Sam Hawken
Kriminalroman
Aus dem Amerikanischen
von Karen Witthuhn
Polar Verlag
Copyright © Sam Hawken
Translated from the English: LA FRONTERA
First published by: Betimes Books, 2013
Aus dem Amerikanischen von Karen Witthuhn
© 2015 Polar Verlag GmbH Hamburg
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Der Abdruck des Vorworts erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Tobias Gohlis.
Lektorat: Eva Weigl
Umschlaggestaltung: Detlef Kellermann, Robert Neth
Autorenfoto: Sam Hawken
Satz: Andre Mannchen
Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign
ISBN: 978-3-945133-23-1
www.polar-verlag.de
Für die Migranten
Hoy cruzo la frontera
Bajo el cielo
Bajo el cielo
Es el viento que me manda
Bajo el cielo de acero
Soy el punto negro que anda
A las orillas de la suerte
– »La Frontera«, Lhasa De Sela
Estás Perdido?
von
Tobias Gohlis
Die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko ist einer der literarisch meist beschriebenen Brennpunkte der Erde. Es ist ein Streifen von Blut, Tod und Gewalt, ein umkämpfter, immer wieder durchlöcherter und wieder geschlossener Zaun, es ist LA FRONTERA.
3.144 Kilometer ist sie lang. 3.144 Kilometer Zaun.
Auf der nördlichen Seite die geballte technologische Kraft der Supermacht. Das Gelobte Land, das die Illegalen (die, die außerhalb des Gesetzes stehen) mit konzentrierter Wut fernzuhalten versucht. Das gleichzeitig ohne die billige Arbeitskraft der Immigranten aus dem Süden seinen Lebensstandard nicht halten kann.
Auf der südlichen Seite ein anderes Amerika. Armut, Hunger, schlechte medizinische Versorgung: fehlende Entwicklungsmöglichkeiten. Herrschende Klassen, wahnwitzig sich bereichernde Cliquen, die ihre Macht und Existenz auf die Unterdrückung und die Armut im Inneren gründen. Die jeden Tag Dankesbriefe in den Norden schicken: Danke für die Abschottung eurer Grenzen. Danke, dass eure Lebensverhältnisse dermaßen beschissen sind, dass eure Leute sie nur ertragen, indem sie unsere Drogen nehmen. Dank euch verdienen wir dreifach, vierfach damit.
Ich schreibe dieses Vorwort an dem Tag, an dem Ungarn Vollzug meldet. Nur wenige Tage waren nötig, um die Grenze nach Serbien mit einem 175 Kilometer langen Zaun aus NATO-Stacheldraht zu versehen. Die Grenze nach Serbien ist die Grenze des reichen Europas, und die ungarische Regierung hofft, aus der Rolle des kläffenden und bissigen Hundes in die des reichen kläffenden und bissigen Hundes aufzusteigen. Auch dieser Zaun ist weniger ein Hindernis als ein Zeichen. Ein Zeichen für die Gewalt der Konflikte, die auf beiden Seiten nicht gelöst sind. Ein Zeichen für die Ängste und Verbote auf der einen, für die Sehnsüchte und Wunschträume auf der anderen.
Mir fällt es schwer, das Wort »unmenschlich« zur Charakterisierung der Grenzzäune und Abgrenzungsaktionen zu verwenden. Denn hier zeigt sich nur die dumme, gewalttätige, angstbesessene Seite menschlichen Verhaltens. Mit der eine andere, optimistische, empathische, aufbauende korrespondiert.
Sam Hawken ist hierzulande mit dem Roman Die toten Frauen von Juárez als Autor der Grenze bekannt geworden. Und der Grenzüberschreitung. Zwei zwischen Wahn, Sehnsucht und Untergang taumelnde Außenseiter, der US-amerikanische Ex-Boxer Kelly Courter und der Polizist Rafael Sevilla, versuchen, einen kleinen Teil des großen Rätsels zu lösen, warum im mexikanischen Ciudád Juárez Hunderte von Frauen verschwunden – und wahrscheinlich ermordet worden – sind. Der Fall ist real, zum Beispiel hat ihn Roberto Bolaño in seinem Roman 2666 aufgegriffen. In Hawkens Roman wird Courters Freundin erschlagen aufgefunden, Courter als Sündenbock von der Polizei ins Koma geprügelt. Sevilla, aus Trauer um seine ebenfalls verschwundene Tochter zum Säufer geworden, wühlt weiter, bis er auf einen surreal wirkenden Zirkus stößt, in dem sich Männer zur Belustigung anderer totprügeln, während diese junge Mädchen vergewaltigen. Hawken, der 1970 in Texas geboren wurde, wollte, schnaubend vor Wut, mit diesem Roman wieder die Erinnerung an den Skandal der Feminizide wachrütteln, der bis heute andauert.
Kojoten, im Original 2013 unter dem Titel La Frontera erschienen, ist Hawkens dritter Roman, der an der Grenze zwischen den USA und Mexiko spielt. Im Unterschied zur aufgewühlten Hitzigkeit des ersten Romans ist der Ton sachlich, ruhig, unaufgeregt. Im Norden geht alles seinen Gang. Beamte der staatlichen Grenzschutzbehörde Customs and Border Protection (CBP) und Freiwillige »West Texas Border Volunteers« durchstreifen das riesige, leere Land in der Nähe der kleinen Grenzstadt Presidio. Wie überall, wo es Grenzübergänge gibt, liegt auf der anderen Seite des Rio Grande die mexikanische Kleinstadt Ojinaga. Dass etwas nicht in Ordnung sein kann, wird schnell deutlich. Eine Leiche mit einer Schusswunde wird gefunden, in der Nähe eines Vergewaltigungsbaums. Doch die Behörden können wenig aufklären. Unvermittelt wechselt Hawken die Szene: auf die andere Seite des Flusses und von dort nach San Salvador, von wo die junge Marisol sich nach dem Tod ihrer Mutter auf die lange Reise ins Gelobte Land macht.
Drei Erzählstränge, drei Perspektiven auf die Grenze. »Estas perdido?« – Bist du verloren –, wird Marisol zum Schluss gefragt. Sie antwortet nur indirekt. Denn alle an dieser Grenze sind verloren. Sie macht Menschen zu Verlorenen, die einen mehr, die anderen weniger.
Präsident Nixon, dem ein Krieg – in Vietnam – nicht reichte, eröffnete 1969 den Krieg gegen die Drogen. Seine Berater planten diesen Krieg als Zwangsmaßnahme gegen Mexiko. Damals existierte dort nicht ein einziges Drogenkartell. Die Bauern in Sinaloa sollten davon abgebracht werden, das Marihuana anzubauen, das die Veteranen, Vietnamkriegsgegner und andere Protestler in den USA zu sich nahmen. Nixons Berater schlugen vor, Mexiko zu zwingen, das Land der Bauern zu entlauben. Das Verfahren hatte auch gegen den Vietkong nichts gebracht. Um Druck auf die Mexikaner auszuüben, machten die USA die Grenze dicht. An den Übergängen brach der Verkehr zusammen. Damit fing es an.
Die Bauern, deren Felder verwüstet wurden, gingen in andere Gegenden Mexikos und organisierten sich, die Kartelle entstanden. Mitbeteiligt Polizei und Armee.
