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Der Verlag dankt für die freundliche Abdruckgenehmigung von:
Karl Heinrich Waggerl, Das ist die stillste Zeit im Jahr
© Otto Müller Verlag, Salzburg 2004

Die Illustrationen in diesem Buch stammen alle von Ludwig Richter.
Titelfoto: Bernd Römmelt, München
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

eISBN 978-3-475-54555-9 (epub)

Worum geht es im Buch?

Wunder der Weihnacht
Die schönsten Geschichten

Die Vorfreude auf das Fest ist sicher einer der schönsten Gründe, wieder einmal ein gutes Buch zur Hand zu nehmen und sich damit in die adventlich geschmückte Stube zurückzuziehen. Dieser Band versammelt beliebte und stimmungsvolle Texte zur Weihnachtszeit. Sie erzählen Heiteres und Besinnliches, Bekanntes und Neues, zaubern Schnee unter unsere Stiefel und Tannenduft in die Nasen. Lassen Sie sich berichten vom Wunder der Weihnacht! Mit Texten und Gedichten unter anderem von: Johann Wolfgang von Goethe, Joseph Freiherr von Eichendorff, Peter Rosegger, Ludwig Thoma, Adalbert Stifter, Rainer Maria Rilke, Karl Heinrich Waggerl und Theodor Storm.

Inhalt

Die stillste Zeit im Jahr

von Karl Heinrich Waggerl

Weihnachtsfahrt und Weihnachtspredigt

von Wilhelm Raabe

Weihnachtsschnee

von Paula Dehmel

Unter dem Tannenbaum

von Theodor Storm

Weihnachtsgedicht

von Joseph Freiherr von Eichendorff

Das Christkind

von Rainer Maria Rilke

Einer Weihnacht Lust und Gefahr

von Peter Rosegger

Der Traum

von Heinrich Hoffmann von Fallersleben

Sankt Nikolaus und sein Knecht Ruprecht

von Isabella Braun

Wie der alte Christian Weihnachten feierte

von Paula Dehmel

Das Christkind

von Robert Reinick

Hoheit in der Parkstraße

von Gustav Freytag

Ein Winterabend

von Georg Trakl

Am Weihnachtsmorgen 1772

von Johann Wolfgang von Goethe

Else von der Tanne

von Wilhelm Raabe

Der Christabend – Eine Familiengeschichte

von Ludwig Thoma

Eine Weihnachtsreise ins altpreußische Land

von Bogumil Goltz

Es kommt ein Schiff

von Johannes Tauler

Das Niklasschiff

von Paul Keller

Das Weihnachtsbäumlein

von Christian Morgenstern

Weihenacht

von Peter Rosegger

Auf der Goldzeche

von Heinrich Noë

Gebratne Äpfel

von Hoffmann von Fallersleben

Christkindl-Ahnung im Advent

von Ludwig Thoma

Tage der goldenen Träume Weihnachten bei Theodor Storm

von Gertrud Strom

Weihnachtslegende

von Alice Freiin von Gaudy

Weihnacht

von Adalbert Stifter

Marias Sehnsucht

von Joseph Freiherr von Eichendorff

Die stillste Zeit im Jahr

von Karl Heinrich Waggerl

Advent, sagt man, sei die stillste Zeit im Jahr. Aber in meinem Bubenalter war es keineswegs die stillste Zeit. Zu Anfang Dezember, in den unheimlichen Tagen, während Sankt Nikolaus mit dem Klaubauf unterwegs war, wurde ich in den Wald geschickt, um den Christbaum zu holen. Mit Axt und Säge zog ich aus, von der Mutter bis zum Hals in Wolle gewickelt und mit einem geweihten Pfennig versehen, damit mich ein heiliger Nothelfer finden konnte, wenn ich mich etwa verirrte. Ein Wunder von einem Baum stand mir vor Augen, mannshoch und sehr dicht beastet, denn er sollte nachher ja auch etwas tragen können. Stundenlang kroch ich im Unterholz herum, aber ein Baum im Wald sieht sich ganz anders an als einer in der Stube. Wenn ich meine Beute endlich daheim in die Waschküche schleppte, hatte sich das schlanke, pfeilgerade Stämmchen doch wieder in ein krummes und kümmerliches Gewächs verwandelt, auch der Vater betrachtete es mit Sorge. Er musste seine ganze Zimmermannskunst aufwenden, um das Ärgste zurechtzubiegen, ehe uns die Mutter dazwischenkam.

Ach, die Mutter! In diesen Wochen lief sie mit hochroten Wangen herum, wie mit Sprengpulver geladen, und die Luft in der Küche war sozusagen geschwängert mit Ohrfeigen. Dabei roch die Mutter so unbeschreiblich gut, überhaupt ist ja der Advent die Zeit der köstlichen Gerüche.

Es duftet nach Wachslichtern, nach angesengtem Reisig, nach Weihrauch und Bratäpfeln. Ich sage ja nichts gegen Lavendel und Rosenwasser, aber Vanille riecht doch eigentlich viel besser, oder Zimt und Mandeln.

