Am 7. Juli 2014 beginnt der bisher letzte der vielen Kämpfe um den Gazastreifen. Atef Abu Saif hält fest, was um ihn herum geschieht. In einundfünfzig Tagebucheinträgen, ohne Polemik, ohne Schuldzuweisungen, erzählt er das Unvorstellbare. Von Tragödien, von Verzweiflung, von heiteren Momenten trotz allem und von einer unausrottbaren Zuversicht der Menschen.
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Atef Abu Saif (*1973 im Gazastreifen) studierte in Birzeit, Bradford und Florenz. Er unterrichtet in Gaza-Stadt, ist Journalist und palästinensischer Kulturminister. Sein Roman Ein Leben in der Schwebe wurde für den »Arab Booker Prize« nominiert. Er lebt mit seiner Familie im Gazastreifen.
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Marianne Bohn ist 1982 an der Nordsee geboren und dort aufgewachsen. Nach dem Magisterstudium in Leipzig war sie als Dozentin in mehreren arabischen Ländern und als Buchhändlerin in Hamburg tätig. Sie arbeitet im Buchhandel und als Übersetzerin in Berlin.
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Frühstück mit der Drohne
Tagebuch aus Gaza
Aus dem Englischen von Marianne Bohn
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel The Drone Eats with Me. Diaries from a City Under Fire bei Comma Press, Manchester.
Originaltitel: The Drone Eats with Me
© 2014 & 2015 Comma Press & Atef Abu Saif www.commapress.co.uk
© by Unionsverlag, Zürich 2020
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Video Still, Manchester Literature Festival; ilbusca (Hintergrund)
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30903-6
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Für meine kleine Jaffa
Möge deine Zukunft besser sein als die Gegenwart
Sonntag, 6. Juli
Wenn er kommt, spürst du zunächst seinen Geruch, seine besondere Note. Schon als Kind lernst du, ihn zu erkennen, wenn du in diesen engen Straßen aufwächst. Du entwickelst ein Talent dafür, ihn zu wittern, ihn in der Luft zu schmecken. Du kannst ihn beinahe sehen. Wie ein Hexentier lauert er in jedem Schatten, folgt dir auf dem Fuß bei jedem Schritt. Wer diese Fähigkeit nicht verlernt, kann voraussagen, dass er kommt. Manchmal Stunden, manchmal Tage, bevor er wirklich da ist. Du kannst dich nicht täuschen. Es ist Krieg.
Wir sitzen vor Abu Annas’ Haus, mit drei Freunden – Tarik, Sohail und Abdallah. Abu Annas ist seit fünfzehn Jahren Schuldirektor der Ahmad-al-Shukairi-Oberschule, ich kenne ihn allerdings seit der Ersten Intifada. Von hier bis zum Haus meines Vaters sind es zwei Minuten zu Fuß. An diesem Ort, in diesem Flüchtlingslager, bin ich aufgewachsen. Es ist ein warmer Abend. Zwei Bäume vor dem Haus spenden Schatten.
Abu Annas und Tarik spielen Backgammon. Von Zeit zu Zeit schauen sie auf und beteiligen sich am Gespräch. Der Klang der Würfel auf dem Holzbrett hypnotisiert mich. Ich habe nie Backgammon gespielt. Aber ich liebe das Schauspiel der Würfel, die klappernd übers Holz rollen und von der Umrandung zurückprallen. Ein betagtes blaues Sony-Radio steht zwischen uns und spielt ein klassisches Lied von Fayza Ahmad: »O Mutter, vor der Türe wartet der Mond und zündet die Kerzen an. Soll ich die Türe abschließen? Soll ich sie öffnen?« Seit den 1970er-Jahren hütet Abu Annas sein Radio wie seinen Augapfel, es steckt immer noch im braunen Original-Lederfutteral.