Der Krieg gegen die Drogen, der vor allem in Mexiko selbst und dort gegen die Armen geführt wurde, hat mindestens 100.000 Menschenleben gekostet.
Ganz nah bei den einfachen Menschen erzählt Sam Hawken von LA FRONTERA. So heißt der Roman im Original.
Tobias Gohlis
Hamburg 1. September 2015
Ana Torres wusste nicht, wie spät es war, vermutlich gegen Mittag. Die Sonne hing als reglose weiße Scheibe über ihr, bleichte Felsen und Staub gleichermaßen aus und drang wie eine glühende Klinge in ihre Kleidung ein. Zum Glück war sie nicht zu Fuß unterwegs, auch wenn Rico, der fuchsbraune Wallach, den sie ritt, sicherlich litt. Bald würden sie anhalten und sich das mitgebrachte Wasser teilen, auf Schatten konnten sie allerdings nicht hoffen.
Dies war Ranchland der schlechtesten Sorte. Spärliche Grasbüschel ernährten die Rinder notdürftig, vor allem aber beherrschten Kakteen, Yuccapalmen und gelegentlich ein paar Mesquitebäume die Landschaft. Einen erspähte Ana in südwestlicher Richtung, es sah aus, als würde er auf dem entblößten Felsrücken, der die Rippe eines Riesen hätte sein können, Wache stehen. Sie schnalzte mit der Zunge und trieb Rico darauf zu.
Trotz des Stetsons und der dunklen Sonnenbrille, die sie trug, stach ihr das grelle Licht in den Augen. Irgendetwas war seltsam an dem schwarzen, krummen Mesquitebaum, erst beim Näherkommen erkannte sie, was es war: In den Ästen hing ein rosa Stofffetzen.
»Na los, Faulpelz«, sagte Ana zu Rico. Das Pferd suchte sich vorsichtig seinen Weg zwischen losen Steinen und weichem Sand. Auf diesem unebenen Boden konnte man leicht umknicken, und Rico war kein dummer Esel.
Bald erkannte Ana, dass in den Ästen des Baums noch weitere Stoffstücke hingen, einige gelb, andere weiß. Sie wusste bereits, was sie vor sich hatte, hoffte aber, sich zu irren. Je näher sie kam, desto mehr wuchs die Gewissheit, und bei jedem Schritt wurde ihr schwerer ums Herz.
Schließlich hatten sie den Baum erreicht. Wie alle seiner Art war er verwachsen und hässlich, und zu dieser Tageszeit warf er kaum einen Schatten. Über die Ebene wehte eine Brise wie heißer Atem, die keine Abkühlung brachte. Die im Luftzug flatternden Stoffstücke waren nicht irgendwelche Fetzen: Es waren Unterhosen.
Ana stieg ab. Überall um den Baumstamm herum waren Fußspuren, und sie wollte nicht noch mehr davon zerstören, als sie es schon getan hatte. Der Baum war so verkrümmt, dass er Ana kaum überragte. Sie zählte insgesamt sechs Unterhosen. Einige neu, andere älter. Eine war mit Schäfchen bedruckt.
Sie öffnete die Satteltasche und kramte nach der Digitalkamera. »Bleib, wo du bist«, befahl sie, und Rico blieb gehorsam stehen.
Dann machte sie Fotos: vom Baum und von den Unterhosen, aus verschiedenen Perspektiven. Nachdem sie die Fotos überprüft hatte, packte sie die Kamera wieder ein.
Quer über dem Sattel lag, einem aufblasbaren Spielzeug ähnlich, ein schwerer Wasserschlauch. Ana ließ Wasser in ihre gewölbte Hand laufen und hielt sie Rico hin, der gierig soff. Dann trank sie selbst, spülte sich mit dem Wasser den trockenen Mund aus. Für diese Hitze und dieses Terrain trank sie bei Weitem nicht genug, aber sie hatte nicht vor, noch viel länger hier draußen zu bleiben.
Die Spuren waren mindestens einige Tage alt, die Umrisse schon verwischt. Ana ging in die Hocke und betrachtete sie eingehend, die unterschiedlichen Profile und Größen zeigten, dass etwa ein Dutzend Menschen hier vorbeigekommen sein musste. Sie hatten sich eine Weile hier aufgehalten, und die Unterhosen im Baum verrieten, was sie getrieben hatten.
Das Glitzern von etwas Goldenem erregte ihre Aufmerksamkeit. Halb im Staub vergraben entdeckte sie eine Patronenhülse Kaliber .45. Kurzes Suchen brachte vier weitere zutage. Die Anordnung deutete darauf hin, dass sie schnell hintereinander abgefeuert worden waren.
Der Großteil der Gruppe hatte schweres Gepäck bei sich getragen und war nach Norden weitergezogen, auch das konnte Ana erkennen. Ein Trio war leichter bepackt gewesen und hatte eine nordwestliche Richtung eingeschlagen.
Ana bestieg Rico und lenkte ihn nach Nordwesten.
Der Boden wellte sich hier leicht, und zuerst sah sie den Körper gar nicht. Er lag in einer Senke und war mit verwehtem Sand bestäubt. Ein Mann, wie Ana erkannte, bekleidet mit einer dunkelblauen Windjacke, Jeans und Turnschuhen. Er lag mit dem Gesicht nach unten. Von Nahem sah Ana, dass er mit grauen Strähnen durchsetzte schwarze Haare hatte.
Sie stieg ab und betrachtete den Leichnam. In dieser unveränderlichen Landschaft wirkte ein toter Körper noch lebloser. Die Brise bewegte nicht einmal den leichten Stoff der Windjacke des Mannes.
Auf seinem Rücken waren drei dunkle Flecke zu sehen. Schusswunden. Die Erde hatte gierig alles Blut aus den Austrittslöchern aufgesaugt und nichts Rotes übrig gelassen. Ohne die Flecke hätte man denken können, der Mann wäre gestolpert und lang hingeschlagen, um nie wieder aufzustehen. Ein natürlicher Tod.
Ana blickte sich um, als würde sie die anderen noch irgendwo sehen können, aber da war nichts und niemand. Sie nahm den Hut ab und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Dann hakte sie ein handgroßes GPS-Gerät von ihrem Gürtel ab und markierte ihre Position. Es war so gleißend hell, dass sie kaum den Bildschirm erkennen konnte.
Sie rührte die Leiche nicht an. Das musste warten.
Sie schwang sich wieder in den Sattel und folgte den Spuren noch ein Stück, bis sie auf nackten Felsen trafen und nicht mehr zu erkennen waren. Wer immer die Begleiter des Toten gewesen sein mochten, sie waren verschwunden. Ihre Geister lösten sich in Luft auf.
Dann folgte sie den Spuren der größeren Gruppe in die andere Richtung, bis sie wusste, was ihr Ziel gewesen war: die Abzweigung, die zur FM 170 führte. Auch diese Spuren würden sich auf dem Asphalt verlieren.
Ana griff zu ihrem Funkgerät.
Während Ana wartete, fotografierte sie die Leiche. Der kleine Bildschirm der Kamera wurde von der Sonne fast völlig ausgeblendet, selbst wenn sie ihn mit der Hand abschirmte. Als sie genug Aufnahmen gemacht hatte, verstaute sie das Gerät wieder in der Satteltasche.
