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Peterchens Mondfahrt wurde ursprünglich als Märchenspiel am 7. Dezember 1912 in Leipzig uraufgeführt. Die erste Buchausgabe erschien 1915 bei Wolff in Leipzig (Spielfassung) und ebenfalls 1915 bei Klemm in Berlin (Prosafassung mit den Originalillustrationen von Hans Baluschek). Der Text dieser Ausgabe folgt der 26. Auflage München 1992 und wurde unter Wahrung von Lautstand, Interpunktion sowie sprachlich-stilistischer Eigenheiten den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst. Die 14 Farbillustrationen der Originalausgabe wurden nicht übernommen.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2013 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlagmotiv: Coverillustration der Originalausgabe
Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de
ISBN 978-3-7306-9116-8
V002
www.anacondaverlag.de

Inhaltsverzeichnis

Die Geschichte der Sumsemanns

In der Kinderstube

Der Flug nach der Sternenwiese

Die Sternenwiese

Die Schlittenfahrt auf der Milchstraße

Das Schloss der Nachtfee

Die Ankunft der Kinder im Schloss der Nachtfee

Der Ritt auf dem großen Bären

Die Weihnachtswiese

Das Osternest

Die Mondkanone

Der Kampf mit dem Mondmann

Das Beinchen

Wieder daheim

Die Geschichte der Sumsemanns

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»Sumsemann« hieß der dicke Maikäfer, der im Frühling auf einer Kastanie im Garten von Peterchens Eltern hauste, nicht weit von der großen Wiese mit den vielen Sternblumen.

Er war verheiratet gewesen; aber seine Frau war nun tot. Ein Huhn hatte sie gefressen, als sie auf dem Hofe einherkrabbelte am Nachmittag, um einmal nachzusehen, was es da im Sonnenlicht zu schnabulieren gab.

Für die Maikäfer ist es nämlich sehr gefährlich, am Tage spazieren zu gehen. Wie die Menschen des Nachts schlafen müssen, so schlafen die Maikäfer am Tage.

Aber die kleine Frau Sumsemann war sehr neugierig und so brummte sie auch am Tage herum. Gerade hatte sie sich auf ein Salatblatt gesetzt und dachte: »Willst mal probieren, wie das schmeckt!« … Pick! – – da hatte das Huhn sie aufgefressen.

Es war ein großer Schmerz für Herrn Sumsemann, den Maikäfer. Er weinte viele Blätter nass und ließ seine Beinchen schwarz lackieren. Die waren früher rot gewesen; aber es ist Sitte bei den Maikäfern, dass die Witwer schwarze Beine haben in der Trauerzeit. Und Herr Sumsemann hielt auf gute Sitte, denn er war der letzte Sohn einer sehr berühmten Familie.

Vor vielen Hundert Jahren nämlich, als der Urahn der Familie Sumsemann sich gerade verheiratet hatte, geschah ein großes Unglück.

Er war mit seiner kleinen Frau im Wald spazieren geflogen – an einem schönen Sonntagabend. Sie hatten viel gegessen und ruhten sich ein wenig auf einem Birkenzweiglein aus.

Da sie aber sehr mit sich selbst beschäftigt waren, denn sie waren jung verheiratet, merkten sie nicht, dass ein böser Mann durch den Wald herbeikam; ein Holzdieb, der am Sonntag stehlen wollte. Der schwang plötzlich seine Axt und hieb die Birke um. Und so schrecklich schlug er zu, dass er dem Urgroßvater Sumsemann ein Beinchen mit abschlug.

Fürchterlich war es! –

Und sie fielen auf den Rücken und wurden ohnmächtig vor Angst. Nach einiger Zeit aber kamen sie zu sich von einem hellen Schein, der um sie leuchtete.

