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Jens Kersten | Claudia Neu | Berthold Vogel

Demografie und Demokratie

Zur Politisierung des Wohlfahrtsstaates

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de

Inhalt

IDemografie und Demokratie

IIVerfassungsstruktur

1.Politik

2.Familie

3.Altersdiskriminierung

4.Soziale Sicherheit

5.Teilhabe

6.Kommunen, Eigentum, Klimaschutz

7.Finanzen

IIIInfrastruktur

1.Infrastruktur, Daseinsvorsorge, Lebensverhältnisse

2.Demografische De-Infrastrukturalisierung

3.Defensive Ignoranz

4.Verantwortungs- und Bedarfsstruktur

5.Neue Sichtbarkeit der Infrastrukturen

IVWohlfahrtsstruktur

1.Wir sind dann mal weg. Von gelichteten Räumen zu gelichteten Sozialstrukturen

2.Wer spricht hier? Vom öffentlichen Amt zur Entprofessionalisierung der Verwaltung

3.Aufgabe als Aufgabe? Von der schrumpfenden Gesellschaft zur Unverbindlichkeit bürgerschaftlichen Engagements

VZur Politisierung des Wohlfahrtsstaates

Bibliografie

Zur Autorin und zu den Autoren

IDemografie und Demokratie

Die Debatten um unsere demografische Gegenwart und Zukunft produzieren schrille Töne. Fatalistische Lust am Untergang und herablassende Beschwichtigungen wechseln einander ab. Doch Niedergangsszenarien und Beruhigungsformeln verdecken eine zentrale Frage: Gefährdet die demografische Entwicklung unsere Demokratie?

Nur auf den ersten Blick erscheint das Verhältnis von Demografie und Demokratie problemlos. Sicherlich können sich die 70 Millionen Bürgerinnen und Bürger, die voraussichtlich 2050 in der Bundesrepublik leben werden,1 ebenso demokratisch selbst bestimmen wie die 80 Millionen Menschen, die gegenwärtig in Deutschland leben. Doch diese vordergründige Rechnung verkennt entscheidende Aspekte des politischen Spannungsverhältnisses, in das Demografie und Demokratie aufgrund der Bevölkerungsentwicklung geraten sind. Sie reduziert das Verständnis von Demokratie auf Abstimmungen, bei denen es nicht darauf ankommen kann, ob sie von 10 Millionen Menschen mehr oder weniger in Anspruch genommen werden. Das Demokratieverständnis, das sich seit 1949 in der Bundesrepublik entwickelt hat, ist jedoch komplexer. Es geht nicht in der verfassungsrechtlichen Regelung auf, dass die Staatsgewalt vom Volk ausgehe und von diesem in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt werde. Vielmehr hat sich im politischen Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger das Demokratieprinzip mit der Entwicklung des Sozialstaates zum Wohlfahrtsstaat verbunden. »Hartz IV« wird nicht nur als sozial ungerecht, sondern auch als undemokratisch, als Ausschluss von der sozialen und politischen Teilhabe am demokratischen Wohlfahrtsstaat empfunden. Insofern reflektiert die oft zitierte Charakterisierung der Bundesrepublik als »sozialer Rechtsstaat« zwar die historische Entwicklung Deutschlands: Das Deutsche Reich von 1871 hatte auf die politische Legitimation durch Rechtsstaatlichkeit und Sozialversicherung gesetzt, also auf ein Legitimationskonzept, in dem die gesellschaftliche Demokratisierung unterentwickelt blieb und das – auch aus diesem Grund – 1933 gescheitert ist.2 Die sozialpolitische Verfassung der Bundesrepublik lässt sich jedoch nicht (mehr) mit der Formel vom »sozialen Rechtsstaat« beschreiben. Die Bundesrepublik hat sich vielmehr mit ihrer Ausdifferenzierung als Wohlfahrtsstaat zu einer »sozialen Demokratie« entwickelt, deren Integration und Legitimation auf einer Verbindung von egalitärer demokratischer Freiheit und egalitärer sozialer Teilhabe beruht: Demokratische Freiheit und soziale Teilhabe garantieren Zusammenhalt und legitimieren die soziale Demokratie der Bundesrepublik.

