Memed versucht, Frieden und Glück zu finden und zieht von den Bergen herunter. Unerkannt lebt er ein beschauliches Dorfleben. Erst als sein Freund, der Lehrer, getötet wird, der sich als Einziger gegen die reichen Grundherren stellte, wächst wieder der unerbittliche Zorn in Memed, der ihn früher schon zum Rebellen und Rächer gemacht hat.
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Yaşar Kemal (1923-2015) wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wuchs in einem Dorf Südanatoliens auf und lebte in Istanbul. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt.
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Cornelius Bischoff (1928-2018) verbrachte seine Jugendjahre in der Türkei und studierte Jura in Istanbul und in Hamburg. Seit 1978 ist er als literarischer Übersetzer tätig und schreibt Drehbücher.
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Der letzte Flug des Falken
Roman
Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff
Memed-Romane IV
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Die Originalausgabe erschien 1987 unter dem Titel Ince Memed 4 im Verlag Adam Yayınları, Istanbul.
Der Übersetzer dankt dem Deutschen Übersetzerfonds e.V. für die freundliche Unterstützung.
Originaltitel: Ince Memed 4 (1987)
© by Yaşar Kemal 1987
© by Unionsverlag, Zürich 2020
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Avni Arbaş
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30793-3
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Auf hohen Gipfeln
ein riesiger Adler streckt seine Flügel über die Welt
Ich kam in die Stadt Calindra, nahe an unseren Grenzen. Diese Stadt liegt an den Abhängen jenes Teils des Taurusgebirges, der durch den Euphrat geteilt wird, und erblickt die Hörner des großen Taurusgebirges im Westen. Diese Hörner sind so hoch, dass sie den Himmel zu berühren scheinen; denn in der ganzen Welt gibt es nirgends einen Landteil, der höher ist als dieser Gipfel, und er wird immer schon vier Stunden vor Tagesanbruch von den Strahlen der Sonne im Osten getroffen. Da er aus blendend weißem Gestein besteht, strahlt er stark wider und leistet den Armeniern in der Finsternis den gleichen Dienst wie das holde Mondlicht, und infolge seiner riesigen Höhe ragt er in senkrechter Richtung 4 Meilen weit über die höchsten Wolkenschichten hinaus.
Dieser Gipfel wird von einem großen Teil des Westens noch im Schein der Sonne gesehen, nachdem sie untergegangen ist, und zwar während des dritten Teils der Nacht. Er ist das, was wir an klaren Tagen, nach eurer Meinung, für einen Kometen gehalten haben, und uns scheint, dass er in der Dunkelheit der Nacht verschiedene Gestalten annimmt, manchmal in zwei oder drei Teile zerfällt, manchmal lang und manchmal kurz ist. Und das kommt von den Wolken, die am Himmelshorizont zwischen einen Teil dieses Gebirges und die Sonne treten; denn da die Sonnenstrahlen durch sie abgeschnitten werden, so wird die Beleuchtung des Berges unterbrochen durch verschiedene Wolkenräume, und daher ist er von veränderlicher Gestalt in seinem Glanz.
[…] Dieser Taurusgrat ist so hoch, dass sein Schatten Mitte Juni, wenn die Sonne im Mittag steht, bis zum Anfang von Sarmatien reicht, d.h. zwölf Tagesreisen weit, und Mitte Dezember erstreckt er sich sogar bis zu den Hyperboräischen Bergen, die eine Monatsreise weit gen Norden liegen. Seine dem brausenden Wind zugekehrte Seite ist immer in Wolken und Nebel gehüllt, weil der Wind, der beim Anprall gegen den Fels geteilt wird, sich hinter diesem Fels wieder sammelt, also die Wolken auf allen Seiten mitreißt und sie dann beim Anprall zurücklässt. Und wegen der großen Menge von Wolken, die dort aufgehalten werden, ist diese Seite auch immer Blitzschlägen ausgesetzt, sodass das Gestein überall zersplittert und voll gewaltiger Abstürze ist.