Mich ereilten dann die qualvollen Stunden des Teigrührens. Vier Vaterunser das Fett, drei die Eier, ein ganzer Rosenkranz für Zucker und Mehl. Die Mutter hatte die Gewohnheit, alles Zeitliche in ihrer Kochkunst nach Vaterunsern zu bemessen, aber die mussten laut und sorgfältig gebetet werden, damit ich keine Gelegenheit fände, den Finger in den köstlichen Teig zu tauchen.

Wenn ich nur erst den Bubenstrümpfen entwachsen wäre, schwor ich mir, dann wollte ich eine ganze Schüssel voll Kuchenteig aufessen, und die Köchin sollte beim geheizten Ofen stehen und mir dabei zuschauen müssen!

Aber leider, das ist einer von den Knabenträumen geblieben, die sich nie erfüllt haben.

Am Abend nach dem Essen wurde der Schmuck für den Christbaum erzeugt. Auch das war ein unheilschwangeres Geschäft.

Damals konnte man noch ein Buch echten Blattgoldes für ein paar Kreuzer beim Krämer kaufen. Aber nun galt es, Nüsse in Leimwasser zu tauchen und ein hauchdünnes Goldhäutchen herumzublasen. Das Schwierige bei der Sache war, dass man vorher nirgendwo Luft von sich geben durfte.

Wir saßen alle in der Runde und liefen blaurot an vor Atemnot, und dann geschah es eben doch, dass plötzlich jemand niesen musste. Im gleichen Augenblick segelte eine Wolke von glänzenden Schmetterlingen durch die Stube. Einerlei, wer den Zauber verschuldet hatte, das Kopfstück bekam jedenfalls ich, obwohl es nur bewirkte, dass sich der goldene Unsegen von neuem in die Lüfte hob. Ich wurde dann in die Schlafkammer verbannt und musste Silberpapier um Lebkuchen wickeln.

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Es kam endlich doch der Heilige Abend, und mit ihm die letzte der Prüfungen, das Bad in der Küche. Das fing ganz harmlos an, ich saß im Zuber wie ein gebrühtes Schweinchen und plätscherte verschämt mit dem Wasser, in der Hoffnung, dass ich nun doch schon groß genug sei, um der Schande des Gewaschenwerdens zu entgehen. Aber plötzlich fiel die Mutter wieder mit der Reisbürste über mich her, es half nichts, kein Gezeter und Gespreize. Erst in der äußersten Not erbarmte sich der Vater und nahm ein bis zur Unkenntlichkeit entstelltes, ein durchscheinendes Geschöpf in seine Arme.

Da war sie nun wirklich, die stillste Zeit im Jahr, wirklich Stille und Friede und köstliche Geborgenheit an seiner breiten Brust.

Später, wenn die Kerzen am Baum längst erloschen waren, um die Mitternacht, durfte ich die Mutter zur Mette begleiten. Ich weiß noch gut, wie stolz ich war, als sie mich zum ersten Mal nicht mehr an der Hand führte, sondern neben sich hergehen ließ als ihren Sohn und Beschützer.

Auch in der Kirche kniete ich nun auf der Männerseite. Die Frauen sangen auf dem Chor, und der Pfarrer am Altar hielt eine Weile inne, um das Weihnachtslied anzuhören, diese holde Weise von der stillen Nacht, die schon so lang, über Grenzen und Zeiten hinaus, das Gemüt der Menschen bewegt.

Weihnachtsfahrt und Weihnachtspredigt

von Wilhelm Raabe

Es war der vierundzwanzigste Dezember, und alle die jungen Damen, welche Zigarrentaschen und Polster und Kissen für den Rücken gestickt hatten – die Seelen der Männer, der jungen und alten, zu fangen, nach dem Wort des Propheten Ezechiel im dreizehnten Kapitel, Vers siebzehn und achtzehn, waren fertig mit ihrer Arbeit und erwarteten ihrerseits die Dinge, die da kommen sollten. Es warteten sehr viele Leute – große und kleine – auf kommende gute Dinge – der Himmel war am Morgen und Mittag so blau, wie man es sich nur wünschen mochte. Die Sonne bestrahlte glitzernd die weiße Weihnachtswelt und färbte sich erst am Nachmittag blutrot, als sie in den aufsteigenden Nebel hinab sank. Es schien, als ob die Sonne es wisse, dass hunderttausend Christbäume auf ihren Niedergang warteten, und es schien, als ob sie gutmütig und froh ihren Lauf beschleunige. Um fünf Minuten nach vier Uhr war das letzte Stückchen feuriges Gold hinter dem Horizont versunken – der Heilige Abend war da, war endlich gekommen, nachdem sich Millionen Kinderherzen so lange nach ihm gesehnt hatten. Um fünf Uhr läuteten alle Glocken im Lande den morgigen Festtag ein. Die Kuchen waren fertig, und es wurde Friede in der Brust auch der scheuereifrigsten Hausfrau. Um sechs Uhr stand jeder festlich geschmückte Tannenbaum in vollem Lichterglanz, und wer noch froh und glücklich sein konnte, der war es gewisslich um diese Stunde, in welcher sich das Himmelreich derer, die da sind wie die Kinder, auch dem trübsten Blick öffnet und das dunkelste Herz hell macht.