Der Wohlfahrtsstaat hat in den westlichen Demokratien zwischen 1950 und 1970 sein »goldenes Zeitalter«3 erlebt. Schon in dieser Formulierung Eric Hobsbawms deutet sich an, dass in diesen beiden Jahrzehnten neue gesellschaftliche Erzählungen entstanden sind. In der Bundesrepublik sind es die Jahre des »Wirtschaftswunders«, der »sozialen Marktwirtschaft«, der »Rentenreform 1957«, der Herstellung »einheitlicher Lebensverhältnisse«. Sie sind Ausdruck eines »neuen« wohlfahrtsstaatlichen Integrationsversprechens, das – nach dem traumatischen Scheitern der Weimarer Republik – den Erfolg des Grundgesetzes als zweiter demokratischer Verfassung in Deutschland sozialpolitisch gewährleistet hat. Doch gerade als zu Beginn der 1970er Jahre der Abschluss der »sozialen Realisation«4 des Wohlfahrtsstaates stolz verkündet wird, setzen die sozialen, politischen und ökonomischen Entwicklungen ein, die das »klassische« Integrationsversprechen des demokratischen Wohlfahrtsstaates wieder infrage stellen: der Wandel von der Industrie- über die Dienstleistungs- zur Wissensgesellschaft, der viele Bürgerinnen und Bürger aus der Arbeitswelt ausgeschlossen und zum Verfall ganzer Industrielandschaften geführt hat; die technische und sodann ökonomische Globalisierung, deren Wettbewerb den wohlfahrtsstaatlichen Legitimationszusammenhang von demokratischer Freiheit und sozialer Teilhabe provoziert;5 und eben auch der demografische Wandel, der mit sinkenden Geburtenziffern und steigender Lebenserwartung dem demokratischen Wohlfahrtsstaat das alterspyramidenförmige Bevölkerungswachstum als sozialpolitische Grundannahme entzieht.

Dieser demografische Strukturwandel, verstanden als das Zusammenspiel von Geburten und Sterbefällen sowie der Wanderungsbewegungen innerhalb des Landes und über Landesgrenzen hinweg, macht sich inzwischen nicht nur in den sozialen Sicherungssystemen bemerkbar. Er verändert die Generationen- und Familienbeziehungen, die Bedeutung von Alter und Bildung in der Arbeitswelt, den sozialen Raum von Städten, Regionen und Ländern, das Verständnis von Infrastrukturen, die Chancen einer effektiven Klimapolitik, die Wertbildung immobilen Eigentums. Die Sorge um die gesellschaftliche Alterung verbindet sich mit der Angst vor neuer sozialer Ungleichheit. Sie verunsichert die politische Mitte. Bürgerinnen und Bürger stellen fest, dass die staatliche »Vorsorgemaschine«6 nicht mehr geräuschlos und flächendeckend funktioniert. Die Reaktionen hierauf sind unterschiedlicher, wie sie nicht sein könnten. Die einen ignorieren die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen: Der demografische Wandel findet nicht oder jedenfalls woanders statt. Die anderen verfallen einem »demographischen Fatalismus«,7 dessen gesellschaftliche Niedergangsszenarien durch die Bilder perforierender Städte und verlassener Regionen geprägt werden. Zeitgleich tragen Einwanderungsdebatten oftmals populistische Züge, die Ressentiments und Statusängste zum Klingen bringen. Eine demografische Schubkraftumkehr und damit eine Abmilderung der Wohlstandskonflikte durch verstärkte Zuwanderung sind freilich unter den gegebenen politischen Verhältnissen ohnehin nicht zu erwarten. Die Einwanderungswellen der vergangenen fünfzig Jahre haben unsere Gesellschaft politisch wie wirtschaftlich pluraler und sozialkulturell vielgestaltiger werden lassen. Sie haben den Bevölkerungsrückgang abmildern können, keinesfalls haben sie ihn in relevantem Maße gebremst. Die zentralen verfassungs-, infra- und wohlfahrtsstrukturellen Probleme, die der demografische Wandel in demokratischen Gesellschaften auslöst, können nicht über die Steuerung von Zuwanderung gelöst werden. Migrationsfragen sind nach unserer Auffassung in erster Linie Bürgerrechts-, Emanzipations- und Partizipationsfragen, die selbstverständlich Aspekte der Alterung und Schrumpfung der Gesellschaft berühren, aber nicht bestimmen. Daher konzentrieren wir uns im Folgenden vor allen Dingen auf die gesellschaftlichen Konsequenzen, die sich in demografischer Hinsicht aus steter Schrumpfung und anhaltender Alterung ergeben.