Am Fuß dieses Gebirges wohnen sehr reiche Völker, und es ist voll herrlicher Quellen und Flüsse, auch fruchtbar und reich an allerlei Schätzen, insbesondere in den Teilen, die nach Süden blicken. Aber nachdem man ungefähr 3 Meilen gestiegen ist, gelangt man allmählich zu Wäldern aus mächtigen Tannen, Kiefern, Buchen und andern ähnlichen Bäumen. Weiter oben, im Bereich von weiteren 3 Meilen, findet man Wiesen und unermessliche Weiden, und alles übrige, bis zum Anfang des Taurusberges, besteht aus ewigem Schnee, der hier zu keiner Jahreszeit schwindet und bis zu einer Höhe von ungefähr 14 Meilen im Ganzen reicht. Von diesem Anfang des Taurus bis zur Höhe einer Meile weichen die Wolken nie; denn hier haben wir 15 Meilen [hinter uns], was ungefähr 5 Meilen Höhe in senkrechter Richtung bedeutet, und ebenso hoch sehen wir die höchsten Spitzen des Taurus ragen. Man merkt dort oben, wie die Luft, von der Mitte an, allmählich wärmer wird, und spürt dort nirgends einen Windhauch. Aber hier kann nichts auf die Dauer leben; hier wird auch nichts geboren, ausgenommen einige Raubvögel, die in den tiefen Spalten des Taurus nisten und durch die Wolken herabstoßen, um ihre Beute auf den grasbewachsenen Bergen zu machen. Er besteht überall aus nacktem Fels, d.h. von den Wolken an, und der Fels ist blendend weiß; aber den höchsten Gipfel kann man wegen des steilen und gefährlichen Aufstieges nicht erklimmen.1
Wie eine Mondsichel umringt der Taurus die Çukurova. Weit gestaffelte Bergketten schließen das Tiefland ringförmig ein, ihre Farbe wechselt von einem hellen Blau in ein dunkles, vom dunklen Blau ins Violett, das sich schließlich fernab in der unendlichen Weite des Himmels verliert.
Die Gebirgstäler liegen im Dämmer der Schatten, die sich nach Westen dehnen, wenn der Tag anbricht, und sich nach Osten kehren, wenn er sich zu neigen beginnt. Bei großer Hitze scheint von hier ein Hauch von Frische in die Ebene hinabzusteigen. Keinen Tag, keinen Augenblick sind die Berge die gleichen. An manchen Tagen sind sie bei Sonnenaufgang in Goldgelb getaucht, das in Rot, dann in milchiges Weiß, danach in ein zartes Blau oder auch in kräftiges Violett übergeht. In starker Mittagshitze überzieht sie oft ein dunstiges Orange, während ringsum alles verbrennt und aschgrau daliegt.
Später leuchten sie himmelblau oder – besonders in den Frühlingmonaten – so lila wie Stiefmütterchen. Die Hänge scheinen mit goldenen Nägeln bespickt. Wie in einem Strom von Licht gleiten sie sanft über das Violett und das helle Blau hinweg in die Unendlichkeit.
Der majestätische Berg Düldül erhebt sich hinter den gestaffelten Kämmen der Bergketten. Er scheint sich kreisend zu wiegen, wenn er schneeweiß leuchtend seine Umgebung erhellt. Sein Gipfel ist die meiste Zeit frei von Wolken. Sommers schimmert er wie eine himmelblaue Wolke, aber auch in dunstigem, bläulichem Kupferrot, oder er glüht auf in einem mit Rosa durchsetzten Himmelblau. Und über ihm funkelt ein prächtiger Stern.
Die felsigen Gipfel des Taurus sind durchgehend aus weißem, rosarotem, braunem, orangefarbenem und grünem Feuerstein. Über ihnen kreisen Adler mit mächtigen Schwingen. Unterhalb der Gipfel aus Feuerstein beginnen die Wälder. Sie sind dicht, und die kräftigen Bäume bieten Wildtieren Unterschlupf und Schutz. Tannen, Zedern, Buchen und Platanen recken sich in den Himmel, Quellen sprudeln in jeder Schlucht, am Fuße jeder Felswand, von jedem Hang. Ihr Wasser duftet nach Minze, nach Tannenharz und Blumen. Forellen tummeln sich in Wasserläufen, die über Baum und Fels schäumen und sich rasend schnell über die Hänge hinunter in die Bäche ergießen.
Der Taurus schuf die Çukurova. Vor sehr langer Zeit begann das Mittelmeer schon am Fuße dieses Gebirges. Die Flüsse Ceyhan und Seyhan, viele kleinere Wasserläufe und Bäche schwemmten die fruchtbare Erde der Hänge mit sich, lagerten sie in den immer weiter vordringenden Mündungen ab, und so entstand die Çukurova. Eine Ebene voller Sonne und Licht, in der zahllose Gewässer plätschern und wo der überquellende Segen der Erde dem Reichtum des Meeres in nichts nachsteht.
Die Mutter des Seyhan ist die Zamanti. Ihre Quelle entspringt in der Hochebene Uzunyayla, ihr Oberlauf führt durch dieses weit gestreckte Gebiet, bevor sie den Taurus erreicht. Dort prallt sie auf die Felsen aus Feuerstein, sie sind lilafarben und sehr hart. Aufschäumend stürzt sie in Schwindel erregende Schluchten, höhlt tief unten in schnellem Lauf die Erde aus, stößt wieder auf Felsen, die sie aber nicht übersteigen kann. Sie bohrt sich in die Erde und lässt sich eine ganze Weile nicht mehr blicken. Doch irgendwann schießt sie wieder an die Oberfläche, schnellt mit rasender Geschwindigkeit von einem Felsblock gegen den andern, bis sich wieder eine Wand aus Feuerstein auftürmt und sie sich wieder in die Erde gräbt, versinkt, auftaucht – und so geht es fort. Während sie den Taurus überwindet, nimmt sie zahllose Quellen, Bäche und Nebenflüsse auf. Darunter auch den Göksu, der den Tahtali-Bergen im Taurus entspringt und selbst viele Quellen und Bäche verschluckt, bevor er in die Zamanti mündet. Vereint werden diese beiden Flüsse Seyhan genannt, ein mächtiges Gewässer, so klar, als ströme darin kein Wasser, sondern Licht. Läge ein Buch auf dem Grund, es ließe sich lesen.