Alle fünf sind wir in Kriegszeiten geboren – im Gazastreifen ist die Wahrscheinlichkeit dafür hoch. Das dicht besiedelte Flüchtlingslager, in dem wir aufgewachsen sind, ist den Bewohnern Gazas als Jabalia bekannt. Zuerst war es eine einfache Zeltlandschaft, dann entstand ein Wald aus Baracken, nun ist es ein Dschungel von in den Himmel ragenden, eng beieinanderstehenden Wohngebäuden. Immer wieder wurde Jabalia von Kriegen heimgesucht. Seit 1948, nein, eigentlich schon vorher, seit 1917, als die britische Besatzung begann, verging in Gaza praktisch kein Jahrzehnt ohne Krieg, und manchmal lagen kaum zwei Jahre Pause zwischen den Kriegen. Jeder hier trägt sie in seiner Erinnerung, wie Marksteine stehen sie an deinem Lebensweg: Der eine Krieg ist unverrückbar mit deiner Kindheit verbunden, ein oder zwei der nächsten mit deiner Jugend, und so fort … An ihnen misst du die vergehende Zeit wie an den Jahresringen eines Baumstamms. Leider markiert für viele einer dieser Kriege auch das Ende ihres Lebens. Leben ist für uns, was zwischen diesen Kriegen an Zeit bleibt.
Heute Nacht beginnt ein weiterer Krieg. SMS mit den neuesten Informationen unterbrechen unsere abendliche Unterhaltung mit einem harmlosen »Ping«. Während die Dunkelheit hereinbricht, folgen sie dichter und dichter aufeinander, lassen uns zusammenzucken, unsere Beklemmung immer mehr wachsen. Der letzte Dauerangriff auf den Gazastreifen erstreckte sich über acht Tage im November 2012. Der davor über dreiundzwanzig Tage im Dezember 2008 und im Januar 2009. Er wurde von den Israelis »Gegossenes Blei« genannt. Wie viele Tage wird dieser anhalten? Wie wird er sein im Vergleich zu den vorherigen? Das sind die Fragen, über die ich gerne reden möchte, aber zumindest Abu Annas ist keineswegs überzeugt, dass es zum Krieg kommt. »Es wird nur eine kleine Militäraktion«, sagt er, »eine begrenzte Operation.«
Zohdi, Abu Annas’ zweiter Sohn, der auch mein Barbier ist, macht für uns alle die Shisha bereit. Wenn ich ihn sehe, greife ich unwillkürlich an mein Haar und meine Bartstoppeln – es ist erst drei Tage her, dass ich rasiert wurde. Zohdis Laden liegt direkt neben Abu Annas’ Haus, und als ich ihn unter der Türe sehe mit dem blitzenden Stahl in der Hand, spüre ich auf der Haut das Rasiermesser. Aber dann erkenne ich, dass es nur die Stahlzangen für die Holzkohle sind.
Tarik, ein Veteran im Kampf für die Arbeiterrechte, beugt sich über die Wasserpfeife, bläst in die Kohle und sagt, dass alle Vorzeichen auf Krieg deuten. Sohail ist sich nicht sicher. Er hat in jungen Jahren viel Zeit in israelischen Gefängnissen verbracht, im Lager war er einer der PLO-Führer und diente während der 1980er-Jahre in der geheimen Miliz der Fatah. Schließlich seien wir schon im heiligen Monat Ramadan, beharrt er, und der richtige Krieg würde aufs Monatsende verschoben. Eine kontrollierte »Eskalation der Spannung« allerdings könnte in den nächsten Wochen durchaus stattfinden. Abdallah, der einen Doktortitel in Psychologie hat, teilt diese Meinung.
Und ich?
Nun ja, sage ich ihnen, ich kann ihn riechen. Ich spüre, dass er im Anzug ist.
Und dann stellt sich heraus, dass er schon da ist. Bevor wir überhaupt davon zu reden begonnen hatten.
