ich war gerade drauf und dran, Gavin McGoren zu bitten, meine Sammlung von Puppen aus aller Herren Länder in seine Obhut zu nehmen.

»Ach, kommen Sie, Heather«, sagt Gavin und sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Auf Sie ist schon mit echter Munition geschossen worden. Und jetzt machen Sie Terz wegen so ein bisschen Farbe?«

»Ich habe mich niemals freiwillig in eine Situation begeben, in der man mich mit echter Munition beschossen hat«, kläre ich ihn auf. »Das gehört nicht zu meiner Jobbeschreibung. Es scheint mir nur einfach öfter zu passieren. Würdest du mir nun bitte erklären, warum der Sicherheitsdienst an einem Sonntagabend bei mir zu Hause anruft und mich darüber informiert, dass es eine Beschwerde gibt wegen einer nicht genehmigten Feier, auf der angeblich jemand das Bewusstsein verloren hat und die in einem Gebäude stattfindet, das eigentlich in den Sommerferien wegen Renovierungsarbeiten leer steht, sieht man mal von den Werkstudenten ab?«

Gavin macht ein beleidigtes Gesicht. »Das ist keine Feier«, sagt er. »Das ist ein Paintball-Gefecht.« Er hält sein Gewehr hoch, als würde das alles erklären. »Der Fischer-Hall-Empfang und die anderen Aushilfen gegen die studentische Malerkolonne. Hier.« Er taucht kurz hinter der Couch ab und kommt dann wieder vor, um ein weiteres Paintball-Gewehr, eine Schutzmaske und einen Overall – sicher gestohlen von der Malerkolonne – zusammen mit diversen anderen Ausrüstungsteilen in meinen Armen zu stapeln. »Da Sie ja jetzt sowieso hier sind, können Sie bei uns im Team mitspielen.«

»Warte. Das ist also das, was ihr mit dem Geld angefangen habt, das ich euch aus der Portokasse gegeben habe?«

Ich bin kaum fähig, meinen Abscheu zu verbergen. Ich weiß aus dem Sommerkurs, für den ich mich eingeschrieben habe, dass das menschliche Gehirn bis Mitte zwanzig braucht, um seine volle Reife und strukturelle Entwicklung zu erlangen, was der Grund dafür ist, dass junge Menschen oft so fragwürdige Entscheidungen treffen. Aber Paintball zu spielen in einem Studentenwohnheim? Das ist eine saudämliche Idee, selbst für Gavin McGoren.

Ich werfe die Paintball-Ausrüstung auf die Couch. »Das Geld war für eine Pizzaparty bestimmt«, sage ich. »Weil ihr rumgejammert habt, dass am Sonntag alle Kantinen geschlossen haben und ihr nicht genügend Kohle habt, um euch was zu essen zu kaufen. Schon vergessen?«

»O nein, nein«, beteuert Jamie. Für so ein kräftiges Mädchen, wie sie eines ist, klingt ihre Stimme manchmal schrecklich kindisch, vielleicht weil sie diese am Ende ihrer Sätze häufig wie bei einer Frage hebt. »Wir haben das Geld nicht für die Paintball-Ausrüstung ausgegeben. Die haben wir uns im Sports Center ausgeliehen? Ich wusste vorher gar nicht, dass die dort so was haben – wahrscheinlich weil die Sachen in der Vorlesungszeit immer ausgeliehen sind, wenn es auf dem Campus voll ist? Aber das Leihen hat nichts gekostet. Man muss dafür nur seinen Ausweis hinterlegen.«

»Natürlich«, brumme ich.

Warum sollten die wohlhabenden Alumni ihrem College nicht Geld für die Anschaffung von Paintball-Ausrüstungen spenden, die sich die Studenten gratis ausleihen können? Gott bewahre, dass sie für etwas Nützliches spenden wie zum Beispiel für ein wissenschaftliches Labor.

»Ja«, sagt Gavin. »Wir haben die Kohle wirklich für Pizza ausgegeben. Und für Getränke.« Er hält die restlichen drei Bierdosen hoch, die an den Plastikringen eines Sixpacks hängen. »Möchten Sie auch eins? Nur das beste amerikanische Lagerbier für meine Zuckerschnecken.«

Ich spüre ein brennendes Gefühl im Magen. Es hat nichts mit der Farbpatrone zu tun, von der ich getroffen wurde. »Bier? Ihr habt Bier gekauft von dem Geld, das ich euch für Pizza gegeben habe?«

»Das ist Pabst Blue Ribbon«, sagt Gavin sichtlich verwirrt. »Ich dachte, coole Singer-Songwriterinnen lieben PBR.«

Vielleicht weil Jamie die Wut in meinen Augen lodern sieht, kommt sie zu mir herüber und umarmt mich.