Die Quelle des Ceyhan wiederum liegt mitten in den Binboğa-Bergen. Der Oberlauf heißt Horman. Dieser Bach vereint sich mit dem den Nurhak-Bergen entspringenden Bach Söğütlü zu einem ungebärdigen Wildwasser, dessen Bett den Taurus von einem Ende zum andern durchschneidet und dabei die Flüsschen Aksu, Körsulu, Çayir, Savrun, Handeresi, Cerpece und unzählige Quellen und Brünnlein mit sich nimmt ins große Mittelmeer. Seyhan und Ceyhan kommen mit tausenden, ja, hunderttausenden Tonnen Erdreich zum Mittelmeer, schwemmen tonnenweise Schlamm an seine Ufer. Jedes Jahr wächst die Ebene, wird sie ein Stück größer, werden die Felsen im Taurus ein bisschen mehr ausgewaschen, ragen die hellen Felswände ein bisschen spitzer hervor. Und vielleicht wird es eines Tages im Taurus gar keine Erde, gar keine Bäume mehr geben, wird der mächtige Taurus nur noch als Felsgestein zwischen Himmel und Erde emporragen. Der schroffe Stein wird wie glühendes Kupfer leuchten, und es wird in diesem nackten Taurusfelsen vielleicht keinen Tropfen Wasser geben, in diesem messerscharfen Gestein vielleicht kein Grashalm wachsen, vielleicht kein einziges Geschöpf mehr leben.
An den Küsten des Mittelmeers schäumt und wellt sich die Erde wie das Meer. Auch die weite Ebene und der mächtige Taurus sind wie das Mittelmeer so blau, wie das Mittelmeer so licht. Und so hell wie das Licht über dem Mittelmeer schimmert, so hell funkelt es auch über der Ebene und dem Taurus. Und wie die Berge nach Fels, Harz, Minze und Blumen duften, so duftet die weite Ebene nach Meer, Apfelsinen, Zitronen und Pomeranzen. Und an jedem Tag des Jahres öffnet die schwangere Erde gierig ihren Mund und fiebert rasend vor Fruchtbarkeit dem Frühling und dem Regen entgegen, den ihr der Taurus schicken wird.
Eines guten Tages bedeckt dann eine pechschwarze Wolke den Himmel überm Berg Aladağ und ein lindes Lüftchen beleckt sanft die weite Ebene. Danach fallen große, warme Tropfen und kurz darauf stürzt Wildbächen gleich der Regen hernieder. Kaum hört es auf zu regnen, überquillt die Ebene von Gräsern, Blumen, Vögeln und Insekten, summt und singt sie weich und zärtlich Wiegenlieder vor sich hin. Wie Schaumkronen bedecken Blüten die Pomeranzen-, Apfelsinen- und Zitronenbäume, sanfte Brisen tragen ihren Duft über die weite Ebene zu den Bergzügen des Taurus. Mit den Wassern kommen auch die Adler hinunter in die Ebene. Zwölf Monate im Jahr sind Sümpfe und Feuchtwiesen Paradiese für Vögel jeder Art und Farbe. Die von Osten nach Westen, von Süden nach Norden ziehenden, können nicht weiter, bevor sie die Sümpfe der Çukurova nicht aufgesucht haben.
In der Çukurova ist alles licht und klar: Felsen, Erde und Bäume, Vögel, Käfer, Schlangen und Menschen sogar … Der Himmel ist klares Blau, die Nächte sind sternenklar. Läge der Koran auf dem Grund eines Gewässers, er ließe sich lesen.
Geduckt jede Deckung nutzend, glitt Memed zwischen den Felsen des Anavarza im Schutze riesiger Kakteen bergab und landete in einem Feld von Kardendisteln, die hier ein undurchdringliches Dickicht bildeten. Der Frühling war mit aller Kraft ausgebrochen, die gelben Krokusse schossen nur so aus der rötlichen Erde zwischen den Felsen hervor. Auch die baumstarken Kakteen hatten ihre roten, gelben und weißen Blüten weit geöffnet. Hornissen, Honigbienen und Wespen drängten mit glitzernden Flügeln in die Kelche und flogen wieder auf. Das satte Grün breitete sich bergab vom felsigen Kamm und den Burgruinen so rasch aus, als glitte es berauscht zu Tal. Memed hatte die Nacht in einer Nische an der östlichen Ringmauer verbracht und aus Angst vor Klapperschlangen bis zum ersten Hahnenschrei keinen Schlaf gefunden. Als er aufwachte, war schon später Morgen. Eine leichte, laue Brise wehte. Schwärme von handtellergroßen, weißen Schmetterlingen senkten sich auf Blumen und Gräser hinunter, hoben wieder ab. Zu seinen Füßen lag der Sumpf von Akçasaz unter dichtem Dunst, nichts war zu sehen. Im Süden, wo das Wasser des Ceyhan die Felsen leckte, flogen unter einer einzelnen geballten Wolke elf Adler. Sie hatten die Flügel gestreckt, sich in den aufbrisenden Südwind gedreht und standen am klaren, blauen Himmel so still, als bewegten sie sich nicht.
