Aus dem Englischen
von Ana Maria Brock, Heinrich Conrad,
Marion Herbert, Margarete Jacobi
und Kim Landgraf
Anaconda
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© 2014 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlagmotiv: Silhouette nach einem Porträt von A. F. Bradley
Umschlaggestaltung: Druckfrei. Dagmar Herrmann, Köln
ISBN 978-3-7306-9122-9
V002
www.anacondaverlag.de
Aus dem Englischen von Heinrich Conrad und Margarete Jacobi
Aus dem Englischen von Ana Maria Brock
Aus dem Englischen von Margarete Jacobi
Aus dem Englischen von Kim Landgraf
Aus dem Englischen von Marion Herbert
Mit siebenundzwanzig Jahren bekleidete ich in San Francisco eine Stelle auf dem Kontor eines Minenmaklers und hatte mir dabei eine gründliche Kenntnis dieses Geschäftszweiges nach allen Richtungen erworben. Ich stand allein auf der Welt und nannte nichts mein eigen als meinen gesunden Verstand und einen fleckenlosen Ruf; doch hatten sich diese beiden Güter mir bisher als kräftige Stützen auf meinem Weg zum Glück erwiesen, und so schaute ich frohen Mutes in die Zukunft.
An den Sonnabenden hatte ich den Nachmittag für mich und brachte diese freie Zeit meist auf dem Wasser zu, indem ich mich in einem kleinen Segelboot in der Bucht herumtummelte. Dabei wagte ich mich eines Tages zu weit hinaus, sodass ich in die offene See getrieben wurde. Schon brach die Nacht herein, und meine letzte Hoffnung begann zu schwinden, als mich eine kleine Brigg, die auf ihrem Weg nach London vorübersegelte, an Bord nahm.
Sie hatte eine lange, stürmische Fahrt, und ich musste das Reisegeld als gemeiner Matrose abverdienen. In zerlumpten, abgeschabten Kleidern stieg ich in London an Land, einen einzigen Dollar in der Tasche. Diese Summe verschaffte mir Nahrung und Obdach für die ersten vierundzwanzig Stunden. Die folgenden vierundzwanzig dagegen verbrachte ich ohne diese schätzenswerten irdischen Güter.
Müde und hungrig schleppte ich mich am folgenden Morgen – es mochte etwa zehn Uhr sein – an Portland Place vorüber, als ein Kind, das an der Hand seiner Wärterin des Weges kam, eine köstliche große Birne, die es eben erst angebissen hatte, in den Rinnstein fallen ließ. Ich machte natürlich sofort Halt und heftete meinen begehrlichen Blick auf diesen schmutztriefenden Schatz. Der Mund wässerte mir, mein Magen bäumte sich, jede Faser an mir lechzte danach. Aber sooft ich Miene machte, nach der Birne zu greifen, jedes Mal bemerkte das Auge eines Vorübergehenden mein Vorhaben; natürlich richtete ich mich dann stets wieder kerzengerade auf und nahm eine gleichgültige Miene an, als hätte ich überhaupt niemals im Entferntesten an diese Birne gedacht. So ging es immer und immer wieder, und ich konnte derselben nicht habhaft werden. Bereits hatte meine Verzweiflung einen solchen Grad erreicht, dass ich allem Schamgefühl zum Trotz im Begriff stand, die Birne ganz offen aufzuheben, als hinter mir ein Fenster aufging und ein Herr die Worte an mich richtete:
»Bitte, kommen Sie hier herein.«
Ein reich galonierter Lakai ließ mich ein und führte mich in ein kostbar eingerichtetes Zimmer, in welchem zwei ältliche Herren saßen. Nachdem sie den Diener weggeschickt, forderten sie mich auf, Platz zu nehmen. Sie waren eben erst mit ihrem Frühstück fertig geworden, und der Anblick der Überreste desselben ging fast über meine Kräfte. Ich vermochte kaum meine fünf Sinne zusammenzuhalten, während ich diese Herrlichkeiten da vor mir stehen sah; da man mich jedoch nicht aufforderte, davon zu kosten, so musste ich mich eben in meine üble Lage fügen, so gut es ging. Der Vorgang, der sich hier kurz zuvor abgespielt hatte, blieb mir selbst zwar noch geraume Zeit völlig unbekannt, dem Leser dagegen will ich denselben gleich jetzt mitteilen. Die beiden Brüder hatten am Tag vorher einen ziemlich heftigen Disput gehabt, den sie ganz nach Landessitte schließlich in Form einer Wette beilegten.
Man erinnert sich vielleicht, dass die Bank von England seinerzeit einmal bei Gelegenheit eines Geschäftes, das die Regierung mit einer auswärtigen Macht abschloss, eigens nur zu diesem Zweck zwei Noten von je einer Million Pfund Sterling ausgab. Aus irgendeinem Grund war nur die eine der beiden Noten hierbei gebraucht und dann entwertet worden, während die andere noch in den Gewölben der Bank lag. Nun waren die beiden Brüder im Laufe des Gesprächs ganz zufällig auf die Erörterung der Frage verfallen, wie es wohl einem durchaus ehrlichen und gescheiten Fremden ergehen würde, der in London auftauchte, ohne daselbst einen Menschen zu kennen, zugleich ohne allen weiteren Geldbesitz außer dieser Millionenbanknote und endlich ohne die Möglichkeit, sich über deren Erwerb auszuweisen. Bruder A. behauptete, der Betreffende müsse einfach Hungers sterben, während Bruder B. durchaus entgegengesetzter Meinung war. Bruder A. machte geltend, derselbe könnte ja die Note weder bei der Bank noch sonst wo anbringen, ohne auf der Stelle festgenommen zu werden. In dieser Weise stritten sie so lange hin und her, bis Bruder B. sich schließlich bereit erklärte, zwanzigtausend Pfund darauf zu wetten, dass der Fremde dreißig Tage lang unfehlbar von der Millionennote leben könne, und zwar ohne ins Gefängnis zu kommen. Bruder A. nahm die Wette an, worauf Bruder B. sich ohne Verzug nach der Bank begab und die Note kaufte. Echt englisch, wie man sieht: geradewegs forsch aufs Ziel los! Er ließ sodann von einem seiner Angestellten einen Brief in schöner Rundschrift dazu ausfertigen, und nun warteten die beiden Brüder am Fenster einen ganzen Tag lang auf einen Vorübergehenden, der danach aussähe, als käme bei ihm das inhaltsschwere Schriftstück in die richtigen Hände.
