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Silvia Faller

Eine Frau allein auf dem Jakobsweg

Satz & Gestaltung: Verena Kessel

ISBN Taschenbuch

978-3-86476-035-8

ISBN E-Book EPUB

978-3-86476-614-5

ISBN E-Book PDF

978-3-86476-615-2

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Silvia Faller

Eine Frau allein auf dem Jakobsweg

1000 Kilometer Magie und Abenteuer

Mein Weg über den Camino del Norte,
den Camino Lebaniego und
den Camino Primitivo nach
Santiago de Compostela

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Danke

Hagen, Samira und Felicia für Eure Liebe und
Euer Verständnis.
Iris, für Deine Freundschaft

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Inhaltsverzeichnis

Auf dem Camino Lebaniego

„¿Viaje sola?“

Von Blasen und anderen Wehwehchen

Freundinnen

Klostergeschichten

Völkerwanderung

Grenzerfahrung

Der Spanier an sich…

Pilgerschwester, Pilgerbruder

Was ist Luxus?

Nicht alle Wege führen nach Santiago … oder … Umdrehen will gelernt sein

Wenn der Weg dich ruft

Abschied in Santander

I´m walking in the rain

Von Einsamkeit und Alleinsein

Hundeflüsterer

Valdedios

Stunde um Stunde, Schritt für Schritt

Geburtstag

Centro del médico

Pilgertochter

Herbergsgeschichten

Königsetappe

Wettrennen… oder… Warum nicht jeder Pilger auch dein Freund ist

Von kleinen und großen Freiheiten

Die spinnen, die Römer…

Kameradschaft

Begegnungen

Soweit die Füße tragen

Glück

Ankunft in Santiago de Compostela

An der Muschel sollt ihr sie erkennen

Fußballfieber

Abschied am Ende der Welt

Wenn Schwaben pilgern

Was bleibt…

Stationen Irun-Santiago-Finisterre 2010

Kleines Wörterbuch

Gehe ruhig und gelassen

Durch Lärm und Hast

Und sei des Friedens eingedenk

Den die Stille bergen kann

Stehe, soweit ohne Selbstaufgabe möglich

In freundlicher Beziehung zu allen Menschen

Ob es dir bewusst ist oder nicht

Es besteht kein Zweifel

Das Universum entfaltet sich wie vorgesehen

Strebe behutsam danach

Glücklich zu sein

(Desiderata 1692 Baltimore)

Vorwort

Als ältestes von drei Kindern habe ich schon früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Dies zieht sich durch mein ganzes Leben. Ob in meinem ursprünglichen Beruf, in meiner Familie oder im Bekanntenkreis – immer gibt es Menschen, um die ich mich kümmere oder die ich betreue. Menschen, die meine Zeit und Aufmerksamkeit beanspruchen, hinter deren Erwartungen ich oft meine eigenen Wünsche – aus Liebe, Zuneigung und Pflichtgefühl – zurückgestellt habe.

Wie verlockend ist da der Gedanke, einmal eine Zeit zu haben, in der ich nur mir selbst gehöre, für niemanden die Verantwortung trage, nur meinen Wünschen folgen kann. Keine Rücksicht nehmen müssen, nicht selbstlos sondern selbstsüchtig sein zu dürfen. Eine Zeit, in der ich ohne schlechtes Gewissen egoistisch, ganz auf mich bezogen sein kann. Herausfinden: Wer bin ich, wenn ich alleine bin? Kann ich mich selbst und die Begegnung mit meinem inneren Ich ertragen? Wie gehe ich mit dem Alleinsein, mit Ängsten um, wenn niemand da ist, der mir den Rücken stärkt? Was kann ich mir zutrauen, wenn ich mich nur noch auf mich verlassen kann?

Heute habe ich einen Beruf, der viel vorausschauende Organisation und Planung erfordert. Es ist nicht immer einfach, die Anforderungen von Familie und Beruf zu vereinbaren. Wie verlockend also auch die Überlegung, die Organisation eines Tages auf wenige grundlegende Bedürfnisse reduzieren zu können.

Eine Pilgerreise bietet die Möglichkeiten, diese Vorstellungen zu verwirklichen.

