Cover

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Trotzkopf erschien zuerst 1885 im Gustav Weise Verlag in Stuttgart.
Textgrundlage ist hier Emmy von Rhoden: Der Trotzkopf. Eine Pensionsgeschichte für junge Mädchen. Illustriert von August Mandlick.
66. Auflage oder 22. Auflage der Wohlfeilen Ausgabe. Stuttgart:
Gustav Weise Verlag o. J. [nach 1913]. Der Text wurde behutsam überarbeitet, Orthografie und Interpunktion wurden auf neue deutsche Rechtschreibung umgestellt.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2015 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlagmotiv: Edwin Thomas Roberts (1840–1917), »Full Swing«,
Private Collection / Photo © Christie’s Images / Bridgeman Images

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

ISBN 978-3-7306-9125-0
V002

www.anacondaverlag.de

Emmy von Rhoden

Der Trotzkopf

Anaconda

»Papa, Diana hat Junge!«

Mit diesen Worten trat ungestüm ein junges, schlankes Mädchen von fünfzehn Jahren in das Zimmer, in welchem sich außer dem Angeredeten, dessen Frau und dem Prediger des Ortes noch Besuch aus der Nachbarschaft, ein Herr von Schäffer mit Frau und seinem erwachsenen Sohn, befand.

Alles lachte und wandte sich dem kleinen Backfisch zu, der ohne jede Verlegenheit auf den Papa zueilte und ausführlich über das wichtige Ereignis berichtete.

»Es sind vier Stück, Papa«, erzählte sie lebhaft, »und braun sehen sie aus, wie Diana. Komm, sieh dir sie an, es sind zu reizende Tierchen! Vorn an den Pfötchen haben sie weiße Spitzen. Ich habe gleich einen Korb geholt und mein Kopfkissen hineingelegt, sie müssen doch warm liegen, die kleinen Dinger.«

Herr Oberamtmann Macket hatte den Arm um die Schulter seines Lieblings gelegt und strich ihm das wirre Lockenhaar aus dem erhitzten Gesicht. Dabei sah er sein Kind mit wohlgefälligen Blicken an, was eigentlich zu verwundern war, da Ilse in einem Aufzug hereingekommen, der durchaus nicht geeignet war, Wohlgefallen zu erregen, besonders in diesem Augenblick, wo fremde Augen denselben musterten. Das verwaschene dunkelblaue Kattunkleid, blusenartig gemacht und mit einem Ledergürtel gehalten, mochte wohl recht bequem sein, aber kleidsam war es nicht und einige Flecken und Risse darin dienten ebenfalls nicht dazu, die Eleganz desselben zu heben. Die hohen, plumpen Lederstiefel, die unter dem kurzen Kleid hervorblickten, waren tüchtig bestaubt und sahen eher grau als schwarz aus. Aber wie gesagt, Herrn Macket genierte dieser Aufzug gar nicht, er sah in die fröhlichen braunen Augen seines Lieblings, um dessen Kleider kümmerte er sich nicht.

Er war im Begriff, sich zu erheben, um seines Kindes Wunsch zu erfüllen, als seine Gattin, eine vornehme Erscheinung mit sanften und doch bestimmten Zügen, ihm zuvorkam. Sie hatte sich erhoben und trat auf Ilse zu.

»Liebe Ilse«, sagte sie in freundlichem Ton und nahm dieselbe bei der Hand, »ich möchte dir etwas sagen, Kind. Willst du mir auf einen Augenblick in mein Zimmer folgen?«

Sehr ruhig, aber sehr bestimmt waren die Worte gesprochen und Ilse fühlte, dass ein Widerstand dagegen vergeblich sein würde. Ungern und gezwungen folgte sie der Mutter in das anstoßende Gemach.

»Was willst du mir sagen, Mama?«, fragte sie und sah Frau Macket trotzig an.

»Nichts weiter, mein Kind, als dass du sogleich auf dein Zimmer gehst und dich umkleidest. Du wusstest wohl nicht, dass Gäste bei uns waren?«

»Doch, ich wusste es, aber ich mache mir nichts daraus«, gab Ilse kurz zur Antwort.

»Aber ich, Ilse. Ich kann nicht gleichgültig dabei sein, wenn du in einem so unordentlichen Kostüm dich blicken lässt. Du bist kein Kind mehr mit deinen fünfzehn Jahren; bedenke, dass du seit Ostern konfirmiert bist, eine angehende junge Dame aber muss den Anstand wahren. Was soll der junge Schäffer von dir denken, er wird dich auslachen und dich verspotten.«

»Der dumme Mensch!«, fuhr Ilse auf. »Ob der über mich lacht oder spottet, ist mir ganz gleichgültig. Ich lache auch über ihn! Tut, als ob er ein Herr wäre mit seinem Klemmer und geht doch noch in die Schule.«

»Er ist in Prima auf dem Gymnasium und zählt neunzehn Jahre. Nun sei vernünftig und kleide dich um, Kind, hörst du?«

»Nein – ich ziehe kein anderes Kleid an, ich will mich nicht putzen!«

»Wie du willst, aber dann bitte ich dich, ja ich wünsche es entschieden, dass du in deinem Zimmer bleibst und dein Abendbrot dort verzehrst«, gab Frau Macket mit großer Ruhe zur Antwort.

Ilse biss auf die Unterlippe und trat mit dem Fuß heftig auf die Erde, aber sie sagte nichts. Mit einer schnellen Wendung ging sie zur Tür hinaus und warf dieselbe unsanft hinter sich zu. Oben in ihrem Zimmer ließ sie sich auf einen Stuhl fallen, stützte die Ellbogen auf das Fensterbrett und weinte Tränen des bittersten Unmutes.

»Oh wie schrecklich ist es jetzt!«, stieß sie schluchzend heraus. »Warum hat auch der Papa wieder eine Frau genommen – es war so viel, viel hübscher, als wir beide allein waren! Alle Tage muss ich lange Reden hören über Sitte und Anstand, und ich will doch keine Dame sein, ich will es nicht – und wenn sie es zehnmal sagt!«

Als sie mit ihrem Vater noch allein war, führte sie freilich ein ungebundeneres und lustigeres Leben. Niemand hatte ihr Vorschriften zu machen oder durfte ihre dummen Streiche hindern; was sie auch ausführte, es galt alles als unübertrefflich. Das Lernen wurde nur als langweilige Nebensache betrachtet und die Gouvernanten fügten sich entweder dem Willen ihrer Schülerin oder sie gingen davon. Beklagte sich ja einmal diese oder jene bei dem Vater und hatte derselbe auch wirklich den festen Entschluss gefasst, ein Machtwort zu sprechen gegen sein unbändiges Kind, er kam nicht dazu, es auszuführen. Sobald er mit ernster Miene ihr gegenübertrat, fiel Ilse ihm um den Hals, nannte ihn ihren »einzigen kleinen Papa«, trotzdem er ein sehr großer, kräftiger Mann war, und küsste ihm Mund und Wangen. Versuchte er, ihr ernste Vorstellungen zu machen, hielt sie ihm den Mund zu.