Es kamen viele ehrliche Gesichter vorüber, die aber nicht gescheit genug aussahen; ebenso viel, bei denen das Umgekehrte der Fall war, viele wiederum, bei denen beides zutraf; aber diese waren dann entweder nicht arm genug oder, wofern auch dieses stimmte, doch keine Fremden. Stets hatte die Sache irgendeinen Haken, bis ich auftauchte. Bei mir hatten beide sofort den Eindruck, dass sämtliche Erfordernisse in vollem Umfang erfüllt seien; die Wahl war demnach einstimmig auf mich gefallen, und da saß ich nun und harrte der Eröffnung, wozu man mich eigentlich hereingerufen habe. Zuvörderst hatte ich ein eingehendes Examen über meine persönlichen Verhältnisse zu bestehen, infolgedessen sie bald genug mit meiner ganzen Geschichte bekannt waren; das Ergebnis ging dahin, ich sei ganz der richtige Mann für ihr Vorhaben. Ich erwiderte, das sei mir höchst erfreulich, ich bitte mir nur sagen zu wollen, worin dieses bestehe. Hierauf überreichte mir der eine der beiden einen verschlossenen Briefumschlag mit dem Bemerken, darinnen sei die Erklärung enthalten. Ich wollte den Umschlag ohne Weiteres öffnen, allein dies ließ er nicht zu; ich solle denselben nur mit nach Hause nehmen, den Inhalt aufmerksam ansehen und dann mit vollem Bedacht und ruhiger Überlegung handeln. Einigermaßen verdutzt meinte ich, es wäre mir doch lieber, wenn die Sache etwas genauer erörtert werden könnte, sie ließen sich jedoch nicht darauf ein; so verabschiedete ich mich denn, tief gekränkt über den schlechten Scherz, den man sich offenbar mit mir erlaubt hatte, und voll Grimm über meine dermalige Lage, in der ich mir diesen Schimpf von so reichen und mächtigen Leuten ganz ruhig musste gefallen lassen.
Die Birne hätte ich jetzt unfehlbar aufgehoben und vor aller Welt verzehrt, aber nun war dieselbe nicht mehr da. Also auch darum hatte mich die unselige Geschichte gebracht! Diese Vorstellung war nicht eben dazu angetan, mich sanfter gegenüber den beiden alten Herren zu stimmen. Sobald ich aus der Sichtweite des Hauses war, öffnete ich den Umschlag. Ich erblickte eine Banknote! Nun erschienen mir die Herren natürlich auf einmal in ganz anderem Licht. Ohne mich einen Augenblick zu besinnen, schob ich den Brief samt dem Geld in die Westentasche und lief spornstreichs nach der nächsten billigen Speisewirtschaft. Nun, wie ich da einhieb, das musste man sehen! Als schließlich nichts mehr in mich hineinging, nahm ich die Note aus der Tasche und faltete sie auseinander. Beim ersten Blick darauf wäre ich beinahe in Ohnmacht gefallen. Fünf Millionen Dollar!! Mir wirbelte der Kopf bei der bloßen Vorstellung.
Eine volle Minute dauerte es gewiss, bis ich aus der Betäubung, in welche mich der Anblick der Note versetzte, heraus und wieder ordentlich zu mir kam. Das Erste, was mir nun ins Auge fiel, war der Wirt. Wie versteinert stand er da, starr den Blick auf die Banknote gerichtet. Es sah aus, als sei er vor lauter Verzückung nicht mehr imstande ein Glied zu rühren. Augenblicklich hatte ich den Entschluss gefasst, der bei dieser Sachlage der einzig vernünftige war. Ich streckte ihm die Note hin und sagte dabei in ganz unbefangenem Ton:
»Bitte, wollen Sie mir herausgeben.«
Diese Anrede gab ihm sein geistiges Gleichgewicht wieder. Er erschöpfte sich in Entschuldigungen, dass er nicht imstande sei, die Note zu wechseln, und wollte dieselbe um keinen Preis annehmen. Nur anschauen wollte er sie, immer wieder anschauen; es war, als könnte er sich nicht satt daran sehen; vor ihrer Berührung dagegen scheute er zurück, als wäre es ein geweihter Gegenstand, viel zu heilig für die Hände eines Sterblichen.
»Es tut mir leid, wenn ich Ihnen Mühe mache«, begann ich wieder, »allein ich muss darauf beharren, dass Sie mir auf die Note herausgeben, ich habe kein Geld sonst.«
Das mache ganz und gar nichts, versetzte er, er lasse diese unbedeutende Zeche ganz gern bis zum nächsten Mal stehen. Ich erwiderte, es könne lange dauern, bis ich wieder bei ihm vorbeikomme; allein er versicherte abermals, das habe nichts auf sich, er könne wohl warten; ich könne überhaupt zu jeder Zeit bei ihm haben, was ich wolle, und den Betrag dafür stehen lassen, solange es mir beliebe. Ich werde doch nicht von ihm glauben, dass er einem so reichen Herrn wie mir bloß deshalb kein Vertrauen schenke, weil derselbe ein lustiger Kauz sei, der zum Ulk gerne in geringer Kleidung unter die Leute gehe. Unterdessen hatten sich weitere Gäste eingefunden; auch jetzt gab er mir noch durch Zeichen zu verstehen, ich solle das Ungetüm doch nur wieder einstecken; und als ich dann fortging, machte er einen Bückling um den andern hinter mir drein bis zur Tür. Ich machte mich schnurstracks wieder auf den Weg nach der Wohnung des Brüderpaars, um dieselben von der vorgekommenen Verwechslung in Kenntnis zu setzen, ehe ich durch polizeiliche Nachforschungen hierzu veranlasst würde. Es war mir gar nicht recht wohl bei der Sache, ja, ich hatte eigentlich ganz gehörig Angst, obwohl mich natürlich durchaus keine Schuld traf. Aber ich kannte die Welt und wusste nur zu wohl, dass, wenn jemand aus Versehen einem Bettler statt einer Einpfundnote eine Millionenbanknote gibt, er unfehlbar in eine grässliche Wut auf den armen Teufel gerät, anstatt sich für seine Kurzsichtigkeit nach Gebühr an die eigene Nase zu fassen. Als ich in die Nähe des Hauses kam, begann sich meine Aufregung etwas zu legen, denn da war alles still und ruhig – offenbar war der Streich noch nicht entdeckt worden. Ich klingelte. Derselbe Bediente wie das erste Mal erschien wieder. Ich fragte nach den beiden Herren.
»Sie sind fort«, erwiderte er in dem hochmütigen, kalten Ton, den seinesgleichen meist an sich haben.