Memed verhielt einen Augenblick, heftete den Blick auf den Anavarza-Felsen. Ein Schwarm winziger Fliegen ließ sich auf seinen Wangen nieder. Er hatte sie kommen hören und wischte sie sich sofort aus dem Gesicht. Dann behielt er beide Hände oben und scheuchte die Quälgeister, kaum dass sie sich wieder näherten. Plötzlich merkte Memed, dass sein Kopf über die Disteln hinausragte. Was, wenn ihn jemand gesehen hatte? Und Hunger hatte er auch! Seine Mundhöhle war pelzig und hatte einen bitteren Geschmack. Er ging in einer nahen Senke weiter, wo sein Kopf nicht mehr über den Disteln zu sehen war. Ein Schwarm klitzekleiner Vögel, hellgelb und rötlich grün mit geringelten Hälsen, landete auf den lila Blütenköpfen, schwirrte hoch, senkte und hob sich immer wieder. Eine lange schwarze Schlange mit schillerndem Rücken schlängelte gemächlich an ihm vorbei. Langsam glitt Memeds Hand zum Revolver. Die Schlange schien ihn nicht gesehen zu haben, oder sie tat nur so und kroch ohne Hast weiter. Die Hand auf seinem Revolver, wartete Memed ab. Das Auftauchen einer Schlange bedeutet Glück! fiel ihm ein. Die Altvorderen sagten so etwas nicht ohne Grund. Die Schlange hob etwa eine Handbreit den Kopf, und beider Blicke begegneten sich. Sie streckte ihre gespaltene Zunge heraus und zeigte ihre Zähne. Behutsam zog Memed seinen Revolver aus dem Halfter. Seine Hand zitterte. Und wenn sie ihn nun angriff? Auf eine Schlange war sorgfältiges Zielen nicht erforderlich. Es heißt doch, ob du zielst oder nicht, ist eine Schlange da, findet die Kugel sie von selbst. Auch das war eines der Wunder Gottes. Doch Memeds Hand mit der auf die Schlange gerichteten Waffe zitterte noch immer, und Herzklopfen hatte er auch. Schließlich wendete die Schlange ihre Augen ab, hob den Kopf eine weitere Handbreit und tat so, als wolle sie sich Memed zudrehen. Ihre Zunge schien jetzt viel länger und leuchtete rot. Memed spannte die Muskeln, er war auf der Hut. Ließe sie von ihm ab, würde er ihr nichts tun! Wie lange er der Schlange so gegenüberstand, weiß er nicht. Plötzlich senkte sich ein Schwarm dieser klitzekleinen knallgelben Vögel auf das Dornengestrüpp, die Schlange drehte den Kopf dorthin, doch kaum waren die Vögel niedergegangen, schwirrten sie prrr! zu einer stärkeren Ranke, im selben Augenblick löste sich der Schuss, und die riesige schwarze Schlange fiel mit letzten Zuckungen Memed vor die Füße.
Verdammt!, schoss es ihm durch den Kopf. Er war wie gelähmt, wurde aschfahl, sein Herz hämmerte. Verdammt, wir haben unser Glück getötet! Angst beschlich ihn, wie er sie noch nie verspürt hatte. Der Schwanz der Schlange, den die Kugel gespalten hatte, trommelte wie rasend vor Wut noch auf die Erde.
Memed schaute um sich. Ob jemand den Schuss gehört hatte? Unter den fernen Wolken kreisten jetzt mehr Adler als vorhin. Rückwärts entfernte er sich, ging dann um einen Schwarzdornbusch herum und tiefer in die Senke hinein. Die Angst in ihm stieg, ihn schwindelte. Ihm war, als breche das Dunkel der ganzen Welt über ihn herein. Als er gestern Nacht den Anavarza-Felsen erreicht hatte, war er außer sich vor Freude gewesen, hatte er sich noch leicht wie ein Vogel gefühlt, und jetzt war ihm, als stoße sein Kopf gegen eine dunkle, schreckliche Wand. Plötzlich war er sicher, dass die Gendarmen ihn von allen vier Seiten eingekreist hatten. Er kauerte sich in das ausgetrocknete Wildwasserbett und nahm den schwarzen Umhang ab, unter dem das Gewehr verborgen war. Memed nahm es von der Schulter, entsicherte es behutsam. Eine Patrone steckte im Lauf. Vom Rand des Bachbettes erstreckte sich eine blühende Brombeerhecke bergab zum Ceyhan. Memed schlich zur Hecke, und als er den alten, halb in der Erde steckenden, eigenartig beschrifteten Steinblock entdeckte, schöpfte er wieder ein bisschen Mut, der sogar in Freude umschlug, als er den Quader erreichte. Denn Stufen führten in eine tiefe Senke, auf deren Grund dicke Säulen aus lila schimmerndem Granit lagen. Sie bildeten einen hervorragenden Unterstand, wo er es mit einer Kompanie Gendarmen aufnehmen würde. Vielleicht konnte er sich im Schutz der Dunkelheit sogar davonschleichen und seine Haut aus dieser unheilvollen Çukurova retten. Erschöpft hockte er sich am schützenden Stein nieder und lehnte seinen Rücken bequem an den weißen Quader.