»Ich weiß ja alles, was du mir sagen willst, und ich will mich ganz gewiss bessern!«, mit solchen und ähnlichen Worten und Versprechungen tröstete sie den Papa – ach und wie gern ließ er sich also trösten! Er konnte dem Kind nie ernstlich zürnen, es war sein Alles.

Als Ilses Mutter starb, legte sie ihm das kleine, hilflose Ding in den Arm. Es hatte die schönen, frohen Augen der früh Geschiedenen geerbt, und blickte sie ihn an, war es ihm, als ob die Gattin, die er so sehr geliebt hatte, ihn anlächle.

Lange Jahre war er einsam geblieben und hatte nur für sein Kind gelebt. Da lernte er seine zweite Frau kennen. Ihr kluges, sanftes Wesen fesselte ihn so, dass er sie heimführte.

Frau Anne betrat das Haus ihres Mannes mit dem festen Vorsatz, seinem Kind die treueste, liebevollste Mutter zu sein und alles aufzubieten, um ihr die früh Verlorene zu ersetzen; indes jede herzliche Annäherung von ihrer Seite scheiterte an Ilses trotzigem Widerstand. Bald ein Jahr waltete sie nun schon als Frau und Stiefmutter und noch immer hatte sie es nicht vermocht, Ilses Liebe zu gewinnen. –

Die Gäste blieben zum Abendessen auf Moosdorf, so hieß das große Gut des Oberamtmann Macket. Als der Tisch gedeckt war und alle sich an demselben niedergesetzt hatten, fragte Herr Macket, warum Ilse noch nicht anwesend sei.

Frau Anne erhob sich und zog an der Klingelschnur. Der eintretenden Dienstmagd befahl sie, das Fräulein zu Tisch zu rufen.

Ilse saß noch in derselben Stellung am Fenster. Sie hatte sich eingeschlossen und die Magd musste erst tüchtig pochen und rufen, bevor sie sich bequemte, die Tür zu öffnen.

»Sie sollen herunterkommen, Fräulein, die gnädige Mama hat es befohlen«, sagte Kathrine und betonte das »sollen« und »befohlen« so recht auffallend.

»Ich soll!«, rief Ilse und wandte den Kopf hastig herum, »aber ich will nicht! Sag das der gnädigen Frau Mama!«

»Ja«, sagte Kathrine, so recht befriedigt von dieser Antwort, denn auch sie war durchaus nicht damit einverstanden gewesen, dass wieder eine Frau in das Haus gekommen war, welche der schönen Freiheit ein Ende gemacht hatte, »ja, ich werd’s bestellen. Gnädiges Fräulein haben ganz recht, das ewige Befehlen, wenn man selbst alt genug ist, ist höchst unpassend, noch dazu, wenn fremde Leute dabei sind.«

Und sie ging hinunter in das Speisezimmer und führte wörtlich Ilses Bestellung aus.

Herr Macket blickte seine Frau verlegen an, er wusste gar nicht, was diese Antwort bedeuten sollte. Sie verstand seine stumme Frage, und ohne im Geringsten den Unmut merken zu lassen, den sie in ihrem Innern empfand, sagte sie gelassen: »Ilse ist nicht ganz wohl, lieber Mann, sie klagte etwas über Kopfschmerzen. Kathrine hat ihre Bestellung ungeschickt ausgerichtet.«

Alle Anwesenden errieten sofort, dass Frau Anne eine Ausrede machte, nur Herr Macket glaubte, dass es sich in Wahrheit so verhielt.

»Wollen wir nicht lieber einen Boten zum Arzt schicken?«, fragte er besorgt.

Die Antwort darauf gab ihm sein Kind selbst, das heißt, sie bewies ihm, dass ihr kein Finger wehtat. Laut jubelnd und lachend trieb sie einen Reif mit einem Stock über den großen Rasenplatz, und der Jagdhund Tyras sprang demselben nach, und wenn er mit seinen Pfoten den Reif beinahe erhascht hatte und ihn doch nicht halten konnte, stieß er ein ärgerliches Geheul aus, worüber Ilse sich totlachen wollte.

Herrn Mackets Gesicht verklärte sich ordentlich bei diesem Anblick. Er stand auf, trat in die offenstehende Flügeltür des Zimmers, und eben im Begriff, Ilse zu rufen, hielt ihn Frau Anne davon zurück.

»Lass sie, ich bitte dich – lieber Mann«, bat sie, vor Unwillen leicht errötend, und zu den Gästen gewendet setzte sie hinzu: »Es tut mir leid, nun doch die Wahrheit sagen zu müssen, indes Ilses Benehmen zwingt mich dazu.«

Und sie erzählte so mildernd als möglich den kleinen Vorfall. Es wurde darüber gelacht, ja Herr von Schäffer behauptete, die Kleine habe Temperament und es sei schade, dass sie kein Knabe sei. Seine hochgebildete Frau konnte ihm nicht beistimmen, sie fand das wilde Mädchen geradezu entsetzlich und nannte es auf dem Heimweg ein enfant terrible.

Als die Gäste fortgefahren waren, blieb der Prediger noch zurück. Derselbe war ein wohlwollender, nachsichtiger Mann, der Ilse väterlich zugetan war. Er hatte sie getauft und eingesegnet, unter seinen Augen war sie herangewachsen. Seit kurzer Zeit, seitdem die letzte Gouvernante ihren Abschied genommen hatte, leitete er auch ihren Unterricht.

Es trat ein augenblickliches, beinahe peinliches Stillschweigen ein. Ein jeder der drei Anwesenden hatte etwas auf dem Herzen und scheute sich doch, das erste Wort zu sprechen. Herr und Frau Macket saßen am Tisch, er rauchend, sie eifrig mit einer Handarbeit beschäftigt. Prediger Wollert ging im Zimmer auf und ab und sah recht ernst und nachdenklich aus. Endlich blieb er vor dem Oberamtmann stehen.