»Fort? Wohin?«
»Verreist.«
»In welcher Richtung denn?«
»Wahrscheinlich nach dem Kontinent.«
»Dem Kontinent?«
»Jawohl.«
»Welchen Weg haben sie denn eingeschlagen?«
»Kann ich nicht sagen.«
»Wann kommen sie denn zurück?«
»In einem Monat, soviel sie sagten.«
»In einem Monat! Ach, das ist ja schrecklich! Geben Sie mir doch nur irgendeinen noch so entfernten Anhaltspunkt, wie ich ihnen ein Wort zukommen lassen kann. Es ist von der allerhöchsten Wichtigkeit.«
»Kann ich wirklich nicht. Ich habe keine Ahnung, wohin sie gereist sind.«
»Dann muss ich irgendeinen Angehörigen der Familie sprechen.«
»Die Familie ist ebenfalls fort, auf Reisen schon seit Monaten – in Ägypten, Indien, glaube ich.«
»Mann, es ist ein ungeheures Versehen vorgekommen. Noch vor Nacht kommen die Herren gewiss zurück. Wollen Sie ihnen dann sagen, ich sei da gewesen und werde so lange immer wiederkommen, bis die Sache in Ordnung sei. Sie dürften also ganz unbesorgt sein.«
»Ich will es ihnen sagen, falls sie zurückkommen, aber ich erwarte sie nicht zurück. Sie sagten, dass Sie schon in einer Stunde wiedererscheinen würden, um nachzufragen. Ich solle Ihnen aber nur sagen, es sei alles in Ordnung, sie werden schon zur rechten Zeit zurück sein und Sie erwarten.«
Nun musste ich also mein Vorhaben aufgeben und wieder fortgehen. Dieses unergründliche Rätsel! Mir war, als müsste ich den Verstand darüber verlieren. Sie würden »zu rechter Zeit zurück sein«. Was konnte das zu bedeuten haben? Oh, in dem Brief würde ich vielleicht Aufklärung darüber finden. Den hatte ich ganz vergessen. Ich zog ihn aus der Tasche und las ihn durch, derselbe lautete:
»Gescheit und ehrlich sind Sie, das sieht man Ihnen am Gesicht an. Wie wir weiter annehmen dürfen, sind Sie außerdem mittellos und fremd. Inliegend finden Sie einen Geldbetrag, der zu einem unverzinslichen Darlehen für Sie auf die Dauer von dreißig Tagen bestimmt ist. Nach Ablauf dieser Zeit sprechen Sie wieder hier vor. Ich habe eine Wette auf Sie gemacht. Gewinne ich dieselbe, so sollen Sie jede beliebige Stellung erhalten, die ich zu vergeben habe – das heißt vorausgesetzt natürlich, dass solche Ihrer bisherigen Tätigkeit entspricht und dass Sie die Fähigkeit besitzen, dieselbe auszufüllen.«
– Keine Unterschrift, keine Adresse, kein Datum. –
Nun, da steckte ich einmal in einer netten Klemme. Der Leser kennt ja die Vorgeschichte des Falles, ich selbst dagegen hatte keine Ahnung davon. Für mich war das Ganze lediglich ein unergründliches, dunkles Rätsel. Ich hatte nicht die entfernteste Vorstellung, um was es sich bei der Sache handelte und ob es dabei gut oder schlecht mit mir gemeint war. In einer öffentlichen Anlage ließ ich mich auf eitler Bank nieder, um hier die Sache gründlich zu überdenken und mich über mein ferneres Verhalten schlüssig zu machen.
Nach Verlauf einer Stunde hatte bei mir an der Hand meiner Erwägungen die folgende Auffassung endgültig Gestalt gewonnen. Ob es die beiden Herren gut mit mir meinen oder schlecht, ist eine Frage, die ich nicht zu ergründen vermag – also ruhig zusehen. Es handelt sich dabei um einen Scherz, eine Idee oder ein Experiment irgendwelcher Art, worüber ich ebenso wenig ins Klare kommen kann – also wiederum ruhig zusehen. Man ist auf mich eine Wette eingegangen, deren Gegenstand ich unmöglich zu erraten imstande bin – also abermals ruhig zusehen. Damit wären die unfassbaren Größen abgetan; die übrigen in Betracht kommenden Faktoren sind dagegen sämtlich greifbarer, reeller Art und lassen sich ganz genau zum Voraus bestimmen und berechnen. Wenn ich bei der Bank von England darum nachsuche, die Note dem Eigentümer auf Rechnung zu stellen, so wird man allerdings meinem Antrag nachkommen, denn dort kennt man ja seinen Namen, wenn auch ich ihn nicht weiß; aber dann wird man mich weiter fragen, wie ich in den Besitz der Note komme; und sage ich darauf die Wahrheit, so sperrt man mich selbstredend in ein Irrenhaus, lüge ich dagegen, so erhalte ich Quartier in Numero sicher. Genau ebenso würde es mir ergehen, falls ich versuchen wollte, die Note irgendwo sonst einzulösen oder Geld darauf aufzunehmen. Ich muss diese unerträgliche Last mit mir herumschleppen, bis jene Herren zurückkommen, ob ich will oder nicht. Sie ist ohne allen Wert für mich, so wertlos wie eine Hand voll Asche, und doch muss ich sie aufs Sorgfältigste behüten und bewahren, während ich dabei auf fremde Mildtätigkeit angewiesen bin, um mein Leben zu fristen. Nicht einmal verschenken könnte ich die Note, wenn ich wollte; denn kein ehrlicher Bürger, ja selbst nicht der gemeinste Straßenräuber würde sie annehmen oder um alles in der Welt das Geringste damit zu tun haben wollen. Das Brüderpaar ist in jedem Fall vollkommen gedeckt – selbst wenn ich die Note verliere oder verbrenne; denn im ersten Fall brauchen sie nur Zahlungssperre zu veranlassen, im zweiten dagegen ersetzt ihnen die Bank den vollen Wert. Ich dagegen muss inzwischen einen ganzen Monat voll unerhörter Qualen durchmachen, ohne im Geringsten Entgelt oder Lohn dafür zu erhalten – wofern ich nicht jene Wette gewinnen helfe, sie mag sich nun beziehen, worauf sie wolle, und dafür die mir zugesagte Stellung erhalte. Ja freilich, wenn ich die bekäme! – So große Herren haben oft Pöstchen zu vergeben, nach denen man sich die Finger leckt.