Das war ein Reisetag! Das war ein Tag, um der Heimat zuzueilen! Hans Unwirrsch und Fränzchen Götz bedurften keines Zaubermantels, keines übernatürlichen Beförderungsmittels mehr. Der Postwagen oder vielmehr Postschlitten, der sie gen Freudenstadt führte, war selber ein zauberhaftes Vehikel, das dreist mit Oberons fliegender Muschel, mit dem fliegenden Koffer der arabischen Märchen, mit dem hölzernen Gaul, auf welchem der Ritter Peter mit dem silbernen Schlüssel und die schöne Magelone ritten, es aufnehmen konnte. Hans hatte sich als der trefflichste Reisemarschall erwiesen, sowohl während der Eisenbahnfahrt als auch am vergangenen Abend im Gasthof zu ***, wo er das Fränzchen unter den besonderen Schutz der vornehmen Frau Wirtin stellte und die freundliche Versicherung erhielt, dass das Fräulein unter keinem Dach in der Welt sicherer und behaglicher schlafen solle. Richtig wurde es ihm am andern Morgen vergnüglich und wohlbehalten überliefert. Sie nahmen Abschied von der wackern Frau Wirtin, die dem Fränzchen noch einen Sack mit heißem Sand, ›der kalten Füße wegen‹, nach dem Posthofe schickte. Sie fanden ihre Plätze auf dem Postschlitten und fuhren hinein in den vierundzwanzigsten Dezember, ohne die Lerchen am klaren, hellblauen Himmel zu vermissen.

Wahrlich war die Post und der Weg nach Freudenstadt verzaubert. Hans Unwirrsch, der doch beides ziemlich genau kennen gelernt hatte, erkannte beides nicht wieder. Die Juden schienen bei solcher Kälte nicht zu reisen, und die Passagiere, die unterwegs ein- und ausstiegen, waren mit ihren mannigfaltigen Paketen, Schachteln und Körben in heiterster Weihnachtsstimmung, und der alte joviale Herr, welchem der Hanswurst, der den Enkel am Abend erfreuen sollte, aus der Brusttasche guckte, konnte schon allein die Beschwerlichkeiten der Reise zu einem Spaß machen.

Der Weg war vortrefflich, und kein grober Bauer brauchte mit seinen Gäulen Vorspann zu leisten. Auf der glatten Bahn flog der Schlitten pfeilschnell dahin, und die Postillone wurden nicht müde, ihre Weihnachtsstimmung durch Peitschengeknall und wohlgemeinte Hornmusik kundzugeben. Durch alle Orte, durch welche die Post fuhr, war vor ihr der Weihnachtsmann geschritten, und jedermann sah aus, als ob er ihm so lange als möglich nachgesehen habe. Auch der bösartigste Stallknecht vor den Posthaltereien hatte sein Gesicht zu einem Grinsen verzogen, dessen letzte Ursache nicht etwa in einem extraordinär nobeln Trinkgeld zu suchen war.

An solchem Tage mussten die letzten Gedanken an die trübe Vergangenheit mit ihren Kirchhofskreuzen aus der Brust entweichen. Die reine weiße Decke des Schnees hatte sich über die Gräber gebreitet, und der Sonnenschein glitzerte darauf – die Toten feierten die ewige Weihnacht jenseits der niederen Hügel und auch jenseits des Sonnenscheins. Anton und Christine Unwirrsch, die Base Schlotterbeck, der Oheim Grünebaum, der Geheime Rat Theodor Götz, Felix Götz und des Fränzchens Mutter hatten nichts dagegen, dass Hans und Fränzchen am Fest der Kinder, froh und selig wie Kinder, der irdischen Weihnachtsfreude ihre Herzen öffneten. Da waren die großen Nadelholzwälder und sahen heute ganz anders aus als an jenem dunkeln Tage, an welchem der Kandidat sie zum ersten Mal durchfuhr. Das wilde Schwein, das vom Rande des Forstes grunzend in den Schatten zurücktrabte, die Hasen, die komisch-eilig über den Schnee hüpften, der Zug Schneegänse, der mit Geschrei über den Wald zog – alles machte einen angenehmen Eindruck auf das Gemüt. Nur vergnüglich war’s, heute dem Fränzchen die Stelle zu zeigen, an welcher während der ersten Reise nach Grunzenow der Wagen im Schlamm stecken blieb und wo der erzürnte Vorspann-Bauer erst den Juden durchprügelte und dann das Wort Gottes, den Kandidaten Hans Unwirrsch, am Kragen nehmen wollte.

Welch ein anderes Ding war die Heide im sonnenglänzenden Weihnachtsschnee als die Heide, über welcher der Novembernebel lag! Welch ein anderes Ding war die Stadt Freudenstadt am vierundzwanzigsten Dezember als am trüben Tage des Wind- und Reifmonats, an dem der Kandidat Unwirrsch zum ersten Mal das Vergnügen hatte, ihren Kirchturm am Horizont auftauchen zu sehen!