»Es kann nichts helfen, lieber Freund«, redete er denselben an, »das Wort muss heraus. Es geht nicht mehr so weiter, wir können das unbändige Kind nicht zügeln, es ist uns über den Kopf gewachsen.«

Der Oberamtmann sah den Prediger verwundert an. »Wie meinen Sie das?«, fragte er, »ich verstehe Sie nicht.«

»Meine Meinung ist, geradeheraus gesagt, die«, fuhr der erstere fort, »das Kind muss fort von hier, in eine Pension.«

»Ilse? In eine Pension? Aber warum, sie hat doch nichts verbrochen!«, rief Herr Macket ganz erschreckt.

»Verbrochen!«, wiederholte lächelnd der Prediger. »Nein, nein, das hat sie nicht! Aber muss denn ein Kind erst etwas Böses getan haben, um in ein Institut zu kommen? Es ist doch keine Strafanstalt. Hören Sie mich ruhig an, lieber Freund«, fuhr er besänftigend fort und legte die Hand auf Mackets Schulter, als er sah, dass dieser heftig auffahren wollte. »Sie wissen, wie ich Ilse liebe, und wissen auch, dass ich nur das Beste für sie im Auge habe; nun wohl, ich habe reiflich überlegt und bin zu dem Resultat gekommen, dass Sie, Ihre Frau und ich nicht Macht genug besitzen, sie zu erziehen. Sie trotzt uns allen dreien, was soll daraus werden? Sie hat soeben ein glänzendes Beispiel ihrer widerspenstigen Natur gegeben.«

Der Oberamtmann trommelte auf dem Tisch. »Das war eine Ungezogenheit, die ich bestrafen werde«, sagte er. »Etwas Schlimmes kann ich nicht darin finden. Mein Gott, Ilse ist jung, halb noch ein Kind, und Jugend muss austoben. Weshalb soll man einem übermütigen Menschen so strenge Fesseln anlegen und es Knall und Fall in eine Pension bringen? Was ist dabei, wenn es einmal über den Strang schlägt? Verstand kommt nicht vor den Jahren! Was sagst du dazu, Anne«, wandte er sich an seine Frau, »du denkst wie ich, nicht wahr?«

»Ich dachte wie du«, entgegnete Frau Anne, »vor einem Jahr, als ich dieses Haus betrat. Heute urteile ich anders, heute muss ich dem Herrn Prediger recht geben. Ilse ist schwer zu erziehen, trotz aller Herzensgüte, die sie besitzt. Ich weiß nichts mit ihr anzufangen, so viel Mühe ich mir auch gebe. Gewöhnlich tut sie das Gegenteil von dem, was ich ihr sage. Bitte ich sie, ihre Aufgaben zu machen, so tut sie entweder, als ob sie mich nicht verstanden hat, oder sie nimmt höchst unwillig ihre Bücher, wirft sie auf den Tisch, setzt sich davor und treibt allerhand Nebendinge. Nach kurzer Zeit erhebt sie sich wieder und fort ist sie! Da hilft kein gütiges Zureden, keine Strenge, sie will nicht! Frage den Herrn Prediger, wie ungleichmäßig Ilses wissenschaftliche Bildung ist, wie sie zuweilen sogar noch orthografische Fehler macht.«

»Was kommt bei einem Mädchen darauf an«, entgegnete Herr Macket und erhob sich. »Eine Gelehrte soll sie nicht werden; wenn sie einen Brief schreiben kann und das Einmaleins gelernt hat, weiß sie genug.«

Der Prediger lächelte. »Das ist Ihr Ernst nicht, lieber Freund. Oder würde es Ihnen Freude machen, wenn man von Ihrer Tochter sagte, dass sie dumm sei und nichts gelernt habe! Ilse hat gute Anlagen, es fehlt ihr nur der Trieb, die Lust zum Lernen. Beides wird sich einstellen, sobald sie unter junge Mädchen ihres Alters kommt. Das Streben derselben wird ihren Ehrgeiz wecken und ihr bester Lehrmeister sein.«

Die Wahrheit dieser Worte leuchtete Herrn Macket ein, aber die Liebe zu seinem Kind ließ es ihn nicht laut eingestehen. Der Gedanke, dasselbe von sich zu geben, war ihm furchtbar. Nicht täglich es sehen und hören zu können – ihm war, als ob die Sonne plötzlich aufhören müsse zu scheinen, als solle ihm Licht und Leben genommen werden.

Frau Anne empfand, was in ihres Mannes Herzen vorging, liebevoll trat sie zu ihm und ergriff seine Hand.

»Denke nicht, dass ich hart bin, Richard, wenn ich für den Vorschlag unseres Freundes stimme«, sagte sie. »Ilse steht jetzt auf der Grenze zwischen Kind und Jungfrau, noch hat sie Zeit, das Versäumte nachzuholen und ihre unbändige Natur zu zügeln. Geschieht das nicht, so könnte man eines Tages unser Kind als unweiblich bezeichnen, wäre das nicht furchtbar?«

Er hörte kaum, was sie sprach. »Ihr wollt sie einsperren«, sagte er erregt, »aber das hält sie nicht aus. Lasst sie erst älter werden, es ist dann immer noch Zeit genug, sie fortzugeben.«

Dagegen protestierten Frau Anne und der Prediger auf das Entschiedenste; sie bewiesen, dass jetzt die höchste Zeit sei, wenn die Pension noch etwas nützen solle.

»Ich wüsste ein Institut in W., das ich für Ilse ausgezeichnet empfehlen könnte«, erklärte der Prediger. »Die Vorsteherin desselben ist mir genau bekannt, sie ist eine vorzügliche Dame. Neben der Pension, die unter ihrer Leitung herrlich gediehen ist, hat sie eine Tagesschule in das Leben gerufen, die sich von Jahr zu Jahr vergrößert hat. Ilse würde den besten Unterricht und die liebevollste Pflege vereint finden. Und welch ein Vorzug ist nicht die wunderbare Lage dieses Ortes. Die Berge ringsum, die kostbare Luft – – –«

»Ja, ja«, unterbrach ihn Herr Macket unruhig und abwehrend, »ich glaube das alles gern! Aber lasst mir Zeit, bestürmt mich nicht weiter. Ein so wichtiger Entschluss, selbst wenn er notwendig ist, bedarf der Reife.« –

Er kam schneller als er geglaubt hatte.