Von dem Gedanken an diesen Posten konnte ich mich nun nicht mehr losreißen. Ich begann mich mit hochfliegenden Hoffnungen zu tragen. Zweifelsohne war ein glänzendes Gehalt damit verbunden, das im nächsten Monat beginnen musste, und damit war ich ja dann wieder völlig flott. Diese frohen Aussichten versetzten mich rasch in eine sehr gehobene Stimmung, obwohl ich vorläufig noch immer ziellos in den Straßen umherirrte. Als ich an einem Kleiderladen vorbeikam, erfasste mich das sehnlichste Verlangen, meine Lumpen abzuwerfen und mich wieder einmal anständig zu kleiden. Konnte ich mir das leisten? Nein, denn ich besaß wohl eine Millionenpfundnote, aber sonst nichts auf der Welt. So zwang ich mich denn, an dem Laden vorüberzugehen. Aber bald stand ich wieder davor. Die Versuchung war zu grausam; gewiss sechsmal ging ich bis an den Laden hin und wieder fort, während ich heldenmütig gegen dieselbe ankämpfte. Aber schließlich gab ich mich überwunden – ich konnte nicht anders. Ich fragte nach einem verschnittenen Anzug, der ihnen vielleicht liegengeblieben sei. Der Bedienstete, an den ich mich gewendet hatte, nickte nur stumm einem andern zu. Als ich auf diesen zuging, wies er mich in gleicher Weise an einen dritten, der mir nun zurief:
»Werde Sie sogleich bedienen!«
Ich wartete, bis er mit seinem augenblicklichen Geschäft fertig war, dann führte er mich in ein Hinterzimmer, wo er aus einem ganzen Haufen verschnittener Anzüge den schlechtesten für mich heraussuchte. Ich zog ihn an. Er passte nicht, war auch durchaus nicht hübsch, dagegen war er völlig neu und somit für mich höchst begehrenswert. Ich hatte also nichts an demselben auszusetzen und bemerkte dann in etwas unsicherem Ton:
»Es wäre mir sehr erwünscht, wenn Sie einige Tage auf den Betrag warten könnten. Ich habe kein kleines Geld bei mir.«
Der Kerl nahm eine unverschämt spöttische Miene an und erwiderte:
»Ach, wirklich! Nun, das habe ich mir gleich gedacht. Herren wie Sie haben gewöhnlich nur große Scheine in der Tasche.«
Ärgerlich über diese Unverschämtheit versetzte ich:
»Lieber Freund, Sie müssen jemand, den Sie nicht kennen, nicht immer nach den Kleidern beurteilen, die er trägt; ich bin wirklich ganz wohl imstande, den Anzug zu bezahlen. Ich wollte Ihnen nur die Mühe ersparen, eine große Note zu wechseln.«
Darauf milderte er seinen Ton ein wenig und erwiderte, immer noch ziemlich von oben herab:
»Ich wollte Ihnen ja nicht zu nahe treten; aber wenn wir uns denn doch einmal gegenseitig die Meinung sagen, so finde ich es nicht gerade am Platze, dass Sie sich daran zu zweifeln erlauben, ob wir auf eine Banknote, die Sie bei sich tragen, auch herausgeben können. Wir geben auf jede heraus.«
»Oh, das ist etwas anderes: Dann bitte ich um Vergebung«, erwiderte ich und reichte ihm die Note hinüber. Mit einem Lächeln nahm er sie entgegen, mit jener Art von Lächeln, die das ganze Gesicht mit einem System von Falten, Runzeln und Schlangenlinien überzieht wie die Ringe auf einer Wasserfläche, wenn man einen Stein hineingeworfen hat. Als er aber nun den Blick auf die Note gleiten ließ, wurde dieses Lächeln plötzlich zu Stein und nahm eine graugelbe Farbe an, sodass es aussah wie die Lavastücke, die man zu wellenförmig gewundenen Gebilden erstarrt an den Abhängen des Vesuv findet. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass vor meinen Augen ein Lächeln so vollkommen unverändert stehen blieb. Immer noch stand der Mensch, die Note in der Hand, mit demselben Ausdruck da, bis endlich der Prinzipal herbeigeeilt kam, um zu sehen, was denn sei.
»Nun, was gibt’s?«, fragte er. »Was ist los? Wo fehlt’s?«
»Es gibt gar nichts«, versetzte ich, »ich warte nur auf mein Kleingeld.«
»So geben Sie ihm doch heraus, White, frisch vorwärts!«
»Herausgeben!«, rief der Kommis, der nun auch wieder zum Leben erwachte, »das ist gleich gesagt; sehen Sie nur erst die Note einmal an!«
Der Prinzipal warf einen Blick darauf, dann pfiff er in vielsagender Weise halblaut durch die Zähne und machte sich über den Haufen verschnittener Anzüge her, indem er dieselben fortwährend von einer Seite zur andern warf. Dabei machte er seiner Aufregung durch folgendes Selbstgespräch Luft:
»Einem exzentrischen Millionär einen solch unsagbar scheußlichen Anzug zu verkaufen! White ist ein Narr, ein geborener Narr. Immerfort macht er solche Streiche. Sooft ein Millionär in den Laden kommt, treibt er ihn mir wieder hinaus, weil er es in seinem ganzen Leben noch nicht so weit gebracht hat, dass er einen Millionär von einem Bettler zu unterscheiden imstande ist. So, da hab ich, was ich suchte«, wandte er sich nun an mich. »Bitte, legen Sie doch das Zeug da wieder ab und werfen Sie es ins Feuer. Tun Sie mir den Gefallen und ziehen Sie dafür dieses Hemd an und diesen Anzug hier. Das ist das einzig Richtige, das einzig Wahre – einfach und doch reich, wahrhaft fürstlich und doch nicht im Mindesten auffallend. Wurde für eine ausländische Fürstlichkeit eigens angefertigt; der Besteller konnte es aber dann nicht brauchen und musste einen Traueranzug dagegen nehmen, weil man meinte, seine Mutter liege im Sterben – und dann starb sie erst nicht. Aber das ist Nebensache, es geht eben nicht immer wie wir eh, eh – das heißt wie man … Da! Die Hosen sind ganz recht, sitzen Ihnen wunderbar. Jetzt die Weste. Aha, ebenfalls vorzüglich! Jetzt den Rock – guter Gott, schauen Sie nur her, großartig, unübertrefflich! Das Vollkommenste, was je aus meinem Geschäft hervorgegangen ist.«
Ich konnte nicht umhin, meiner Befriedigung Ausdruck zu geben.
»Oh gewiss, gewiss. Für einen fertigen Anzug passt er ja ganz gut, das muss ich selber sagen. Aber warten Sie nur, was wir Ihnen erst nach Maß liefern werden.Vorwärts, White, Buch und Feder, aber rasch!« Dann fing er an: »Beinlänge 32« und so fort. Ehe ich eine Silbe dagegen vorzubringen vermochte, hatte er mir das Maß zu Gesellschaftsanzügen, Morgenanzügen und allem Möglichen sonst genommen. Als ich endlich zu Wort kommen konnte, sagte ich:
»Aber, mein werter Herr, ich kann das alles unmöglich bestellen, wenn Sie nicht mit der Bezahlung auf unbestimmte Zeit warten oder die Note wechseln können.«
»Auf unbestimmte Zeit! Das will ja gar nichts heißen, gar nichts. In alle Ewigkeit – so müssen Sie sagen. White, lassen Sie die Sachen schleunigst anfertigen und dem Herrn dann unverzüglich in die Wohnung schicken. Die kleineren Kunden mögen warten. Notieren Sie die Adresse des Herrn.«
»Ich bin eben im Umzug begriffen; ich komme dann wieder herüber und gebe Ihnen meine neue Adresse«, warf ich ein.