»Vielen Dank, Heather, dass ich in den Sommerferien hier wohnen darf«, sagt sie. »Wenn ich sie zu Hause in Rock Ridge bei meinen Eltern verbringen müsste, wäre das mein Tod? Wirklich. Sie haben ja keine Vorstellung, was Sie für mich getan haben. Sie haben mir die Flügel gegeben, die ich zum Fliegen brauche? Sie sind die beste Chefin aller Zeiten, Heather.«

Ich habe eine ziemlich klare Vorstellung davon, was ich Jamie gegeben habe, und es sind definitiv keine Flügel. Vielmehr sind es zwölf Wochen freie Verpflegung und Unterkunft im Austausch für zwanzig Arbeitsstunden in der Woche. Jamie soll die Post der Bewohner weiterleiten, die im Sommer nach Hause gefahren sind. Nun braucht Jamie, anstatt jedes Mal in die City pendeln zu müssen, wenn sie sich mit Gavin heimlich trifft (ihre Eltern akzeptieren ihn nicht, weil sie der Meinung sind, dass ihre Tochter etwas Besseres haben kann als einen vergammelt aussehenden Filmstudenten), nur noch ihre Zimmertür zu öffnen und ein kleines Stück den Gang entlangzugehen bis zu Gavins Tür, da ich ihm (unklugerweise, wie ich nun erkannt habe) denselben süßen Deal angeboten habe.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass deine Eltern dir nicht zustimmen würden, dass ich die beste Chefin aller Zeiten bin«, sage ich, während ich ihrer Umarmung standhalte. »Ich bin mir außerdem sicher, wenn jemand aus der oberen Etage von dieser Paintball-Schlacht und dem Bier erfährt, werde ich niemandes Chefin mehr sein.«

»Was können die Ihnen schon anhaben?«, entrüstet Gavin sich. »Wir sind in einem Gebäude, das den Sommer über geschlossen hat und das innen sowieso komplett neu gestrichen wird, und außerdem sind wir alle über einundzwanzig. Niemand tut hier etwas Illegales.«

»Sicher«, sage ich spöttisch. »Genau deshalb hat mich der Sicherheitsdienst verständigt. Weil hier niemand etwas Illegales tut.«

Gavin zieht eine Grimasse, die mit der Schutzmaske, die immer noch auf seinen Kopf geschoben ist, besonders makaber wirkt.

»War das Sarah?«, fragt er. »Sarah ist diejenige, von der die Beschwerde kommt, nicht? Sie nervt uns nämlich ständig damit, dass wir leiser sein sollen, weil sie gerade versucht, ihre Masterarbeit oder was auch immer abzuschließen. Hab ich’s doch gewusst, dass sie das hier nicht cool nehmen würde.«

Ich gebe keinen Kommentar dazu ab. Ich habe keine Ahnung, wer ihn und die anderen bei der Campus-Polizei verpfiffen hat. Gut möglich, dass es Sarah Rosenberg war, Bewohnerin und Seniorassistentin der Fischer Hall, zuständig für Notfälle in der Nacht und dafür, der Heimleitung bei Abendeinsätzen zu assistieren. Nach dem Ableben des letzten Direktors hat die Fischer Hall allerdings leider keine Heimleitung mehr, der Sarah assistieren könnte. Sie hilft mir, das studentische Personalgewusel zu beaufsichtigen, während wir darauf warten, dass man entscheidet, wer unser neuer Wohnheimdirektor wird. Ich habe Sarah bereits eine Nachricht hinterlassen – es ist merkwürdig, dass sie nicht an ihr Handy gegangen ist, weil sie zurzeit an Sommerkursen teilnimmt und daher gewöhnlich in ihrem Zimmer büffeln sollte. Sie hat nichts anderes zu tun, als zu lernen, obwohl sie vor ein paar Monaten ihren allerersten festen Freund gefunden hat.

»Hört zu, Leute«, sage ich und ziehe mein Handy heraus, um es noch einmal bei Sarah zu probieren. »Ich habe euch das Geld nicht für Bier gegeben, das wisst ihr genau. Wenn hier im Gebäude tatsächlich jemand das Bewusstsein verloren hat, müssen wir ihn sofort finden und uns vergewissern, dass es nichts Ernstes ist.«

»Oh, sicher«, sagt Jamie mit besorgtem Blick. »Aber das kann nicht am Alkohol liegen. Wir haben nur zwei Sixpacks gekauft.«

»Na ja, aber die Basketballer haben eine Flasche Wodka mitgebracht«, gesteht Gavin verlegen.

»Gavin!«, fährt Jamie ihn an.

Ich fühle mich, als wäre ich tatsächlich angeschossen worden, nur dieses Mal in den Kopf statt in den Rücken und mit einer echten Kugel. Das entspricht nämlich dem Ausmaß der Migräne, die sich gerade hinter meinem linken Augapfel entfaltet.

»Was?«, kreische ich.