Am andern Morgen, es war noch sehr früh, traf der Oberamtmann sein Töchterchen, wie es eben im Begriff war, hinaus auf die Wiese zu reiten, um das Heu mit einzuholen. Ungeniert hatte Fräulein Ilse sich auf eines der Pferde, das vor den Leiterwagen gespannt war, von dem Kutscher hinaufheben lassen, derselbe stand auf dem Wagen und hielt die Zügel in der Hand.

»Guten Morgen, Papachen!«, rief sie ihm laut schon von weitem entgegen, »wir wollen auf die Wiese fahren, das Heu muss herein; der Hofmeister sagt, wir bekommen gegen Mittag ein Gewitter. Ich will gleich mit aufladen helfen!«

Der Vater hatte heute nicht die unbefangene Freude an dem Wesen seines Kindes, ihm fielen die Worte seiner Frau vom gestrigen Abend ein. Ilse sah wenig weiblich in diesem Augenblick aus, eher glich sie einem wilden Buben. Wie ein solcher saß sie auf dem Pferd und hatte die Füße an beiden Seiten herunterhängen. Das kurze blaue Kleid deckte dieselben nicht, man sah den plumpen, hohen Lederstiefel und noch ein Stück des bunten Strumpfes. Es war wahrlich kein schöner Anblick.

»Steig herab, Ilse«, sagte Herr Macket, dicht zu ihr tretend, um ihr beim Heruntersteigen behilflich zu sein, »du wirst jetzt nicht auf die Wiese reiten, hörst du, sondern deine Aufgaben machen.«

Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass der Vater in so bestimmter Weise zu ihr sprach. Im höchsten Grad verwundert blickte sie ihn an, aber sie machte keine Miene, seiner Aufforderung Folge zu leisten. Sie schlug die Arme ineinander und fing an, herzlich zu lachen.

»Hahahaha! Arbeiten soll ich! Du kleiner, reizender Papa, wie kommst du denn auf diesen komischen Einfall? Mach nur nicht ein so böses Gesicht! Weißt du, wie du jetzt aussiehst? Gerade wie Mademoiselle, die letzte, Papa, von den vielen – wenn sie böse war! ›Fräulein Ilse, gehen Sie auf Ihr Zimmer, mais tout-de-suite. Aben Sie mir compris!‹ Dabei zog sie die Stirn in Falten und riss die Augen auf – so«, und sie versuchte es nachzuahmen. »Oh, es war zu himmlisch! Adieu, Papachen, zum Frühstück komm ich zurück!«

Sie warf ihm noch eine Kusshand zu, lachte ihn schelmisch an und fort ging’s im lustigen Trab hinaus auf die Wiese in den taufrischen Sommermorgen hinein.

Herr Macket schüttelte den Kopf, mit einem Mal stiegen ernstliche Bedenken wegen Ilses Zukunft in ihm auf. Er fand den Gedanken, sie in eine Pension zu geben, heute weniger schrecklich als gestern. Sie hatte ihm soeben den Beweis gegeben, dass sie auch ihm Widerstand entgegensetzte. Freilich musste er sich gestehen, dass er durch seine Nachgiebigkeit denselben in ihr großgezogen hatte.

Er ging in das Speisezimmer und trat von dort auf die Veranda, die weinumrankt sich an der Vorderseite des Hauses entlangzog. Seine Frau erwartete ihn dort am gedeckten Frühstückstisch.

Ganz gegen seine Gewohnheit war er still und einsilbig. »Hattest du Unannehmlichkeiten?«, fragte Frau Anne und reichte ihm den Kaffee.

»Nein«, entgegnete er, »das nicht.« Er hielt einen Augenblick inne, als ob es ihm schwer würde, weiterzusprechen, dann fuhr er fort: »Ich möchte dir eine Mitteilung machen, oder richtiger gesagt, dir meinen Entschluss wegen unseres gestrigen Gesprächs verkünden. Zum 1. Juli soll Ilse in die Pension.«

»Du scherzt«, sagte Anne und sah ihn fragend an.

»Es ist mein Ernst«, erwiderte er. »Wirst du imstande sein, bis zu dem Termin alles zu Ilses Abreise einrichten zu können? Wir haben heute den 12. Juni.«

»Ja, das würde ich können, lieber Richard; aber verzeih, mir kommt dein Entschluss etwas übereilt vor. Wird er dich nicht gereuen? Lass Ilse die schönen Sommermonate noch ihre Freiheit genießen und gib sie erst zum Herbst fort. Der Abschied von der Heimat wird ihr dann weniger schwer werden.«

»Nein, keine Änderung«, sagte er, bei einem längeren Hinausschieben seinen Wankelmut fürchtend, »es bleibt dabei – zum 1. Juli wird sie angemeldet.«

Nach einigen Stunden kehrte Ilse wohlgemut mit erhitzten Wangen und über und über mit Heu bestreut zum zweiten Frühstück zurück. Wie sie war, ohne den Anzug zu wechseln, trat sie höchst vergnügt auf die Veranda.

»Da bin ich«, rief sie. »Bin ich lange geblieben? Ich sage dir, Papa, das Heu ist kostbar! Nicht einen Tropfen Regen hat es bekommen. Du wirst deine Freude daran haben. Der Hofmeister meint, so gut hätten wir es seit Jahren nicht gehabt.«

»Lass das Heu jetzt, Ilse«, entgegnete Herr Macket, »und höre zu, was ich dir sagen werde.«

Er sagte es ziemlich ernst, es wurde ihm nicht leicht, von seinem Plan zu sprechen – sie war so ahnungslos, ja sie nahm gar keine Notiz von seiner Stimmung. Ihr Augenmerk war auf den wohlbesetzten Frühstückstisch gerichtet, sie war sehr hungrig von der Fahrt.

»Soll ich dir Frühstück schneiden?«, fragte Frau Anne freundlich, aber Ilse lehnte es ab.

»Ich will es schon selbst tun«, sagte sie, nahm das Messer und schnitt sich ein tüchtiges Stück Schwarzbrot ab. Die Butter strich sie fast fingerdick darauf. Nachdem sie ein dickes Stück Wurst zugelangt hatte, fing sie an, wohlgemut zu essen, bald von dem Brot, bald von der Wurst, die sie in der Hand hielt, einen Bissen nehmend. Höchst ungeniert lehnte sie dabei hintenüber in einem Sessel und schlug die Füße übereinander. Es schmeckte ihr köstlich.

»Ich denke, du wolltest mir etwas sagen, Papachen!«, rief sie mit vollem Mund, »nun schieß los, ich bin ordentlich neugierig darauf.«

Er zögerte etwas mit der Antwort, noch war es Zeit, noch konnte er seinen Entschluss zurücknehmen – einen Augenblick überlegte er und es fehlte nicht viel, so hätte er es wirklich getan, aber die Schwäche ging vorüber und so ruhig, wie es ihm möglich war, teilte er Ilse seinen Beschluss mit.