Gegen neun Uhr abends griff eine Drohne gut drei Kilometer nördlich von Jabalia eine Gruppe von Menschen an. Niemand wurde verletzt. Eine halbe Stunde später feuerte eine andere Drohne auf drei Personen, die auf einer Straße im Westen von Gaza-Stadt unterwegs waren. Darüber wurde zunächst berichtet, als seien es Einzelfälle, so wie man schlimme Verkehrsunfälle vermeldet. So etwas kommt nun einmal vor, wenn auch üblicherweise nicht innerhalb einer halben Stunde. Aber zwei Drohnenangriffe machen noch keinen Krieg. In den Nachrichten nennt man das »zunehmende Spannungen«, und auf dem Sender geht die Debatte über die Probleme der Jugendlichen in Gaza weiter. Der Studiogast beginnt eine Diskussion über die Verzweiflung, die so viele junge Menschen angesichts ihrer Zukunft empfinden. Sie fühlten sich gefangen, da sie weder reisen noch woanders studieren oder Karriere machen können. Doch dann, gegen elf Uhr, werden seine Ausführungen abgeschnitten, ein patriotisches Lied ertönt, die Stimmung im Radio ist völlig umgeschlagen.
Einige Minuten später trifft eine Nachricht auf Abu Annas’ Mobiltelefon ein. Eine dritte Attacke. »Zwei junge Männer im Flüchtlingslager Bureij bei Angriff getötet.« Wir schauen uns an. Das ist mehr als bloß »zunehmende Spannungen«. Im nächsten Augenblick macht uns der Krieg seine Aufwartung. Aus nördlicher Richtung hören wir eine Explosion, deren Echowellen über die Stadt rollen. Wenn man im richtigen Leben nach Jahren wieder eine Bombenexplosion hört, ist das, als erleide man den Flashback einer posttraumatischen Belastungsstörung. Der Schock katapultiert dich zurück, dorthin, wo du zwei Jahre, fünf Jahre, vier Jahrzehnte zuvor warst, zur allerersten oder jüngsten Detonation, die du erlebt hast. Als diese neue Explosion verhallt, bleibt das Sirren der Drohne zurück, unausweichlich, und so nahe, dass man meint, sie sei direkt neben dir. Es ist, als wolle sie diesen Abend mit uns verbringen, sich auf einen unsichtbaren Stuhl in unsere Runde setzen.
Zum Suhur – das in diesem Ramadan gegen halb vier Uhr morgens stattfindet – müssen wir wach sein, deshalb verbringen wir die meisten Nächte mit Gesprächen, rauchen Wasserpfeife und essen Süßigkeiten wie Awama, Knafeh und Baklawa. Jetzt im Hochsommer ist es ohnehin viel angenehmer, draußen unter einem Baum zu sitzen, als drinnen zu schwitzen.
Als wir uns heute Abend trafen, waren viele junge Männer unterwegs, die Ramadan-Lieder sangen und dazu auf Plastikdosen trommelten. Es sind schöne Lieder, auch ich habe sie als Junge gesungen. Diese Tradition beginnt drei Tage vor Ramadan und dauert den ganzen Monat bis zum ’Id, dem Fest des Fastenbrechens. Wahrscheinlich versetzen diese Lieder jeden Palästinenser – ob er nun besonders gläubig ist oder nicht – in eine sehnsüchtige Stimmung.
Aber nun ist die Straße leer, der Explosionslärm wird lauter. Niemand will sich jetzt noch im Freien aufhalten. Tarik meint, auch wir sollten nach Hause gehen, aber Abu Annas widerspricht: »Mach dir keine Sorgen. Das ist normal.« Selbstverständlich ist es das, aber wir sollten uns trotzdem auf den Weg machen. Meine Frau Hanna ruft mich an, weil sie überall Detonationen hört. Sie möchte jetzt nicht alleine sein. »Die Kinder schlafen«, sagt sie mit zitternder Stimme.
Tarik fährt mich schnell nach Hause. Der Bezirk Saftawi liegt im Westen des Lagers von Jabalia. Die Bewohner sämtlicher Bezirke, die sich um das Lager herum befinden, sind im Lager aufgewachsen. Das Flüchtlingslager von Jabalia ist mit seinen hunderttausend Einwohnern auf nicht einmal anderthalb Quadratkilometern das größte in ganz Palästina und hat vor allem durch die zahlreichen Konflikte zwischen den israelischen Besatzungstruppen und den Palästinensern Berühmtheit erlangt. Die Erste Intifada brach in seinen engen Gassen aus. Die wachsende Bevölkerung ließ neue Bezirke in seiner unmittelbaren Umgebung entstehen, wie Alami, Tel al-Zaatar, Salahin, Beir al-Na’aja und Saftawi. In vielerlei Hinsicht gehören sie eigentlich zum Lager dazu. Wie seine Kinder.