»Na ja, es ist nicht so, als hätte ich sie daran hindern können.« Gavins Stimme hebt sich eine Oktave. »Haben Sie schon mal gesehen, was für Brecher das sind? Dieser eine Russe, dieser Magnus, bringt es auf zwei Meter zehn. Was hätte ich denn zu ihm sagen sollen? Njetski mit dem Vodkaski

Jamie überlegt kurz. »Heißt das nicht njet? Und Vodka? Ich meine, das sind russische Begriffe.«

»Großartig«, sage ich und wende mich von ihnen ab, während ich auf Wahlwiederholung drücke und erneut bei Sarah anklingele. »Falls einer von diesen Jungs die bewusstlose Person ist, werden wir ihn nicht einmal auf eine Trage hieven können. Also, wo hält sich das Basketballteam im Moment auf?«

Gavin zieht etwas aus seiner Overalltasche und geht begeistert in Richtung Fenster. Im Schein der Außenlaternen sehe ich, dass er einen Grundriss des Gebäudes auseinanderfaltet. Dieser ist mit geheimnisvollen Zeichen versehen, die mit rotem Filzstift geschrieben sind, vermutlich ein Schlachtplan für heute Abend. Der stechende Schmerz hinter meinem Auge wird noch heftiger. Ich sollte jetzt eigentlich mit einem Essen vom Chinesen gemütlich zu Hause sitzen und mir mit meinem Freund Freaky Eaters anschauen, unsere Sonntagabendtradition, obwohl Cooper aus irgendeinem Grund nicht erkennt, wie genial diese Serie ist, und lieber 60 Minutes sehen möchte oder, wie er es gern nennt, »die Sendung, in der keine Essgestörten vorkommen«.

»Wir werden uns wahrscheinlich aufteilen müssen, um sie zu finden«, sagt Gavin und nimmt einen schnellen Schluck aus seiner Bierdose, bevor er auf einen Punkt auf dem Grundriss zeigt. »Wir haben hier in der Bibliothek einen Bunker errichtet, weil wir so jeden hören können, der die Treppe aus der Lobby raufkommt oder den Lastenaufzug benutzt. Wir nehmen an, Team Malerkolonne hat sich irgendwo im Erdgeschoss verkrochen, höchstwahrscheinlich in der Cafeteria. Aber es könnte sich auch im Keller verstecken, möglicherweise im Spielzimmer. Mein Vorschlag lautet, wir gehen runter, schalten sie alle auf einmal aus und gewinnen das Spiel …«

»Warte«, sagt Jamie. »Habt ihr das gehört?«

»Ich habe nichts gehört«, erwidert Gavin. »Also, hier ist der Plan. Jamie, du nimmst die Hintertreppe zur Cafeteria. Heather, Sie nehmen die Vordertreppe und sehen nach, ob sich irgendjemand im Keller versteckt.«

»Du hast wohl bei deinen Film-Workshops in der Dunkelkammer zu viele Chemikalien eingeatmet«, sage ich. Mein Anruf bei Sarah landet wieder auf der Mailbox. Frustriert lege ich auf, ohne eine weitere Nachricht zu hinterlassen. »Ich spiele nicht mit.«

»Heather, Heather, Heather«, sagt Gavin tadelnd. »Filme werden heutzutage doch nur noch digital hergestellt. Niemand benutzt mehr eine Dunkelkammer oder Chemikalien. Und Sie spielen ganz sicher mit. Wir haben Sie getötet, also sind Sie jetzt unsere Gefangene und müssen tun, was wir sagen.«

»Ernsthaft«, sagt Jamie. »Habt ihr das nicht gehört?«

»Wenn du mich getötet hast, heißt das, ich bin tot«, sage ich. »Also kann ich auch nicht mitspielen.«

»So lauten aber die Regeln«, erwidert Gavin. »Also, wir werden die da unten folgendermaßen hochnehmen: Wir schleichen uns durch das Büro in die Cafeteria und gehen hinter der Salatbar in Deckung …«

»McGoren«, sagt eine tiefe, maskuline Stimme aus der Dunkelheit des Flurs.

Gavin hebt den Kopf.

»Niemand schießt auf Heather und kommt damit davon«, sagt mein Verlobter Cooper, der in diesem Moment aus dem Schatten hervortritt.

Dann drückt er ab.

2

Once in a While

Once in a while you regret the road not taken

Start giving up on the plans you made

Once in a while you feel so forsaken

Wondering why so many took, not gave

Once in a while you ask, how could this happen?

How did I end up in these shoes?

But once in a while you meet a special someone

Someone who chose the same path as you

And suddenly it stops feeling so lonely

Out on that road that you just had to choose

And that’s when you know it all was worth it

Because once in a while dreams do come true

Once in a while
Von Heather Wells

»Ich hab dir doch gesagt, dass ich was gehört habe«, sagt Jamie und lacht über Gavins verdutzte Miene, während er auf den knallgrünen Farbklecks vorn auf seinem weißen Overall starrt.

»Uncool, Mann«, sagt Gavin finster. »Sie sind nicht mal offiziell in einem Team.«

»Woher hast du das Paintball-Gewehr?«, frage ich, als Cooper zu mir herüberkommt und den Arm um mich legt.

»Das hat mir der nette junge Mann am Empfang gegeben, als ich ihn gefragt habe, wo ich dich finden kann«, erwidert er. »Er meinte, das würde ich brauchen, um mich zu verteidigen.«

Mir wird nachträglich bewusst, dass Mark, der Student, der gerade Rezeptionsdienst hat, mir etwas hinterherrief, als ich die Treppe hochstürmte. Ich hatte es allerdings zu eilig, um ihn anzuhören.