Doch die Angst wollte nicht weichen. Könnte er doch den Revolver abschnallen, das Gewehr aus der Hand legen und wie jeder andere auch über die Landstraße in jenes Dorf schlendern und sorglos links und rechts den Leuten einen Gruß zurufen! Aber er hatte sich von seinem Gewehr nicht trennen können. Er hatte es ja zuerst bei Ferhat Hodscha zurückgelassen, doch war dann in eine unendliche Leere gefallen. Er hatte sich so hilflos und verlassen gefühlt, dass er voller Scham umgekehrt war und das Gewehr zurückverlangte. Auch als er von den Bergen in die Çukurova hinabgestiegen war, hatte er wohl fünf Mal seine Waffen versteckt, war aber jedes Mal zurückgekehrt und hatte sie unter seinem Umhang wieder umgeschnallt. Den verräterischen Fez gegen eine andere Kopfbedeckung zu tauschen, war ihm auch nicht leicht gefallen. Doch zuletzt hatte er sich an diese gestreifte Schirmmütze so gewöhnt, dass er, wie eigenartig, den jahrelang getragenen Fez sehr schnell vergaß. Im Rücken spürte er die Kühle des Steins. Argwöhnisch suchte er die Umgebung ab. Die großen, violett leuchtenden Blütenköpfe der Disteln bewegten sich sacht im sanften Windhauch. Der Himmel, die Felsen unter der Burgmauer, die hohen Bäume von Akçasaz, das Tageslicht – alles schimmerte in diesem Violett, das die Disteln über die ganze Ebene verbreiteten. Auch der östlich gelegene Berg Hemite und der ferne Taurus im Norden hatten sich violett gefärbt.
Als Memed heute Morgen aufwachte und seine Augen über das Sumpfgelände von Akçasaz schweifen ließ, hatte er die hohe Pappel, wo Müslüm auf ihn warten wollte, gleich entdeckt. Richtete er sich jetzt auf, könnte er sie sogar von dieser Senke aus sehen, so hoch war sie geschossen! Hoffentlich war dem Jungen nichts passiert, diesem Plagegeist Gottes, der die Flinte nie aus der Hand legte. Geschickt war er ja, und voller Hass auf den Hauptmann und den Gefreiten Ali die Echse. Rachsüchtig wie ein Kamel, der Junge. Komme, was wolle, Hauptmann Faruk und Ali die Echse werden durch seine Hand sterben, da lässt er nicht locker! Einen Menschen wie Müslüm hatte Memed noch nie erlebt, von so einem noch nie gehört. Er wird Memed in Abdülselam Hodschas Dorf bringen, denn er wusste, wo es lag. Irgendwo an der Küste, am Fuße der Gavurberge, in der Nähe der Burg Payas.
