Eine Streitschrift
Aus dem Englischen von
Karin Wördemann
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der ETH Zürich (Professur für Philosophie Michael Hampe).
Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de
© E-Book 2013 by Hamburger Edition
ISBN: 978-3-86854-591-3
© der deutschen Printausgabe 2011 by Hamburger Edition
ISBN: 978-3-86854-229-5
© der Originalausgabe 2008 by Princeton University Press
Titel der Originalausgabe: »Philosophy and Real Politics«
Übersetzung: Karin Wördemann
Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
Typografie und Herstellung: Jan und Elke Enns
Satz aus der Stempel Garamond von Berthold
von Dörlemann Satz, Lemförde
Vorbemerkung zur deutschen Übersetzung
Vorwort
Einleitung
Teil I Realismus
Wer wen?
Prioritäten, Präferenzen, Wahl des richtigen Zeitpunkts
Legitimität
Aufgaben der politischen Theorie
Teil II Verfehlter Realismus
Rechte
Gerechtigkeit
Gleichheit
Fairness, Unwissenheit, Unparteilichkeit
Macht
Schlussfolgerung
Bibliografie
Zum Autor
Für den Autor ist die Übersetzung eines seiner Werke in eine ihm einigermaßen bekannte Fremdsprache immer eine durchaus ambivalente Erfahrung, springen ihm doch sofort im Original halb verborgene Schwächen seines eigenen Textes überdeutlich in die Augen. Zum Teil sind diese Mängel erkenntnismäßig uninteressant, insofern sie bloß auf die persönliche Unzulänglicheit des Verfassers zurückgehen; einige allerdings weisen auf systematische Unterschiede zwischen den eingespielten Denkgewohnheiten verschiedener Sprachgemeinschaften. So werden durch die Verwendung von Wörtern wie power oder right(s) bestimmte Weichen gestellt, die einen Fortgang des Denkens in eine Richtung begünstigen, aber andere Bewegungsmöglichkeiten erschweren oder gar verunmöglichen. Ist es der Wunschtraum des Dichters, ein sprachliches Gebilde zu schaffen, das den Leser zwingt, sich ihm anzupassen, statt es sich »anzueignen«, ein Wortgefüge also, das sich weder übersetzen noch kommentieren lässt und dessen einzig mögliche korrekte »Interpretation« sich also lediglich in der Wiederholung des genauen Wortlauts erschöpfen würde, so gelten für die zeitgenössische Wissenschaft andere Gesetze, zu denen die prinzipielle Übersetzbarkeit gehört. Übersetzen ist aber, wie die Mathematiker sagen, kein »kommutativer« Prozess. Ein lateinischer Text, der ins Deutsche und anschließend aus dem Deutschen ins Französische übersetzt wurde, ist einem deutschen Text, der ins Französische und dann anschließend aus dem Französischen ins Lateinische übersetzt wird, gerade nicht gleich, was immer auch unter den Umständen »gleich« heißen soll. Wenn dem aber so ist, so ist zu vermuten, dass auch wissenschaftliche Texte immer Spuren ihrer Ursprungssprache behalten, und der Prozess der Übersetzung erkennbare Narben hinterlässt.
Aus diesem Grund habe ich mir für die deutsche Ausgabe die Freiheit genommen, den Text zu überarbeiten und einige zusätzliche Klärungen hinzuzufügen, wobei ich mich auf die wertvolle Mithilfe der Lektorin Dr. Sabine Lammers stützen konnte. Die deutsche Version ist folglich um einiges länger ausgefallen als das englische Original und weicht gelegentlich von ihm ab. Frau Karin Wördemann sei an dieser Stelle auch mein Dank für die geleistete Übersetzungsarbeit ausgesprochen.
Wenn sich der Verfasser hier überhaupt eine Meinung erlauben kann, würde ich im Großen und Ganzen dem vorliegenden deutschen Text aufgrund seiner größeren Klarheit und Differenzierung vor dem Original den Vorzug geben.