Da stand eine schöne Frau vor ihnen im Walde und sagte: »Der böse Mann ist bestraft für seinen Waldfrevel am Sonntag. Ich bin die Fee der Nacht und habe es vom Monde aus gesehen. Zur Strafe ist er nun mit dem Holz, das er umgeschlagen hat, auf den höchsten Mondberg verbannt. Dort muss er bleiben bis in alle Ewigkeit, Bäume abhauen und Ruten schleppen.«

Aber der Urgroßvater Sumsemann schrie und sagte: »Wo ist mein Beinchen, wo ist mein Beinchen, wo ist mein kleines sechstes Beinchen?«

Da erschrak die Fee.

»Ach«, sagte sie, »das tut mir sehr leid; es ist wohl an der Birke hängen geblieben und nun mit auf den Mond gekommen.«

»Oh, oh, mein Beinchen, mein kleines sechstes Beinchen!«, schrie der arme Urgroßvater Sumsemann, und seine kleine Frau weinte schrecklich. Sie wusste, dass nun alle ihre Kinder nur fünf Beinchen haben würden statt sechs, denn es vererbt sich. Und das war schlimm.

Als aber die Fee den großen Jammer sah, hatte sie Mitleid mit den Käfertierchen und sagte: »Ein Mensch ist zwar sehr viel mehr als ein Maikäfer, und deshalb kann ich die Strafe für den bösen Mann nicht aufheben; aber ich will erlauben, dass gute Menschen, wenn ihr sie findet, euch das Beinchen wiedergewinnen können. Wenn ihr zwei Kinder findet, die niemals ein Tierchen quälten, dann dürft ihr auf den Mond mit ihnen und das Beinchen wiederholen.«

Da waren die beiden etwas getröstet und flogen heim und trockneten ihre Tränen.

* * *

Diese Geschichte hatte sich bald unter allen Käfern herumgesprochen; alle Mücken, Grillen und Ameisen wussten es, sogar die Libellen und Schmetterlinge hatten davon gehört.

Die Familie der Sumsemanns war berühmt geworden. Sie galt auf allen Wiesen und in allen Bäumen für ein sehr vornehmes Geschlecht.

Aber die Sumsemänner und Frauen hatten viel Leid von ihrem Ruhm, denn immer wieder wurden sie totgeschlagen, wenn sie nachts in die Stuben kamen, um die Kinder zu bitten; oft von rohen und unverständigen Dienstmädchen, oft auch von den Kindern selbst.

Dies war der große Fluch, der auf der Familie lastete.

Und so kam es, dass zuletzt nur noch ein Sumsemann übrig war auf der Welt, der Witwer, dessen Frau von dem Huhn gefressen wurde, weil sie so neugierig am Tag herumflog, statt zu schlafen.

* * *

Er war ein sehr vorsichtiger Mann, hielt sich immer ein wenig abseits von den anderen Maikäfern, und besonders, seit seine Frau tot war, liebte er die Einsamkeit.

Da saß er in der Dämmerung, wenn er sich satt gegessen hatte, auf irgendeinem Zweiglein, geigte sehnsüchtige Liederchen an den Mond und die große Ballade vom sechsten Beinchen, das noch immer dort oben war.

Manchmal spielte er sich auch ein lustiges Liedchen. Dazu tanzte er dann auf den großen Kastanienblättern herum. Das sah sehr komisch aus.

Die anderen Maikäfer veranstalteten allabendlich ein großes Brummbass- und Paukenkonzert unter dem Baum. Herr Sumsemann aber sagte regelmäßig ab, wenn sie ihn dazu einluden, und das ärgerte sie sehr.

»Er ist hochnäsig«, sagten sie, »seit er nicht mehr den Brummbass, sondern die Geige spielt.«

Aber es war nur Neid von ihnen.

Sie hatten nämlich alle nur ihre Pauken und dicken Brummbässe; er aber hatte eine kleine silberne Geige, die funkelte wie das Mondlicht und hatte einen Ton, so fein wie die winzigen, singenden Mücken, die in der Sonne tanzen.

* * *

Diese Geige war ein altes Familienerbstück.

Einst hatte ein Herr Sumsemann der Grille Zirpedirp, die auf der Sternblumenwiese wohnte, das Leben gerettet, als sie zu hoch auf einen Baum gestiegen war und einen Schwindelanfall bekam.