»Was machst du hier?«, frage ich. Cooper gibt mir einen Kuss auf den Kopf. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich gleich wieder zurück sein werde.«

»Ja, das sagst du jedes Mal, wenn du am Wochenende hierherzitiert wirst«, erwidert Cooper trocken. »Und dann vergehen drei Stunden, bis ich dich wieder zu Gesicht bekomme. Ich dachte mir, ich werde die Sache dieses Mal beschleunigen. Du verdienst in diesem Job nicht genug, um rund um die Uhr auf Abruf zur Verfügung zu stehen, Heather.«

»Als wüsste ich das nicht selbst«, sage ich.

Mein Jahresgehalt als stellvertretende Leiterin eines Studentenwohnheims liegt tatsächlich unterhalb der offiziellen Armutsgrenze in den USA, nachdem das Finanzamt und der Bundesstaat New York sich ihren Anteil eingesackt haben. Zum Glück sind die Gesundheitsleistungen und das Paket an Vergünstigungen für Angestellte des New York City College hervorragend, und außerdem kann ich dank meines Nebenjobs unentgeltlich wohnen – ich mache die Buchhaltung für meinen Vermieter, der nun sein Luftdruckgewehr nachlädt.

Ich will nicht lügen: Obwohl ich Kriegsspiele in Wohnheimen ablehne, ist die Wirkung unbestreitbar sexy. Natürlich musste Cooper den Umgang mit Schusswaffen erlernen, um seine Prüfung zum Privatermittler beim Staat New York abzulegen, trotzdem besitzt er keine eigene Waffe. Er hat mir versichert, dass das wahre Leben als Privatdetektiv nichts damit gemein hat, wie es in Film und Fernsehen dargestellt wird. Wenn Cooper nicht zu Hause im Internet recherchiert, sitzt er in seinem Wagen und fotografiert Leute, die ihren Ehepartner betrügen. Das ist eine beruhigende Vorstellung, weil ich mir Sorgen machen würde, wenn ich wüsste, er ist da draußen, und jemand schießt auf ihn, und er erwidert das Feuer.

»Dieses Mal ist es was Ernstes«, erkläre ich ihm. »Der Campus-Polizei ist eine nicht genehmigte Feier gemeldet worden …«

»Was du nicht sagst«, spottet Cooper, während er die Bierdosen mustert.

»… und eine bewusstlose Person«, fahre ich fort. »Offenbar weiß keiner, von wem die Anzeige kam. Sarah geht nicht an ihr Handy, und die anderen verstecken sich alle irgendwo im Gebäude und liefern sich ein Paintball-Gefecht.«

Ich möchte vor den Bewohnern nicht den Eindruck erwecken, dass ich für meinen Job nicht tauge, aber die Wahrheit ist, dass ich nicht genau weiß, wie ich mit der Situation umgehen soll. Ich bin schließlich nur die Stellvertreterin der Heimleitung.

Cooper hat solche Bedenken nicht. »Gut«, sagt er und richtet sein Gewehr auf Gavin und Jamie. »Neuer Schlachtplan. Ihr seid nun alle meine Gefangenen, was bedeutet, dass ihr tun müsst, was ich sage.«

Ich kann nicht verhindern, dass mir ein leises Keuchen entweicht. Früher malte ich mir gern in meiner Fantasie aus, die Gefangene von Cooper Cartwright zu sein und ihm gezwungenermaßen gehorchen zu müssen. Volles Geständnis: Handfesseln kamen darin auch vor. Und nun werden meine Fantasien wahr! Na ja, mehr oder weniger. Es ist in letzter Zeit typisch für mein Glück, dass ein paar Studenten dazwischenfunken und es ruinieren.

»Wir trommeln jetzt die anderen Spieler zusammen«, sagt Cooper. »Vergewissert euch, dass keiner fehlt. Und dann werde ich jeden, der Interesse hat, in den Thai-Imbiss einladen.«

Gavin und Jamie stöhnen, was ich ziemlich unhöflich finde, berücksichtigt man, dass mein Freund gerade angeboten hat, ihnen ein Abendessen zu spendieren. Was stimmt nicht mit den Kids von heute? Wer rennt schon lieber herum und schießt mit Farbe aufeinander, statt ein leckeres Pad Thai zu essen?

»Ist das Ihr Ernst?«, fragt Gavin. »Ausgerechnet jetzt, wo wir so dicht davorstehen, das Basketballteam zu erledigen?«

»Ja, ich kann sehen, wie dicht ihr davorsteht«, erwidert Cooper. Einer seiner Mundwinkel ist spöttisch nach oben gezogen. »Aber wenn ich richtig verstanden habe, hängt Heather an ihrem Job, und ich finde, sie sollte ihn nicht riskieren, indem sie sich außerhalb ihrer Arbeitszeit mit Studenten verbrüdert, die alkoholisiert sind und mit Luftdruckgewehren herumballern.«

Ich starre meinen zukünftigen Ehemann im Halbdunkel an. Ich glaube, ich habe mich gerade noch ein bisschen mehr in ihn verliebt. Vielleicht hätte er doch gewusst, was er mit meinen Puppen anfangen soll.

Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf mein Handy – ernsthaft, wo steckt Sarah? Es sieht ihr überhaupt nicht ähnlich, dass sie mich nicht sofort zurückruft. Während ich überlege, wie ich mich bei Cooper revanchieren kann, sobald wir wieder zu Hause sind (Handfesseln werden definitiv dazugehören), hören wir im Flur Schritte. Dem Geräusch nach zu urteilen sind sie männlich. Und energisch.

»Da sind sie«, flüstert Gavin. Er schnappt sich einen Munitionsbehälter zum Nachladen. »Die Stiefmütterchen …«

Er meint das nicht beleidigend. »Stiefmütterchen« ist der Name des New-York-College-Basketballteams. Ein Betrugsskandal in den Fünfzigerjahren führte dazu, dass die ehemaligen »Berglöwen« aus der Division eins, der höchsten College-Liga, in die Division drei, die niedrigste Liga, zurückgestuft wurden und man sie nach einer Blume umbenannte.

Man sollte meinen, dies wäre dem College eine Lektion gewesen, aber mitnichten. Erst in diesem Frühjahr bekam mein Chef Stan Jessup ein Memo aus dem Büro des Präsidenten des New York College, Phillip Allington, zugespielt. Darin wurde er aufgefordert, dafür zu sorgen, dass die Spieler unseres Basketballteams während der Sommerferien freie Verpflegung und Unterkunft erhielten, da einige von ihnen aus so fernen Ländern wie Georgien kamen und die Kosten für einen Flug in die Heimat zu aufwendig waren, als dass ihre Familien diese hätten stemmen können. So kam es, dass nun ein Dutzend Stiefmütterchen für den Sommer in der Fischer Hall wohnen.

Da die aktuellen Bestimmungen der NCAA, der National Collegiate Athletic Association, strengstens untersagen, Spieler mit Geld oder Sachgeschenken zu versorgen – und ganz besonders nicht Spieler aus der dritten Division mit Sportstipendien jeglicher Art –, löste dieses Memo aus dem Präsidentenbüro das aus, was als »Stiefmütterchenskandal« bekannt wurde … Obwohl ich persönlich nicht verstehe, wie freie Verpflegung und Unterkunft als Gegenleistung für das Streichen von fast dreihundert Zimmern als ein »Geschenk« betrachtet werden kann.

»Diese Basketballidioten haben noch nicht mitbekommen, dass wir hier drin sind«, flüstert Gavin. »Bitte, darf ich sie abknallen?«

Jamie fügt ein inbrünstiges »Bitte?« hinzu.

Cooper schüttelt den Kopf. »Nein!«

Es ist zu spät. Als die Bibliothekstür aufschwingt, hebt Gavin sein Paintball-Gewehr und feuert …

… auf Simon Hague, Leiter der Wasser Hall, erbittertster Konkurrent der Fischer Hall und mein persönlicher Erzfeind im Kollegenkreis.

Simon kreischt auf beim Anblick der Farbe, die sich vorn auf seinem schicken schwarzen Polohemd ausbreitet. Sein Begleiter – ein Campus-Sicherheitsbeamter, seiner Mütze nach zu urteilen – wirkt auch nicht gerade glücklich über die knallgelben Farbspritzer, die seine babyblaue Uniform in Mitleidenschaft gezogen haben.

Jamie, die als Erste den Fehler ihres Freunds erkennt, keucht entsetzt, dann sagt sie zu den beiden Männern etwas Ähnliches wie das, was sie zu mir gesagt hat: »Das geht mit warmem Wasser wieder raus!«

Einerseits würde ich am liebsten laut loslachen, andererseits habe ich das Bedürfnis, mich auf der Stelle in Luft aufzulösen. Simon ist, wie mir nachträglich einfällt, an diesem Wochenende der Chef vom Dienst, was bedeutet, dass er genau wie ich über die nicht genehmigte Feier und den bewusstlosen Studenten verständigt wurde. Wenn ich vorher noch nicht tot war, dann bin ich es jetzt, zumindest karrieretechnisch.

»Was ist hier los?«, fragt Simon und tastet an der Holzvertäfelung entlang nach dem Lichtschalter.

Versteckt das Bier, bete ich stumm. Einer muss das Bier verstecken, schnell.

»Hi«, sage ich und trete vor. »Simon, ich bin es, Heather. Wir machen hier nur gerade eine Teambuilding-Übung. Tut mir furchtbar leid wegen des …«

»Eine Teambuilding-Übung?«, unterbricht Simon mich. Er versucht immer noch, den Lichtschalter zu finden. »Dieses Gebäude steht eigentlich den ganzen Sommer über leer. Was für ein Team wollen Sie hier also bilden, und dazu noch an einem Sonntagabend?«

»Nun, das Gebäude steht nicht wirklich leer«, erwidere ich. Ich sehe aus dem Augenwinkel mit Erleichterung, dass Gavin die PBR-Sixpacks diskret hinter die Couch schiebt. »Dr. Jessup hat angeordnet, dass der Empfang im Sommer geöffnet bleibt. Darum ist das Personal für die Rezeption und für die Verteilung der Post natürlich noch hier und außerdem ein paar studentische Aushilfen wegen der …«

… Basketballer, wollte ich sagen. Da Dr. Jessup bewusst war, dass die Lieblingsstudenten des College-Präsidenten während der Sommerferien in der Fischer Hall wohnen würden, hatte er mich gebeten, dafür zu sorgen, dass die Spieler, die schließlich in erster Linie Studenten waren und in zweiter Linie Sportler, ständig beaufsichtigt wurden. Also habe ich dafür gesorgt, mithilfe von sieben weiteren Studenten, die genauso während der Sommerferien freie Unterkunft erhalten als Gegenleistung für Arbeitsstunden in meinem Büro oder am Empfang, aber eben auch dafür, dass sie ein Auge auf die Stiefmütterchen haben.