Als er an das Dorf dachte, wurde er ruhiger, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Schon immer hatte er sich vorgenommen, dieses Dorf aufzusuchen, und manchmal konnte er an gar nichts anderes denken. Sich dort als Hirte niederlassen, das Meer entdecken, unter Orangenbäumen spazieren, sich am Duft ihrer Blüten berauschen! Wo Dursun wohl abgeblieben war? Vielleicht ist er ja in dieses Dorf zurückgekehrt. Wer weiß! Könnte Abdülselam Hodschas Dorf nicht auch Dursuns Heimatdorf sein? Schließlich liegen an der Küste ja nicht tausend Dörfer … Und Dursun sagt: »Willkommen, Memed, mein magerer Junge«, und er streicht ihm wie früher übers Haar, tätschelt ihm die Schulter, umarmt ihn und hebt ihn hoch, ruft: »Willkommen, magerer Junge, mein Memed. Wie findest du mein Dorf? Sieh, ist es nicht schön? Schau aufs Meer, wie es schäumt! Ein Wunder Gottes. Sieh dir die Schiffe an, wie sie schimmern, schneeweiß wie lichtdurchflutete Wolken gleiten sie dahin, gleiten und gleiten …« Und wie schön er lachen kann, der Dursun, mit seinen leuchtenden Augen … seinen hellen, traurigen Augen, in denen sich Freude und Schwermut mischen. Dieses Gesicht, so ausdrucksvoll. Kein anderes strahlt so viel Wärme aus, und kein anderes schaut einen so herzlich an. Du bist zum Räuber geworden, mein Memed? Hast Abdi getötet? Dein Ruhm verbreitete sich über Berg und Tal bis nach Ankara zum weltberühmten Mustafa Kemal Pascha. Sicher hat er sich gefreut, als er von deinem Ruhm hörte. Denn auch er ist der Sohn einer armen, verwitweten Frau, und auch er liebt wie du die Armen. »Geht hin und findet mir diesen Jungen! Findet ihn und bringt mir diesen Jungen, den sie den Falken nennen! Bringt ihn mir …« Violette Schlangen gleiten die violetten Felsen hinunter, strömen wie rauschendes Wasser. Violette Felsen schwanken über den Wassern, versinken nicht, Lichtfontänen schießen aus ihnen hervor … Dursun kreist inmitten violetter Fontänen, Disteln und wirbelnder Schlangen … Memeds Kopf sank auf eine in den weißen Stein gemeißelte fünfblättrige Blume. Kaum war er eingeschlafen, näherte sich wieder ganz langsam eine der vorigen zum Verwechseln ähnliche schwarze Schlange. Dicht vor ihm hob sie kurz den Kopf, musterte ihn mit eigenartigem Blick, glitt lautlos weiter und verschwand. Gleich danach kam eine dritte. Diese verharrte eine Weile neben Memed, tat so, als schnuppere sie, streckte den Kopf aus, dass es schien, sie belecke seine Hand. Dann zog sie den Kopf wieder ein, ringelte sich und blieb, den Kopf Memed zugewandt, zusammengerollt liegen. Wer weiß, wie lange sie dort döste. Erst als noch eine schwarze Schlange gekrochen kam, hob sie den Kopf, blickte sich absichernd um, hängte sich an die vorbeigleitende Schlange und folgte ihr durch die Brombeerbüsche die Stufen hinunter zu den liegenden Säulen. Mitten auf Memeds Stirn malte die Sonne, die durch die dicht stehenden Disteln schien, einen Sonnenkringel. Vom Anavarza-Felsen tönten die kurzen Rufe eines Vogels.
Große violette, gelbe und weiße Schmetterlinge, im Sonnenlicht aufblitzende Bienen, hunderte klitzekleine bunte Vögel gingen auf die Distelköpfe nieder, flogen gleich wieder auf, wandernde Staubsäulen leuchteten am jenseitigen Ufer des Ceyhan und verlöschten.
Als sich im Süden über dem Mittelmeer weiße Wolken blähten und Westwind aufkam, erwachte Memed. Er war schweißnass. Noch während er sich die Augen rieb, entdeckte er entsetzt das riesige Knäuel der zusammengerollten schwarzen Schlange. Ihre gespaltene Zunge schaute ein bisschen hervor. Beider Augen trafen sich. Auf Kopf und Rücken der Schlange schimmerten grünliche Schuppen. Memed griff zum Revolver und sprang wütend auf die Beine. »Hier sind Himmel und Erde voller Schlangen«, schimpfte er, »Gott verfluche sie!«
Er folgte geduckt dem Bachbett, in dem Kletten wucherten. Sie waren noch grün und blieben an den Hosenbeinen nicht hängen. Aus Angst vor Schlangen im Klettengestrüpp setzte er vorsichtig einen Fuß vor den andern. Er hatte schon eine ganze Strecke hinter sich gebracht, als das Bachbett in eine tiefe Senke mündete. Hier überragten ihn die Disteln, sie standen dicht wie ein Wald. Tausende klitzekleine Vögel brodelten in allen Farben. Bei jedem Schritt, den er tat, wirbelten sie aufgeregt in die Höhe. Schwärme von Schmetterlingen glitten von hier nach da, färbten milchweiß die Disteln, auf die sie sich niederließen.