Wenn er erwartet hatte, dass sie sich stürmisch widersetzen würde, so hatte er geirrt. Zwar blieb ihr buchstäblich der Bissen im Munde stecken vor Überraschung und Schreck, aber ihr Auge flog zur Mutter hinüber und sie unterdrückte den Sturm, der in ihr tobte. Um keinen Preis sollte diese erfahren, wie furchtbar es ihr war, die Heimat, den Vater vor allem, zu verlassen, sie, die doch sicherlich nur allein die Anstifterin dieses Plans war, denn der Papa – nein! Nimmermehr würde er sie von sich gegeben haben!

»Nun, du schweigst?«, fragte Herr Macket, »du hast vielleicht selbst schon die Notwendigkeit eingesehen, dass du noch tüchtig lernen musst, mein Kind, denn mit deinen Kenntnissen hapert es noch überall, nicht wahr?«

»Gar nichts habe ich eingesehen!«, platzte Ilse heraus, »du selbst hast mir ja oft genug gesagt, ein Mädchen brauche nicht so viel zu lernen, das allzu viele Studieren mache es erst recht dumm! Ja, das hast du gesagt, Papa, und nun sprichst du mit einem Mal anders. Nun soll ich fort, soll auf den Schulbänken sitzen zwischen andern Mädchen und lernen, bis mir der Kopf wehtut. Aber es ist gut, ich will auch fort, ja ich freue mich auf die Abreise. Wenn nur erst der 1. Juli da wäre!«

Und sie erhob sich hastig, warf den Rest ihres Frühstücks auf den Tisch und eilte fort, hinauf in ihr Zimmer, und jetzt brachen die Tränen hervor, die sie bis dahin nur mühsam zurückgehalten hatte.

Frau Anne wäre dem Kind gar zu gern gefolgt, sie fühlte, was in dem jungen Herzen vorging, aber sie wusste genau, dass Ilse ihre gütigen Worte trotzig zurückweisen würde; so blieb sie zurück und hoffte auf die Zeit, wo Ilses gutes Herz den Weg zu ihrer mütterlichen Liebe finden werde. – –

Die wenigen Wochen bis zum festgesetzten Termin vergingen schnell. Frau Anne hatte alle Hände voll zu tun, um Ilses Garderobe in Ordnung zu bringen. Die Vorsteherin der Pension hatte auf Herrn Mackets Anfrage sofort geantwortet und sich gern zu seiner Tochter Aufnahme bereit erklärt. Zugleich hatte sie ein Verzeichnis der Sachen mitgeschickt, die jede Pensionärin bei ihrem Eintritt in das Institut mitzubringen habe.

Ilse lachte spöttisch über die nach ihrer Meinung vielen unnützen Dinge, besonders die Hausschürzen fand sie geradezu lächerlich. Sie hatte bis dahin niemals eine solche getragen.

»Die dummen Dinger trage ich doch nicht, Mama!«, sagte sie, als Frau Anne dabei war, den Koffer zu packen, »die brauchst du gar nicht einzulegen.«

»Du wirst dich doch der allgemeinen Sitte fügen müssen, mein Kind«, entgegnete die Mutter. »Warum wolltest du auch nicht? Sieh einmal her, diese blau und weiß gestreifte Schürze mit den gestickten Zacken ringsum, ist sie nicht ein reizender Schmuck für ein kleines Fräulein, das sich im Haushalt nützlich machen wird?«

»Ich werde mich aber im Haushalt nicht nützlich machen!«, rief Ilse in ungezogenem Ton, »das fehlte noch! Ihr denkt wohl, ich soll dort in der Küche arbeiten oder die Stuben aufräumen? Die Schürzen trage ich nicht, ich will es nicht!«

»Übertreibe nicht, Ilse«, entgegnete Frau Anne, »du weißt recht gut, dass man dergleichen nie von dir verlangen wird. Wenn du durchaus die Schürzen nicht tragen magst, so kannst du ja deinen Wunsch der Vorsteherin mitteilen, vielleicht erfüllt sie dir denselben.«

»Ich werde sie nicht erst darum fragen! Solche Dinge gehen sie gar nichts an!«, war Ilses unartige Antwort.

Sie verließ die Mutter, auf welche sie einen wahren Groll hatte. All die schönen Wäsche- und Kleidungsstücke, die Frau Anne mit Liebe und Sorgfalt für sie ausgewählt hatte, fanden keine Gnade vor ihren Augen, nicht einen Funken Interesse zeigte sie dafür.

Dem Papa erklärte sie, dass sie ein kleines Köfferchen für sich selbst packen werde. Niemand solle ihr dabei helfen, niemand wissen, welche Schätze sie mit in das neue Heim hinüberführen werde.

»Das ist eine prächtige Idee, Ilschen«, stimmte Herr Macket bei, »nimm nur mit, was dir Freude macht.«

Und er ließ sofort einen allerliebsten kleinen Koffer kommen und überraschte seinen Liebling damit. Als Ilse ihm erfreut und dankend um den Hals fiel, als sie ihn seit längerer Zeit zum ersten Mal wieder »mein kleines Pachen« nannte, da wurde es ihm so weich ums Herz, dass er sich abwenden musste, um seine Rührung zu verbergen.

Am Tag vor ihrer Abreise schloss sich Ilse in ihr Zimmer ein und begann zu packen. Aber wie! Bunt durcheinander, wie ihr die Sachen in die Hand kamen. Zuerst das geliebte Blusenkleid nebst Ledergürtel, es wurde nur so in den Koffer hineingeworfen und mit den Händen etwas festgedrückt, dann die hohen Lederstiefel mit Staub und Schmutz, wie sie waren, dann eine alte Ziehharmonika, auf der sie nur ein paar Töne hervorbringen konnte, ein neues Hundehalsband mit einer langen Leine daran, ein ausgestopfter Kanarienvogel, und zuletzt, nachdem die wunderbarsten Dinge in den Koffer gewandert waren, griff sie nach einem Glas, in welchem ein Laubfrosch saß. Es ist kaum zu glauben, indessen auch dieses sollte mitverpackt werden – sie hatte sich so an das Tierchen gewöhnt. Sie nahm ein gutes gesticktes Taschentuch aus dem Kommodenkasten, band dasselbe über das Glas, legte auch noch eine Papierhülle darüber, schnitt ganz kleine Löcher in beides und steckte einige Fliegen hindurch.