Aber Simon lässt mich wieder nicht ausreden. »Für die Verteilung der Post?« Er klingt erbost.

Mir fällt ein, dass er in einem Personalmeeting, in dem wir Möglichkeiten erörtern sollten, wie das College Geld einsparen könnte, den Vorschlag gemacht hatte, alle Assistenzleiterstellen zu streichen – meine Stelle also.

Simon findet schließlich den Schalter, und plötzlich werden wir in grelles Neonlicht getaucht. Simon sieht nicht gut aus. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass ich besser aussehe. Dann erkenne ich den Sicherheitsbeamten, der am schlimmsten aussieht von uns dreien.

»Oh«, rufe ich überrascht. »Hallo, Pete. Machen Sie jetzt auch die Nachtschicht?«

Pete, der normalerweise den Schreibtisch des Sicherheitsbeamten im Eingang der Fischer Hall besetzt, versucht, die Farbe von seinem silbernen Abzeichen zu wischen.

»Ja«, entgegnet er mürrisch. »Ich habe ein paar extra Schichten übernommen. Die Mädchen fahren diesen Sommer ins Ferienlager. Diese Camps sind teuer. Die guten jedenfalls.« Petes Miene lässt keinen Zweifel daran, dass er diese Entscheidung bereut.

»Sie lassen Studenten umsonst hier wohnen dafür, dass sie die Post verteilen?«, fragt Simon wie ein Hund, der sich weigert, seinen Knochen loszulassen.

Die Wasser Hall liegt auf der anderen Seite des Parks, in einem anderen Postleitzahlbezirk als die Fischer Hall. Sie wird von einem anderen Briefzentrum bedient. Außerdem handelt es sich um ein neueres Gebäude, in dem man keine Angst vor Asbestverseuchung haben muss oder davor, dass eine Zimmerdecke einstürzt, weil oben die Toilette überläuft.

»Ja«, sage ich. »Unser Briefträger stellt die Post den Bewohnern nicht direkt zu, weil ein Wohnheim nur als vorübergehende Adresse gilt. Aus diesem Grund kümmern sich Gavin und Jamie um die Verteilung der Post gegen freie Unterkunft, zusätzlich zu ihren Schichten am Empfang.«

Ich gebe zu, dass ich mit den Vorschriften ziemlich Schindluder getrieben habe, weil ich das Gebäude im Prinzip manage wie meine eigene – so lautet Coopers Bezeichnung – »Insel der Nichtsnutzspielzeuge«, dank der Kids, die ich als Aushilfspersonal eingestellt habe und die sonst nirgendwohin könnten, aufgrund finanzieller oder familiärer Zwänge. Ich bin mir ziemlich sicher, dass nichts, was ich mache, jemals Simons Zustimmung finden wird, und dass er, würde er das volle Ausmaß kennen, sich nur in seiner Überzeugung bestätigt fühlte, dass sowohl ich als auch meine Stelle sofort abgeschafft gehören.

»Freie Unterkunft«, wiederholt Simon kühl.

Draußen klingt eine Sirene. Die Flügelfenster sind so weit geöffnet wie möglich. Das entspricht nur fünf Zentimetern, dank der vorgeschriebenen Fenstersicherungsmaßnahmen, die das College eingeführt hat, nachdem im vergangenen Jahr zu viele Fischer-Hall-Studenten in den Tod gestürzt waren, dennoch ist jeder Pfiff und jedes Hupen glasklar zu hören. Die Fischer Hall hat zwar eine Klimaanlage, aber das System ist veraltet, und so muss man sich damit abfinden.

»Freie Unterkunft im Austausch für die Verteilung der Post?« Simon kann es nicht fassen. »Und Sie führen hier Teambuilding-Übungen für diese Postverteiler durch? Abends?«

»Äh …«, sage ich. »Ja.«

Warum muss von allen Heimleitern, die an dem Abend, an dem ich mein Sommerpersonal bei einem schweren Vergehen ertappe, hätten Dienst haben können, ausgerechnet Simon der Zuständige sein? Jeder andere – Tom Snelling zum Beispiel, der die Waverly Hall leitet, in der die Verbindungsbrüder untergebracht sind – hätte das Bier und die Paintball-Waffen konfisziert und kein Wort darüber vor dem Verwaltungsrat verloren. Aber nein, es musste der pingelige, überhebliche Simon sein. Kann es überhaupt noch schlimmer kommen?