Tarik fürchtet, dass ein Krieg in der Sommerzeit, und auch noch während des Ramadan, besonders hart wird. Bevor ich aussteige, erinnert er mich an unsere Verabredung morgen Abend, zwei Stunden vor Sonnenuntergang. Seit Beginn des Ramadan fahren wir täglich zum Hof seiner Familie im Westen von Beit Lahia, wo er Obst und Gemüse anbaut. Dort verbringen wir die letzten Sonnenstunden des Tages. Die schwersten Stunden im Ramadan sind immer die letzten beiden vor dem Iftar, dem Fastenbrechen, deshalb tut eine Ablenkung in dieser Zeit gut.
Ich muss über seine Erinnerung lächeln.
»Und wenn Krieg ist?«
»Das kann nicht sein«, meint Tarik.
Hanna hockt auf der Sofakante, vor Angst und Sorgen ganz steif. Sie hört Nachrichten. Ihr Blick sagt mir: »Es ist Krieg.« Ich koche Kaffee und lege für die Kinder einige Stücke Katayef bereit. Hanna und ich beginnen ein Gespräch, wie es in dieser Stunde wohl alle Erwachsenen in Gaza führen: Und wenn das nun wirklich Krieg ist? Wie lange wird er dauern? Wird er härter als die früheren werden? Werden wir überleben? Wen von unseren Lieben werden wir verlieren?
Hanna sagt, ich soll die Kinder zum Suhur wecken.
Es ist halb vier Uhr morgens am Montag, 7. Juli 2014. Ein Datum, das man sich merken sollte.
Montag, 7. Juli
Seit Mitternacht haben Beschuss und Bombardement nicht nachgelassen. Heute ist der Musaharati nirgends zu sehen. Der Musaharati ist eine der ältesten Traditionen im heiligen Monat Ramadan: Ein älterer Mann dreht in der Nachbarschaft seine Runde und hat eine Trommel bei sich, an der oft eine Laterne baumelt. Mit einer sanften, gut ausgebildeten Stimme singt er ein bestimmtes Lied, um uns zu wecken.
Jedes Viertel im Lager hat seinen eigenen Musaharati. Am Ende des Monats klopft er an deine Tür und bittet um eine Spende – Geld oder etwas zu essen – als Gegenleistung für seinen Verdienst.
Heute Nacht hat eine Gruppe junger Männer aus meinem Bezirk diese Rolle übernommen. Ein neues Phänomen. Gegen zwanzig Minuten vor drei Uhr spielen sie auf. Sie singen das Suhur-Lied und flechten unsere Namen ein. So wird die Melodie für fast jeden in der Straße zu einem persönlichen Weckruf.
Die Männer stehen vor unserem Wohnblock und beginnen, die Namen der Bewohner zu singen. Wir sind erst vor drei Jahren in dieses Haus gezogen, und in den ersten zwei Jahren standen unsere Namen noch nicht auf der Liste. Zu Beginn dieses Ramadan hatte ich den Musaharati um die Überarbeitung seiner Unterlagen gebeten. Die Namen meiner vier Söhne sollten nicht fehlen – Talal, Mustafa, Na’im und Yasser. Meine Jüngste, Jaffa, ist erst neunzehn Monate alt und noch zu klein, ihr Name wurde nicht aufgenommen.
Das Wissen, dass ihre Namen dieses Jahr endlich auch gesungen würden, hatte meine Jungen in große Aufregung versetzt, und in der ersten Ramadan-Nacht schliefen sie kaum vor lauter Erwartung. Die Begeisterung, ihre Namen zu hören, hielt die erste Woche an. Inzwischen stehen sie nicht mehr auf und warten ungeduldig am Fenster. Wenn die Zeit des Suhur gekommen ist, muss ich sie wecken. Na’im fragt schläfrig: »Waren die Musaharatis schon da?« Nein, und ich weiß, dass sie wahrscheinlich nicht mehr kommen, daher hat es keinen Sinn, die Jungen früh aufstehen zu lassen, damit sie sie hören. Aber ich will Na’im nicht beunruhigen, und so sage ich einfach, dass er sie verpasst hat. Noch glaubt er mir.