»So«, sagte sie höchst befriedigt von ihrer Packerei, »nun bist du gut versorgt, mein liebes Tierchen, und wirst nicht verhungern auf der weiten Reise.«

Wie sie das Glas hineinbrachte in den Koffer, war wirklich ein Kunststück, das ihr erst nach vieler Mühe gelang. Aber endlich war sie doch so weit, dass sie den Deckel schließen konnte. Er klemmte etwas, und Ilse musste sich erst darauf knien, bevor derselbe ins Schloss fiel. Den kleinen Schlüssel zog sie ab, befestigte ihn an einer schwarzen Schnur und band diese sich um den Hals.

Als das Abendbrot verzehrt war und die Eltern noch am Tisch saßen, ging Ilse in den Hof und machte eine Runde durch alle Ställe. Von den Hühnern, Tauben, Kühen, Pferden – sie hatte so viele Lieblinge darunter – nahm sie Abschied; morgen sollte sie ja alle auf lange Zeit verlassen. Das Lebewohl von den Hunden wurde ihr am schwersten, sie waren alle ihre guten Freunde. Dianas Sprösslinge, die schon allerliebst herangewachsen waren und sie zärtlich begrüßten, lockten ihr Tränen des tiefsten Leides hervor.

Neben ihr stand Johann. Er hatte das kleine Fräulein vom ersten Tag ihres Lebens an gekannt und liebte sie abgöttisch. Als er ihre Tränen sah, liefen auch ihm einige Tropfen über die Wangen.

»Wenn das kleine Fräulein wiederkommt«, sagte er mit kläglicher Stimme und fuhr mit der verkehrten Hand über die Wange, »dann wird es wohl eine große Dame sein. Ja ja, Fräulein Ilschen, unsere schöne Zeit ist dahin! Ach und die Hunde, wie werden sie das Fräulein vermissen! Die sind gescheit! Menschlichen Verstand hat das dumme Vieh! Wie sie schmeicheln, die kleinen Krobaten, als ob sie wüssten, dass unser kleines Fräulein morgen abreist« – hier wurde seine Stimme so unsicher, dass er nicht weitersprechen konnte.

»Johann«, entgegnete Ilse unter Schluchzen, »sorg für die Hunde. Und wenn du mir einen großen – den letzten Gefallen tun willst, so«, hier sah sie sich erst vorsichtig nach allen Seiten um, ob auch niemand in der Nähe war, »so nimm Bob«, diesen Namen hatte sie Dianas kleinem Söhnchen gegeben, »mit auf den Kutscherbock morgen, wenn du mich zur Bahn fährst, aber heimlich. Niemand darf es wissen, ich will ihn mitnehmen. Ein Halsband und eine Leine habe ich schon eingepackt. Aber Johann, heimlich, hörst du?«

Der Kutscher war glücklich über diesen Auftrag und dass er dem lieben kleinen Fräulein noch einen Liebesdienst erweisen konnte. Er lächelte verschmitzt und versprach, Bob so geschickt unterzubringen, dass keine menschliche Seele von dem Hund etwas merken solle.

Früh am andern Morgen stand der Wagen vor der Tür, der Ilse fortbringen sollte. Herr Macket begleitete sie bis W., um sie der Vorsteherin, Fräulein Raimar, selbst zu überbringen. Er musste sich doch persönlich überzeugen, wo und wie sein Liebling aufgehoben sein werde. Frau Anne nahte sich Ilse im letzten Augenblick, um zärtlich und gerührt von ihrem Kind Abschied zu nehmen, aber diese machte ein finsteres, trotziges Gesicht und entwand sich der Mutter Armen.

»Lebe wohl«, sagte sie kurz und sprang in den Wagen; nicht um die Welt hätte sie der Mutter verraten mögen, wie weh und schmerzlich ihr das Scheiden wurde.

Als der Wagen sich in Bewegung setzte und Diana denselben laut bellend noch eine kurze Strecke begleitete, bog sie sich weit zum Wagen hinaus mit tränenden Augen und nickte ihr zu. Gut war es, dass der Vater nichts von den Tränen merkte, er würde vielleicht augenblicklich kehrtgemacht haben.

Auf dem Bahnhof, als alles besorgt und Ilse mit dem Papa in das Coupé gestiegen war, trat Johann hinzu mit Bob unter dem Arm und der Mütze in der Hand.

»Leben Sie recht wohl, Fräulein Ilschen, und kommen Sie gut hin«, sagte er etwas verlegen. »Die Hunde werde ich schon besorgen, dafür haben Sie nur keine Angst nicht. Den hier nehmen Sie wohl mit, es ist doch gut, wenn Sie nicht so allein in der Pension sind.«

Ilse jauchzte vor Freude. Sie nahm den Hund in Empfang, liebkoste und streichelte ihn, dann reichte sie Johann die Hand.

»Leb wohl«, sagte sie, »und habe Dank. Ich freue mich zu sehr, dass ich ein Hündchen mit mir nehmen kann.«

»Ja, aber Ilse, das geht doch nicht«, wandte der erstaunte Oberamtmann ein, »du darfst doch keine Hunde mit in das Institut bringen. Sei vernünftig und gib Bob Johann wieder zurück.«

Doch daran war nicht zu denken. Ilse ließ sich durch keine Vorstellung dazu bewegen.

»Die einzige Freude lass mir, Pachen! Willst du mich denn ganz allein unter den fremden Menschen lassen? Wenn Bob bei mir ist, dann habe ich doch einen guten Freund. Nicht wahr, Bobchen, du willst nicht wieder fort von mir«, wandte sie sich an den Hund, der es sich bereits höchst bequem auf ihrem Schoß gemacht hatte, »du bleibst nun immer bei mir!«

Es war dem Oberamtmann unmöglich, ein Machtwort dagegen zu sprechen, zumal ja Ilse so triftige Gründe für ihren Wunsch anführte. Am meisten überzeugte ihn der Gedanke, dass die Kleine doch einen heimatlichen Trost mit in die Fremde brächte.

Es war eine lange und ziemlich langweilige Fahrt, meist durch flaches Land, erst zuletzt kamen die Berge. Für Ilse tat sich eine neue Welt auf, sie hatte noch nie eine so große Reise gemacht. Auf jeder Station schaute sie mit neugierigen Augen hinaus, jedes Bahnwärterhäuschen amüsierte sie. Über all den neuen Eindrücken, die sich ihr aufdrängten, trat der Trennungsschmerz in den Hintergrund.