Raymond Geuss, Cambridge, Großbritannien,
3. Januar 2011
Der folgende Text ist die erweiterte Fassung einer Vorlesung, die ich im April 2007 an der Universität Athen hielt und die damals den Titel »(Lenin), Rawls, and Political Philosophy« trug. Die ursprüngliche Vorlesung ist zwischenzeitlich in der Zeitschrift Cogito erschienen, in einer Übertragung in das moderne Griechisch, für die ich Dr. Vasso Kindi danken möchte. Mein Dank gilt auch Katerina Ierodiakonou für die freundliche Einladung, in Athen vorzutragen. Da mein Freund Michael Frede im August 2007 beim Schwimmen im Golf von Korinth ertrunken ist, kann ich mich bei ihm nicht mehr persönlich bedanken für die von ihm ausgesprochen starke Ermutigung, die Vorlesung in erweiterter Form zu veröffentlichen. Ein tragender Pfeiler meines intellektuellen Lebens während der vergangenen anderthalb Jahre war das zweiwöchentlich stattfindende deutschsprachige »Philosophische Forschungskolloquium«, das in Cambridge an der Fakultät für Philosophie beheimatet ist; ich habe das große Glück gehabt, den Stoff dieses Textes größtenteils (in der einen oder anderen Form) mit den Mitgliedern dieser Gruppe ausführlich diskutieren zu können: Manuel Dries, Fabian Freyenhagen, Richard Raatzsch, Jörg Schaub und Christian Skirke. Mein Dank geht auch an Rüdiger Bittner, John Dunn, Zeev Emmerich, Peter Garnsey, Istvan Hont, Quentin Skinner und Ursula Wolf für Diskussionen der hier behandelten Themen und Kommentierungen von Vorfassungen dieses Textes. Es versteht sich von selbst, dass keine der genannten Personen notwendigerweise irgendeiner Behauptung zustimmt, die ich in dem Text aufstelle. Meinen größten Dank schulde ich Hilary Gaskin, deren scharfsinnige Kommentare praktisch jede Seite des Manuskripts verbessert haben. Es war ein Vergnügen, mit Ian Malcolm von der Princeton University Press zusammenarbeiten, der wie immer eine unfehlbare Quelle guter Ratschläge war.
Bei einem erheblichen Teil der akademischen Vertreter der zeitgenössischen politischen Theorie und vielleicht sogar bei einigen Politikern in den westlichen Demokratien ist ein starker »Kantischer« Einschlag erkennbar. Diese Strömung drückt sich, jedenfalls in der englischsprachigen Welt, in dem hochgradig moralisierenden Ton aus, in dem so manche öffentliche Diplomatie praktiziert wird, und zeigt sich unter politischen Philosophen auch in der Beliebtheit der stehenden Redewendung »Politik ist angewandte Ethik«. Slogans wie diese können genau deshalb gefährlich sein, weil sie raffiniert zweideutig sind, und dieser Slogan lässt zumindest zwei extrem voneinander abweichende Interpretationen zu. Zum einen steckt darin eine Lesart, die ich »die anodyne« Lesart des Slogans nennen werde und die eine Auffassung formuliert, die ich voll und ganz akzeptiere. Zum anderen steckt darin die von mir so genannte »Ethik-hat-Vorrang«-Lesart.