Ja, da war die Stadt Freudenstadt wieder, und vor dem Tor stand Wache haltend ein mächtiger Schneemann, und sämtliche versammelte Jugend begrüßte die heranklingelnde Post mit lang hallendem Jubelschrei. Auch durch das Tor von Freudenstadt war der Weihnachtsmann den Reisenden vorangeschritten, und jedes Gesicht, das hinter den Fenstern der Gasse, durch welche das königliche Posthorn erschallte, erschien und neugierig der Post nachsah, musste ihn gesehen haben.

Da war der Marktplatz von Freudenstadt; ›Frisch auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!‹, blies der Schwager und – hielt mit einem Ruck die Gäule zehn Minuten vor der durch den Postzettel dem Publikum kundgemachten Zeit an; – es war der vierundzwanzigste Dezember.

Hans Unwirrsch hatte keine Zeit, an die merkwürdige Pünktlichkeit der Freudenstädter um zwölf Uhr mittags zu denken und das Fränzchen damit bekannt zu machen.

Wer stand im Schnee vor der Tür der Posthalterei?

Ein Mann, der ganz und gar aussah wie der Weihnachtsmann und jedenfalls ein Vetter oder sonst ein naher Verwandter von ihm war! Ein Mann in hohen Wasserstiefeln, Pelzrock und Pelzmütze. Ein Mann mit Pelzhandschuhen und einer qualmenden kurzen Tabakspfeife; ein Mann, der beim Anblick des Kandidaten Unwirrsch unzweifelhafte Zeichen ungemeiner Befriedigung und hohen Vergnügens zu erkennen gab; ein Mann, bei dessen Anblick der Kandidat Unwirrsch, die Hand Franziskas fassend, rief: »Der Herr Oberst von Bullau!«

Nun war die Stunde, in der alle Christbäume im deutschen Lande aufflammten – die rechte Stunde, um in ein neues, glückliches Dasein mit freudig-vollem, dankbar bewegtem Herzen einzuziehen. Nun saß die Freude nieder an jedem Herd, an welchem sie nicht bereits die Sorge, die Krankheit, den Hass, den Neid und den Tod sitzend fand: Wahrlich, es war die Zeit, um hungernd nach Frieden und Liebe die Heimat zu erreichen!

Das böse Moor lag hinter den Reisenden, schnaufend arbeiteten sich die Pferde die letzten Hügelreihen hinan. Hans hatte den Arm um seine Braut gelegt, es war nämlich sehr kalt geworden, und die Luft war so rein, der Mond schien so hell, dass weithin jeder Gegenstand sich aufs Schärfste von der schneebedeckten Erde abhob.

Auf dem letzten Dünenhügel, dicht am Wege, stand eine dunkle Gestalt und – »Kreuzhimmeldonnerwetter!«, schrie der Oberst von Bullau, die Zügel mit aller Kraft fassend. Ein Blitz und ein Knall! Das war einer der Böller des Hauses Grunzenow, und die dunkle Gestalt war der Posten, den Grips aufgestellt hatte, das Nahen des Schlittens zu verkünden.

Die Gäule bäumten sich und schlugen aus; es bedurfte aller Geschicklichkeit des Obersten, um sie zu beruhigen. – »Hier mal ran! Wer war mich denn dieser knallende Satan?«, rief der Oberst, und die dunkle Gestalt kam im kurzen Trab an den Schlitten, um sich zu melden.

»Hurra, Grunzenow!«, schrie der Oberst; eine Rakete stieg jenseits des Hügelrückens auf; Grips mit den Seinigen meldete sich ebenfalls; – der Schlitten erreichte die Höhe des Weges, und das weiße Ufer, das Meer im Mondenschein und die hellen Hüttenfenster von Grunzenow lagen vor den Blicken des Fränzchens. »Da sind wir! Willkommen zu Hause, mein Liebling!«, rief der Oberst und gab dem jungen Mädchen wiederum einen herzhaften Kuss, gegen welchen es sich wiederum nicht wehrte. Hügelabwärts ging’s; – durch das Dorf klingelte der Schlitten. Weihnacht, Weihnacht! Glanz und Lichter der Weihnacht aus allen Fenstern.

Weit auf stand das Hoftor von Grunzenow, an welchem Hans Unwirrsch einst so lange hämmern musste. Grimmig leuchtete die Laterne aus Augen und Maul des Schneemanns. – ›Willkommen!‹, rief mit feurigen Lettern der Triumphbogen des Tausendkünstlers Grips. »Willkommen!«, brüllte aus rauen Kehlen das Hofgesinde. Die Böller krachten, die Hunde bellten, der Leutnant Rudolf Götz hielt sein Kind in den Armen und hätte es fast erdrückt und erstickt. Ehrn Josias Tillenius hatte sich des Kandidaten Unwirrsch bemächtigt und flüsterte ihm ins Ohr: »Eheu, eheu, sudores et cruces Johannis Unwirrschii! Ei, ei, – ei, ei, das ist sie? Gott segne dich, Hans – das ist sie?«

»Jaja, das ist sie!«, rief Hans Unwirrsch, und der Leutnant Rudolf wiederholte dasselbe und legte das Fränzchen in die Arme des alten Pfarrherrn von Grunzenow.