Sie blickte nach Süden. Das Land lag hier in sanften Wellen, die den Horizont näher heranrückten und es schwierig machten, Entfernungen einzuschätzen. Die Grenze war meilenweit entfernt, aber doch näher, als es den Anschein hatte. In der Dunkelheit sah alles gleich aus. Im grellen Licht der Sonne glich die Landschaft dem Mond.
Sie wusste nicht, wie lange sie würde warten müssen, und vertrieb sich die Zeit, indem sie auf- und ablief. Rico stand still da und beobachtete sie. Ana hatte bereits die Ärmel hochgekrempelt und ihr Uniformhemd aufgeknöpft, sodass das weiße T-Shirt darunter sichtbar war, trotzdem schwitzte sie. Sie wünschte sich an einen netten, klimatisierten Ort irgendwo weit weg von dem Baum und der Leiche. Viel lieber hätte sie Berichte geschrieben und Fotos ausgedruckt, die kleinen, langweiligen Pflichten erledigt – um einfach eine Pause zu haben.
Nach etwa einer Stunde wurde das leise Geräusch eines Motors über das trockene Land herangeweht. Ana wandte sich um und sah Metall aufblitzen. Ein Truck näherte sich, verschwand ab und zu aus dem Sichtfeld, kroch dann mit der unnachgiebigen Stetigkeit eines Arbeitstieres weiter. Und rüttelte die darin sitzenden Männer mit Sicherheit durch. Da war ihr Rico lieber.
Der Truck kam ein paar Meter vor ihr zum Stehen, der Motor verstummte. Von Nahem sah sie den Blaulichtbalken auf dem Dach und die grüne Markierung der Grenzpolizei an den Seiten. Die Türen wurden aufgestoßen, und drei Männer stiegen aus. Ana kannte sie alle beim Namen.
»Einen noch abgelegeneren Ort hast du dir nicht aussuchen können?«, fragte Darren Sabado. Er trug eine Sonnenbrille und hielt sich zusätzlich schützend die Hand vor die Augen, bevor er seine Kappe aufsetzte. Die beiden anderen Officers waren Julio Stender und Tyrone Trumble. Letzterer trug wie Ana einen Stetson.
Ana zuckte mit den Achseln. »Ihr habt’s ja gefunden.«
»Gerade so. Der Truck hat in ein paar von den Kuhlen fast alle viere von sich gestreckt.«
»Wo ist die Leiche?«, fragte Stender.
»Da drüben«, erwiderte Ana.
Sie gingen zu dem Toten. Ana merkte, dass die Schatten etwas länger geworden waren. Die Sonne schien zwar direkt über ihnen zu stehen, doch sie bewegte sich.
»Ich habe ihn nicht angefasst«, sagte Ana.
»Wir müssen Fotos machen«, sagte Stender.
»Hab ich schon.«
»Du weißt, dass wir eigene machen müssen.«
»Nur zu.«
Während Trumble eine Kamera aus dem Truck holte und den Leichnam umkreiste und fotografierte, wartete Ana. Erst wenn alle Formalitäten erledigt waren, würden sie den Toten anfassen, bis dahin blieb er fast so etwas wie ein Objekt der Verehrung – oder auch der Angst. Das Heilige war unberührbar, und das Böse auch. Ana wusste nicht, ob der Mann böse gewesen war.
»Was schätzt du, wie lange er hier draußen liegt?«, fragte Darren.
»Schwer zu sagen. Seine Hände sind nicht allzu ausgetrocknet. Keine Bissspuren von Tieren. Eine Nacht, vielleicht zwei. Wenn wir sein Gesicht sehen, wissen wir mehr.«
Als Trumble fertig war, sagte er: »Okay.«
Ana durchsuchte die Gesäßtaschen des Toten, hoffte auf eine Brieftasche, fand aber nichts. Sie sah Darren an. »Umdrehen?«
Darren nahm die Schultern, Ana die Beine. Sie drehten den Toten auf den Rücken. Das bisher verborgene Blut wurde sichtbar, es hatte sich unter der Leiche angesammelt und war geronnen. Zwei Kugeln waren vorne wieder ausgetreten, die dritte steckte im Körper.
Das Gesicht des Toten war ausdruckslos, mit Sand verstaubt und glatt rasiert. Die Nase war beim Aufprall auf den Boden gebrochen, auf der Oberlippe klebte Blut.
Ana durchsuchte die Taschen der Windjacke. Auch sie waren leer. Dann die Vordertaschen der Jeans. Sie hatte nicht erwartet, etwas zu finden, aber auf irgendetwas gehofft. Das T-Shirt des Toten war blutgetränkt. Eine der Kugeln war direkt über dem Herz ausgetreten. Wahrscheinlich war er bereits tot gewesen, als er auf dem Boden aufschlug. Ana war erleichtert, denn in dieser Gegend war ein schneller Tod eine Gnade.
»Wieder ein Namenloser«, sagte Darren.
»Vielleicht bringen die Fingerabdrücke was«, erwiderte Trumble.
»Vielleicht«, sagte Ana. Sie betrachtete das Gesicht des Toten: die gebrochene Nase, das Blut. Es hieß oft, die Toten würden aussehen, als schliefen sie, aber Ana wusste, dass das nicht stimmte. Die Toten sahen tot aus. Der Leichnam wirkte völlig leblos. Sie wandte den Blick ab.
»Der Leichensack ist im Truck«, sagte Darren.
»Da hinten liegen Patronenhülsen«, sagte Ana. »Einsammeln?«
»Klar. Aber lass uns erst die Leiche einpacken.«
Stender ging zum Truck und öffnete den Laderaum. Kurz darauf kehrte er mit einem gummibeschichteten Sack zurück, der in der Mitte ordentlich gefaltet war. Er legte ihn neben dem Toten auf dem Boden aus, zog den Reißverschluss auf und klappte die Seiten zurück, die sich wie ein Schlund auftaten.
Wieder nahm Ana die Füße und Darren die Schultern. Sie hoben den Körper an und schwangen ihn auf den ausgebreiteten Sack. Trotz seiner schmalen Statur war der Tote schwer.
Sie schoben Arme und Füße in den Sack und klappten die Seiten zusammen. Der Reißverschluss schloss sich über dem Toten, und sein Gesicht verschwand aus ihrem Blickfeld.
»Ich helfe, ihn zum Truck zu tragen«, sagte Stender. Er und Darren packten die Tragegriffe und hoben den Leichensack an. Sie trugen ihn zum Truck und hatten eine Weile zu kämpfen, bis sie ihn hineinhieven konnten.
Stender schloss den Truck. Darren kam zu der Stelle zurück, an der eben noch die Leiche gelegen hatte. Mit der Stiefelspitze schob er einen Kiesel über den blutbefleckten Boden. »Wir sind auf dem Weg an deinem Wagen vorbeigekommen«, sagte er zu Ana. »Brauchst du was? Mehr Wasser?«
»Wir schaffen es zurück.«
»Irgendwer muss den Bowders sagen, was du hier gefunden hast.«
»Mache ich«, sagte Ana.
»Sicher?«
»Sicher. Asservatentüten? Ich brauche etwa zehn.«
»Wir haben welche im Truck«, antwortete Trumble und ging sie holen.
»Zehn? Wie oft wurde geschossen?«
»Vier Mal.«
»Was hast du sonst noch gefunden?«, fragte Darren.