Es ist Nachmittag, und in den achtzehn Stunden seit Beginn der Angriffe wurden elf Menschen getötet und viele weitere verletzt. Mit jeder Stunde steigt die Zahl der Opfer. Nach dem Aufstehen redeten Hanna und die Kinder ungefähr eine Stunde über den letzten Krieg und unsere Erinnerungen daran. Dieser Krieg ist der dritte, den meine Kinder innerhalb von fünf Jahren erleben. Der Krieg von 2008/2009 kam sogar nach israelischen Maßstäben aus heiterem Himmel. An einem kalten Dezembermorgen hielt ich vor jungen Männern und Frauen am anderen Ende der Stadt eine Vorlesung über Menschenrechte und Demokratie. Das Zentrum für Menschenrechte, in dem ich unterrichtete, ist in der Nähe von Jawazat, Gazas wichtigstem Militär- und Polizeistützpunkt. Dieses Gelände war 2008 einer der ersten Orte im Gazastreifen, der schwer bombardiert wurde. Als wir die Explosion hörten, war ich mitten in einer Vorlesung. Die Studenten begannen zu schreien.
Wir brachen den Unterricht ab und eilten auf das Dach, um zu sehen, was passierte. Ganz Gaza bebte. Überall waren Explosionen zu hören. Rauchsäulen stiegen in den Himmel, wohin man auch sah. Ich wusste, dass Talal und Mustafa in der Schule waren, und Hanna rief mich voller Angst an, damit jemand sie nach Hause brachte. Kurz bevor sie auflegte, hörten wir zu unserer beider Erleichterung die Türklingel. Hanna öffnete und war überglücklich, die zwei Jungen zu sehen, unversehrt. Das geschah am 27. Dezember 2008, und der Krieg dauerte bis zum 18. Januar 2009.
Der nächste Krieg, von den Israelis »Säule der Verteidigung« genannt, brach am 14. November 2012 aus. Gleich in der ersten Offensive wurde, unter anderen, Ahmad Jabari, der Militärchef der Hamas, getötet. Zu dieser Zeit befand ich mich an der Saraya-Kreuzung. Ich ging gerade über die Straße, auf das Karawan-Café zu – mein Lieblingscafé in Gaza-Stadt –, als es eine schwere Explosion in einer der Gassen zwischen der Saraya-Kreuzung und dem Stadtpark gab. Vor diesem Angriff hatte es keine Warnung gegeben. Alle auf der Straße handelten automatisch, erinnerten sich instinktiv, was man im Falle eines Luftangriffs zu tun hat, wo man hinrennen soll. Noch bevor die Rettungskräfte den Ort erreichen konnten, regneten bereits die ersten Geschosse aus F16-Kampfflugzeugen und Drohnen auf den Bezirk nieder.
Wird dieser Krieg anders sein? Keiner kann das sagen. Der Rhythmus der Explosionen letzte Nacht und tagsüber erschien mir schneller als vorher, schwerer. In unseren Unterhaltungen erlaubten wir uns den Luxus einiger Vergleiche. Einer der Unterschiede bisher ist, dass die gegenwärtigen Übergriffe nach und nach kommen – letzte Nacht in Abu Annas’ Haus konnten wir nicht sagen, ob es Krieg war oder nur die Eskalation eines Gewaltausbruchs, ein Handstreich oder ein Schuss vor den Bug.
Die erste Regel in Kriegszeiten lautet: Geh nicht nach draußen. Oder zumindest nur, wenn du musst. Die Kinder dürfen natürlich auf keinen Fall das Haus verlassen.