Der Oberst schritt von einem zum andern und schüttelte sich und den Freunden fast die Hand ab. Grips zog grinsend den Mund bis zu beiden Ohren auseinander und beleuchtete die Gruppe als gerührter Statist.

Da war der große, alte Saal des Hauses Grunzenow! Die beiden riesenhaften holländischen Kachelöfen glühten, – ein riesenhafter Christbaum glänzte im Schein von hundert Wachslichtern – Weihnacht, Weihnacht! Ein solches Weihnachtsfest hatte das Haus Grunzenow seit hundert Jahren nicht erlebt. Die Glocke von Grunzenow, der neuen Heimat! Die Glocke der Weihnachtskirche! Aufrecht saß Hans Unwirrsch auf seinem Lager und horchte. Sein Herz klopfte, und alle Pulse schlugen! Nach Herz und Hirn drängte sich alles Blut – o Fränzchen, Fränzchen!

Alle Kindheitsgefühle waren in der Brust des Mannes wach geworden. Ehe er die Treppe hinabstieg, kniete er nieder und barg minutenlang stumm das Gesicht in den Händen. Er hörte es nicht, dass die Tür hinter ihm sich öffnete. In seinem schwarzen Predigerrock trat der alte Ehrn Josias Tillenius in die Kammer und setzte leise das Licht, das er trug, neben die Lampe des Kandidaten. Regungslos stand er, solange die kleine Glocke läutete, solange Johannes Unwirrsch neben seinem Bette kniete. Als die Glocke schwieg und der junge Hausgenosse das Haupt wieder erhob, legte er ihm die Hand auf die Schulter und sagte gerührt, indem er sich zu ihm niederbeugte: »Es ist ein glückliches Zeichen, mit solchem Geläut zu neuer Arbeit, neuen Sorgen, neuem Leben zu erwachen. Mein lieber, lieber Sohn, sei mir willkommen in diesem armen und doch so reichen, diesem so begrenzten und doch so grenzenlosen Wirkungskreise. Gott gebe dir Kraft und Segen an diesem Strand, unter diesen Hütten, unter diesem Dache. Gott behüte dich in deinem Glücke und segne dich in deinem Leid!«

Zum zweiten Mal läutete die Glocke, als Hans an der Seite des greisen Pfarrherrn die Stufen emporstieg, die hinter dem Pastorenhause auf den Kirchhof des Dorfes führten. Quer über den Kirchhof ging der Weg zur Kirche, und zwischen den weißen Gräbern und den schwarzen Kreuzen, welche auch alle Schneehauben trugen, blieben die beiden geistlichen Herren stehen, um auf das Dorf zurückzuschauen. Das Meer rauschte in der Finsternis, aber im Dorf war fast jedes Fenster erleuchtet, und reges Leben herrschte auf dem Kirchwege. Aus seinen Hütten stieg das Volk der Fischerleute zu seiner Kirche empor – Greise, Männer, Weiber, Kinder! Sie kamen mit Laternen und Lichtern, und wenn die Erwachsenen, die Älteren, im Vorüberschreiten mit vertraulicher Ehrerbietung ihren Pfarrherrn grüßten, so kam fast jedes Kind zu ihm heran, um ihm die Hand zu geben. Er aber kannte sie alle bei ihrem Namen, kannte ihre kleine, kurze Lebensgeschichte und hatte fast für jedes ein anderes Liebkosungswort. Von Zeit zu Zeit zögerte einer der Erwachsenen auf dem Wege oder wandte sich seitwärts, um seine Laterne niederzusetzen und sich über eins der verschneiten Gräber zu beugen. Dann war der Pfarrherr von Grunzenow an der Seite der Trauernden und sprach ihnen leise zu, und die Sterne lächelten am schwarzen Winterhimmel, und es war, als ob das Meer sanfter rausche.

Zum dritten Mal zog der Küster von Grunzenow den Glockenstrang, als wieder eine größere Gruppe in die Kirchhofspforte trat, und Grips war’s, der hier die Laterne vortrug. Ritterlich führte der Oberst von Bullau das Fränzchen an der Spitze seiner Hofleute und sagte, als Hans Unwirrsch vor ihm stand und Grips seine Laterne erhob, um die Begrüßung zu beleuchten: »Also pflegt der Mensch auszusehen, der nicht sagen kann, wie wohl ihm zumute ist. Da, Herr Kandidatus, da habt Ihr Euer Mädchen. Ich wünsche Euch fröhliche Feiertage und viel Pläsier damit.«

Hand in Hand gingen Hans und Fränzchen mit den ändern Leuten von Grunzenow in die kleine Kirche, wo der Küster bereits vor der Orgel saß. Auf dem kurzen Wege konnte Franziska dem Verlobten und Hans der Braut wirklich nicht sagen, wie ihnen zu Mute sei; aber beide wussten es doch. Den schönsten Gruß von Onkel Rudolf bestellte jedoch das Fränzchen; unter dem Christbaum im Kastell saß der Onkel mit seiner Pfeife und hatte seine Weihnachtsgedanken so gut wie alle andern.