»Ganz schön, ganz schön. Nur einen Augenblick, bitte, dann werde ich Sie zur Tür geleiten. So, hier – habe die Ehre, mich Ihnen bestens zu empfehlen!«
Nun, so musste es ja wohl kommen, nicht wahr? Auf dem allernatürlichsten Weg war ich bald dahin gelangt, dass ich überall einfach verlangte, was ich haben wollte, und dann beim Bezahlen mit meiner Millionennote vorrückte. Noch bevor eine Woche um war, wohnte ich kostbar eingerichtet im größten Luxus und von allen Bequemlichkeiten umgeben in einem teuren Privathotel in Hanover Square. Hier nahm ich auch das Diner ein, zum Frühstück dagegen suchte ich regelmäßig die kleine Speisewirtschaft auf, in der mir meine Millionennote zu meinem ersten Mahl verholfen hatte. Dieselbe gelangte durch mich zu ungeahnter Blüte. Allenthalben sprach man davon, dass der fremde Kauz, der die Millionen nur so in der Westentasche herumtrage, derselben seine Gönnerschaft zuwende. Dies genügte, um aus dem armseligen, elenden Ding, das mit Mühe sein Dasein fristete, ein berühmtes, stets überfülltes Lokal zu machen. In seiner Dankbarkeit drängte mir der Wirt ein Darlehen nach dem andern auf und ließ schlechterdings keine Weigerung gelten, sodass ich trotz meiner Bettelarmut im Geld schwamm und ein wahres Herrenleben führte. Dabei sagte ich mir wohl, dass ich einem unvermeidlichen Krach entgegengehe; aber nun war es einmal so weit gekommen und jetzt hieß es eben, mit dem Strom schwimmen oder untergehen. Man sieht, ohne dieses Vorgefühl eines drohenden Unheils würde meine Lage einfach lächerlich erschienen sein; aber so erhielt dieselbe dadurch eine sehr ernste, nüchterne Seite, ja geradezu einen tragischen Zug. Nachts im Finstern drängte sich dieses Gefühl besonders in den Vordergrund, warnend und drohend, sodass ich mich seufzend auf meinem Lager herumwarf und nur mit Mühe Schlaf finden konnte. Aber im frohen Schimmer des Tageslichts war dieser tragische Zug allemal sehr bald wieder verflogen, und dann schwebte ich in höheren Regionen und wiegte mich in einem wahren Taumel, in einem förmlichen Rausch des Glücks.
Und das war auch ganz natürlich; war ich doch zu einer der Merkwürdigkeiten der größten Stadt der Welt geworden. Das war mir denn zu Kopf gestiegen, und zwar nicht etwa nur so ein klein wenig, sondern ganz gehörig. Keine Zeitung im ganzen Vereinigten Königreich konnte man mehr zur Hand nehmen, ohne auf einen oder mehrere Artikel über den »Mann mit der Million in der Westentasche« und auf Berichte über das Neueste, was er gesagt und getan, zu stoßen. Zuerst waren diese Notizen am Fuß der Personalnachrichten erschienen, bald aber kam ich über die Ritter, dann über die Baronets und so immer höher hinauf, je berühmter ich wurde, bis ich schließlich den höchsten für mich möglichen Ehrenplatz einnahm, auf dem mir nur noch Prinzen von königlichem Geblüt und der Primas von ganz England vorgingen. Aber, wohlgemerkt, das war noch kein wahrer Ruhm, was ich bis jetzt besaß, nur Berühmtheit; da kam ein Knalleffekt, der mit einem Schlag das vergängliche Blech der Berühmtheit in das gediegene Gold des Ruhmes verwandelte: Im »Punch« erschien eine Karikatur von mir. Ja, jetzt war ich ein gemachter Mann; jetzt war mir mein Rang gesichert. Witze durfte man nun wohl noch über mich machen, aber nur ganz respektvolle, keine spöttischen oder rohen mehr. Man konnte über mich lächeln; auslachen dagegen durfte man mich nicht mehr. Diese Zeiten waren vorüber. Der »Punch« bildete mich ab, wie ich ganz in Lumpen gehüllt mit einem wohlgenährten Protzen um den Londoner Tower würfelte. Nun, man kann sich einbilden, wie das auf einen jungen Menschen wirken musste, um den sich bisher kein Mensch gekümmert hatte, wenn er sah, dass er kein Wort mehr sagen konnte, ohne dass es aufgeschnappt und von allen Lippen wiederholt wurde; wenn er überall, wo er sich sehen ließ, die Bemerkungen von Mund zu Mund fliegen hörte: »Da geht er«; »Das ist er«; wenn er sein Frühstück nicht einnehmen konnte, ohne dabei von einer gaffenden Zuschauermenge umlagert zu werden, und sich in keiner Opernloge zeigen durfte, ohne augenblicklich einem Kreuzfeuer von tausend Gläsern ausgesetzt zu sein. Kurz und gut – ich schaukelte mich den ganzen Tag auf einem wahren Ozean von Ruhm.
Ich hatte sogar meinen zerlumpten Anzug behalten und ging ab und zu in demselben aus, um das Vergnügen wieder einmal durchzukosten, mich beim Einkauf irgendeiner Kleinigkeit beleidigen zu lassen und dann den Unverschämten mit meiner Millionennote niederzuschmettern. Aber lange konnte ich das nicht fortführen. Aus den illustrierten Zeitungen war meine Erscheinung so allgemein bekannt, dass ich mich in diesem Aufzug stets augenblicklich erkannt und von einer Menschenmenge verfolgt sah; und sobald ich Miene machte etwas kaufen zu wollen, bot mir der Geschäftsinhaber seinen ganzen Laden auf Kredit an, noch ehe ich dazu kommen konnte, meine Note auf ihn loszulassen.