Die anodyne Lesart macht geltend, dass »Politik« – darunter sind sowohl Formen politischen Handelns als auch Methoden zur Untersuchung der Formen politischen Handelns zu verstehen – kein streng wertfreies Unternehmen sein kann und somit in einem sehr allgemeinen Sinne eine »ethische« Aktivität darstellt. Politik ist eine menschliche Angelegenheit und nicht bloß eine Art mechanische Interaktion zwischen Individuen, Institutionen oder Gruppen. Es kann passieren, dass Reisende in einem Flugzeug bei einem Absturz mechanisch übereinander geworfen werden oder dass ein Mann von einer Brücke stürzt und zufällig auf einem Landstreicher landet, der dort unter der Brücke schläft. Das zweite dieser Beispiele ist zwar eine heilsame Erinnerung an die Rolle der Kontingenz und des Unerwarteten in der Geschichte, doch keiner der beiden Fälle ist ein Paradigma für Politik. Politische Akteure verfolgen generell bestimmte Vorstellungen des »Guten« und handeln im Lichte dessen, was sie für moralisch und politisch zulässig halten. Das stimmt ungeachtet der unleugbaren Tatsache, dass die meisten Menschen als Handelnde im Großen und Ganzen willensschwach und leicht ablenkbar sind, oft auffallende Lücken in ihrem Wissensbestand haben und so gut wie niemals über ein vollkommen übersichtliches und konsistentes System von Einstellungen, Überzeugungen und Präferenzen verfügen und deswegen nicht immer nur das tun, was sie für zulässig halten. Man wird niemals verstehen können, was sie tun und warum sie das tun, was sie tun, solange man nicht die ethische Dimension ihres Handelns im umfassendsten Sinne dieses Wortes ernst nimmt: ihre unterschiedlichen Werturteile über das Gute, das Zulässige, das Reizvolle, das Vorzuziehende, das um jeden Preis zu Vermeidende. Ein Handeln in dieser Weise kann vollkommen zu Recht als »Anwendung von Ethik« beschrieben werden, vorausgesetzt man versteht diese »Anwendung« als etwas, was mit einer Beweisführung in der Euklidischen Geometrie oder einer Berechnung der Tragfähigkeit einer Brücke sehr wenig Ähnlichkeiten hat und oft eher dem Versuch gleicht, sich im allgemeinen Kampf des menschlichen Lebens zu behaupten. Und vorausgesetzt, man behält eine Reihe anderer wichtiger Tatsachen im Kopf, wie beispielsweise die unvermeidliche Unbestimmtheit, die einen großen Teil des menschlichen Lebens ausmacht. In einem Cartesischen Koordinatensystem ist jeder Punkt durch eine bestimmte Entfernung von der x-Achse und von der y-Achse ausgezeichnet. Die Brauchbarkeit eines solchen Denkmodells ist äußerst beschränkt, wenn man es mit Phänomenen zu tun hat, die durch menschliche Wünsche, Überzeugungen, Einstellungen oder Werte mitkonstituiert sind. Die Menschen haben in Bezug auf eine Vielzahl verschiedener Dinge oft überhaupt keine bestimmten Überzeugungen; sie wissen oft nicht, was sie wollen oder warum sie etwas taten; und selbst wenn sie wissen oder beanspruchen zu wissen, was sie wollen, können sie oft keine zusammenhängende Erklärung dafür geben, warum sie genau das wollen, was zu wollen sie beanspruchen; sie haben oft keine Ahnung, welche Anteile ihres Systems von Überzeugungen und Wünschen – in dem Umfang, wie sie bestimmte Überzeugungen und Wünsche haben – »ethische Prinzipien« sind und welche (bloß empirische) »Interessen«; das jedoch ist nicht einfach ein epistemisches Versagen und auch nichts, was man im Prinzip beheben könnte, sondern ein dem menschlichen Leben durchgängig »inhärenter« Zug. Obwohl diese grundsätzliche Unbestimmtheit ein Phänomen ist, auf das so gut wie jeder oder jede im eigenen Fall ständig stößt und bei sich bemerken muss, ist unser Widerstreben dagegen, diese Unbestimmtheit als ein allgemeines Charakteristikum der menschlichen Lebensform zu akzeptieren, aus einer Vielzahl von Gründen beachtlich; trotzdem sind wir auf dem Holzweg, wenn wir der Einsicht in diese Unbestimmtheit ausweichen wollen. Ein weiterer Grund, quasicartesische