Wohl hundert Lichter erhellten die kleine Kirche. Niemand hatte sein Lämpchen beim Eintritt ausgeblasen, und wunderbar feierlich erschien die Versammlung dieser Gemeinde am Ufer der See.

Auf einer der vordersten Bänke, dicht vor dem Altar und der Kanzel, saß der Kandidat Unwirrsch neben seiner Braut und dem Obersten von Bullau nieder und sang im rauen Chor der Fischer das alte Weihnachtslied mit bis zu Ende. Bis unter den letzten Klängen der Orgel und des Gesanges Ehrn Josias Tillenius auf seine Kanzel trat, um seine Weihnachtspredigt zu halten. Bis alle die von der Sonne gebräunten, vom Sturme und Wetter zerbissenen Gesichter der Männer, bis alle die ernsten Gesichter der Frauen, bis alle Kinderaugen sich zu dem alten, treuen Berater und Tröster emporhoben. Und keiner der berühmten und beliebten Redner, die Hans in der großen Stadt gehört hatte, keiner der berühmten Professoren, die ihm auf der Universität so viele gute Lehren gaben, hätte eine trefflichere Rede halten können als der Greis von der Hungerpfarre zu Grunzenow, der sich in der Bibliothek seiner Vorgänger nicht zurechtfinden konnte und dem die moderne Wissenschaft der Theologie ein Buch mit sieben Siegeln geblieben war.

Mit jenem Gruß der Engel, über welchen kein anderer in der Welt geht, grüßte er seine Gemeinde: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!« Dann wünschte er allen Glück zu dem hohen Feste, den Jungen wie den Alten, den Greisen wie den Kindern. Und er hatte Recht, als er einst zu Hans Unwirrsch sagte, dass es ein seltsames Ding sei, wenn einem Pastor das Meer in seine Worte klinge. Er sprach von dem Guten und Bösen, was geschehen sei, seit man vor einem Jahre diesen Tag feierte; er sprach von dem, was werden könne bis zu dem nächsten Weihnachtsglockenklang. Er hatte ein Wort für die Trauernden und für die, welchen Freude gegeben worden war. Seine Vergleiche konnte er nicht, wie seine Amtsbrüder weiter im Lande, die jetzt auch auf ihren Kanzeln standen, der Arbeit des Ackermanns entnehmen. Er konnte nicht sprechen vom Säen, Blühen, Fruchtbringen und Verwelken. Das Meer rauschte in seine Worte.

Er sprach von den Angehörigen seiner Gemeinde, die jetzt in der Fremde schifften, von denen man nicht wusste, ob sie lebten oder ob sie tot seien: Die Erde vom Nordpol bis zum Südpol musste Raum finden in seiner Predigt. Er sprach von den Verschollenen, deren Platz am Herde seit Jahren leer war, nannte zwei weinende Mütter bei ihren Namen und tröstete sie mit der Verheißung, dass niemand, niemand verloren gehen könne, so weit die Welt auch sei, da geschrieben stehe, dass Gott die Meere in der hohlen Hand halte. Er sprach von dem großen Weihnachtsbaum der Ewigkeit, unter welchem einst alle, alle versammelt sein würden.

Hans Unwirrsch dachte an die Hungerpredigten, welche er in der Grinsegasse hatte schreiben wollen, um durch ihren Druden einen Namen zu erwerben und Tausende dadurch zu rühren und zu erheben. Er ließ das Haupt sinken vor der Rede dieses Greises, die gewiss nicht druckfähig war und doch den Hörern bis ins tiefste Herz drang. Das Fränzchen weinte ihm zur Seite, der Oberst von Bullau räusperte sich von Zeit zu Zeit sehr vernehmlich und murrte in den grauen Bart. Das Volk der Fischer seufzte und schluchzte; – der Kandidat Unwirrsch hatte keine Zeit, die Erinnerung an sein Manuskript und die Grinsegasse weiter zu verfolgen.

Ehrn Josias Tillenius war an den Weihnachtsbaum jeder Hütte seines Dorfes getreten. Nun stand er plötzlich im Schatten des Baumes der Weltgeschichte, durch dessen Gezweig der Stern der Verkündigung auf die Krippe zu Bethlehem niederleuchtete.