Plötzlich musste Memed an Hatçe denken. Die Karden verströmten einen bitteren Duft, den er noch nie gerochen hatte. Seyran fiel ihm ein. In jener Nacht war es ihm nicht gelungen, sich ins Dorf durchzuschlagen. Wenn er daran dachte, bekam er noch immer Gänsehaut. Beinahe wäre er in die Falle gegangen. Die Gendarmen hatten mit ihm gerechnet und die Umgebung lückenlos eingekreist, ließen keinen Spatz unbeobachtet durchschlüpfen. Nur das unterdrückte Husten eines Gendarmen und das Scheuen und Zurückpreschen seines Pferdes hatten ihn vor dem sicheren Tod bewahrt. Unzählige Kugeln waren hinter ihm hergezischt, lange Zeit noch hallten die Schüsse über die Ebene. Erst am Fuße des Anavarza-Felsens hatte er das Pferd gezügelt und war so schnell wie er konnte die Felswände hochgestiegen. Er hatte damit gerechnet, dass sie in Scharen auch den Felsen einkreisen und ihn früher oder später erwischen würden. Dennoch war er so müde, so erschöpft und ausgelaugt gewesen, dass er eingeschlafen war, kaum dass er sich an die Burgmauer gelehnt hatte. Umso größer sein Erstaunen, als er, aufgewacht, weit und breit keine Menschenseele … Beim Abstieg quälte ihn ein leerer Magen, er starb fast vor Hunger. Auch jetzt starb er fast vor Hunger. Die lassen diese Gegend doch nicht aus den Augen, sagte er sich, sie werden den Sumpf von Akçasaz einkreisen! Und aus Akçasaz gab es kein Entkommen … Je weiter er ausschritt, desto mehr schwitzte er. Arme Seyran! Auch sie hat mit mir keinen glücklichen Tag erlebt. Wie auch Hatçe und wie meine Mutter. Wer auch immer mit mir verbunden war, hat Schweres durchleiden müssen! Dann fiel ihm Mutter Hürü ein, und ein freudiges Gefühl durchströmte ihn. Nur ihr hatte er Glück gebracht. Von weitem kam der Ruf eines Frankolin. Der Westwind frischte auf, fuhr durch die raschelnden Disteln, drückte sie nieder. Vielleicht kam ihm der Herrgott wieder zu Hilfe! Wie aus dem Boden gestampft tauchte plötzlich eine Weide vor ihm auf. Er lief dorthin. Jetzt bereute er wieder, den Raubzügen abgeschworen zu haben. Was hatte ihn nur geritten, einem Trugbild nachzujagen und in die Ebene hinabzusteigen! In den Bergen wäre er früher oder später getötet worden, das war sicher. Aber er wäre im Kampf gefallen. Doch was hatten die armen Gendarmen denn verbrochen, gegen die er kämpfte? Und was hatte er verbrochen? Er verteidigte doch nur sein Leben. Was wollten diese Menschen denn von ihm? Er hockte sich unter der Weide auf eine Bodenwelle, nahm den Brotbeutel von der Schulter und schnürte ihn auf. Er klaubte einen Laib Brot hervor und ein Tuch, in dem drei runde Klumpen Käse eingeschlagen waren. Im Beutel lagen noch drei Eier und ein Dutzend Walnüsse. Memed sah sich um, konnte in der Nähe kein Wasser entdecken. Äße er jetzt, käme er um vor Durst. Er packte alles wieder in den Beutel, verschnürte ihn und hängte ihn über die Schulter. Das Gewehr drückte, er nahm es ab und legte es griffbereit vor sich hin. Die Kutte hatte er schon abgelegt und über die Disteln ausgebreitet. Während er überlegte, wie er aus dieser Falle entwischen konnte, suchten seine Augen die Umgebung nach Schlangen ab. Ob er sich schon zur Pappel aufmachen sollte? Und wenn sie Müslüm erwischt hatten, Ali die Echse ihn gefoltert und der Junge ihm den Treffpunkt bei der Pappel verraten hatte? Zorn gegen sich selbst packte ihn, seine Muskeln verkrampften sich schmerzhaft. Dreh nicht durch, Mann, dreh nicht durch, Memed, dreh nicht durch, Feigling! Und wenn sie Müslüm mit Zangen zerfleischen, ihm die Augen ausstechen und ihm die Haut abziehen – er wird unseren Treffpunkt nicht verraten. Dreh nicht durch, Mann, dreh nicht durch! Gnade Gott, wenn Mutter Hürü wüsste, wie er eben über Müslüm gedacht hatte! Aber woher sollte sie Müslüm schon kennen! Vielleicht hatte sie ihn im Nomadenzelt gesehen. Wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Die aufgeblähten Wolken über dem Mittelmeer standen schon ziemlich hoch. Der Westwind blies mit Macht, wirbelte Staub vor sich her, türmte ihn zu Tromben, die zu Hunderten nach Akçasaz kreiselten und dort in sich zusammenfielen. Ununterbrochen kamen Reiter und Pferdegespanne über die Landstraße, die unten am Ufer des Ceyhan entlangführte, und das Rattern der Speichenräder hallte von den Felsen des Anavarza wider.