Ja. Weil ich nämlich nah genug am Fenster stehe, um festzustellen, dass die Sirene, die ich höre, von einem Krankenwagen stammt, der, wie ich beobachten kann, gerade auf den Washington Square West biegt.

Natürlich ist die Fischer Hall nur eines von vielen Gebäuden am Washington Square. Der Krankenwagen könnte jedes mögliche davon ansteuern. Aber wie hoch stehen die Chancen?

Simon starrt Cooper böse an. »Und wer ist der da?«, fragt er höhnisch. »Der ist nämlich sicher schon ein bisschen zu alt, um zu Ihrem Postverteilungspersonal zu gehören.«

»Cooper Cartwright«, sagt Cooper und tritt vor, während er die rechte Hand ausstreckt. Mit Erleichterung sehe ich, dass er sein Paintball-Gewehr versteckt hat. »Sicherheitsberater. Heather hat mich gebeten, heute Abend hier dafür zu sorgen, dass alle notwendigen Sicherheitsvorkehrungen für die Teambuilding-Übung eingehalten werden.«

Sicherheitsberater? Ich fühle, wie mein Mut sinkt. Ausgeschlossen, dass Simon uns das abkauft.

»Mir war nicht bewusst«, sagt Simon und schüttelt Cooper die Hand, »dass die Fischer Hall über ein ausreichend hohes Budget verfügt, um einen Sicherheitsberater zu engagieren.«

»Nun«, sagt Cooper und schenkt Simon ein vielsagendes Zwinkern, »bei all den Tragödien, die sich hier im letzten Jahr ereignet haben, habe ich mich bereit erklärt, auf mein Honorar zu verzichten. Wir können schließlich nicht zulassen, dass dieses Gebäude für immer als Todeshalle verschrien sein wird, nicht wahr?«

Ich sehe, dass Simons Gesichtsausdruck sich ändert. Obwohl ich es normalerweise nicht leiden kann, wenn jemand den Begriff »Todeshalle« benutzt, war es die richtige Entscheidung, dass Cooper es zur Sprache gebracht hat. Die Fischer Hall hatte im vergangenen Jahr die höchste Anzahl von Todesfällen unter allen Studentenwohnheimen landesweit, einschließlich des Semester-at-Sea-Kreuzfahrtschiffs, auf dem das Norovirus derart massiv zugeschlagen hatte, dass drei Menschen daran gestorben waren. (Nur einer davon war ein Student. Die anderen zwei waren Dozenten. Niemanden in der Studentengemeinde kümmert das Lehrpersonal, aber genau genommen zählen diese Todesfälle mit.)

Trotzdem, die Zahl der Studienanfänger am New York College, die darum baten, »überall, nur nicht in der Todeshalle« untergebracht zu werden, wenn sie erfuhren, dass sie dorthin zugeteilt worden waren, lag recht hoch … fast hundert Prozent. Das ist zum Teil der Grund, aus dem die Fischer Hall in diesem Sommer für Verschönerungsmaßnahmen geschlossen ist. So werden die Kids, deren Verlegungswunsch nicht berücksichtigt wird – was alle betrifft, da es keine Ausweichmöglichkeiten gibt, nachdem die ausgebufften Erstsemester sich bereits einen Platz in der Wasser Hall gesichert haben –, wenigstens hübsche weiße Wände erwarten, wenn sie ihr Zimmer in der Todeshalle beziehen.

Es sieht allmählich so aus, als würde unsere längste unfallfreie Strähne reißen: Der Krankenwagen hält direkt vor der Fischer Hall.

Ich stehe perfekt, um nicht nur den Krankenwagen zu sehen, sondern auch die Person, die aus dem Haupteingang der Fischer Hall stürmt – direkt unter die stolz wehenden blau-goldenen New-York-College-Fahnen über eben diesem Eingang –, um die Sanitäter in Empfang zu nehmen. Es ist niemand von der Fischer-Hall-Belegschaft, aber es ist trotzdem jemand, den ich mehr als nur ein bisschen kenne, jemand, der mit Sicherheit keinen Wert darauf legt, dass Simon Hague sich in seine Angelegenheiten einmischt.

Simon steht zu nah am Eingang der Bibliothek, um aus dem Fenster schauen zu können, und seine ganze Aufmerksamkeit ist auf das Geschehen drinnen gerichtet, nicht auf das draußen. Er scheint ein bisschen besänftigt zu sein, nachdem Cooper die Sache mit der Todeshalle erwähnt hat. Simon geht es schließlich um das Wohl der Studenten, wie er in Personalmeetings so oft betont, dass Tom und ich angefangen haben, eine Strichliste zu führen.