Ana zeigte auf den einsamen Mesquitebaum. »Einen Vergewaltigungsbaum«, sagte sie.
»Verdammt«, sagte Darren und trat einen weiteren Stein durch die Gegend.
Ana schwieg.
»Meinst du, der Typ gehörte dazu?«
»Schwer zu sagen. Er ist weggerannt und wurde erschossen. Eher nicht.«
»Trotzdem …«
»Ich weiß.«
Trumble kam mit einem Bündel durchsichtiger Plastikbeutel zurück. »Ich glaube, das sind zehn.«
»Das reicht.«
Stender und Trumble gingen zum Truck. Darren zögerte.
»Ich habe alles«, sagte Ana.
»Okay. Wir sehen uns später.«
»Bis später.«
Ana wartete, bis der Truck gewendet hatte und auf dem Rückweg war, dann nahm sie Rico bei den Zügeln. Das Pferd folgte ihr gehorsam und geduldig.
Zuerst sammelte sie die einzelnen Patronenhülsen ein, wobei sie aufpasste, sie nicht mit den Fingern zu berühren. Anhand von Patronenhülsen waren schon Gerichtsverhandlungen entschieden worden – oder gescheitert. Das vergaß sie nie.
Dann holte sie mit der stumpfen Seite ihres Taschenmessers die an den Ästen baumelnden Unterhosen vom Baum. Sie schob jede in eine Tüte und die Tüten in Ricos Satteltasche. »So«, sagte sie zu sich selbst.
Sie stieg auf und ritt nach Norden.
In Schlangenlinien kehrten Ana und Rico zu ihrem Wagen zurück. Ana warf bereitstehende Pappstücke über die Weideroste auf dem Weg, ließ Rico darüber traben und stellte die Pappe wieder an den Zaun. Sie war von Wind und Wetter verwittert und würde bald ersetzt werden müssen.
Schließlich erreichten sie ein flaches, trockenes, steiniges Stück Land, auf dem nur wenige zähe Gräser ihr Dasein fristeten. Der Wagen glänzte weiß, hinter ihm war ein Pferdetransporter angekoppelt. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen.
Ana führte Rico in den Anhänger, gab ihm Wasser und schloss ihn ein. Dann setzte sie sich hinters Steuer, legte den Hut auf den Beifahrersitz und stellte die Klimaanlage an. Zuerst zirkulierte nichts als glühend heiße Luft durch den Wagen. Nach einer Weile mischte sich kühlere Luft darunter und trocknete den Schweiß auf Anas Gesicht.
Bis zum nächsten Schotterweg war es gut eine Meile. Nach weiteren zehn Minuten Fahrt erreichte Ana eine Teerstraße und lenkte Wagen und Anhänger auf den Asphalt. Ein kurzes Stück weiter stand ein niedriges, weiß gestrichenes Haus knapp zweihundert Meter hinter einem Stacheldrahtzaun.
Als sie ausstieg und das Tor öffnete, brannte die Sonne wieder auf sie herunter, aber in der Fahrerkabine war es inzwischen angenehm kühl. Sie fuhr die lange Auffahrt hoch, hielt ein Stück vom Haus entfernt an und stellte den Motor ab. Sie nahm den Hut und setzte ihn auf.
Der Hof war mit ordentlich geschnittenem, vor Trockenheit gelbem Gras bepflanzt, unterbrochen von einem Gehweg aus Beton, der zu einer überdachten Veranda führte. »Jemand zu Hause?«, rief Ana, als sie darauf zuging. Sie hörte, wie im Schatten der Veranda eine Tür geöffnet wurde, dann erschien eine Gestalt.
»Ranger Torres?«, fragte Claude Bowder.
Er war über sechzig, aber noch ein kräftiger Mann. Auf seinen Wangen wuchsen weiße Bartstoppeln. Er trug Arbeitshemd und Jeans, als wäre er gerade von der Arbeit nach Hause gekommen, und vielleicht war dem auch so.
»Mr. Bowder«, sagte Ana. Sie trat auf die Veranda und stand Bowder auf der anderen Seite der Fliegentür gegenüber. »Ich hab mir gerade Ihren Hintergarten angesehen.«
»Ach, ja?«, fragte Bowder. »Irgendwelche Wetbacks gesehen?«
Ana zuckte mit keiner Wimper. »Ich habe einen Toten gefunden«, sagte sie.
»Was?«
»Einen Toten, mit drei Schusslöchern im Rücken.«
»Sie kommen besser rein.«
Bowder hielt Ana die Fliegentür auf. Sie trat ein und nahm den Hut ab. Es tat gut, im Schatten zu sein, auch wenn die warme Luft im Hausinneren stand.
»Ich habe Eistee da, wenn Sie welchen wollen.«
»Gerne.«
Sie gingen weiter ins Haus. Es war einfach eingerichtet, nicht spartanisch, aber funktionell. Hier und da hingen ein paar Bilder, die meisten zeigten Bowders Enkelkinder. In einer Wohnzimmerecke stand ein Klavier, und wo der Raum in ein Esszimmer überging, bot ein langer Tisch Platz für Familienzusammenkünfte.
Bowder führte Ana in die Küche. Er goss Eistee in ein großes Glas und fügte eine Scheibe Zitrone hinzu. Das Glas begann sofort zu schwitzen, Anas Hand wurde nass.
»Schlimm genug, dass diese Wetbacks mein Land überqueren, jetzt bringen sie sich auch noch gegenseitig um«, sagte Bowder. »Sind Sie sicher, dass er erschossen wurde?«
»Ganz sicher«, erwiderte Ana. Sie probierte den Tee. Er war süß.
»Verdammte Wetbacks«, brummte Bowder, als wäre damit alles gesagt. Dann fragte er: »Muss ich irgendeine Gebühr dafür zahlen, dass Sie die Leiche weggeschafft haben?«
»Keine Gebühr«, sagte Ana, »aber wir müssen die Gegend im Auge behalten. Wenn die Grenzquerer einmal hier durchgekommen sind, kommen sie sicher wieder.«
»Wo war das?«
Ana beschrieb es ihm. Sie trank noch etwas Tee.
»Wenigstens gehen sie nicht da lang, wo mein Vieh sich aufhält. Das hätte mir noch gefehlt. Wissen Sie, dass von den Open-Borders-Aktivisten welche versucht haben, auf meinem Grund und Boden eine Wasserstation aufzustellen, ohne mich zu fragen? Kamen einfach durchs Tor hereinspaziert und haben auf bestem Weidegrund einen Haufen Wasserkanister unter einen Baum gestellt. Ich hab sie vertrieben. Hab gedroht, wenn sie noch mal kämen, würde ich ihnen wegen unbefugten Betretens den Sheriff auf den Hals hetzen.«
»Wie gesagt, wir müssen Ihr Grundstück eine Weile überwachen«, sagte Ana. »Das bedeutet verstärkte Präsenz der Border Police, und ich komme einmal die Woche vorbei und schaue nach, ob irgendwas übersehen wurde.«
»Ist mir recht. Was immer Sie für nötig halten.«
»Okay, gut.«
»Aber was ist mit dem toten Mexikaner? Kann der mir Ärger einbringen?«
Ana sah Bowder prüfend an, aber er wirkte arglos. Der Tote hatte mitten im Nirgendwo gelegen, auf Land, das Bowder sowieso kaum nutzte. Sie bereute, die Umgebung nicht nach Reifenspuren abgesucht zu haben, aber jetzt war es zu spät, um dorthin zurückzukehren. Rico brauchte Ruhe.