Vor vielen Jahren hatte ich die Idee dazu. Von Anfang an war es mein Wunsch, diese Zeit überwiegend alleine zu verbringen. Also begann ich, Spanisch zu lernen und mich über die verschiedenen Pilgerwege nach Santiago zu informieren. Ziemlich früh entschied ich mich gegen den „Camino Frances“, den bekanntesten spanischen Pilgerweg und offiziellen „Jakobsweg“. Zu touristisch erschlossen und überlaufen, insbesondere im Jahr 2010, einem „Heiligen Jahr“, in dem wesentlich mehr Pilger unterwegs sein würden.

Ich suchte nicht nur einen Weg, der weniger begangen wurde, sondern auch körperliche Herausforderungen. So entschied ich mich, zunächst den Camino del Norte entlang der Atlantikküste von Irun bis kurz vor Gijón zu gehen, dann ins Hinterland abzuzweigen und über die Berge dem Camino Primitivo zu folgen. Ab Lugo führt dieser dann aber in einer Tagesetappe zum Camino Frances und vereinigt sich mit diesem. Stattdessen wählte ich ab Lugo eine inoffizielle Wegführung zurück zum Camino del Norte, der hier bereits im Landesinneren verlaufend ebenfalls Richtung Camino Frances strebt. So konnte ich die Zeit, die ich auf dieser Pilgerautobahn verbringen sollte, auf zwei Tage verkürzen.

Vom Camino Lebaniego erfuhr ich erst unterwegs. Dieser führt von der Küste ab San Vicente de la Barquera in 2-3 Tagesetappen nach Potes und etwas weiter zum Kloster Santo Toribio de Liebana in die „Picos de Europa“, die spanischen Alpen. Auch vom Camino Frances und anderen Ausgangspunkten her, führen spektakuläre, fast unerschlossene Wege durch dieses Gebirge, die aber nur mit entsprechenden Karten und Ausrüstung zu bewältigen sind. Von Potes aus bin ich mit dem Bus zurück an die Küste gefahren und dort auf dem Camino del Norte weitergepilgert. Der Camino Lebaniego gehörte zu den abenteuerlichsten mentalen und körperlichen Herausforderungen auf meiner Pilgerreise. Und hier, am zweiten Tag auf diesem Weg, beginnt meine Erzählung...

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Auf dem Camino Lebaniego

Heute hat mir dieser Weg alles an Kraft und Energie abverlangt. Von morgens um 8 Uhr bis abends 19.30 Uhr bin ich mit kurzen Pausen Berge hoch- und hinuntergestiegen, habe Markierungen und Wege gesucht, Herbergen geschlossen vorgefunden und bin erst nach ca. 35 Kilometern erschöpft in Potes angekommen. Auch hier sind Herberge und Pilgerbüro – anders als in meiner Info angegeben – bereits ab 18 Uhr geschlossen und telefonisch ist niemand erreichbar. Auch die Tourist-Info ist schon lange zu. Auf der Suche nach einer Pension laufe ich durch die Gassen. Eigentlich biete ich einen mitleiderregenden Anblick. Schuhe und Hose sind bis zum Knie nass und schlammverkrustet, gezeichnet mit schwarzen Aschespuren bis zum Oberschenkel. Zeugen meiner mühsamen Suche nach einem Pfad, der mich von einem Berg herunterführen sollte.

Lange bin ich auf der Anhöhe über eine abgebrannte Fläche zwischen schwarzverkohlten Büschen umhergeirrt bei dem Versuch, eine Wegmarkierung zu finden. Getrieben von den Regenwolken und dem Nebel, die sich hinter mir über den Gipfel schieben, immer auf der Hut, den schroff abfallenden, hinter Gestrüpp verborgenen Felsüberhängen nicht zu nahe zu kommen. Nein, mit einem Wanderweg in den österreichischen Alpen ist dieser Pilgerweg beileibe nicht zu vergleichen. „A la derecha...a la derecha...“ nach rechts sollte ich mich halten laut den Hinweisen eines freundlichen Spaniers im letzten Dorf. Angestrengt suche ich die Umgebung nach möglichen Markierungen ab. Wenn ich nicht bald einen Pfad finde, muss ich womöglich umkehren, zurück ins Dorf und dann die Landstraße nehmen. Doch auf dieser habe ich mir gestern schon an einem langen, sonnig-heißen Tag mit qualmenden Socken neue Blasen gelaufen. Teilweise breit ausgebaut, dann wieder in engen Windungen in die karstigen Felsen gesprengt, sind die Straßen jedoch keinesfalls für Wanderer angelegt. Es gibt selbstverständlich keinen Gehweg, oft nicht einmal einen schmalen Seitenstreifen, auf dem ich laufen könnte. Lange Zeit Einsamkeit und Stille, dann brettern Busse oder Lastwagen in atemberaubendem Tempo durch die Kurven und reißen mich aus meinem müden Trott. Die Fahrer erschrecken mindestens genauso wie ich. Hier rechnet niemand mit Fußgängern, und ich schicke Stoßgebete gen Himmel und den Rennfahrern Flüche hinterher.