Spät am Abend, es war zehn Uhr vorbei, langten sie in W. an. Natürlich übernachtete Ilse mit ihrem Vater im Hotel, erst am andern Morgen sollte sie in ihre neue Heimat eingeführt werden.

Als es am nächsten Tag neun Uhr schlug, stand Ilse fertig angezogen vor ihrem Papa. Sie sah in ihrem grauen Reisekleid und den zierlichen Lederstiefeln ganz allerliebst aus. Unter dem runden, weißen Strohhut, der mit einem Feldsträußchen und schwarzem Samtband aufgeputzt war, fielen die braunen Locken herab. Die schönen, großen Augen blickten heute nicht so fröhlich wie sonst, sie hatten einen ängstlich erwartungsvollen Ausdruck, und um den Mund zuckte es in nervöser Aufregung.

»Dir fehlt doch nichts, Ilschen?«, fragte Herr Macket und sah sein Kind besorgt an. »Du bist so blass, hast du schlecht geschlafen?«

Die herzliche Frage des Vaters löste mit einem Mal die unnatürliche Spannung in Ilses Wesen. Sie fiel ihm um den Hals, und die bis dahin trotzig zurückgehaltenen Tränen brachen mit aller Macht hervor.

»Aber Kind, Kind«, sagte Herr Macket sehr geängstigt durch ihre Leidenschaftlichkeit, »du wirst ja nicht lange von uns getrennt bleiben. Ein Jahr vergeht schnell, und zu Weihnachten besuchst du uns. Komm, Kleines, trockne die Tränen. Du musst dir das Herz nicht schwer machen. Du wirst uns fleißig Briefe schreiben und die Mama oder ich werden dir täglich Nachricht geben von uns, von allem, was dich in Moosdorf interessiert.« Und er nahm sein Taschentuch und trocknete damit die immer von neuem hervorbrechenden Tränen seines Kindes.

Der Oberamtmann befand sich in einer gleich aufgeregten Stimmung wie sein Kind, es wurde ihm nicht leicht zu trösten, wo er selbst des Trostes bedürftig war. So schwer hatte er sich die Trennung nicht gedacht, er würde sonst nicht darein gewilligt haben; aber da er das einmal getan hatte, wollte er sich in die Notwendigkeit fügen.

Er strich Ilse das Haar aus der Stirn und setzte ihr den herabgesunkenen Hut wieder auf. »Komm«, sagte er, »jetzt wollen wir gehen. Nun sei ein verständiges Kind.«

»Die Mama soll mir nicht schreiben!«, stieß Ilse schluchzend heraus, »nur deine Briefe will ich haben! Meine Briefe an dich soll sie auch nicht lesen!«

»Ilse!«, verwies Herr Macket, »so darfst du nicht sprechen. Die Mama hat dich lieb und meint es sehr gut mit dir.«

»Sehr gut!«, wiederholte sie in kindischem Zorn, »wenn sie mich lieb hätte, würde sie mich nicht verstoßen haben!«

»Verstoßen! Du weißt nicht, was du sprichst, Ilse! Werde erst älter, dann wirst du das große Unrecht einsehen, das du heute deiner Mutter antust, und deine bösen Worte bereuen.«

»Sie ist nicht meine Mutter – sie ist meine Stiefmutter!«

»Du bist kindisch!«, sagte der Oberamtmann, »aber merke dir, niemals wieder will ich dergleichen Äußerungen von dir hören. Du kränkst mich damit!«

Ilse sah schmollend zur Erde nieder und konnte nicht begreifen, wie es kam, dass der Papa sie nicht verstand, er musste doch einsehen, wie unrecht ihr geschah.

»Komm jetzt«, fuhr er in mildem Ton fort, »wir wollen gehen, mein Kind.« Sie ergriff den Hund, nahm ihn auf den Arm und wollte so ausgerüstet dem Vater folgen.

»Lass ihn zurück«, gebot derselbe, »wir wollen die Vorsteherin erst fragen, ob du ihn mitbringen darfst.«

Aber Ilse setzte ihren Kopf auf, »dann gehe ich auch nicht«, erklärte sie mit aller Bestimmtheit. »Ohne Bob bleibe ich auf keinen Fall in der Pension!«

Macket tat dem Eigensinn den Willen aus Furcht, von neuem Tränen hervorzulocken. Aber Ilses Widerstand war ihm im höchsten Grade peinlich. Was sollte Fräulein Raimar denken!

Eine Viertelstunde darauf standen Vater und Tochter vor einem stattlichen zweistöckigen Haus, das vor dem Tor der kleinen Stadt mitten im Grünen lag; es war das Institut des Fräulein Raimar.

Der Oberamtmann blieb überrascht davor stehen. »Sieh, Ilse, welch ein schönes Gebäude!«, rief er höchst befriedigt. »Der Blick von hier aus in die nahen Berge ist geradezu bezaubernd.«

Was kümmerten sie die Berge! Sie fühlte sich so gedrückt von Kummer, dass ihr die ganze Welt ein Jammertal dünkte.

»Wie kannst du dies Haus schön finden, Papa«, entgegnete sie. »Wie ein Gefängnis sieht es aus.«

Herr Macket lachte. »Betrachte doch die hohen, breiten Fenster, Kind«, sagte er. »Glaubst du, dass in einem Gefängnis ähnliche zu finden sind? Die armen Gefangenen sitzen hinter kleinen, blinden Scheiben, die außerdem noch mit einem Eisengitter versehen sind.«

»Ich werde jetzt auch eine Gefangene sein, Papa, und du selbst lieferst mich in dem Gefängnis ab.«

»Du bist eine kleine Närrin!«, lachte er und brach das Gespräch, das ihm bedenklich zu werden schien, ab.

Er stieg die breiten steinernen Stufen, die zu dem Eingang führten, hinauf und zog an der Klingel. Ilse, die ihm langsam gefolgt war, schrak unwillkürlich zusammen, als sie den hellen Schall im Haus vernahm.

Gleich darauf wurde die Tür von einer Magd geöffnet. Nachdem dieselbe die Angekommenen gemeldet hatte, wurden sie in das Empfangszimmer der Vorsteherin geführt.