Einstellungen gegenüber dem menschlichen Leben mit Skepsis zu betrachten, liegt darin, dass Menschen in ihrem Handeln, Denken und Wünschen selten mehr als lokal konsistent sind. Dabei ist in vielen Lebensbereichen Inkonsistenz unerheblich oder kann sogar in Ausnahmefällen positiven Wert haben. So könnte ich eine Strategie verfolgen, die mir kurzfristigen Nutzen einbringt, obschon ich genau weiß, dass sie sich »auf lange Sicht« selbst untergraben wird. Ein solches Verfahren braucht keineswegs subjektiv »irrational« zu sein, falls ich die berechtigte Erwartung hege, mein Leben glücklich abschließen zu können, bevor die Strategie auffliegt. Indem Catullus seine Liebe und seinen Hass für Lesbia ausdrückt, äußert er gerade nicht den Wunsch, sich von dem einen oder anderen dieser beiden Gefühle zu befreien. Nicht alle Widersprüche lassen sich analytisch in zeitliche Folgen von gegensätzlichen Überzeugungen oder Wünschen auflösen. Zu den wichtigsten Grunderkenntnissen, von denen jede ernsthafte systematische Reflexion über das Verhältnis von Politik und Ethik ausgehen sollte, gehört die Einsicht, dass die Überzeugungen, Werte, Moralvorstellungen und Wünsche jedes Einzelmenschen unausgegoren, veränderlich, unscharf umrissen und in ihrem Inhalt nur sehr grob artikuliert sind. Klarheit und Bestimmtheit sind immer Lokalphänomene, die in gewisser Weise als das Produkt einer künstlichen und nur mit großem Aufwand aufrechterhaltenen Formalisierung eines bestimmten Teilbereichs des gesellschaftlichen Lebens, etwa der Rechtspflege oder der Naturwissenschaft, zu verstehen sind.1 Das alles impliziert keineswegs, dass es nicht von größter Bedeutung ist, in gewissen begrenzten Bereichen die Gewährleistung relativer Stabilität und Widerspruchsfreiheit anzustreben.
Menschliche Überzeugungen und Wünsche sind beständig im Fluss, und der Wandel kann bei ihnen aus allen möglichen Gründen eintreten. Veränderungen spezieller menschlicher Wissensbereiche werden oft von stark verbreiteten weiteren Veränderungen der Weltanschauungen und Werte begleitet. Häufig wird behauptet, der Darwinismus habe am Ende des 19. Jahrhunderts eine solche Wirkung beispielsweise in Europa gehabt. Zudem verschaffen neue Techniken den Menschen mögliche neue Objekte des Begehrens und neue Formen, Dinge als Wunschobjekte zu konstruieren. Es liegt keineswegs auf der Hand, dass der Hunger, den Menschen des Neolithikums befriedigten, indem sie rohes Fleisch mit den Fingern zerrissen, dasselbe ist wie der Hunger, der im Jahr 2008 beim Speisen in einem Fünf-Sterne-Hotel befriedigt wird.2 Der technische Wandel kann auch neue Weisen des Umgangs der Menschen untereinander ermöglichen, und manchmal müssen diese auf eine Art und Weise geregelt werden, für die es keine Präzedenzfälle gibt: Sobald es möglich wird, menschliche Organe von einer Person auf eine andere zu übertragen und die genetische Zusammensetzung von Angehörigen der nächsten Generationen zu manipulieren, stellen sich die Menschen mit guten Gründen die Frage, welche Formen der Übertragung oder Manipulation erlaubt, welche erschwert oder verboten werden sollten. Oft bringen es Veränderungen bei den politischen oder ökonomischen Machtverhältnissen mit sich, dass bestimmte Gruppen ihren Nachbarn kulturell näher kommen oder kulturell von ihnen weiter abrücken und somit deren ethische Vorstellungen, Ansichten und Auffassungen ändern (wiederum im weitesten Sinne des Begriffs »ethisch«). Die Politik wird zum Teil von diesen Veränderungen geprägt und ist zum Teil ein Versuch, einige dieser Veränderungen zu bewältigen. Zudem handeln Menschen nach ihren Werten, moralischen Auffassungen und Vorstellungen des guten Lebens, die sich aber gerade infolge des »Einsatzes in der Praxis« oftmals ändern. Manchmal kann man hier von einer »Lernerfahrung« sprechen. Insbesondere das völlige Scheitern eines Vorhabens, das einen beträchtlichen Aufwand an sozialer