Memed erhob sich, ging zu den nahen Disteln, nestelte an seiner Pluderhose und pisste. Erst als er sich wieder umdrehte, sah er in den Felsen des Anavarza etwas wie eine Glasscherbe aufblitzen. In Abständen wiederholte sich dieses kurze Funkeln. Danach krachte es. Das sind die metallenen Sterne an den Mützen der Gendarmen! Das Krachen hörte nicht auf, steigerte sich, in den Felsen widerhallend, zu höllischem Lärm. Um Gottes willen, murmelte Memed, ob sie Müslüm in die Zange genommen haben? Sein Herz hämmerte. Regungslos stand er neben dem Baum, unschlüssig, die Augen auf den Anavarza-Felsen geheftet. Sollte er Müslüm zu Hilfe eilen? Doch bis er dort wäre, hätten sie Müslüm schon längst erledigt! Und wenn er hier bliebe … hier bliebe … Das hieße, eine Hand voll Kind dem Wolfsrachen vorwerfen! Das könnte er sich bis an sein Lebensende nicht verzeihen, dieses Zaudern würde in ihm so lange nagen, bis von ihm nur eine leere Hülse übrig bliebe. Hastig nahm er seine Kutte, hängte sich das Gewehr über die Schulter und rannte los. Rannte, bis er die große schwarze Schlange über die Disteln hinweg auf sich zufliegen sah und am Schenkel einen so schmerzhaften Stoß verspürte, als sei ihm ein Brecheisen gegen das Bein gesaust. Unbekümmert die Disteln teilend, schoss die Schlange zwei Handbreit über dem Boden davon. Memed schaute ihr nach, dann begannen seine Beine zu zittern, und er sackte zusammen. Eine Zeit lang konnte er sich nicht von der Stelle rühren. Er horchte auf die Schüsse in den Felsen. Plötzlich sprang er wieder auf und eilte weiter. Noch während er lief, verstummten die Schüsse abrupt. »Mein Gott, Müslüm ist hinüber«, schrie er, seine Beine versagten wieder, er sackte zu Boden. Wie lange er dort gelegen hatte, weiß er nicht mehr. Schwalben schwirren vor seinen Augen blitzschnell hin und her. Ein großer blauer Schmetterling mit weißen Punkten umkreist seinen Kopf, geht auf seine Hand nieder und bleibt dort mit hoch gestellten Flügeln hocken …
Damit er nicht davonflog, wagte Memed weder die Hand zu bewegen, noch laut Luft zu holen. Mit gespitzten Ohren horchte er auf jedes Geräusch in den Felsen. Der Schmetterling auf seinem Handrücken hockte mit gefalteten Flügeln ruhig da. Plötzlich hallten vom Fuß des Anavarza wieder Salven. Memed betrachtete den Schmetterling. Sieh dir diese Plage an, lächelte er in sich hinein, was hat er doch für einen schönen Landeplatz gefunden! Verpiss dich, rief er im Aufstehen, schüttelte ihn ab, der Schmetterling flog auf, stieg sehr hoch, ließ sich dann, als hielten ihn seine Flügel nicht, taumelnd ins Leere fallen, landete auf einer voll in gelben Blüten stehenden Königskerze und blieb dort, wie kurz zuvor auf Memeds Handrücken, hocken. Memed lief hin, schüttelte die Königskerze, der blaue Falter flog auf, kreiste diesmal lange in der Luft, kam zurück und setzte sich auf eine andere Königskerze. Jetzt scherte sich Memed nicht mehr um ihn, schaute nicht einmal mehr in seine Richtung. Mal erstarben die Schüsse am Anavarza, dann hallten sie umso lauter von den Felsen herüber. Auf dem Lauf seines Gewehrs entdeckte Memed einen großen Marienkäfer. Der bringt viel Glück, dachte er. Der Marienkäfer flog davon. Nach zwei, drei Schritten sah Memed auf einem Dornbusch Marienkäfer wimmeln. Verwundert ging Memed in die Hocke und betrachtete das Gekrabbel der Käfer. Der Dornbusch war rot von ihnen. Diese Schlangen, dieser Schmetterling und diese Marienkäfer, das bedeutet doch etwas, etwas Gutes, hoffte er. Also auf zum Pappelbaum! Er stieg in das Wildwasserbett und schritt eilig aus. Ausgepumpt kam er zur Pappel. Disteln, Brombeerranken und eng stehender Schwarzdorn hatten ihn zerkratzt, seine Pluderhosen und die Schöße seines Umhangs zerrissen, das Blut gerann an seinen Beinen und alle Glieder schmerzten. Er zog seinen zweischneidigen tscherkessischen Handschar aus dem Gurt und ging zum zehn Schritt entfernten Röhricht. Hier am Sumpfufer stand das Wasser noch schlammfrei auf kieseligem Grund. Obwohl er so durstig war, beherrschte er sich und grub mit dem Handschar eine Mulde, bis eiskaltes Wasser emporsprudelte. Er öffnete seinen Brotbeutel, holte den Proviant hervor und legte ihn auf den ausgebreiteten Umhang. Dann kniete er sich am Wasserloch nieder und trank aus der hohlen Hand. Doch bald schon legte er sich bäuchlings lang, tauchte die Lippen ins Wasser und saugte so gierig, dass sein Bauch wie eine Pauke anschwoll. Eine Weile blieb er so liegen. Sein ganzer Körper schmerzte, als sei er im Mörser gestampft worden.
Als vom Anavarza-Felsen wieder eine Salve herüberhallte, sprang er auf und musterte die Felswände. Die Sonne stand tief, war kurz vorm Untergehen. Die Schüsse verstummten so abrupt wie sie begonnen hatten. Auf einmal verspürte er Heißhunger. Er hockte sich auf den Umhang und schaufelte das Brot nur so in sich hinein. Und während er hastig aß, eilte er immer wieder für einen Schluck zum Wasserloch.