Deshalb ist meine Freude zunächst groß, dass der Weg heute überwiegend in den Bergen und abseits der Straße verlaufen soll. Nun aber wird durch den drohenden Wetterwechsel der Weg über die Berge bald zu riskant. Ich habe weder Wander- noch Landkarte und in meinem Pilgerführer ist dieser eigene Camino abseits der Hauptroute nicht näher beschrieben. So kann ich mich nur vage an einem kleinen Faltblatt orientieren, das zumindest die Dörfer nennt, an denen ich vorbeikommen soll. Endlich sehe ich ca. 50 Meter entfernt einen Pfosten, der eindeutig nicht zur Landschaft gehört. Der direkte Weg ist durch unpassierbares Gestrüpp versperrt, also wieder den Berg hoch, über die verkohlte Fläche und dann...a la derecha...der Pfosten schmückt sich mit einer gelben Markierung – eigentlich zeigen mir rote Pfeile den Weg – aber der Pfad daneben führt eindeutig und sehr steil nach unten. Nun denn, „Werdet kreativ und sucht euren eigenen Weg...“, lautete der Rat von Ernesto, dem Pilgervater in der Kultherberge von Güemes.

Die Entscheidung erweist sich letztendlich als richtig. Mit anderen habe ich an diesem Tag weniger Glück. Im Tal angekommen stehe ich vor der Wahl, noch ca. 12 Kilometer zu laufen, davon mindestens 3,5 Kilometer entlang einer stark befahrenen, engen und kurvenreichen Landstraße, oder nochmals einen Anstieg in Kauf zu nehmen und nach ca. 7 Kilometern in einem Dorf in einer Privatherberge zu übernachten. Zwischenzeitlich ist es 15 Uhr und es regnet.

Ich wähle die Bergetappe. Zunächst führt mich der sporadisch markierte Weg durch eine enge, bewaldete Schlucht aufwärts. Der feine Nieselregen fängt sich im Laub der Bäume, der Boden ist mit einer mulchigen, viele Jahre alten Blätterschicht bedeckt. Wie durch einen verwunschenen Märchenwald schlängelt sich der halb zugewachsene Pfad an einem Wildbach entlang. Ich fülle meine Wasserflaschen mit dem klaren, kalten Wasser. Hier ist bestimmt seit Ewigkeiten niemand mehr durchgekommen. Trotz des Nieselregens genieße ich diese einsame Natur – bis mir ein Erdrutsch den Weg versperrt. Auf einer halb darunter begrabenen Wandertafel ist noch zu erkennen, dass es hier einen Rundweg über den Bach geben sollte, der ebenfalls ins Dorf führt. Auf meiner Seite ist kein Durchkommen, also wechsle ich über das Wasser und hole mir dabei nasse Füße. Zunächst finde ich tatsächlich einen Pfad, der sich aber kurz darauf in einer sumpfigen Wald- und Wiesenlandschaft verliert. Schmatzend saugen sich meine Schuhe im Schlamm fest, jeder Schritt wird mühsam. Matsch gesellt sich zu dem Wasser in meinen Schuhen. Mein Rucksack verhakt sich in Dornen und Gebüsch. Wie ein Wildschwein breche ich durchs Unterholz. Vorbei sind die romantischen Gefühle, ich bin müde, nass, dreckig und will nur noch zurück auf eine Straße.