Dabei lassen wir uns von der zentralen Frage leiten, in welcher Weise der demokratische Wohlfahrtsstaat auf die »Wohlstandskonflikte«8 reagieren muss, die mit dem demografischen Wandel einhergehen. Für die Lösung dieser Konflikte genügt es nicht, schlicht die demografische Grundannahme des Wohlfahrtsstaates zu ändern, also etwa an die Stelle des kolportierten Diktums Konrad Adenauers – »Kinder haben die Leute immer« – Karl Otto Hondrichs »neue« demografische Formel »Weniger sind mehr« zu setzen und auf diese Weise den Geburtenrückgang zum »Glücksfall für unsere Gesellschaft« zu stilisieren.9 Ein solcher Paradigmenwechsel unterstellt, dass die wohlfahrtsstaatlichen Strukturen, die sich aufgrund einer zumindest stabilen, wenn nicht gar ständig wachsenden Bevölkerung gebildet haben, in einer schrumpfenden Gesellschaft sogar noch effektiver ausgelebt werden können. Massenarbeitslosigkeit sei – so ein populäres Argument – in der schrumpfenden Gesellschaft kein Problem mehr, weil dann jede Bürgerin und jeder Bürger aufgrund des Bevölkerungsrückgangs einen Arbeitsplatz finde. Doch Argumentationen wie diese sind demografische Autosuggestionen. Einerseits überschätzen sie den demografischen Faktor für die gesellschaftliche Entwicklung, indem die Beantwortung komplexer Arbeitsmarktfragen auf den demografischen Kurzschluss reduziert wird, die Bevölkerungsschrumpfung führe gleichsam »automatisch« zu einem Rückgang der Massenarbeitslosigkeit. Andererseits unterschätzen sie den demografischen Faktor, weil sie gar nicht in Betracht ziehen, dass die Bevölkerungsentwicklung die Bedingungen des Arbeitsmarkts insgesamt so verändern könnte, dass vollkommen neue soziale Friktionen und Ungleichheiten die Arbeitswelt von morgen prägen: die Verschlechterung von Bildungschancen, der Mangel an Fachkräften sowie der Kollaps von regionalen Arbeitsmärkten sind drei Stichwörter für einen nicht nur, aber auch demografisch verursachten Wandel unserer Arbeitswelt, in der Massenarbeitslosigkeit keineswegs ausgeschlossen erscheint.

Ein rationaler Ansatz für die Annahme der demografischen Herausforderung des demokratischen Wohlfahrtsstaates liegt darin, die mit dem Bevölkerungsrückgang verbundenen Wohlstandskonflikte erstens sichtbar zu machen, zweitens anhand des wohlfahrtsstaatlichen Integrationsmodus zu bewerten und drittens demokratisch legitimiert zu gestalten.

Die Sichtbarkeit der Wohlstandskonflikte, die durch die Bevölkerungsentwicklung ausgelöst werden, ist die Grundvoraussetzung, um den demografischen Wandel des demokratischen Wohlfahrtsstaates kritisch zu begleiten. Nur das individuelle wie kollektive Bewusstsein für demografische Wohlstandskonflikte kann verhindern, dass die schrumpfende Gesellschaft ignoriert, dämonisiert oder idealisiert wird. Um auf diese Weise die gesellschaftlichen Folgen der Bevölkerungsentwicklung differenziert zu diskutieren, lässt sich zwischen den Verfassungsstrukturen, den Infrastrukturen und den Wohlfahrtsstrukturen der Bundesrepublik unterscheiden.