Energie beansprucht hat und für das große Opfer gebracht wurden, scheint eine Sensibilisierung für das Problematische an gewissen ideologischen Bewusstseinsformen zu bewirken, die ihrerseits unter Umständen die Folge haben kann, dass die Menschen für neue Denkweisen und Bewertungsformen aufnahmefähig werden, die sie sonst sofort und entschieden abgelehnt hätten.3 So hat ein erheblicher Teil der deutschen Bevölkerung nach den Ereignissen zwischen 1914 und 1945 eine ausgeprägte Skepsis gegenüber dem Nationalismus und den militärischen Tugenden entwickelt, und die Erfahrungen von Suez und Algerien haben in Großbritannien und Frankreich zu der Tendenz geführt, alle weiteren Versuche, die alten Formen des kolonialen Imperialismus auszuleben, zu diskreditieren. Natürlich findet der angebrachte Lernprozess manchmal nicht statt oder es wird die »falsche« Lehre gezogen, was häufig einen hohen Preis in Form einer Wiederholung oder eines Fehlschlags fordert. Die weltgeschichtliche Bedeutung der Reagan-Ära in den Vereinigten Staaten ist daher darin zu sehen, dass aus der Niederlage in Vietnam keine relevanten Lehren gezogen wurden, weil maßgebliche politische Kreise es verstanden, eine sachliche Bilanzziehung zu verhindern. Lernen, Lernversagen und das Ziehen der falschen Lehre sind alles mögliche Ergebnisse, und welches Ergebnis davon tatsächlich zustande kommt, muss erklärt, verstanden und beurteilt werden. Es gibt keine Garantie, dass »Lernen« unumkehrbar ist, noch kann der Behauptung, dass langfristiges Lernen natürlich ist, das heißt stattfindet, sofern es nicht verhindert wird, irgendein klarer Sinn zugeschrieben werden.4 Außerdem scheint das Lernen in der Politik eine merkwürdige Doppelstruktur aufzuweisen, indem wir zwar sehr langfristige und sehr kurzfristige Lernprozesse relativ klar zu erkennen meinen, stabile, mittelfristige aber anscheinend kaum vorkommen. So »lernen wir« über zweitausend Jahre hinweg, dass es besser ist, wenn es eine öffentliche Gesetzgebung gibt, statt es den Priestern zu überlassen, aufgrund ihres esoterischen Wissens in jedem Einzelfall »Recht« zu sprechen, und es sah eine Zeitlang so aus, als hätten die Briten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts »gelernt«, dass sich der Kolonialismus nicht mehr aufrechterhalten lässt, aber die Wirkungen des kurzfristigen Lernens können bemerkenswert schnell nachlassen, denn heute (2007) haben wir bereits wieder kämpfende Truppen im Irak und in Afghanistan.5
Man kann von der Politik als »angewandter Ethik« sprechen, wenn man an dieser Wortwahl Gefallen findet, doch ist es keineswegs evident, dass alle oben beschriebenen Phänomene so etwas wie eine natürliche Gattung bilden, wenn der Begriff »natürliche Gattung« die emphatische Bedeutung hat, die ihm Philosophen verliehen. »Natürliche Gattungen« (Katzen, Säugetiere, Getreidearten, Flüssigkeiten usw.) werden im philosophischen Sprachgebrauch streng von bloß zufällig entstandenen Gruppierungen (die Menschen, die im Augenblick in diesem Zug mitfahren, der Inhalt einer Mülltonne, das Strandgut, das im Laufe eines Jahres an Land gespült wird) oder künstlich hergestellten Ansammlungen (die Gegenstände, die ein Kleinkind in seinem »Museum« aufbewahrt, weil sie »besonders schön« sind) unterschieden. Dass es hier überhaupt einen einheitlichen, in sich zusammenhängenden Bereich gibt, der Gegenstand einer besonderen intellektuellen Disziplin sein könnte, ist ebenfalls fraglich. »Angewandte Ethik« ist vielmehr ein bloßer Sammelbegriff, der sich auf die Art bezieht, wie Menschen wertend und handelnd mit politischen Programmen, kollektiven und Einzelinteressen, Veränderungen der ökonomischen Struktur, den Erfordernissen des gemeinsamen und des individuellen Handelns, institutionellen Zwängen und kontingent auftretenden historischen Problemen verschiedenster Art umgehen, um das Gute zu verwirklichen und das weniger Gute zu vermeiden.