Durch Zufall finde ich einen Weg der zwar nicht in meine Richtung aber links hoch zum Waldrand führt. Dort angekommen erreiche ich wirklich eine Landstraße. Rechts führt diese um das Tal herum, auf der gegenüberliegenden Seite sehe ich ein Dorf – mein Etappenziel. Zu meiner Überraschung entdecke ich einen Wegweiser, der nach links 9 Kilometer Richtung Potes zeigt – meinem morgigen Ziel. Einen näherkommenden Autofahrer halte ich energisch an und frage, wie weit es bis zum Dorf ist. Ungefähr einen Kilometer – más o menos... also mindestens zwei, wie die Erfahrung mit spanischen Entfernungs- und Zeitangaben lehrt. Es ist fast 17 Uhr als ich dort ankomme. Das letzte Haus im Dorf ist die Privatherberge – und diese ist geschlossen! Eine Pension oder eine andere Notunterkunft gibt es nicht. Es bleibt keine Alternative, ich muss Richtung Potes zurücklaufen. Ziemlich frustriert futtere ich den letzten Bissen Proviant – die Notreserve ist nun auch weg – bei dem Gedanken an den Weg, der jetzt noch vor mir liegt. Ich werde noch einiges an Kraft benötigen!

Ein Stück durchs Tal zurück bis zum Schild an der Straße, das ich zuvor entdeckt habe, und dann weiter bis Potes. Die letzten Kilometer laufe ich nur noch mechanisch. Meine Blasen haben jeglichen Protest bereits aufgegeben, immer wieder stolpere ich, weil meine müden Muskeln die Füße nicht mehr anheben wollen, ein feiner Schmerz breitet sich von den Knöcheln Richtung Ferse aus. Bei jeder Häuseransammlung hoffe ich, mein Ziel erreicht zu haben. Aber diese Strecke zieht sich endlos. Nach über 11 Stunden Wanderung fühle ich mich jenseits von Müdigkeit und Schmerz. Mein Rucksack wiegt zwischenzeitlich bestimmt einen Zentner, aber mein Stolz lässt es nicht zu, vorher schon nach einer Pension zu suchen. Ich schaffe das bis zur Herberge, muss nur vor 20 Uhr da sein. Also einfach immer weitergehen.

Ich bin zwar rechtzeitig da, aber die Herberge ist trotzdem geschlossen und kein anderer Pilger weit und breit. Nach einem kritischen Blick auf mein nun nicht sehr vorteilhaftes Erscheinungsbild, erklärt man mir in der ersten Pension, es sei alles belegt! Müde trotte ich weiter durch die kleine Altstadt auf der Suche nach einer preiswerten Unterkunft, als ich eine Frau wiedertreffe, die zuvor schon versucht hat, mir weiterzuhelfen. Sie spricht mich an und nimmt mich mit zu sich nach Hause, wo ihre Mutter ein einfaches Zimmer vermietet.

Neben dem Bett steht ein altertümlicher Nachttopf, aber ich kann stattdessen das Familienbad benutzen. Aus der Badewanne wird zunächst erst einmal der Putzeimer geräumt damit ich duschen kann. Dieser scheint allerdings auch nicht allzu oft benutzt zu werden. Doch das ist mir inzwischen gleichgültig. Die Frauen sind beide sehr nett, können gar nicht glauben, dass ich so weit gelaufen bin. Meine Füße sind schlimm, einige heftige Blasen, mir tut alles weh, ich bin wie steif und komme kaum noch die Treppen hoch. Aber Einkaufen muss noch sein. Ich habe absolut keine Vorräte mehr. Fünf Minuten vor Ladenschluss stürme ich in den kleinen Supermarkt, beschwöre die Kassiererin um einen Augenblick Geduld und decke mich mit allem „Überlebensnotwendigen“ ein. Statt eines Abendessens trinke ich in einer Bar drei kleine Gläser Wein. Ich bin der einzige Gast und das ist mir ganz recht so. Zu müde, um noch essen zu gehen und keine Lust mehr auf Gesellschaft. In meinem Zimmer setze ich mich aufs Bett und esse Schinken, Obst, getrocknetes Brot und eine ganze Tafel Schokolade. Ich kann lange nicht einschlafen, liege bis nach 2 Uhr in der Nacht noch wach und versuche, meine schmerzenden Beine in eine angenehme Position zu bringen. Es will mir nicht gelingen.