In einfach ergreifender Art erzählte er seiner Gemeinde, wie es aussah auf Erden, als die Engel ihren Gruß vom Himmel niederbrachten. Von der Stadt Rom erzählte er und von dem römischen Kaiser Augustus, von den stolzen Tempeln, den stolzen Weisen, Kriegern und Poeten. Er sprach davon, wie die Sonne, der Mond und alle Gestirne damals so segensreich ihren Weg gingen als wie heute, wie die Erde ihre Früchte trug, wie das Meer seine Schätze ebenso gutwillig hergab als jetzt. Er erzählte, wie die Menschen sich damals in ihrer Zeit eingerichtet hatten: Wie Zoll gefordert und gegeben wurde, wie die Seen und Flüsse und das Meer voll Schiffe, wie die Landstraßen voll Wanderer und die Märkte voll Kaufleute waren. Er berichtete, wie die Schätze der Nationen wie heute hin und her getragen wurden, und dann – dann sprach er von dem großen Hunger der Welt. Die schönsten Götterbilder in den herrlichen Tempeln waren Masken, die kein Leben hatten. Die Priester, welche ihnen dienten, spotteten ihrer und des Volkes, das vor ihnen kniete. Die Weisen und Klugen aber schämten sich der Götter und der Priester. Die Welt war zu einem Durcheinander geworden, in dem es keinen Halt mehr gab. Frieden fand der Mensch weder in seinem Herzen noch in seinem Hause, noch draußen auf dem Markte. In dem römischen Kaiserreich hatte die Menschheit sich an sich selber verloren, sie lag in Ketten unter dem Purpurmantel, der ihre blutenden, zerschlagenen Glieder deckte. Der Himmel war dunkel über ihr, und das Licht, das von ihrem goldenen Diadem ausging, war nur das fahle Leuchten in der Nacht des Todes. Trotz aller Pracht und Bewegung des Lebens war die Erde wüst und leer geworden, wie vor dem Erschaffungswort. Ehrn Josias Tillenius sagte das in Worten, die seine Gemeinde verstand. Es wagte niemand, sich zu regen. Man hörte nur das schnellere Atmen der Zuhörer, und als der fast hundertjährigen Urgroßmutter Margarete Jörensen, die allein schlummerte in der Versammlung und nach einem früheren Gebot des Predigers unter keiner Bedingung geweckt werden durfte, das große Gesangbuch vom Schoß rutschte und zu Boden fiel, ging es wie ein jäher Schrecken durch jedes Herz, und die abgehärtetsten Seeleute fuhren zusammen. »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!« Es war, als ob das Wort den Bann, der auf dem Volk von Grunzenow lag, löste wie einst die Fesseln der ganzen Menschheit.

Über der Hütte zu Bethlehem stand der Stern der Erlösung. Der Heiland war in die Welt des Hungers geboren worden. Der Schmerzenssohn der Menschheit, der Sohn Gottes, der die Sünde seiner Mutter auf sich nehmen sollte, war erschienen, und vom Felde kamen die armen Hirten, denen die Könige und Weisen erst später folgten, hergelaufen, um das Kind in der Krippe zu begrüßen. Dieses Kind, das nun noch mit in die Register der Bevölkerung des römischen Reiches, die der Kaiser Augustus anfertigen ließ, aufgenommen werden konnte. Nun war die Zeit erfüllt und das Reich Gottes erschienen. Die hungrige Menschheit aber reckte die Hände auf nach dem ›Brot, das vom Himmel kommt und der Welt das Leben gibt‹. Der Himmel, der so finster und leer gewesen war, öffnete sich über den Kindern der Erde: Alle Völker sahen das große Licht, die Menschheit riss die Krone von dem gedemütigten Haupt und warf den Purpurmantel von den Schultern. Sie schämte sich ihrer blutenden Wunden, ihrer gefesselten, zerschlagenen Glieder nicht mehr – sie kniete und horchte. ›Wahrheit!‹, jauchzte es vom Aufgang; ›Freiheit!‹, jauchzte es vom Niedergang – ›Liebe!‹, sangen die Engel um die Hütte, in welcher die Erbtochter des Stammes David und Joseph der Zimmermann von Nazareth den Hirten das Kind zeigten, das in der Nacht geboren worden war.

Ehrn Josias Tillenius aber zeigte es jetzt den Kindern seines Dorfes. Denn das Weihnachtsfest ist das Fest des Kindes, welchem die erhabenen Ostern fremd bleiben, bis es über den ersten wahren Schmerz nachdenken musste. In die Weihnachtsworte aber, die der alte Prediger zu den Kindern sprach, dämmerte der neue Tag. Es wurde Dämmerung vor den Fenstern der kleinen Kirche, und das Licht der Lampen und Wachskerzen erbleichte vor dem rosigen Schimmer, der den Winterhimmel überzog. Wieder erklang die Orgel, die Gemeinde von Grunzenow sang den Schlussvers des Weihnachtsliedes, die Kirche war zu Ende.

Weihnachtsschnee

von Paula Dehmel

Ihr Kinder, sperrt die Näschen auf,

es riecht nach Weihnachtstorten;

Knecht Ruprecht steht am Himmelsherd

und bäckt die feinsten Sorten.

Ihr Kinder, sperrt die Augen auf,

sonst nehmt den Operngucker;

die große Himmelsbüchse, seht,

tut Ruprecht ganz voll Zucker.

Er streut – die Kuchen sind schon voll –

er streut – na, das wird munter –

er schüttelt die Büchse und streut und streut

den ganzen Zucker runter.

Ihr Kinder, sperrt die Mäulchen auf,

schnell! Zucker schneit es heute!

Fangt auf! Holt Schüsseln! – Ihr glaubt es nicht?

Ihr seid ungläubige Leute!