Zum Dank für diese mutige Tat hatte die Grille ihrem Lebensretter die silberne Geige geschenkt.

Die erbte seither im Geschlechte der Sumsemanns immer der älteste Sohn, und sie wurde hoch in Ehren gehalten. So war nun der letzte Sumsemann auch der letzte Erbe.

All dies machte ihn sehr stolz. Man kann es begreifen. Er führte ein bequemes Leben, war dick und vorsichtig und dachte immer daran, dass er sich nicht in Gefahr bringen dürfe.

Nur manchmal, wenn der Abend gar so schön war, packte es ihn, und er wurde mutig.

Dann trank er ein Vergissmeinnichtschnäpschen nach dem anderen zur Erinnerung an seine Frau – obwohl sie damit ganz gewiss nicht einverstanden gewesen wäre –, und in sehr angeregter Stimmung summte er in Zickzacklinien durch die Gärten.

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Er störte die Mücken bei ihrem Abendtanz und die Leuchtkäfer beim Versteckspielen. Er rempelte die Apfelblüten an, dass die kleinen Marienkäferkinderchen herauspurzelten, die da eben einschlafen wollten. Er zerriss der schieläugigen Spinne die Fangnetze und rannte … bums! … gegen alle Fenster, weil er nicht mehr genau unterscheiden konnte, ob ein Fenster offen oder geschlossen war. Es tat ihm aber nichts, denn er hatte einen sehr harten Schädel. »Hoppla!«, sagte er meistens nur und flog weiter, von gewaltigem Tatendurst getrieben. »Ein Ritter bin ich«, so dachte er, »und der letzte Sumsemann!«

In der Kinderstube

So war der letzte Sumsemann denn auch eines schönen Abends in das Schlafzimmer von Peterchen und Anneliese geraten, als die Kinder gerade von der dicken Minna zu Bett gebracht wurden.

Peterchen hatte natürlich sein Gebrumm gehört und wollte ihn greifen. Gut war nur, dass Minna die Jagd nicht erlaubte, denn sonst wäre Sumsemann vielleicht in eine schlimme Lage geraten. Sie war wahrscheinlich schwerhörig, denn sie hatte gar nichts gehört und glaubte, dass Peterchen ihr nur etwas vormachen wolle, um im Hemdchen noch so »ein bissel« im Zimmer herumzuturnen.

Der Schreck war dem edlen Sumsemann aber doch scheußlich in die Glieder gefahren, und, trotzdem er gerade heute besonders viele Vergissmeinnichtschnäpschen getrunken hatte, war all sein Mut fort. Er lag oben auf der Gardinenstange und stellte sich tot. Dies ist ein altes und bewährtes Mittel bei den Maikäfern, in großen Gefahren.

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Derweil aber passte er genau auf, was im Zimmer geschah.

Die Minna ging fort, als sie die Kinder ins Bettchen gepackt hatte, und Peterchen unterhielt sich mit Anneliese natürlich gleich über den Maikäfer.

Jetzt wurde es wieder gefährlich!

Der Sumsemann bekam oben auf der Gardinenstange kolossales Herzklopfen, als Peterchen plötzlich leise aufstand, um ihn zu suchen, weil Anneliese ein bissel Angst hatte.

»Wer weiß, es hätte ihm doch ans Leben gehen können; obwohl die Kinder ja sonst gut waren. Aber man darf sich auf die Gutmütigkeit der Menschen nicht verlassen.« Dies wusste er aus seiner Familiengeschichte.

Das Geschick war ihm aber günstig; denn, gerade als Peterchen an der Gardine war und die Gefahr am höchsten stieg, kam die Mutter herein.

Husch! wurde der kleine Junge wieder ins Bettchen gesteckt; beide Kinder mussten die Hände falten und das Nachtgebet sprechen.

Dann sang die Mutter ihnen noch ein Schlaflied. –Und sie sang die berühmte Maikäferballade. Hier ist sie:

»War einst ein kleines Käferlein,

Summ – Summ – Summ –

Hatte zwei braune Flügelein,

Summ – Summ – Summ –

Und sechs Beinchen hatte es auch

Unter seinem schwarz-weißen Bauch,

Summ – Summ – Summ.