Die Integration des Wohlfahrtsstaates ist das entscheidende Kriterium für die Bewertung und den Umgang mit den Wohlstandskonflikten der schrumpfenden Gesellschaft, um deren Lösung nicht postdemokratischen Kalkülen und versicherungstechnischen Kalkulationen zu überlassen. Dieser wohlfahrtsstaatliche Integrationsmodus ist mit dem Schlagwort eines »one fits for all« nur unzureichend begriffen. Er folgt vielmehr einem Grundgedanken, der seit Émile Durkheim als Steigerungsphänomen der Moderne beschrieben wird: »Wie geht es zu«, fragt Durkheim 1893, »daß das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt? Wie kann es zu gleicher Zeit persönlicher und solidarischer sein?«10 Die Strukturen des Wohlfahrtsstaates steigern also beides: die Individualität des Einzelnen und seine Abhängigkeit von den sozialen Systemen. Deshalb gestalten wohlfahrtsstaatliche Strukturen individuelle Freiheits- sowie Teilhabechancen und zugleich den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Integrationsgrad einer modernen Gesellschaft. Aus diesem Grund rühren die demografischen Wohlstandskonflikte auch an den Grundfesten des demokratischen Wohlfahrtsstaates: Welche Individualisierungen und Differenzierungen sind bei der Gestaltung der Strukturen des demokratischen Wohlfahrtsstaates möglich, ohne dessen sozialen, politischen, wirtschaftlichen und territorialen Zusammenhalt aufs Spiel zu setzen?

Die Gestaltung des demografischen Wandels geht deshalb unweigerlich mit einer Politisierung des Wohlfahrtsstaates einher. Der erschöpfte Wohlfahrtsstaat kann längst nicht mehr alle sozialen, ökonomischen und territorialen Disparitäten kompensieren, die durch den demografischen Wandel ausgelöst werden. Diese »klassische« wohlfahrtsstaatliche Kompensationslösung ließe sich allein durch eine noch weitere Staatsverschuldung finanzieren. Dadurch würde jedoch die Frage nach der Generationengerechtigkeit nur noch weiter verschärft. Die Lösung demografischer Probleme kann aber nicht in deren Zuspitzung liegen. Deshalb führt an der offenen politischen Auseinandersetzung um die demokratische Gestaltung des demografischen Wandels kein Weg vorbei. Dabei sind harte politische Konfrontationen zu erwarten. Die notwendigen Strukturentscheidungen betreffen unweigerlich individuelle Lebenschancen und die gesellschaftliche Kohäsion. So hat etwa der Streit um das Renteneintrittsalter Frankreich nicht nur sozialpolitisch erschüttert, sondern insbesondere auch den nachhaltigen Strukturkonservativismus privilegierter Eliten veranschaulicht: »Als ich kürzlich die Place de la Concorde überquerte«, so schreibt André Glucksmann 2007 in seinen Erinnerungen, »schwenkten die Studenten der Grandes Écoles, also die künftige Elite Frankreichs, Spruchbänder und skandierten Parolen. Ich traute weder meinen Ohren noch meinen Augen, dass die Zwanzigjährigen sich für eine Rente mit sechzig heiser schrien.«11

Die Gestaltung der harten Verteilungskonflikte, die mit dem demografischen Wandel einhergehen, ist nur möglich, wenn der Wohlfahrtsstaat über ein Höchstmaß an demokratischer Legitimation verfügt. Gerade in diesen Legitimationsfragen kommt es aber sehr darauf an, einen weiteren demografischen Kurzschluss zu vermeiden, der sich pointiert in Jean-Jacques Rousseaus Kriterium guten Regierens findet. Die Regierung ist – so Rousseau im Contrat Social von 1762 – »unfehlbar die bessere, unter der sich die Bürger ohne fremde Mittel, ohne Einbürgerungen und Kolonien besser ausbreiten und vermehren: diejenige, unter der ein Volk weniger wird und abnimmt, ist die schlechtere. Statistiker, jetzt seid ihr daran: zählt, meßt und vergleicht.«12 Diese Verbindung von Politik, Moral und Statistik bestimmt auch aktuelle Debatten: Die Entscheidungen demografischer Verteilungskonflikte werden zum Teil mit dem Verweis auf (möglicherweise) steigende Geburtenziffern legitimiert. Diese Legitimationsdiskurse reflektieren zwar den aktuellen biopolitischen Trend zu einer Demografisierung der Demokratie. Sie widersprechen aber diametral der Verfassungsstruktur des Grundgesetzes. Die Verteilungskonflikte der schrumpfenden und alternden Gesellschaft drohen den demokratischen Wohlfahrtsstaat in einen demografischen Wohlfahrtsstaat zu verwandeln. Die strukturellen Altersmehrheiten und vor allem die Generation der Babyboomer begreifen den unbegrenzten Verbrauch von fiskalischen und ökologischen Ressourcen seit jeher als ihr Geburts- und Naturrecht: zulasten gegenwärtiger Minderheiten und künftiger Generationen. Genau hier liegt die eigentliche demokratische Herausforderung der schrumpfenden und alternden Wohlfahrtsgesellschaften. Die Bürgerinnen und Bürger, die nur wachsenden Wohlstand kennen, entscheiden in den demografischen Verteilungskonflikten über ihre individuellen und kollektiven Lebenschancen. Dabei müssen sie der demokratischen Tendenz zur mehrheitlichen Selbstprivilegierung widerstehen, damit die wohlfahrtsstaatliche Integrationsfunktion für aktuelle Minderheiten und künftige Generationen nicht infrage gestellt wird. Es besteht in diesem Zusammenhang kein Anlass zu vordergründigem Optimismus, denn wenig spricht dafür, dass eine alternde Gesellschaft rücksichtsvoller mit den vorhandenen Ressourcen umgeht oder in Zeiten der Schrumpfung zu Verzicht bereit wäre. Anlass zu übermäßigem Pessimismus ist jedoch auch nicht angebracht, wenn es der gegenwärtigen Wohlstandsgesellschaft gelingt, mehr demokratische Konflikte um demografische Verteilungsfragen zu wagen. Diese Bereitschaft zum Konflikt führt zu einer aus unserer Sicht notwendigen Politisierung der Verfassungs-, Infra-und Wohlfahrtsstrukturen.