Wenn ich der Behauptung entgegentrete, dass Politik angewandte Ethik ist, ist damit nicht die oben genannte anodyne Lesart gemeint. Ich ziele vielmehr auf eine speziellere Auffassung zur Natur und Struktur des ethischen Urteils und dessen Verhältnis zur Politik, insbesondere aber auf eine Theorie darüber, wo man mit der Untersuchung von Politik anfangen sollte, was der entscheidende Rahmen zur Untersuchung von Politik ist, was dabei sinnvollerweise im Mittelpunkt stehen sollte und von was man mit Gewinn abstrahieren kann. »Politik als angewandte Ethik« in dem Sinne, den ich problematisch finde, bedeutet, dass wir anfangen über die soziale Welt des Menschen nachzudenken, indem wir als Erstes das erarbeiten, was manchmal als eine »Idealtheorie« der Ethik bezeichnet wird. Dieser Ansatz geht davon aus, dass es so etwas wie eine »Ethik« genannte, eigenständige Disziplin gibt, die ihren eigenen Gegenstand und eigene Argumentationsformen besitzt und die beschreibt, wie sich Menschen untereinander verhalten sollten. Des Weiteren nimmt der Ansatz an, dass man diesen Gegenstand erforschen kann, ohne ihn fortwährend im übrigen menschlichen Leben zu verorten und ohne unentwegt zu reflektieren, welche Beziehungen die in der Ethik aufgestellten Thesen zur Geschichte, Soziologie, Ethnologie, Psychologie und Ökonomie haben. Letztlich vertritt dieser Ansatz den Vorschlag, man käme in der »Ethik« voran, indem man sich auf ein paar wenige allgemeine Prinzipien konzentriert, beispielsweise, dass die Menschen rational seien oder dass sie durchweg ihr Vergnügen suchten und Schmerzen vermeiden wollten oder dass sie stets ihre eigenen »Interessen« verfolgten. Diese Prinzipien werden als geschichtlich invariant aufgefasst, und die ethische Forschung besteht daher im Wesentlichen darin, sie klar zu formulieren, die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen zu untersuchen, ihnen vielleicht noch irgendeine »Rechtfertigung« zu geben und aus ihnen Schlüsse dahingehend zu ziehen, wie Menschen handeln oder leben sollten. Normalerweise wird eine individualistische Auffassung der Ethik vorausgesetzt. Man kann nämlich zwei Arten Ethik unterscheiden. Es gibt ethische Systeme wie das Christentum oder den Kantianismus, die darauf aus sind, direkte Handlungsanweisungen an jedes menschliche Individuum zu erteilen (»Du musst ein dir anvertrautes Gut an den rechtmäßigen Eigentümer zurückgeben«, »Du sollst nicht töten« usw.). Solche an das Individuum gerichteten Gebote (oder Verbote) werden oft (positive oder negative) »Pflichten« genannt. Andererseits gibt es Systeme, die Gesamtzustände positiv (oder negativ) bewerten – »In einer guten Gesellschaft verhungert niemand«, »Unglücklich ist das Land, das Helden braucht« –, ohne den Individuen spezifische Verpflichtungen zuzuschreiben: Keiner soll hungern, aber wer soll den Hungernden zu essen geben? Häufig, wenngleich nicht ausnahmslos, verleihen die modernen ethischen Theorien des ersten Typs den sogenannten »ethischen Intuitionen«, die Menschen in unserer Gesellschaft angeblich teilen, besonderes Gewicht. Da die »ethischen Intuitionen« der Mitglieder verschiedener Gruppen in modernen pluralistischen Gesellschaften aber oft auseinandergehen und auch die »ethischen Intuitionen« eines Einzelmenschen sich widersprechen können, besteht, so die These der Vertreter dieser Richtung, eine der wichtigsten Aufgaben der Ethik darin, Einheit und Widerspruchsfreiheit in das System der »ethischen Intuitionen« (sowohl jedes Einzelnen als auch aller gesellschaftlichen Gruppen) zu bringen.