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„¿Viaje sola?“

„Gehen Sie alleine?“ Keine andere Frage wird mir so häufig gestellt wie diese in den Wochen, in denen ich alleine pilgere. Meine beste Freundin hat mich die ersten 2,5 Wochen begleitet und ist dann, wie geplant, von Santander aus zurückgeflogen. 270 Kilometer haben wir gemeinsam erlebt und auch erlitten, 730 Kilometer werden bis nach Finisterre, dem „Ende der Welt“, noch vor mir liegen.

„¿Viaje sola?“ Für die Spanier biete ich einen ungewöhnlichen Anblick. Anders als auf dem bekannten französischen Hauptweg, dem Camino Frances, sind auf den weniger bekannten Nebenrouten wie dem Küstenweg oder dem Camino Primitivo selbst in diesem „Heiligen Jahr“ vergleichsweise wenige Pilger unterwegs. Alleinpilgernde Frauen sind insbesondere auf dem „Primitivo“ und dem kaum bekannten „Lebaniego“ absolute Ausnahmen. So reagieren die Menschen auf meinen Anblick entsprechend erstaunt. Die Frauen ungläubig und fassungslos. Habe ich denn keinen Mann, keine Familie, die mich begleiten könnte, und wenn doch, wie kann ich diese allein zurücklassen? Diesen unausgesprochenen Gedanken kann man ihnen an der Nasenspitze ablesen. Es ist für mein Herz und meinen Kopf wichtig, alleine zu pilgern, erkläre ich. „Da haben Sie ja den ganzen Tag niemanden zum Reden!“, entsetzt sich eine ältere Señora. „Ich rede mit den Tieren, den Blumen, den Menschen am Wegesrand und mit Gott.“ Sie nickt zufrieden. Die Männer zollen mir eher ihren Respekt und fragen, wie lange ich schon unterwegs bin, wie weit ich pilgern möchte und woher ich komme. Diese „Gespräche“ am Weg genieße ich sehr. Sie sind oft sehr einseitig, aber meistens entlockt ein in bester „Einheimischenart“ kurzes „Buena“ oder mein bloßer Anblick als Frau, die mit einem Rucksack allein durch die Gegend rennt, den Spaniern am Wegesrand mehrere Fragen. Da diese sich meistens ähneln, habe ich mir die passenden Antworten in einer schönen kleinen Rede zurechtgelegt. Ich erkläre, dass ich Pilgerin, aus Deutschland und seit Mitte Mai unterwegs von Irun nach Santiago de Compostela bin. In der irrigen Annahme, ich sei des Spanischen wirklich mächtig, würde selbstverständlich auch jeden örtlichen Dialekt verstehen, folgen dann unweigerlich weitere Fragen in oft atemberaubendem Tempo ausgesprochen. Selbst der Hinweis, ich würde nur sehr wenig Spanisch sprechen, bremst die Menschen nicht in ihrer verbalen Anteilnahme. Wenn selbst meine Intuition nicht mehr weiterhilft, stimme ich ihnen begeistert mit „vale, vale“ zu und verabschiede mich mit freundlichem „gracias, muchas gracias“. Auf den folgenden Kilometern habe ich dann reichlich Zeit, die hängengebliebenen Fragen zu entschlüsseln und mir passende Antworten zurechtzulegen. Nur leider bin ich dann schon weit weg...

Einmal fiel mir aber auch nach vielen Kilometern keine schlagfertige Antwort ein. Ein mindestens 70-Jähriger, mit einer Sense bewehrter Hombre fragte nach dem anfänglichen, schon bekannten Geplänkel, ob ich denn keinen Mann hätte. Auf meine Antwort hin sagte er mir dann mit einem Augenzwinkern, dieser sei doch so weit weg in Deutschland, ich sei hübsch und er auch alleine...Ein amouröser Antrag auf der Landstraße. Wir verabschiedeten uns herzlich lachend voneinander.

Von Blasen und anderen Wehwehchen...