»Ich weiß es nicht«, sagte Ana schließlich. »Hängt davon ab, was wir rausfinden.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Nun, zunächst einmal wird sich ein Gerichtsmediziner die Leiche ansehen.«
»Ich dachte, er ist erschossen worden?«
»Trotzdem. So sind die Regeln.«
»Scheiße«, sagte Bowder. »Gottverdammte Wetbacks. Sogar wenn sie tot sind, machen sie nichts als Ärger.«
Ana trank aus und stellte das Glas ab. »Ich würde mir deswegen erst mal keine Sorgen machen, okay? Wir regeln das.«
»Also gut«, sagte Bowder widerstrebend. »Ich bring Sie zur Tür.«
Er begleitete Ana hinaus, wo sie zum Schutz gegen das grelle Sonnenlicht den Hut aufsetzte, dann zog er sich wieder hinter die Fliegentür zurück. »Sobald ich mehr weiß, sage ich Ihnen Bescheid«, sagte Ana.
»Ich bin hier.«
»Bis dann, Mr. Bowder.«
Sie ging zum Wagen zurück und stellte schnell die Klimaanlage wieder an. Wendete vorsichtig den Wagen mit Anhänger und fuhr durch das Tor hinaus. Bei einem Blick in den Rückspiegel sah sie, dass Bowder sie beobachtete. Beim zweiten Hinsehen war er verschwunden.
Die Büroräume der United States Customs and Border Protection in Presidio, Texas, befanden sich in einem niedrigen, graubraunen Gebäude. Der Posten lag abseits der großen Grenzstrecken, das einzige Bemerkenswerte war der hohe Fahnenmast vor der Tür, an dem sowohl die US-Fahne als auch die von Texas wehte. Ein uniformierter Agent kümmerte sich jeden Morgen und jeden Abend um die Beflaggung.
Ana hatte den Anhänger abgekoppelt. Rico stand wieder in dem Stall, in dem auch die Pferde der Border Patrol untergebracht waren. Drum herum gab es viele schattenspendende Bäume, reichlich Futter und Wasser und weichen Boden. Nach dem steinigen Untergrund auf Claude Bowders Ranch das reinste Paradies.
Sie parkte hinter dem Gebäude, nur einige Trucks und ein paar Autos standen dort. Die Präsenz des Grenzschutzes belief sich auf weniger als hundert Agents, ohne unterstützendes Personal. Presidio war keine große Stadt.
Der Ort lag zweihundertvierzig Meilen südlich von El Paso und genau an der Grenze. Obwohl man in wenigen Minuten ins Niemandsland gelangte, war nicht alles hier Wüste und Felsen. Presidio hatte weniger als fünftausend Einwohner, und der Grenzübergang nach Ojinaga in Mexiko war klein. Vor ihrer Versetzung hatte Ana noch nie von Presidio gehört. Auf einem Schild am Stadtrand stand: »Willkommen an der echten Grenze«. Wenn es heiß und trocken und die Straßen menschenleer waren, schien das mehr als zuzutreffen.
Der Hintereingang des Gebäudes war durch einen elektronischen Türöffner und eine Überwachungskamera gesichert. Drinnen war es kühl, fast kalt, und Ana fröstelte.
Es lag am Gouverneur von Texas, dass sie überhaupt hier war. Er hatte versprochen, an allen Übergängen entlang der Grenze zu Mexiko Texas Rangers zu postieren. Das nannte sich »Texas Recon Teams«, aber oft erledigte ein einzelner Ranger die Arbeit von zweien oder dreien. Presidio verdiente keine volle Besetzung.
Die Border Patrol hatte ihr großzügig ein eigenes Büro angeboten, aber Ana hatte sich für eine der Arbeitsnischen vorne im Gebäude entschieden, wo die Agents Anrufe entgegennahmen und den endlosen Papierkram erledigten, der an einer Grenze anfällt. Außerdem befand sich in dem Gebäude noch eine Verwahrstation für illegale Einwanderer, und der knapp bemessene Raum für die vielen Aufgaben war heiß umkämpft. Ana wollte so wenige Probleme wie möglich verursachen.
Sie hängte ihren Hut an einen Haken und ging zu ihrem Platz. Um sie herum klingelten unablässig Telefone. Einwohner riefen mit Hinweisen an. Jemand am Grenzübergang musste dringend Personendaten abfragen. Irgendwer verlangte immer Aufmerksamkeit, und zwar sofort.
Ana hatte ihre Nische nicht eingerichtet, sie war noch so kahl wie an dem Tag, als sie sie übernommen hatte. Nur ein alter grauer Computer und ein Stuhl standen darin. Selbst ein Kaffeebecher fehlte.
Der Leichenfund machte mindestens drei Berichte erforderlich. Im ersten musste sie darlegen, warum sie sich überhaupt auf dem Land von Claude Bowder aufgehalten hatte, im zweiten den Zustand der Leiche beim Auffinden beschreiben und Schlüsse daraus ziehen und im dritten die nächsten Schritte erläutern. Zuerst würde die Gerichtsmedizin die Todesursache feststellen, danach würde man versuchen, die Identität des Toten herauszufinden. Dafür würde man die Fingerabdrücke des Toten nehmen und sie durch die Datenbank laufen lassen. Mit Glück war in ein, zwei Tagen klar, wer der Mann gewesen war.
Und dann war da noch der Vergewaltigungsbaum. Der einen eigenen Bericht verdiente. Ana fiel ein, dass sie die Asservatentüten im Wagen gelassen hatte. Sie würde sie später holen und einem Agent für weitere Ermittlungen übergeben. Natürlich wusste sie, dass die Sache im Sande verlaufen würde. Vergewaltigungsbäume waren zwar eine Tragödie, aber dennoch nichts als Ausrufezeichen in der Geschichte der Grenze.
Ihren ersten Vergewaltigungsbaum hatte Ana eine Woche nach ihrer Ankunft in Presidio gesehen. Damals hatte sie nicht gewusst, was sie vor sich hatte, aber trotzdem Fotos gemacht und die Unterhosen eingesammelt. Die Border Police Agents hatten sie aufgeklärt, seitdem wurde ihr beim Anblick dieser Bäume immer schlecht. Bisher hatte sie vier gesehen. Heute den fünften.
Sie verdrängte die Gedanken an den Baum und widmete sich den Berichten. Egal, worum es ging, der Sprachstil musste sachlich und distanziert sein. Eine Leiche war nur insofern bemerkenswert, als dass sie untersucht und registriert und in die heilige Statistik des Grenzschutzes eingespeist werden musste. Dass ein Mensch ermordet worden war, zählte nicht. Darum ging es nicht. Sie würden den Mörder ohnehin nicht zu fassen bekommen.
Eineinhalb Stunden später war Ana fertig und spürte ihre vom Kauern über der Tastatur und Tippen im Zweifingersystem verspannten Schultern. Sie lehnte sich zurück, streckte sich und sah am anderen Ende des Raums Darren Sabado. Er hob grüßend die Hand und kam zu ihr.
»Wie geht’s?«, fragte er.