Meine Schwester Amina hat heute Nachmittag einen Operationstermin im Krankenhaus von Beit Hanun. Auf dem Weg zu ihr höre ich vereinzelte Explosionen im Norden der Stadt und auf der Straße zum Krankenhaus sehe ich am Ufer des Wadis einen Schuttberg. Dort hatte einmal ein Haus gestanden, das im Krieg von 2012 beschädigt und nicht wieder vollständig aufgebaut wurde. Nun hat eine Drohne die Arbeit erledigt.
Zu Hause sagt Hanna mir, dass wir uns mit Vorräten wie Gemüse, Fleisch, Hühnchen eindecken müssen, alle anderen tun dies auch. Also mache ich in Richtung des Markts kehrt. Aber bevor ich den Saftawi-Platz erreiche, kommt Explosionslärm aus nördlicher Richtung. Schutz suchend renne ich unter das Vordach eines nahe gelegenen Gebäudes. Minuten später höre ich das Echo weiterer Explosionen. Nach einer Viertelstunde scheint es vorüber zu sein, und die Stille kehrt zurück. Abgesehen von dem Sirren der Drohnen.
Als ich nach Hause komme, bereiten wir die Mahlzeit für das Fastenbrechen vor. Sogar die Kinder kommen zu Hanna und mir in die Küche, um uns zur Hand zu gehen. Es hilft, sich in Zeiten wie diesen nützlich zu machen. Von den Kindern fasten nur Talal und Mustafa. Und sie sind am Verhungern, können kaum abwarten, bis die Sonne hinterm Horizont verschwunden ist.
Plötzlich sagt Hanna: »Du willst doch nicht etwa nach dem Fastenbrechen bei deinem Vater vorbeigehen?« Tatsächlich hatte ich vor, meinen Vater in seinem Stadtteil zu besuchen. Ich sage ihr, dass ich ihn und die Familie sehen muss, aber Hanna beharrt darauf, es sei zu gefährlich. Ich antworte: »Ganz Gaza ist gefährlich.«
Dienstag, 8. Juli
Den Angriffen wohnt eine eigenartige Ironie inne. Die schwersten Einschlagserien des Rund-um-die-Uhr-Bombardements finden immer genau dann statt, wenn wir die beiden Mahlzeiten – Suhur und Iftar – servieren. Die Attacken geraten außer Kontrolle. Von allen Seiten regnen sie auf uns nieder – es ist wie ein Monsun, vor dem wir gerade geflüchtet sind, um zu essen. Das Gebäude zittert. Der Horizont tanzt im Fenster. Bin ich es, der sich bewegt, oder ist es die Stadt? Explosionen hören wir ununterbrochen, Tag und Nacht, aber wenn wir morgens um halb vier Uhr für Suhur und abends um zwanzig Minuten vor acht für das Iftar decken, kommt es uns vor, als ob eine Fanfare für die Mahlzeiten erklingt. Zu beiden Zeitpunkten ist die Sonne kurz hinter dem Horizont. Die von den roten und blauen Zungen des Feuers gefärbte Dämmerung wird von den Bomben ausgeleuchtet.
Während Hanna und ich an diesem Morgen das Suhur vorbereiten, hören wir Explosionslärm irgendwo ganz in der Nähe. Vermutlich kommt er aus Maqosi, das zum Bezirk Nasser gehört, in dem hohe Gebäude dicht an dicht stehen. Weitere Angriffe. Mustafa wacht von allein auf – die donnernden Geschosse haben das erledigt, was normalerweise die Musaharatis getan hätten. Er weckt seine Brüder, lässt nur Jaffa weiterschlafen. Später hält mich das allgegenwärtige Sirren einer Drohne wach. Mir wird bewusst, wie die Kinder sich bereits der Logik des Krieges angepasst haben. Sie lernen Dinge, die ich vor langer Zeit auch einmal lernen musste.
Am Nachmittag spielen wir alle zusammen Karten, um ein wenig Zeit totzuschlagen.