»Ich verstehe«, sagt er mit erhobener Stimme, um sich über die Sirene hinweg verständlich zu machen – die in diesem Viertel so allgegenwärtig ist, dass er nicht einmal kurz innehält, um zu fragen, was los ist, beziehungsweise erst gar nicht auf die Idee kommt, dass sie etwas mit unserer aktuellen Situation zu tun haben könnte. »Aber wenn das hier eine offizielle Übung ist, was hat es dann mit dieser Anzeige beim Sicherheitsdienst auf sich wegen einer nicht genehmigten Feier und einem bewusstlosen Studenten?«

»Das ist eine gute Frage«, sage ich. Obwohl es eine ist, die ich komplett verstehe, als ich die große, schlaksige Gestalt und die attraktiven Gesichtszüge der Person erkenne, die sich mit den Sanitätern in dem hellen Licht unterhält, das den Eingangsbereich flutet. »Vielleicht hat es was mit dem Basketballteam zu tun?«

Simon wird hinter seinem ordentlich gestutzten Schnurrbart blass. »Sie meinen … die Stiefmütterchen?« Seine Stimme senkt sich zu einem gedämpften Flüstern. Weil die Sirene draußen abrupt verstummt, klingen seine nächsten Worte absurd laut. »Glauben Sie, sie sind darin verwickelt?«

»Ich wüsste nicht, wer es sonst sein könnte.« Ich halte die Augen von Cooper abgewandt, während er den Raum durchquert und sich neben mich stellt, selbst als ich wahrnehme, dass er neugierig durch das Fenster späht. »Das Paintball-Gefecht findet zwischen dem Empfangspersonal und der Malerkolonne statt … also den Basketballern. Ich dachte, ich hätte das bereits erwähnt …«

»Nein, haben Sie nicht«, fährt Simon mir über den Mund. »Wo sind sie jetzt?«

»Die Stiefmütterchen sind in der Cafeteria.« Gavin gibt sich plötzlich sehr hilfsbereit. Nicht weil er befürchtet, dass einer der Basketballer in Not sein könnte, sondern weil er eine Möglichkeit erkannt hat, um sein Paintball-Spiel fortzusetzen. »Sollen wir Sie dorthin begleiten?«

»Ja, natürlich«, erwidert Simon und wendet sich zur Tür. »Schön, dass wenigstens einer weiß, was hier vor sich geht …«

Gavin schenkt mir ein schadenfrohes Lächeln, dann folgen er und Jamie Simon durch die Tür. Da Simon den beiden den Rücken zukehrt, sieht er nicht das Paintball-Gewehr in Gavins Hand.

Aber Pete schon. Er reißt sowohl Gavin als auch Jamie die Waffen aus der Hand und wirft jedem der beiden einen bösen Blick zu. Sie schleichen mit enttäuschten Gesichtern davon. Kaum sind sie außer Hörweite, funkelt Pete mich an.

»Ernsthaft?«, sagt er. »Ich soll diesen Armleuchtern hinterhergehen und mich ein zweites Mal mit Farbe beschießen lassen?«

»Nun ja«, sagt Cooper. »Sie sind ja jetzt bewaffnet. Schießen Sie einfach zurück.«

»Die Basketballer sind brave Jungs«, sage ich rasch, als ich den Blick sehe, den Pete meinem Freund zuwirft. »Sie werden ihre Waffen niederlegen, wenn sie hören, dass die Campus-Polizei da ist.«

Pete wirft die Gewehre auf die Couch, ohne besonders beruhigt zu wirken. »Für wen ist eigentlich der Krankenwagen?«, fragt er mit einem Nicken in Richtung Fenster.

Es überrascht mich nicht, dass er erraten hat, dass die Sirene zu einer Ambulanz gehört und dass diese Ambulanz vor der Fischer Hall gehalten hat. Pete arbeitet schon sehr lange für das New York College. Er hat sich vorgenommen, so lange hierzubleiben, bis er sein Bonuspaket einlösen und sich in der Casita seiner Familie in Puerto Rico zur Ruhe setzen kann.

»Für jemanden im Penthouse«, sage ich.

Pete blickt noch missmutiger drein. »Was machen die denn hier? Ich dachte, die Allingtons verbringen den Sommer in ihrem Haus in den Hamptons. Dort kann die Lady sich nämlich mit Long Island Iced Tea die Kante geben, ohne dass es einer auf dem Campus mitbekommt.«

Pete hat recht: Mrs. Allington, die Frau von Präsident Allington, ist dafür bekannt, dass sie gern zu tief ins Glas schaut. Das macht das Leben im Penthouse eines Gebäudes, in dem man sich den Aufzug mit siebenhundert Studenten teilen muss, gelegentlich zu einer Herausforderung. Mrs. Allington ist aber außerdem eine Frau, die im Notfall einen kühlen Kopf bewahrt … sie hat mir schon einmal das Leben gerettet. Nicht dass sie mich seitdem kennen würde. Trotzdem gibt es nur wenige Dinge, die ich nicht tun würde, um ihre Privatsphäre und ihren Ruf zu schützen.

Dies hier ist allerdings eine Situation, in der Mrs. Allington meine Diskretion nicht benötigt.

»Ich glaube, dieses Mal ist es nicht Mrs. Allington«, sage ich.

Pete macht ein verdutztes Gesicht. »Ist der Präsident ohne sie in die Stadt zurückgekehrt? Das sieht ihm gar nicht ähnlich.«

»Nein«, sage ich. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Allingtons nicht diejenigen sind, die die nicht genehmigte Party feiern.«

»Wer dann?«, fragt Cooper.

»Ihr Sohn.«