»Ganz gut. Ich leite gerade alles in die Wege.«
»Wir haben die Leiche zum Gerichtsmediziner gebracht. Er sagt, in ein, zwei Tagen gibt er uns Bescheid.«
Ana nickte. Sie hatte nichts Schnelleres erwartet. In Presidio ging es gemächlich zu.
»Wie lief es bei Bowder?«
»Gut. Er befürchtete, er würde eine Gebühr aufgebrummt bekommen oder so was.«
»Sieht ihm ähnlich.«
»Er hat auch gesagt, dass die Aktivisten von Open Borders wieder auf seinem Grundstück waren. Kannst du im Sheriffbüro Bescheid sagen?«
»Klar. Was haben sie diesmal gemacht?«
»Was sie immer machen: Wasser aufgestellt.«
»Solange das alles ist, hab ich nichts dagegen.«
»Bowder denkt, sie würden sein Land in einen Highway für Überquerer verwandeln.«
»Hast du’s ihm ausgeredet?«
»Was soll das bringen?«
Ana stand auf. Mit Stiefeln war sie fast so groß wie Darren. Er war kein hochgewachsener Mann. »Ich muss was essen und dann am Konsulat vorbei, um denen von der Leiche zu berichten. Hast du gegessen?«
»Vorhin. Aber ich könnte was trinken.«
»Okay. Ich hole nur meinen Hut.«
Das Mittagessen bestand aus einem mit Cola heruntergespülten Cheeseburger mit Pommes. Darren leistete Ana Gesellschaft und versorgte sie mit dem neuesten Büroklatsch. Als sie fertig war, gingen beide ihrer Wege. Darren stieg in seinen Truck und ließ Ana auf der sonnenbeschienenen Straße zurück.
Das mexikanische Konsulat verfügte über kein eigenes Gebäude. Es lag im dritten Stock eines vierstöckigen Hauses, in dem sich auch eine Bank und eine Arztpraxis befanden. Ana parkte vor der Tür und meldete sich am Empfang. Ein Junge verließ mit seiner Mutter gerade die Praxis.
Oben war es still und kühl. Der Teppich war tiefrot, das Konsulat selbst sah abgesehen von dem Staatswappen an der Eingangstür aus wie ein normales Büro. Eine einsame Rezeptionistin surfte im Internet, während sie auf Besucher wartete, die selten kamen. Sie fragte Ana nach ihrem Namen und gab ihn nach hinten durch.
Nach wenigen Minuten erschien Jorge Vargas. Er war klein, hatte Pomade im Haar und empfing Ana mit einer Umarmung und angedeuteten Wangenküssen. Ana ließ ihn. Sie mochte Vargas.
»Ana, ¿cómo estás?«, fragte er.
»Sehr gut«, sagte Ana. »Wie geht es Ihnen? Wir haben uns lange nicht gesehen.«
»Mindestens drei Monate«, sagte Vargas. »Warum kommen Sie nie zu Besuch?«
»Viel zu tun«, sagte Ana.
»Immer haben alle zu tun. Sogar ich habe zu tun.«
»Sie können mich jederzeit besuchen.«
»Auf Polizeireviere reagiere ich allergisch. Alte Angewohnheit.«
Vargas führte Ana in sein Büro, dessen Einrichtung aus dunklen Holzmöbeln und bequemen Sesseln bestand. Er bot ihr einen an und setzte sich ebenfalls. Als er die Beine übereinanderschlug, sah sie seine auf Hochglanz geputzten Halbschuhe. Er war immer gut gekleidet, obwohl es niemanden gestört wäre, wenn er ab und zu das Jackett ausgezogen und die Ärmel hochgekrempelt hätte.
»Erzählen Sie«, sagte Vargas.
»Ich war heute Morgen auf dem Land eines Ranchers auf Patrouille«, sagte Ana. »Und bin auf einen toten Mexikaner gestoßen.«
»Oh nein.«
»Er hatte keine Papiere bei sich. Man hatte ihn in den Rücken geschossen.«
»Das ist schrecklich.«
»Ich habe mir gedacht, Sie würden es lieber direkt von mir erfahren als durch einen Brief.«
»Und Sie haben keine Ahnung, wer es sein könnte?«
»Nach der gerichtsmedizinischen Untersuchung lassen wir die Fingerabdrücke durchlaufen.«
»Wenn Sie uns Kopien schicken, machen wir das Gleiche.«
»Gut«, sagte Ana.
Vargas Miene war düster. Einen Moment lang kaute er an seinen Fingerknöcheln herum, hörte dann abrupt auf, als wäre ihm gerade aufgefallen, was er da tat. »Denken Sie, es könnte ein narcotraficante gewesen sein?«, fragte er schließlich.
»Möglich. Es gibt Hinweise, dass die Gruppe, zu der er gehörte, schwer beladen war. Das könnte Drogen bedeuten.«
»Man würde meinen, für all das wären wir weit genug weg von den großen Grenzübergangen«, sagte Vargas. »Aber das Zeug ist jetzt überall. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid es mir tut.«
»Bei mir müssen Sie sich nicht entschuldigen. Schließlich wurde einer Ihrer Landleute erschossen.«
»Das rückt uns alle in ein schlechtes Licht«, sagte Vargas.
Ana wechselte das Thema. »Der Gerichtsmediziner sagt, es dauert ein paar Tage, bevor er die Todesursache offiziell bekanntgeben kann. Dann wohl noch mal ein, zwei Tage, um die Fingerabdrücke durchs System laufen zu lassen. Danach können wir alles in die Wege leiten, um die Leiche ans Konsulat zu überstellen.«
»Ja, danke. Aber ohne Namen hängt sie im luftleeren Raum.«
Das sollten Sie inzwischen kennen, dachte Ana, ohne es auszusprechen. Auf der anderen Seite der Grenze lagen Dutzende von Leichen aufgehäuft, bei vielen fehlten die Köpfe, die Hände oder andere Gliedmaßen. Namenlosigkeit war der Normalfall. »Wir finden heraus, wer er war«, sagte sie stattdessen.
»Haben Sie Zeit für eine Aussage über den Leichenfund?«, fragte Vargas.
Ana sah auf die Uhr. »Ich kann mir die Zeit nehmen.«
»Gut.«
Vargas rief die Rezeptionistin herein, die einen Stenografieblock und einen angespitzten Bleistift mitbrachte. Die Frau setzte sich an die Seite, Ana betrachtete sie aus dem Augenwinkel. Dann begann sie mit ihrem Bericht.
Die Details des Leichenfunds waren schnell erzählt, Ana hatte ja eben selbst erst alles aufgeschrieben. Die Rezeptionistin schrieb mit, und Vargas unterbrach nur, um den einen oder anderen Punkt zu klären. Als sie fertig waren, verließ die Rezeptionistin den Raum.
»Danke sehr. Ich lege das heute Nachmittag meinem Bericht bei.«
»Es tut mir leid«, sagte Ana. »Ich finde nie gern eine Leiche.«
»Kein Grund zur Entschuldigung. Im Gegenteil, wir müssten uns entschuldigen, weil wir diese Gewalt in Ihr Land tragen.«
»Lässt sich nicht ändern«.