Etwa zehn Tage, nachdem ich zu dieser Berühmtheit gelangt war, dachte ich daran, meiner patriotischen Pflicht nachzukommen, indem ich dem amerikanischen Gesandten meine Aufwartung machte. Derselbe empfing mich mit dem meinem Fall angemessenen Entzücken, machte mir Vorwürfe, dass ich die Erfüllung dieser meiner Pflicht so lange habe anstehen lassen, und erklärte mir, nur dadurch könne ich mir seine Vergebung erkaufen, dass ich bei einer am Abend in seinem Haus stattfindenden Gesellschaft den Platz eines durch Krankheit verhinderten Gastes einnehme. Ich sagte zu, und wir kamen allmählich tiefer ins Gespräch. Dabei stellte sich heraus, dass er mit meinem Vater auf einer Schulbank gesessen und später zusammen mit demselben im Yale College studiert und bis zu meines Vaters Tode einige Freundschaft mit ihm unterhalten hatte. So lud er mich denn ein, jede freie Stunde in seinem Haus zu verbringen, was ich natürlich mit Freuden annahm. Genauer gesagt war mir dies mehr als angenehm, es war mir vom höchsten Wert. Bei Eintritt des Krachs war er doch vielleicht imstande, mich vor gänzlichem Untergang zu bewahren. Ich konnte mir zwar nicht recht vorstellen, wie das zugehen sollte; allein ich dachte, er würde schon vielleicht einen Weg dazu finden. Für eine Generalbeichte, die ich ihm zu Anfang meines entsetzlichen hiesigen Daseins ohne Weiteres abgelegt haben würde, war es bereits zu spät. Nein, das konnte ich nicht mehr riskieren, ich steckte schon zu tief drinnen; das heißt wenigstens so tief, dass es nicht geraten schien, einem Bekannten so neuen Datums genauere Mitteilungen darüber zu machen, wenn sich auch in meinen eigenen Augen die Sache noch nicht so hoffnungslos ausnahm. Denn bei meiner ganzen Borgwirtschaft hielt ich mich höchst sorgfältig innerhalb der Grenzen meiner Mittel – das heißt meines zukünftigen Gehaltes. Bestimmt wissen konnte ich ja natürlich nicht, wie viel dasselbe betragen würde, aber eine genügende Grundlage für annähernde Schätzung desselben war doch dadurch gegeben, dass mir der alte Herr die freie Wahl unter sämtlichen Stellungen lassen wollte, die er zu vergeben hätte, vorausgesetzt, dass ich dazu befähigt wäre – und das war doch sicher der Fall, darüber hegte ich keinen Zweifel. Die Wette machte mir auch weiter keine Sorge; in dem Punkt hatte ich stets Glück gehabt. Nun, ich schätzte also mein Gehalt auf sechshundert bis tausend Pfund im Jahr; sagen wir sechshundert fürs erste Jahr und dann so Jahr für Jahr mehr, bis ich es durch meine Leistungen auf tausend gebracht hätte. Meine Schulden erreichten bis jetzt nur die Höhe meines ersten Jahresgehalts. Von allen Seiten hatte man mir Geld angeboten, allein ich hatte diese Darlehen meist unter irgendeinem Vorwand zurückgewiesen; so beliefen sich meine daher stammenden Schulden auf nicht mehr als dreihundert Pfund, während ich die andern dreihundert zur Bestreitung meines Unterhalts und zu Einkäufen gebraucht hatte. Mit dem Gehalt des zweiten Jahres hoffte ich nun bei der nötigen Vorsicht und Sparsamkeit vollends bis zum Ende des Monats zu reichen, und daran wollte ich es gewiss nicht fehlen lassen. War dann mein Monat erst herum und mein Gönner von der Reise zurück, dann war ja alles wieder im schönsten Geleise; dann gedachte ich einfach Anweisungen auf die beiden ersten Jahresgehalte unter meine Gläubiger zu verteilen und mich tüchtig an die Arbeit zu machen.
Es war eine sehr angenehme Tischgesellschaft von vierzehn Personen: Herzog und Herzogin von S. mit Tochter, Earl und Countess N., Viscount C., Lord und Lady G., einige Menschenkinder beiderlei Geschlechts ohne Rang und Titel, der Gesandte nebst Gemahlin und Tochter sowie eine zu Besuch bei der letzteren befindliche junge Engländerin von zweiundzwanzig Jahren, namens Portia Langham, in welche ich mich im Lauf von zwei Minuten bereits verliebt hatte, ebenso wie sie sich in mich – was ich bemerken konnte, ohne eine Brille dazu nötig zu haben. Dann war noch ein Gast da, ein Amerikaner – doch ich eile meiner Erzählung etwas voraus. Während die Gesellschaft noch in sehnsüchtiger Erwartung des Mahles im Salon beisammensaß und die Zuspätkommenden mit kalter Verachtung musterte, meldete der Diener: »Mr Lloyd Hastings.«
Dieser neue Gast fasste, sobald die Förmlichkeiten der Begrüßung vorüber waren, mich ins Auge und kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu; in dem Augenblick aber, wo er die meinige fassen und freundschaftlich schütteln wollte, stockte er plötzlich und sagte mit verlegener Miene:
»Ich bitte sehr um Vergebung, ich glaubte Sie zu kennen.«
»Nun, du kennst mich auch, alter Junge.«
»Nein! Bist du der – das –«
»Das große Westentaschentier? Jawohl, gewiss. Du darfst mich getrost bei meinem Spottnamen nennen, ich bin schon daran gewöhnt.«
»Na, na, na, diese Überraschung! Ein oder zweimal war mir dein Name in Verbindung mit dieser Bezeichnung zu Gesicht gekommen, aber es kam mir nie dabei in den Sinn, dass du der fragliche Henry Adams sein könntest. Es ist doch noch kein halbes Jahr her, dass du in San Francisco auf Hopkins Kontor gebüffelt und, um dir einen Nebenverdienst zu verschaffen, ganze Nächte lang mit mir an der Ordnung und Richtigstellung der Bücher und Geschäftsberichte der Gould- und Curry-Extension-Gruben gearbeitet hast. Und jetzt soll ich mir vorstellen, dass du hier in London als vielfacher Millionär und kolossale Berühmtheit herumläufst! Es ist ja das reinste Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Mensch, ich kann es gar nicht fassen, nicht begreifen – lass mich nur erst wieder etwas zu mir kommen.«
»Wahrhaftig, Lloyd, es geht mir kein Haar besser als dir. Es ist mir selbst unfasslich.«
»Bei Gott, wirklich ganz unerhört! Heute ist es gerade drei Monate her, dass wir zusammen nach dem Miners-Restaurant gingen.«
»Nein, nach dem What-Cheer.«
»Richtig, jawohl, nach dem What-Cheer. Da ließen wir uns um zwei Uhr morgens ein Kotelett und eine Tasse Kaffee geben, nachdem wir sechs Stunden zusammen über den Büchern der Extension geschwitzt hatten. Damals wollte ich dich überreden, mit mir nach London zu kommen und machte mich verbindlich, dir Urlaub auszuwirken und dich völlig freizuhalten, versprach dir auch noch etwas extra für den Fall, dass es mir gelänge, die Kuxe an den Mann zu bringen. Aber da wolltest du nichts von der Sache wissen. Du meintest, dabei komme doch nichts heraus, und du könntest doch nicht aufs Ungewisse deine ganze Stellung aufgeben, um dann vielleicht nach Jahr und Tag wieder von vorne anfangen zu müssen. Und nun bist du doch hier. Welch eine merkwürdige Geschichte ist das doch! Was hat dich denn hierher verschlagen, und wodurch in aller Welt hast du dich so kolossal heraufgebracht?«
»Ach, das kam ganz zufällig. Es ist eine lange Geschichte – ein ganzer Roman kann man sagen. Ich erzähle dir alles, aber nicht jetzt.«
»Wann denn?«
»Ende dieses Monats.«
»Das sind ja noch über vierzehn Tage. Das heißt doch der menschlichen Neugierde zu viel zumuten. Sage lieber, in einer Woche.«
»Das geht nicht. Den Grund wirst du schon noch erfahren. Nun, wie steht es denn mit den Geschäften?«
Mit einem Mal war der heitere Ausdruck in seinen Mienen wie weggeblasen, und mit einem Seufzer erwiderte er: »Du hattest ganz recht mit deiner Prophezeiung, ganz recht. Wäre ich doch nicht hierhergekommen. Ich mag gar nicht davon reden.«
»Doch, doch. Wenn wir hier fertig sind, musst du mit mir nach Hause kommen und mir alles erzählen.«
»Wie, darf ich? Ist das dein Ernst?« Dabei wurden ihm die Augen feucht.