Nein, ich bin keine Heulsuse, kein Jammerlappen und kein Weichei. Es mag ja sein, dass einem echten Pilger ein paar Blasen an den Füßen durchaus zur Zierde gereichen, aber gleich so viele? Die Wanderschuhe sind zwar noch nicht wirklich gut eingelaufen, aber meine Füße beklagen sich auch in eingetragenen Joggingschuhen, wenn ich ihnen eine längere Laufzeit zumute. Das Problem ist folgendes: Ich gehe gern und auch lange – nur meine Füße nicht! Dabei schenke ich ihnen wirklich genug Aufmerksamkeit! Morgens und abends werden sie gecremt und massiert. Ich führe eine üppige Ausstattung an Salben, diverser Spezialpflaster und Tape mit – im Vergleich dazu sind die Pflegeprodukte für den übrigen Körper auf das absolute Minimum begrenzt. Doch meine Füße nehmen mir das Laufen auch noch mit viel zu schwerem Gepäck gleich doppelt übel. Ich habe versucht, nichts Überflüssiges mitzunehmen und auf jegliche Luxusartikel zu verzichten. Aber bereits die gefüllten Wasserflaschen und der Proviant wiegen drei Kilo. Mehr als 15 Kilogramm schleppe ich so über die Steilküste, denn ich bin auch noch mit Zelt, Isomatte und einem dicken, schweren Schlafsack für frostige Nächte ausgerüstet.

Die Vorstellung, in Herbergen mit mir völlig fremden Menschen auf engstem Raum die Nacht zu verbringen, eingehüllt in warme Schwaden verbrauchter Luft und schweißiger Socken, vielfaches Schnarchen, Seufzen und Atmen, verursachte mir schon zuhause schlaflose Nächte. Das Zelt versprach eine gewisse Unabhängigkeit und Sicherheit. Doch durch das hohe Gewicht bekomme ich schon nach wenigen Stunden am ersten Tag zusätzlich Belastungsschmerzen in den Hüftknochen. Vollkommen unterschätzt habe ich die Tatsache, dass das Tragen eines Rucksackes insbesondere in bergigem Gelände die übliche Laufgeschwindigkeit deutlich reduziert. Mehr als drei Kilometer in der Stunde schaffen wir in der Anfangszeit nicht. So sind wir am ersten Tag fast 11 Stunden unterwegs bis wir vollkommen erschöpft in der ersten Herberge eintreffen.

So extrem anstrengend hatte ich mir das nicht vorgestellt! Nach drei Tagen schicke ich Zelt und Isomatte per Post nach Hause und reihe mich mit Ohrstöpseln ausgerüstet in die Reihen der Schnarcher ein. Irgendwie gehört das Übernachten in den Herbergen dann doch zum Pilgerleben. Nur wenn diese überfüllt sind oder es die Umstände erforderlich machen, genieße ich den Luxus einer kleinen Pension.

In den kommenden Wochen werden allergische Hautausschläge zu meinen ständigen Begleitern. Besonders an warmen Tagen vermehren diese sich durch die feuchte, durchgeschwitzte Kleidung unter den Hüftgurten des Rucksackes und den umgeschlagenen Wanderstrümpfen exzellent. Juckende Pickelchen, Zecken und schmerzhafte Kratzer durch dorniges Gebüsch veranlassen mich, nur noch in langen Hosen zu wandern. Ob schmerzhafter Sonnenbrand auf der Kopfhaut und den Ohren oder undefinierbare Stiche und Bisse nach einer Übernachtung in einer schmuddeligen Herberge – die Liste der Wehwehchen ließe sich noch fortsetzen.

Am vierten Tag übernachten wir in Deba in einer Schule. Wir lernen R. kennen, eine Schweizerin, und im Gespräch erwähne ich die Schmerzen in der Hüfte, die mich nach wie vor begleiten. Sie bietet mir ihre Hilfe an. Zurück in der Schule, schiebt sie im Flur zwei Pulte zusammen, besorgt Decken und weist mich an, mich darauf zu legen. Sie zieht, drückt und schiebt meine Beine, Hüften und Füße in verschiedene Positionen, diagnostiziert einen Beckenschiefstand und versucht, mich wieder ins Lot zu bringen. Unter anderem drückt sie mit ihren Fingern in meinem Mund gegen meine Kieferknochen. Ich wundere mich, aber lasse sie gewähren. Sie mahnt mich, in Zukunft beim Sitzen die Beine nicht mehr übereinander zu schlagen – bis dahin meine beliebteste Position. Am nächsten Tag verspüre ich an Körperstellen Muskelkater, der nicht vom Laufen kommen kann. Die Hüftschmerzen sind wie weggeblasen und das Sitzen mit übergeschlagenen Beinen ist mir von da an so unangenehm, dass ich es bis heute bleibenlasse.