Vargas dachte nach. »Vielleicht nicht«, sagte er. »Trotzdem ist es bedauerlich. Wir sollten unsere Probleme auf unserer Seite der Grenze behalten.«
Ana sagte nichts. Sie sahen sich schweigend an. Schließlich sagte sie: »Ich muss los.«
»Natürlich. Sie haben viel, viel zu tun.«
»Wie immer.«
Sie gingen zurück in den Empfangsbereich. Die Rezeptionistin surfte nicht mehr im Internet, sondern tippte ihre Notizen ab. Sie blickte nur kurz von ihrer Arbeit auf.
»Sie sollten öfter vorbeikommen, nicht nur mit schlechten Neuigkeiten«, sagte Vargas.
»Ich versuche es.«
Vargas hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und brachte sie zur Tür. »Auf Wiedersehen, Ana.«
»Jorge.«
Sie verließ das Gebäude. Es war kurz vor vier. Sie stieg in den Wagen, wendete mitten auf der Straße und fuhr Richtung Süden. Es war nicht gelogen, sie hatte immer viel, viel zu tun.
Der Grenzübergang von Presidio war nicht groß. Es gab nur zwei Fahrbahnen, plus einer dritten für gründliche Durchsuchungen und einer vierten für die Rückreise nach Mexiko. Seitlich daneben stand ein schlichtes Gebäude mit Büros, einer Stelle zur Registrierung von Fingerabdrücken und einer Zwei-Mann-Zelle. Ana parkte hinter dem Gebäude und ging nach vorne.
Der Einreiseverkehr in die USA war in Presidio längst nicht so stark wie in Laredo oder McAllen oder El Paso, dennoch stand eine ganze Reihe Wagen in der sengenden Sonne, deren Insassen warteten, bis sie an der Reihe waren. Beide Fahrbahnen waren offen, jede mit drei Agents besetzt. Ein siebter ging mit einem Schäferhund an der Leine dazwischen hin und her. Als er Ana entdeckte, winkte er. Sie winkte zurück.
Die Agents an der näher gelegenen Fahrbahn untersuchten einen Pick-up, auf dessen Ladefläche sich ein Haufen Schrott stapelte. Ein Agent verhörte den Fahrer auf Spanisch, während ein zweiter mit einem an einem langen Metallstab befestigten Spiegel um das Fahrzeug herumging. Ein dritter folgte dem zweiten, klopfte den Pick-up an verschiedenen Stellen ab und horchte auf das Geräusch, dass das Metall unter seinen Fingerknöcheln abgab.
Der Schäferhund wurde herbeigerufen. Sein Führer umrundete mit dem Hund den Truck, zeigte auf die Felgen und unter die Karosserie. Der Hund tat, wozu er ausgebildet war, spürte aber nichts auf. Der Truck durfte weiterfahren. Langsam schob sich die Wagenreihe ein Stück vorwärts.
»Wie geht’s, Ranger?«, sagte der Agent, der den Fahrer befragt hatte. Er hatte bereits die Papiere des nächsten in der Hand. »Langeweile?«
»Nein, Sandy, ich drehe nur meine Runde.«
»Na, wenn du was zu tun haben willst, kannst du eine Weile meinen Job hier übernehmen«, sagte Sandy.
»Ich spar’s mir.«
Der Hundeführer kam mit seinem Hund. Ana ging in die Hocke und streichelte das Tier. »Hallo, Frankie. Na, bist du ein guter Junge?«
Frankies Führer hieß Pollen. Er streckte Ana die Hand entgegen. »Nichts gefunden heute«, sagte er. »Wir haben mehr oder weniger den ganzen Tag gearbeitet.«
»Ich würde sagen, das sind gute Neuigkeiten.«
Die ewig gleichen Abläufe wiederholten sich bei allen Wagen. Der Spiegel kam zum Einsatz, die Autos wurden abgeklopft, dann wurde der Hund gerufen. Ana, die das Ganze schon tausend Mal miterlebt hatte, sah gleichmütig zu. Die Teams machten den ganzen Tag und bis in die Nacht hinein dieselben Handgriffe. Der Grenzübergang schloss nie. Nur die Gesichter der Agents wechselten.
Sandy winkte den Wagen durch. Weiter zum nächsten.
Pollen kehrte zurück. Er stellte sich mit dem Hund immer unter die Überdachung, trotzdem hechelte Frankie in der Hitze heftig. »Ich hab gehört, du hast heute was Interessantes gefunden.«
»Das hat sich bis hierher rumgesprochen?«
»Die Leute reden.«
»Die Leute sollten besser den Mund halten.«
»Was hast du gefunden?«
Ana zögerte, schüttelte dann den Kopf. »Kein Grund zur Sorge. Eine Leiche.«
»Hitze?«
»Erschossen.«
Pollen pfiff leise. »Ein echtes Rätsel.«
»Wahrscheinlich nur ein narco, der einen Fehler gemacht hat, als er auf unserer Seite der Grenze war.«
»Trotzdem …« An Pollens Uhr klingelte ein Timer. Er stellte ihn ab und wandte sich an Sandy. »Auszeit. Wir sehen uns in einer Stunde.«
»Ich zeig dir den hier in einer Stunde.«
»Kann ich dich zu einem Kaffee einladen?«, fragte Pollen Ana.
»Sicher.«
Sie betraten das Gebäude. Drinnen gab es keine Klimaanlage, durch die geöffneten Fenster wehte nur eine schwache Brise herein. In jeder Ecke des kleinen Raums surrten Ventilatoren. Neben einer Kaffeemaschine standen Becher, Milchpäckchen und ein Getränkeautomat.
Pollen und Frankie arbeiteten immer eine Stunde und machten dann eine Stunde Pause. Nur er selbst kannte seinen sich ständig ändernden Dienstplan, damit er für die Grenzquerer nicht vorhersehbar war. Vor Hunden hatte alle narcos Angst.
Frankie bekam eine Schüssel mit Wasser vorgesetzt, das er gierig aufschlabberte. Pollen ließ den Hund von der Leine, und Frankie zog sich in seine Ecke zurück, wo ein Hundebett mit angekauten Rändern lag.
»Wie willst du den Kaffee?«, fragte Pollen.
»Ich glaube, ich verzichte.«
»Wie du willst. Er ist heute tatsächlich mal frisch.«
»Es ist zu heiß für Kaffee.«
»Je heißer der Tag, desto heißer der Kaffee. Der bringt einen zum Schwitzen.«
»Ich schwitze schon genug.« Ana stellte sich vor einen Ventilator und ließ sich anpusten.
Pollen holte sich einen Becher Kaffee und sah den vorrückenden Wagen auf den Fahrbahnen zu. Sandy und die anderen winkten die Fahrzeuge stetig durch. Ana sah einigen nach, als sie weiterfuhren, und dachte darüber nach, wo die Fahrer hinwollten und was sie dort machen würden. Sie hatte keine Ahnung.
»Das ist hypnotisierend«, sagte Pollen.
Ana nickte.