Unter dem Tannenbaum

von Theodor Storm

Es war das Arbeitszimmer eines Beamten. Der Eigentümer, ein Mann in den Vierzigern, mit scharf ausgeprägten Gesichtszügen, aber milden, lichtblauen Augen unter dem schlichten, hellblonden Haar, saß an einem mit Büchern und Papieren bedeckten Schreibtisch, damit beschäftigt, einzelne Schriftstücke zu unterzeichnen, welche der daneben stehende alte Amtsbote ihm überreichte. Die Nachmittagssonne des Dezembers beleuchtete eben mit ihrem letzten Strahl das große schwarze Tintenfass, in das er dann und wann die Feder tauchte. Endlich war alles unterschrieben.

»Haben Herr Amtsrichter sonst noch etwas?«, fragte der Bote, indem er die Papiere zusammenlegte.

»Nein, ich danke Ihnen.«

»So habe ich die Ehre, vergnügte Weihnachten zu wünschen.«

»Auch Ihnen, lieber Erdmann.«

Der Bote sprach einen der mitteldeutschen Dialekte. In dem Ton des Amtsrichters war etwas von der Härte jenes nördlichsten deutschen Volksstammes, der vor wenigen Jahren, und diesmal vergeblich, in einem seiner alten Kämpfe mit dem fremden Nachbarvolk geblutet hatte. Als sein Untergebener sich entfernte, nahm er unter den Papieren einen angefangenen Brief hervor und schrieb langsam daran weiter.

Die Schatten im Zimmer fielen immer tiefer. Er sah die schlanke Frauengestalt nicht, die hinter ihm mit leisen Schritten durch die Tür getreten war. Er bemerkte es erst, als sie den Arm um seine Schulter legte. Auch ihr Antlitz war nicht mehr jung, aber in ihren Augen war noch jener Ausdruck von Mädchenhaftigkeit, den man bei Frauen, die sich geliebt wissen, auch noch nach der ersten Jugend findet.

»Schreibst du an meinen Bruder?«, fragte sie, und in ihrer Stimme, nur etwas mehr gemildert, war dieselbe Klangfarbe wie in der ihres Mannes.

Er nickte. »Lies nur selbst!«, sagte er, indem er die Feder fortlegte und zu ihr emporsah.

Sie beugte sich über ihn herab, denn es war schon dämmerig geworden. So las sie, langsam wie er geschrieben hatte: »Ich bin wieder gesund und arbeitsfähig – glücklicherweise. Denn das ist die Not der Fremde, dass man den Boden, worauf man steht, sich in jeder Stunde neu erschaffen muss. So schlecht es immer sein mag, darin habt Ihr es doch gut daheim, und wer wäre nicht gern geblieben, wenn er nur ein Stück Brot und jenes unentbehrliche ›sanfte Ruhekissen‹ des alten Sprichworts sich hätte erhalten können.«

Sie legte schweigend die Hand auf seine Stirn, während er, der ihren Augen gefolgt war, das Blatt umwandte. Dann las sie weiter: »Der guten und klugen Frau, die du vorige Weihnachten bei uns hast kennen lernen, bin ich so glücklich gewesen, durch die Vermittlung eines Vergleichs mit ihrem Gutsnachbarn, einen wirklichen Dienst zu leisten. Der schöne, so sehr von ihr begehrte Wald ist seit kurzem endlich in ihren Besitz gelangt. Hätten wir morgen für deinen Freund Harro nur eine Tanne aus diesem Wald. Denn hier ist viele Meilen in die Runde kein Nadelholz zu finden. Was aber ist ein Weihnachtabend ohne jenen Baum mit seinem Duft voll Wunder und Geheimnis!«

»Aber du«, sagte der Amtsrichter, als seine Frau gelesen hatte, »du bringst in deinen Kleidern den Duft des echten Weihnachtabends!«

Sie langte lächelnd in den Schlitz ihres Kleides und legte ein großes Stück braunen Weihnachtskuchen vor ihm auf den Tisch.

»Sie sind eben vom Bäcker gekommen«, sagte sie, »probier nur. Deine Mutter backt sie dir nicht besser!«

Er brach ein Stück ab und prüfte es genau. Aber er fand alles, was ihn als Knaben daran entzückt hatte. Die Masse war glashart, die eingerollten Stückchen Zucker wohl zergangen und kandiert. »Was für gute Geister aus diesem Kuchen steigen«, sagte er, sich in seinen Arbeitsstuhl zurücklehnend. »Ich sehe plötzlich, wie es daheim in dem alten steinernen Hause Weihnachten wird. Die Messingtürklinken sind womöglich noch blanker als sonst. Die große gläserne Flurlampe leuchtet heute noch heller auf die Stuckschnörkel an den sauber geweißten Wänden. Ein Kinderstrom um den anderen, singend und bettelnd, drängt durch die Haustür. Vom Keller herauf aus der geräumigen Küche zieht der Duft des Gebäckes in ihre Nasen, das dort in dem großen kupfernen Kessel über dem Feuer prasselt. Ich sehe alles. Ich sehe Vater und Mutter – Gott sei es gedankt, sie leben beide! Aber die Zeit, in die ich hinabblicke, liegt in so tiefer Ferne der Vergangenheit!