»Jawohl, ich will die ganze Geschichte hören, Wort für Wort.«
»Ach, wie beglückt bin ich, dass ich endlich wieder bei einem menschlichen Wesen in Blick und Wort einem Interesse für meine Angelegenheiten begegnen darf nach allem, was ich durchgemacht habe. Lieber Gott! Auf den Knien möchte ich dir dafür danken!«
Mit einem warmen Druck meiner Hand sprang er auf und sah in fröhlichster Stimmung der Mahlzeit entgegen – aus der jedoch nichts wurde. Nein, es ging, wie es stets geht bei der verkehrten, widerwärtigen englischen Sitte – man war nicht imstande, sich über die Rangordnung zu einigen, und so gab es keine Mahlzeit. Wenn ein Engländer zum Diner eingeladen wird, so isst er sich jedes Mal vorher zu Hause satt, ein Fremder dagegen, der von keiner Seite gewarnt wird, geht ahnungslos in die Falle. Diesmal freilich kam niemand zu Schaden, wir hatten alle bereits zu Hause gespeist, dem einzigen Neuling unter uns, Hastings, hatte der Gesandte gleich bei der Einladung gesagt, dass er getreu dem Landesbrauch für ein Gastmahl keine Vorsorge habe treffen lassen. Trotzdem setzte man sich nun, um den Schein zu wahren, ein jeder Herr mit einer Dame am Arm, nach dem Speisesaal in Bewegung; allein dabei fing der Streit bereits an. Der Herzog beanspruchte den Vortritt sowie den Platz oben an der Tafel, indem er einem Gesandten, der nur ein Volk, nicht einen Monarchen vertrete, an Rang vorgehe. Demgegenüber machte ich meine Rechte geltend, ohne einen Fußbreit nachzugeben. Die Zeitungen wiesen mir im Personalbericht den Platz vor allen Herzögen an, die nicht dem königlichen Haus angehörten, demnach sei es ganz in der Ordnung, dass mir vor diesem Herzog der Vorrang gebühre. Mit allem Hin- und Herreden, worin wir unser Möglichstes leisteten, kam die Sache natürlich nicht zum Austrag. Endlich war mein Gegner so unbedachtsam, Geburt und Ahnen ins Feld zu führen; da übertrumpfte ich ihn jedoch mit dem Hinweis darauf, dass ich, wie schon mein Name zeigt, in gerader Linie von Adam abstamme, während aus dem seinigen zusammen mit seiner normannischen Abkunft klar hervorgehe, dass er nur in der Seitenlinie mit dem Stammvater des Menschengeschlechts verwandt sei. So bewegte sich denn der Zug nach dem Salon zurück, wo wir gruppenweise herumstehend eine bescheidene Erfrischung – bestehend aus einem Teller voll Sardinen und ein paar Erdbeeren – einnahmen. Dabei wurde es mit der Heiligkeit der Rangordnung etwas weniger streng genommen; die beiden Höchststehenden losten miteinander, indem sie ein Geldstück in die Luft warfen. Der Gewinner machte sich darauf zuerst über seine Erdbeeren her, während der Verlierende den Schilling einsteckte. So ging es dann weiter bei allen nach der Reihe. Nach der Erfrischung brachte man Spieltische, und wir spielten sämtlich Cribbage, um sechs Pence die Partie. In England spielt man nämlich niemals zum bloßen Vergnügen. Man will durchaus gewinnen oder verlieren – ob das eine oder das andere, ist gleichgültig –, außerdem verzichtet man lieber ganz.
Der Abend verfloss allerliebst, wenigstens uns beiden, Miss Langham und mir. Ich war so bezaubert von dem holden Geschöpf, dass ich nicht imstande war, meine Trümpfe zu zählen, wenn es über zwei Sequenzen hinausging; und wenn ich einen Stich gemacht hatte, übersah ich es jedes Mal und fing wieder an auszuspielen, sodass ich eine Partie um die andere verloren haben würde, wäre es meiner Partnerin nicht genau ebenso gegangen. So war es ganz natürlich, dass keines von uns beiden hinauskam, das fiel uns aber nicht im Mindesten auf, wir wussten nur, dass wir glücklich waren, und weiter wollten wir auch nichts wissen und hatten nur den Wunsch, in diesem Gefühl nicht gestört zu sein.
Ich erklärte ihr sogar – wirklich in allem Ernst – ich erklärte ihr, dass ich sie liebe, und sie – nun, sie wurde wohl rot bis unter die Haare, hatte aber nichts dagegen – und sagte dies auch. Oh, es war der schönste Abend meines Lebens. Jedes Mal, sooft ich ansagte oder meine Trümpfe zählte, fügte ich als Postskript bei: »Gott, wie reizend Sie sind!« oder etwas Ähnliches, wofür sie mir dann bei denselben Gelegenheiten ihrerseits Empfangsbestätigung erteilte, indem sie zum Schluss anhängte: »Finden Sie das wirklich?« Und dabei ließ sie einen so süßen, schelmischen Blick unter ihren langen Wimpern hervor auf mich blitzen. Oh, es war wirklich zu – herrlich!
Ich benahm mich übrigens vollständig offen und ehrlich dem Mädchen gegenüber. Ich sagte ihr, dass ich nichts auf der Welt im Besitz habe als eben die eine Millionennote, von der sie schon so viel gehört habe, und dass selbst diese nicht mein Eigentum sei. Dies erregte ihre Neugier, und daraufhin erzählte ich ihr halblaut die ganze Geschichte frisch von der Leber weg. Sie wollte sich darüber fast totlachen. Was sie dabei in aller Welt so lächerlich fand, war mir ein Rätsel, aber so war es nun einmal. Jede halbe Minute erregte irgendein Umstand ihre Lachlust aufs Neue, sodass ich ihr wieder anderthalb Minuten Zeit zum Atemschöpfen lassen musste. Sie lachte sich buchstäblich lahm; noch nie war mir so etwas vorgekommen. Dass eine traurige Geschichte – eine Geschichte, die von nichts anderem handelt als von den Leiden, Kümmernissen und Sorgen eines Menschen – eine solche Wirkung hervorbrachte, war doch unerhört. Und doch hatte ich sie nur umso lieber dafür, dass sie so heiter zu sein wusste, wo eigentlich gar kein Grund zur Heiterkeit vorlag; sah es doch ganz danach aus, als könnte ich eine derartige Frau demnächst recht notwendig brauchen. Ich eröffnete ihr natürlich, dass wir wohl ein paar Jahre werden warten müssen, bis ich in Genuss meines Gehaltes käme; hieraus machte sie sich aber nichts und ermahnte mich nur zur größten Sparsamkeit, damit nicht auch noch mein drittes Jahresgehalt angegriffen werden müsse. Dann wurde sie auf einmal besorgt und meinte, ob wir mit unseren Vermutungen über den Betrag meines ersten Jahresgehalts nicht doch am Ende die Rechnung ohne den Wirt machen.