»Erzähl mir von dem Toten.«
»Da gibt’s nicht viel zu sagen. Mexikaner. Von hinten erschossen. Mit dem Gesicht nach unten im Dreck, Beute für die Bussarde. Hab ihn zufällig gefunden, als ich bei Claude Bowder auf Patrouille war.«
»Bowder, wie? Lässt sich ja kaum ein besserer Ort zum Sterben denken.«
»Jedenfalls geht alles seinen Gang. Wir setzen die Tüpfelchen auf jedes i und schicken die Leiche Ende der Woche auf den Heimweg.«
»Hm«, sagte Pollen. »Hey, Karen hat neulich nach dir gefragt. Sie will wissen, wann du wieder zum Steakessen vorbeikommst.«
Presidio war eine Kleinstadt. Die Agents hielten zusammen, ständig wurden Grillabende und Partys veranstaltet. Manchmal ging Ana hin und saß am Rande, dabei, aber nicht zu nahe dran. Obwohl sie das Abzeichen trug, gehörte sie nicht dazu, aber bei Pollens Frau fühlte sie sich willkommen, und das war gut.
»Bald«, versprach sie.
»Sie wird dich beim Wort nehmen.«
»Ich weiß.«
Das Haus lag am Ende einer Schotterstraße auf einem flachen, mit widerspenstigem Grün bewachsenen Hügel am Stadtrand. Ana hatte es nicht wegen seiner Abgeschiedenheit ausgewählt, sondern weil es billig und verfügbar gewesen war, aber die Stille gefiel ihr auch. Die Auffahrt war lang und gewunden, und die nächsten Nachbarn lebten eine halbe Meile entfernt.
Als sie eintrat, traf sie die abgestandene Luft im Haus wie eine Wand. Sie drehte an den Knöpfen der am Fenster im Wohnzimmer befestigten Klimaanlage, und kalte Luft begann zu zirkulieren. Bald würde das Haus wieder bewohnbar sein.
Ihr Hut landete auf einem Haken neben der Tür, die Stiefel gleich darunter. Ana löste das Lederband, das ihre Haare zusammenhielt, schüttelte sie aus und tapste in Socken ins Schlafzimmer hinüber, um ihre Arbeitskleidung auszuziehen.
Texas Ranger trugen keine richtige Uniform, hatten sich aber an bestimmte Vorgaben zu halten. Manchmal kam sich Ana in diesem Westernstil zu männlich vor. In Shorts und T-Shirt fühlte sie sich wohler, die bloßen Füße genossen den Holzboden. Im Wohnzimmer wurde es immer kühler.
Der Fernseher versprach Ablenkung. Ana ließ sich aufs Sofa fallen und zappte durch die Kanäle, bis sie bei einer Kochsendung landete, die ihr ausreichend harmlos erschien. Sie sah sich den Rest der Sendung an und gleich danach die folgende. Was lief, war egal, solange es nett und anspruchslos war.
Als es Zeit zum Abendessen war, ging sie in die Küche und bereitete sich ein Kotelett zu, das sie am Morgen aus der Kühltruhe genommen hatte. Sie zwang sich, ein bisschen Salat dazu zu essen, außerdem Bohnen. Sie saß vor dem Fernseher, ließ sich vom Kochkanal berieseln und Rezepte und Küchenkniffe an sich vorbeirauschen.
Das Haus war einfach eingerichtet, die Wände nackt. Ana hatte es bei ihrer Ankunft in Presidio möbliert übernommen und nichts geändert, da sie erwartet hatte, nicht länger als höchstens sechs Monate zu bleiben. Aus sechs Monaten waren zwölf geworden, dann achtzehn, und jetzt war sie schon über zwei Jahre in Presidio County. Darüber wollte sie lieber nicht zu genau nachdenken. Als es draußen Nacht wurde, flackerte das Licht des Fernsehers in seltsamen Schatten über die leeren Wände.
Irgendwann war sie müde und genervt von dem nicht enden wollenden Aufmarsch kochbegeisterter Damen. Sie stellte den Fernseher aus und blieb im Dunkeln sitzen. Nur die Klimaanlage rauschte, draußen herrschte vollkommene Stille.
Sie trug den Teller in die Küche und wusch ihn ab. Er wirkte auf dem Abtropfgestell einsam, aber Ana hatte schon lange keine Gäste mehr zum Essen gehabt. Sie suchte im Kühlschrank nach Bier, erinnerte sich, dass sie keins eingekauft hatte, und schubste verärgert die Tür zu.
Das Bett im Schlafzimmer hatte sie wie jeden Morgen gemacht. Eine alte Angewohnheit. Sie schlug die Decke zurück und ging ins Badezimmer, duschte und putzte sich die Zähne. Danach war sie so müde, dass sie es kaum noch unter die Decke schaffte, bevor sie einschlief.
Als Ana aufwachte, hatte sie keine Ahnung, wie spät es war. Im Zimmer war es dunkel. Sie sah auf die Uhr auf dem Nachttisch. Kurz nach ein Uhr nachts. Sie hatte drei Stunden geschlafen.
Sie lag im Bett und horchte. Die Klimaanlage im Wohnzimmer rauschte immer noch, und die kühle Luft war bis ins Schlafzimmer gekrochen. Ana wusste nicht, was sie geweckt hatte.
Scheinwerferlicht zog über die Fenster, dann hörte sie das Motorengeräusch eines Trucks. Sie stand auf.
Bevor Darren Sabado seinen Schlüssel benutzen konnte, hatte sie die Haustür geöffnet. »Hey«, sagte sie.
»Hey. Tut mir leid, dass ich so spät komme. Ich habe jetzt erst Pause machen können.«
»Wie viel Zeit hast du?«
»Etwa eine Stunde.«
Sie zogen sich im Schlafzimmer aus und legten sich ins Bett. Darren hatte es eilig, und Ana fiel ein, dass es fast zwei Wochen her war. Ihr Liebesspiel dauerte nicht lange. Als Darren fertig war, rollte er sich neben Ana und hielt sie im Arm, während der Schweiß auf ihren Körpern trocknete.
»Jetzt müssen wir uns überlegen, was wir die restlichen fünfundvierzig Minuten machen«, zog Ana ihn auf.
»Klappe! Das war länger.«
Ana legte ihre Hand auf Darrens Bauch. Sie waren beide mager, von den strapaziösen, langen Stunden im Freien geformt. Darren konnte ohne Probleme einen Tagesmarsch unter sengender Sonne hinlegen. Ana ebenso.
»Wo ist Jeannie heute Nacht?«, fragte Ana.
»Zu Hause bei den Kindern, wie immer.«
»Bleibt sie je auf, bis du kommst?«
»Nicht, wenn ich Doppelschicht habe. Ich nehm’s ihr nicht übel, ich würde auch meinen Schlaf wollen.«
Jeannie Sabado war ganz anders als ihr Mann. Sie war klein und weich und sah aus, als wäre sie aus Versehen in Presidio gelandet. Ana war ihr ein paarmal bei den Pollens beim Grillen begegnet. Sie hatten wenig Gesprächsstoff gefunden.
»Hat irgendwer gesehen, dass du hier rausgefahren bist?«
»Niemand. Ich habe dem Dispatcher gesagt, dass ich ein Nickerchen in meinem Truck halte.«
»Wann ist deine Schicht zu Ende?«
»Warum?«
»Ich dachte, wir könnten vielleicht zusammen frühstücken.«
Darren schüttelte den Kopf. »Zu riskant.«
Natürlich wusste sie, dass er das sagen würde. Sie hatten bereits zusammen Mittag gegessen. Presidio war eine Kleinstadt, und es würde Gerede geben, wenn sie sich zu oft zusammen blicken ließen. Jeannie würde nicht lange brauchen, um die richtigen Schlüsse zu ziehen.