Anscheinend zielt die Armee nur auf Wohngebäude. Heute haben die F16-Kampfjets nur Häuser beschossen und sie dem Erdboden gleichgemacht. Im östlichen Khan Yunis wurde ein Haus der Familie Abdallah vollständig zerstört. Viele weitere in Gaza und Rafah wurden getroffen. Auch zwei Moscheen. Aber die größte Tragödie an diesem Tag war der Angriff auf die Familie Kawari’ in Khan Yunis. Ein Kampfjet bombardierte das Haus, als die Kinder und Eltern gerade das Fastenbrechen vorbereiteten. Die F16 ließ diese Familie nicht glücklich beisammen sein, sie ihr Leben weiterleben, dem Krieg zum Trotz. Sie hat es beendet.
Im Nordosten von Jabalia, östlich von Beit Lahia unweit des Sheikh-Zayed-Wohnungsbauprojektes, fuhr um sechs Uhr abends ein Mann mit seinem Toktok die Straße entlang und wurde direkt von einer Rakete getroffen. Nicht viel mehr als ein Krater im Boden blieb von ihm übrig. Auch ein junger Mann, der Chips, Schokolade und andere Leckereien an Kinder verkaufte, stellte in den Augen des Drohnenpiloten eine Gefahr für Israel dar und wurde damit zu einem gültigen Ziel. Jeder Einzelne – ob er nun zu Fuß geht, mit einem Fahrrad fährt, mit dem Toktok unterwegs ist oder am Steuer seines Autos sitzt – ist jetzt eine Bedrohung für Israel. Wir alle sind schuldig, bis das Gegenteil bewiesen wird. Aber wie in aller Welt sollen wir das machen? Deine Unschuld kümmert keinen, erwarte das ja nicht. Überleben ist das Einzige, was zählt.
Nach dem Iftar besuche ich meinen Vater. Da er mit dem Ramadan-Abendgebet beschäftigt ist, gehe ich hinüber zu Faraj, den ich seit meiner Kindheit kenne. Er schlägt vor, das Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft zwischen Deutschland und Brasilien bei Ayman anzuschauen. Ayman ist ein großer Fußballfan. Nicht einmal der Dritte Weltkrieg könnte ihn davon abhalten, sich ein so wichtiges Spiel wie dieses anzusehen. Aymans Haus in Jabalia hat nach vorne hinaus ein großes, nahezu unmöbliertes Zimmer mit einem Fernseher. Als wir ankommen, sind bereits mehr als dreißig Menschen dort, wie in einem Café. Mein Sohn Mustafa ist ebenfalls ganz verrückt nach Fußball. Er bittet mich in einer SMS, ihn irgendwohin mitzunehmen, um das Spiel zu sehen. Aber es ist zu gefährlich. Wir beide zusammen wären nicht in der Lage, uns schnell genug zu bewegen, wenn ein Angriff startet. Letzte Woche, noch bevor der Krieg ausgebrochen war, habe ich meine Jungen mitgenommen, um das Achtelfinale zwischen Algerien und Deutschland anzuschauen. In einem großen Café, das an allen vier Wänden das Spiel auf riesigen Plasma-Bildschirmen zeigte, feuerten meine Söhne stundenlang tanzend und schreiend Algerien an. Ich hatte ihnen versprochen, sie zu den Übertragungen der nächsten Runden mitzunehmen: Viertelfinale, Halbfinale … Manche Versprechen darf man brechen.
Nach diesem Spiel, einer 1:7-Niederlage für Brasilien, gehe ich auf dem Weg nach Hause bei Abu Annas vorbei. »Er spielt Schach mit dem Nachbarn.« Zohdi steht im Eingang seines Geschäftes, eine Schere in der Hand. Er beäugt mein langes Haar und bietet mir eine Rasur und einen Schnitt an, gleich hier. Ich lehne ab. »Bis der Krieg zu Ende ist, lasse ich das Haar und den Bart wachsen.« Zohdi lacht und sieht keinerlei Zusammenhang zwischen Krieg und dem Haar eines Mannes. Ich widerspreche grinsend. »Die beiden hängen sehr eng zusammen!«
Zohdi lässt die Schere klappern. »Los!«
»Nein«, sage ich.