Diese nur zu wohl begründete Bemerkung brachte zwar mein Vertrauen in die Zukunft einigermaßen ins Wanken, dafür gab mir dieselbe aber auch einen guten, praktischen Gedanken ein, den ich sofort frischweg aussprach: »Portia, mein Schatz, würde es dir etwas ausmachen, mich zu den alten Herren zu begleiten, wenn ich mich ihnen wieder vorstellen muss?«
Sie erschrak ein wenig, sagte aber: »Nun, wenn meine Begleitung dazu beitragen kann, dir Mut zu machen. Aber ist es denn auch ganz passend, was meinst du?«
»Das wohl schwerlich oder eigentlich sicherlich nicht; aber sieh, es hängt so unendlich viel davon ab, dass …«
»Dann gehe ich unter allen Umständen mit, ob passend oder nicht!«, erwiderte sie mit edler Begeisterung, die ihr herrlich stand. »Oh, der Gedanke macht mich so glücklich, etwas für dich tun zu können.«
»Etwas, mein Herz? Alles tust du ganz allein. Du bist so schön, so lieblich, so bezaubernd, dass, wenn ich dich zur Seite habe, die guten alten Herren uns ohne Widerrede jedes beliebige Gehalt bewilligen müssen, und sollten sie darüber zu Bettlern werden.«
Ha, nun musste man sehen, wie ihr das Blut voll in die Wangen strömte und ihre Augen in Glück erstrahlten!
»Du böser Schmeichler! Das ist ja alles nicht wahr, was du da sagst, aber mit gehe ich doch. Vielleicht wird es dir bei der Gelegenheit klar, dass andere Leute mich mit anderen Augen betrachten als du.«
Hegte ich nun noch Zweifel? War mein Vertrauen noch erschüttert? Es wird wohl genügen, wenn ich sage, dass ich bei mir selbst in aller Stille mein Gehalt unverzüglich auf zwölfhundert Pfund im Jahr erhöhte. Ich sagte ihr aber davon nichts; das sparte ich mir zu einer Überraschung für später auf.
Auf dem ganzen Weg nach meiner Wohnung schwebte ich in höheren Regionen und hörte kein Wort von allem, was Hastings an mich hinsprach. Erst als wir daheim anlangten und Hastings beim Eintritt in meinen Salon sich in begeisterten Lobsprüchen auf meine reiche und bequeme Einrichtung erging, kam ich wieder zu mir.
»Jetzt lass mich nur einen Augenblick hier stehen bleiben«, rief er, »damit ich mich satt sehen kann! Guter Gott, das ist ja ein Palast, der reinste Palast! Und da fehlt nichts, was sich nur erdenken lässt, bis zum behaglichen Kaminfeuer und bereitstehenden Abendbrot. Henry, hier kommt man nicht nur zum Bewusstsein, wie reich du bist, nein, hier fühle ich auch im tiefsten Innern, wie arm ich bin, wie arm und wie elend, wie geschlagen, gebrochen, vernichtet!«
Hol’s der Henker! Seine Worte wirkten auf mich wie ein kaltes Sturzbad. Mit einem Schlag war ich völlig ernüchtert und zu dem Bewusstsein erwacht, dass ich auf einem Vulkan stehe, der jeden Augenblick bersten konnte. Ich hatte ja nicht gewusst oder hatte mir vielmehr kurze Zeit selbst nicht eingestehen wollen, dass alles nur ein Traum sei; aber jetzt – guter Himmel! Tief in Schulden, ohne einen Heller Geld, eines holden Mädchens Lebensglück an mein Schicksal geknüpft und dabei nichts vor mir als die Aussicht auf ein Gehalt, die sich vielleicht – ach nein, gewiss – nie verwirklichen sollte. Oh, ich bin verloren, rettungslos verloren!
»Henry, was bei deinem Einkommen jeden Tag nur so nebenbei abfällt, würde …«
»Ach, mein tägliches Einkommen! Da steht ein heißer Punsch, damit vertreibe dir die trüben Gedanken. Prosit! Oder nein, warte, du bist hungrig; komm, setze dich und …«
»Nein, keinen Bissen; ich bringe nichts mehr hinunter; ich kann schon ein paar Tage lang nichts mehr essen. Aber trinken will ich mit dir, bis ich nicht mehr stehen kann. Komm!«
»Da tue ich mit, solang du willst! Also, frisch dran! Nun, Lloyd, lass jetzt deine Geschichte vom Stapel, während ich den Punsch braue.«
»Meine Geschichte? Wie? Noch einmal?«
»Noch einmal? Wie meinst du das?«
»Nun, ich meine, ob du die Geschichte zum zweiten Mal von vorne anhören willst?«
»Ob ich sie zum zweiten Mal von vorne anhören will! Na, das ist wirklich ein toller Spaß. Halt, trinke nichts mehr, du kannst nichts mehr brauchen.«
»Na, schau mal, Henry, du machst mir Angst. Habe ich dir denn nicht auf dem Weg hierher die ganze Geschichte erzählt?«
»Du?«
»Ja, ich.«
»Ich lasse mich hängen, wenn ich ein Wort davon gehört habe.«
»Henry, das ist über den Spaß. Du beunruhigst mich.Was hast du dort bei dem Gesandten zu dir genommen?«
Nun ging mir mit einem Mal ein wunderbares Licht auf, ich fasste mir ein Herz und gestand ihm frei und offen: »Das herzigste Mädel auf der Welt habe ich dort – erobert!«
In ungestümer Freude stürzte er nun auf mich los, und wir schüttelten uns die Hände, bis sie uns weh taten. Darüber, dass ich von seiner Erzählung, die unseren ganzen anderthalb Stunden dauernden Heimweg ausfüllte, nicht das Geringste vernommen hatte, sagte er kein Wort.Vielmehr setzte er sich ruhig hin und erzählte mit all der Gutmütigkeit und Geduld, die ihm stets eigen waren, die ganze Geschichte noch einmal von vorne.