IIVerfassungsstruktur

Das Grundgesetz geht als liberale Verfassung eines demokratischen Wohlfahrtsstaates von der Idee der Freiheit und Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger aus, auf deren Grundlage die soziale Integration demokratisch gestaltet wird. Der demografische Wandel fordert diese historisch gewachsene, wohlfahrtsstaatliche Verfassungsstruktur heraus. Er führt zu sozialen Verwerfungen, welche die gesellschaftliche Kohäsion der Bundesrepublik gefährden. Doch die demografische Entwicklung ist kein »Schicksal«, dem der demokratische Wohlfahrtsstaat unentrinnbar ausgeliefert wäre. Die Bürgerinnen und Bürger können den demografischen Wandel demokratisch gestalten. Dabei müssen sie jedoch die Verfassungsstruktur des Grundgesetzes beachten: Die demografisch verursachten Veränderungen dürfen nicht die Freiheit und Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger aushöhlen, die die demokratische Legitimationsgrundlage des Wohlfahrtsstaates bilden. Außerdem werden die Bürgerinnen und Bürger demografisch begründete Differenzierungen ihrer wohlfahrtsstaatlichen Teilhabe nur dann als gerecht empfinden, wenn diese strukturell transparent und durch rationale Gründe gerechtfertigt sind.

Gerade in den Zeiten des demografischen Wandels ist es notwendig, auf der Freiheit und Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger als der Legitimationsgrundlage des demokratischen Wohlfahrtsstaates zu bestehen. Dies zeigen vor allem die historischen Beispiele von Biopolitiken, mit denen der Staat auf ein demografisches Wissen reagiert hat, das durch eine unreflektierte Vermischung von Politik, Moral und Statistik bestimmt wird. Man muss hier nicht erst auf die nationalsozialistische Bevölkerungs- und Rassenpolitik verweisen, um die menschenverachtende Paranoia dieser biopolitischen Diskurse zu erkennen: Selbst ein Liberaler des 19. Jahrhunderts wie Robert von Mohl vergaß seine Liberalität nach der Lektüre der Principle of Population, as it Affects the Future Improvement of Society. In diesem Essay entwarf Thomas Robert Malthus 1798 seine pessimistische Theorie der demografischen checks and balances: Der natürlichen Neigung der menschlichen Gesellschaft zur Überbevölkerung muss gegebenenfalls durch Intervention begegnet werden.13 »Traurig« – so sekundierte Robert von Mohl 1844 – »muß der Zustand eines überbevölkerten Landes seyn«: Der Staat solle – so von Mohl weiter – die Bevölkerungszahl in einem idealen Mittelmaß halten. Deshalb müsse er sowohl die Unter- als auch die Überbevölkerung bekämpfen. Die Unterbevölkerung könne behoben werden durch die Beendigung von sittlichen Ausschweifungen, die Bekehrung der »Selbstsucht der freiwilligen Hagestolze«, die Erziehung »der weiblichen Jugend, welche darauf ausgeht, sorgsame und vernünftige Hausfrauen, anstatt Putz-Puppen zu bilden«, die »Aussetzung von Prämien für die Eltern besonderes zahlreicher Kinder, der Ausstattung armer Brautpaare auf öffentliche Kosten, der Errichtung von Brautcassen«, die gesetzliche Aufhebung der Ehelosigkeit der Geistlichen und der Angehörigen des stehenden Heeres und die Begünstigung der Einwanderung. Der Überbevölkerung habe der Staat durch gesetzliche Erschwerung der Ehe sowie durch eine restriktive Familien- und Kindpolitik entgegenzutreten, gegebenenfalls auch mittels der »Wegschaffung seiner überschüssigen armen Bevölkerung«, notfalls nach Losentscheid mit Gewalt.14