Bevor sie dasselbe erreichten, mussten sie den Hausflur und einen langen Korridor, von welchem zwei Ausgänge in einen schönen, großen Hof führten, durchschreiten. Es war gerade die Frühstückspause in der Schule, und so war es natürlich, dass überall lachend und plaudernd große und kleine Mädchen umherstanden. Sie verstummten, als sie die neue Pensionärin, von der sie wussten, dass sie heute ankommen werde, erblickten, und aller Augen richteten sich auf Ilse, der es plötzlich höchst beklommen zumute wurde. Es schien ihr, als höre sie verstecktes Kichern hinter sich, und sie war herzlich froh, als die Tür in dem Empfangszimmer sich hinter ihr schloss. Noch war dasselbe leer.

Ilse blickte sich um, und in diesem großen, vornehmen Raum, der künstlerisch und elegant zugleich eingerichtet war, stieg mit einem Mal ein etwas banges Gefühl in ihr auf wegen Bob, sie wünschte fast, des Vaters Willen gefolgt zu sein. Hätte sie den Hund in ihrem Arm plötzlich unsichtbar machen können, sie hätte es getan. Nun wollte der Unartige auch noch herunter auf den Boden, und diesen Wunsch konnte sie ihm doch unmöglich erfüllen, wie hätte sie wagen dürfen, ihn auf den kostbaren Teppich, der durch das Zimmer gebreitet lag, herabzulassen!

Die Tür öffnete sich und Fräulein Raimar trat ein. Sie begrüßte Herrn Macket mit steifer Freundlichkeit, dann blickte sie mit ihren stahlgrauen Augen, die einen zwar strengen, ernsten, trotzdem aber gewinnenden Ausdruck hatten, auf Ilse. Diese war dicht an den Vater getreten und hatte seine Hand ergriffen.

»Sei willkommen, mein Kind!« Mit diesen Worten begrüßte die Vorsteherin Ilse und reichte ihr die Hand. »Ich denke, du wirst dich bald bei uns heimisch fühlen.« Als sie den Hund sah, fragte sie: »Hat dich dein Hund bis hierher begleitet?«

Ilse blickte etwas hilflos den Papa an, der dann auch für sie das Wort nahm. »Sie mochte sich nicht von ihm trennen, Fräulein Raimar«, sagte er etwas verlegen, »sie glaubte, dass Sie die Güte haben würden, ihren kleinen Kameraden mit ihr aufzunehmen.«

Das Fräulein lächelte. Es war das erste Mal, dass man ihr eine solche Zumutung machte. »Es tut mir leid, Herr Oberamtmann«, sagte sie, »dass ich den ersten Wunsch Ilses rücksichtslos abschlagen muss. Sie wird verständig sein und einsehen, dass ich nicht anders handeln kann. Stell dir einmal vor, liebes Kind, wenn alle meine Pensionärinnen den gleichen Wunsch hätten, dann würden zweiundzwanzig Hunde im Institut sein. Welch einen Spektakel würde das geben! Möchtest du das Tier gern in deiner Nähe behalten, so wüsste ich einen Ausweg. Mein Bruder, der Bürgermeister hier, wird deinen Hund gewiss aufnehmen, wenn ich ihn darum bitte; dann kannst du täglich deinen Liebling sehen.«

Ilse war rot geworden und dicke Tränen perlten in ihren Augen. »Dann bleibe ich auch nicht hier!« – sie wollte es eben aussprechen, aber sie wagte es nicht. Die Dame vor ihr hatte so etwas Unnahbares, Vornehmes in ihrem Wesen. Wie eine Fürstin erschien sie ihr trotz des schlichten grauen Kleides, dessen kleiner Stehkragen am Hals mit einer einfachen goldenen Nadel zusammengehalten wurde. Ilse senkte den Blick und schwieg.

Der Oberamtmann lachte. »Sie haben recht, Fräulein«, sagte er, »und wir hätten das selbst vorher bedenken können. Ihre große Güte, den Hund bei Ihrem Herrn Bruder unterzubringen, wird Ilse mit vielem Dank annehmen, nicht wahr?«

Sie schüttelte den Kopf. »Fremde Leute sollen Bob nicht haben, Papa, du nimmst ihn wieder mit nach Moosdorf.«

Herr Macket schämte sich der Antwort seines Kindes, aber Fräulein Raimar überhob ihn geschickt seiner Verlegenheit. Mit ihrem erfahrenen Sinn hatte sie sofort das Trotzköpfchen vor sich erkannt. Sie tat, als merkte sie Ilses Unart nicht.

»Du hast ganz recht«, sagte sie freundlich, »es ist das Beste, der Papa nimmt das Tier wieder mit in die Heimat. Du würdest durch dasselbe vielleicht doch mehr zerstreut, als mir lieb wäre. Soll die Magd den Hund in das Hotel zurücktragen, wo Sie abgestiegen sind, Herr Oberamtmann?«

»Ich will ihn selbst dorthin tragen, nicht wahr, Papachen?«, fragte Ilse und hielt Bob ängstlich fest.

»Ich wünsche nicht, dass du es tust, liebe Ilse«, wandte Fräulein Raimar ein. »Ich möchte dich gleich zu Mittag hierbehalten, um dich den übrigen Pensionärinnen vorzustellen. Ich halte es so für das Beste. Es tut nicht gut, Herr Oberamtmann, wenn ein Kind, sobald der Vater oder die Mutter es mir übergeben haben, noch einmal mit ihnen zurückkehrt in das Hotel. Der Abschied wird ihm weit schwerer gemacht.«

»Nein, nein!«, rief Ilse zitternd vor Aufregung, »ich bleibe nicht gleich hier! Ich will mit meinem Papa so lange zusammen sein, bis er abreist. Du nimmst mich mit dir, nicht, Papa?«

Es wurde Herrn Macket heiß und kalt bei ihrem Ungestüm, indes auch diesmal half ihm Fräulein Raimar über die peinliche Lage hinweg.

»Gewiss, mein Kind«, entgegnete sie mit Ruhe, »dein Wunsch soll dir erfüllt werden. Darf ich Sie bitten, Herr Oberamtmann, heute Mittag mein Gast zu sein? Sie würden mich sehr erfreuen.«

Ilse warf ihrem Papa einen flehenden Blick zu, der ungefähr ausdrücken sollte: »Bleib nicht hier, nimm mich mit fort! Ich mag nicht hier bleiben bei dem bösen Fräulein, das mich schlecht behandeln wird!« Leider verstand er den Blick anders, er hielt ihn für eine stumme Bitte, die Einladung anzunehmen, und sagte zu.

Die Vorsteherin erhob sich und zog an einer Klingelschnur. Der eintretenden Magd trug sie auf, Fräulein Güssow zu rufen. Wenige Augenblicke darauf trat dieselbe in das Zimmer.