Saß auf einem grünen Baum,

Summ – Summ – Summ –

Träumte einen schönen Traum,

Summ – Summ – Summ –

Träumte von Sonne, Mond und Sternen

Und von fremden Länderfernen,

Summ – Summ – Summ.

Als der dunkle Abend kam,

Summ – Summ – Summ –

Käferlein sein Ränzel nahm,

Summ – Summ – Summ –

Wollt’ auf die große Reise gehn

Und die weite Welt besehn,

Summ – Summ – Summ.

Flog über einen breiten Bach,

Summ – Summ – Summ –

Verlor ein kleines Beinchen, ach! …

Summ – Summ – Summ –

Reiste nur noch mit fünf Beinen,

Tat so bitterlich drum weinen,

Summ – Summ – Summ.

Flog es nach dem Mond geschwind,

Summ – Summ – Summ –

Kam ein großer Wirbelwind,

Summ – Summ – Summ –

Brach ein Flügelchen entzwei;

Ach, das gab ein groß’ Geschrei!

Summ – Summ – Summ.

Fiel in einen tiefen Wald,

Summ – Summ – Summ –

Starb an seinem Kummer bald,

Summ – Summ – Summ –

Musst’ die Reis’ ein Ende haben;

Sandmännchen hat es eingegraben,

Summ – Summ – Summ.«

»Seltsam!« –Herr Sumsemann oben auf der Gardinenstange wunderte sich, dass die Menschen dies Lied auch kannten.

Es war ihm aber ein neuer Beweis für die Berühmtheit der Maikäfer auf der weiten Welt, und dies beruhigte ihn sehr.

* * *

Als die Kinder nun eingeschlafen waren und die Mutter aus dem Zimmer ging, fasste er neuen Mut. Ganz leise rappelte er sich auf und spazierte in der Stube herum.

Er besah und beschnüffelte alles.

Eine Puppenstube, ein Schaukelpferdchen, ein Lämmchen, Soldaten und Bilderbücher waren da. –Lauter langweilige Sachen!

In der Puppenstube war allerdings etwas Zucker; aber Zucker? –Puh, den mochte er nicht! Er verstand gar nicht, wie man so was essen könnte.

Dann waren noch zwei Körbchen mit Äpfeln da. Die Mutter hatte sie den Kindern für morgen hingestellt, wenn sie recht brav ausgeschlafen hätten. Er schüttelte den Kopf. »Wie konnte man nur Äpfel essen?!« – Unbegreiflich war ihm das. Gräuliche Bauchschmerzen hätte er bekommen. Er aß nur Salat; das war vornehm.

»Komisch, was den Menschen alles gut schmeckt!«, dachte er, und dabei musste er laut lachen.

Da er aber so viel Vergissmeinnichtschnäpse getrunken hatte, geriet er plötzlich aus dem Gleichgewicht und purzelte auf den Rücken.

Au! … das war eine außerordentlich fatale und unangenehme Lage für den dicken Sumsemann, denn jeder weiß, dass es für Maikäfer sehr schlimm ist, auf den Rücken zu fallen, weil sie sich dann gar nicht mehr recht aufrappeln können.

Er angelte also mit seinen fünf Beinchen in der Luft herum und dachte: »Ja, ja, das kommt von den Schnäpschen, die man zum Andenken an die tote Ehefrau trinkt!« –

Lebte sie noch, sie hätte ihm sicher eins ausgewischt für die vielen Schnäpschen.

Er wiegte sich nach rechts und links wie ein kleines Boot, kreiselte herum wie eine Karussell und quälte sich sehr.

Endlich geriet er in die Nähe eines Tischbeins, und daran konnte er sich stützen, sodass er wieder hochkam.

Ganz schmutzig war sein schöner, brauner Rock geworden. Alle Knöpfe waren abgeplatzt, und eine lange Naht war aufgerissen. Gut, dass ihn seine Frau nicht mehr sehen konnte.