Gerade in der historischen Perspektive wird deutlich, wie sensibel die liberale Verfassung des demokratischen Wohlfahrtsstaates auf ihre demografische Herausforderung reagieren muss, um die eigene Verfassungsstruktur nicht durch überschießende Reaktionen auf die demografische Entwicklung infrage zu stellen. Dies gilt umso mehr, als der demografische Wandel praktisch alle zentralen Grundrechte und Grundprinzipien des Grundgesetzes betrifft: die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2 Absatz 1 GG), den allgemeinen Gleichheitssatz (Artikel 3 Absatz 1 GG), den Schutz von Ehe und Familie (Artikel 6 Absatz 1 GG), den staatlichen Bildungsauftrag (Artikel 7 Absatz 1 GG), die Berufsfreiheit (Artikel 12 GG), die Gewährleistung des Eigentums (Artikel 14 Absatz 1 GG), die Staatsfundamentalnormen der Demokratie und des Sozialstaates (Artikel 20 GG), die Verantwortung für die Umwelt (Artikel 20a GG), die Struktur der politischen Parteien (Artikel 21 GG), die Konsistenz der Gemeinden und Städte (Artikel 28 Absatz 2 GG), die Garantie der Wahlgrundsätze und des freien Mandats (Artikel 38 GG), die Gleichwertigkeit bzw. die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse (Artikel 72 Absatz 2, Artikel 106 Absatz 3 Satz 4 Nummer 2 GG) sowie die finanzverfassungsrechtliche Verantwortung für das Gemeinwesen (Artikel 109 Absatz 3, Artikel 115 Absatz 2 GG). In allen diesen Bereichen gilt es, bei der Gestaltung des demografischen Wandels die Grundidee des demokratischen Wohlfahrtsstaates zu entfalten und eine freiheitsgrundierte und gleichheitswahrende »Politik der Inklusion«15 zu verfolgen.

1.Politik

Altbundespräsident Roman Herzog hat den Wandel politischer Herrschaft aufgrund der demografischen Entwicklung auf den Begriff der Bundes- als einer »Rentner-Republik« gebracht.16 Dies scheint sich auf den ersten Blick zu bestätigen: Mit den politischen Parteien vergreisen die gesellschaftlichen Vereinigungen, die im repräsentativen Parlamentarismus der Bundesrepublik den zentralen personellen und programmatischen Schlüssel zur politischen Macht in Händen halten. Daneben führen regional disparate Bevölkerungsentwicklungen zu Asymmetrien in Wahlkreisstrukturen. Und die strukturelle Zunahme älterer Wählerinnen und Wähler nährt die Befürchtung, Parteien, Parlamente und Regierungen könnten ihre Politik vor allem an den aktuellen Wünschen einer strukturellen Mehrheit betagter Bürgerinnen und Bürger orientieren und darüber die Interessen junger Menschen und künftiger Generationen vernachlässigen.

Das Problem dieser Beschreibung des gegenwärtigen Strukturwandels politischer Herrschaft liegt in ihrer demografischen Einseitigkeit. Der Mitgliederrückgang der politischen Parteien ist nicht nur Ausdruck der demografischen Entwicklung, sondern vor allem auch die Folge einer Transformation politischen Engagements.17