Mittwoch, 9. Juli
Es scheint ein längerer Krieg zu werden. Niemand spricht über einen Waffenstillstand. In den vorangegangenen Kriegen begannen die Gespräche über eine Feuerpause innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Heute ist Tag vier, und keiner hat auch nur das Wort in den Mund genommen. In einigen europäischen Städten hat es kleinere Demonstrationen gegeben, aber in der internationalen Politik findet der Krieg keine Erwähnung. Nicht einmal in den arabischen Ländern gab es Kundgebungen, nur die offiziellen Verurteilungen. Worte und Proteste helfen nicht viel, aber sie geben dir das Gefühl, dass jemand da draußen an dich denkt. Man kann nichts tun, zeigt aber, dass das Töten einem nicht egal ist und du das Recht hast, in Frieden zu leben.
»Gehen wir nach dem Ramadan wieder zur Schule?« Mein Sohn Na’im liebt die Schule. Er erzählt mir, wie sehr er seine Klassenkameraden vermisst. Ich weiß nicht, wie er darauf kommt, dass der Krieg so lange dauern könnte. Na’im hat ein schlechtes Gefühl, was den Krieg angeht. Lächelnd versichere ich ihm: »Sei nicht albern, der Krieg endet morgen oder übermorgen, dann ist alles okay.« Er hält dagegen, dass ich immer »morgen« sage, wenn ich gefragt werde, wann es vorbei ist. »Der Krieg wird ganz bald aufhören«, sage ich. »Bald.«
»Bevor die Schule wieder anfängt.«
»Natürlich.«
»Können wir wieder zur Schule gehen, auch wenn der Krieg bis dahin noch nicht zu Ende ist?«
»Mach dir keine Sorgen über den ersten Schultag«, lache ich. Mein Sohn ist ein richtiger Streber. »Es wird dann vorüber sein.«
Ich wünsche mir jemanden, der mir versichert, dass ich mein Kind nicht anlüge, dass ich ihm die Wahrheit sage. Aber niemand kann das, nicht einmal ich selbst.
Letzte Nacht starben sechs Mitglieder der Familie Hamad aus Beit Hanun bei einem Luftangriff1. Darunter zwei Frauen und zwei Kinder. Mein Freund Akram gehört ebenfalls zur Familie Hamad. Als ich versuche, ihn zu erreichen, komme ich nicht durch. Das Mobilfunknetz funktioniert nicht. Während der Drohnenangriffe passiert das oft. Das Netz stört die Kommunikation der Israelis, also schalten sie es einfach ab.
Heute Morgen wurden wir von schweren Einschlägen überall in Saftawi und in Beir al-Na’aja geweckt. Bis mittags waren schon einundzwanzig Personen ums Leben gekommen, unter ihnen ein achtzehn Monate altes Baby namens Nariman Abdel Ghafour2 und der zweieinhalbjährige Mohammad Malake3. Letzterer wurde zusammen mit seiner Mutter getötet, auf deren Schoß er saß. Sie konnte ihn nicht beschützen.
Soll das immer so weitergehen, frage ich mich. Nur wenige Menschen außerhalb Gazas scheint das zu interessieren.
Nachdem die Kinder endlich eingeschlafen sind, sitzen Hanna und ich im Dunkeln. Akram schreibt in einer SMS, dass er dem Schicksal seiner Cousins entkommen ist und sich in Gaza-Stadt in Sicherheit befindet. Normalerweise würden wir jetzt Hannas Ramadan-Lieblingsserie im Fernsehen anschauen, aber wir haben keinen Strom. Eine unserer Hausregeln ist, keine Kerzen anzuzünden. Hanna ist in diesem Punkt sehr streng. Sie möchte nicht aufwachen und ihre Kinder im Feuer sterben sehen, sagt sie. Seit Israel vor sieben Jahren das Elektrizitätswerk in Gaza bombardiert hat, haben Energie- und Treibstoffengpässe wiederholt zu Stromabschaltungen geführt. Katastrophen ereignen sich, weil die Bewohner Gazas sich für mindestens acht Stunden am Tag wieder mit einem Leben wie im 19. Jahrhundert arrangieren mussten. Ganze Familien starben im Schlaf bei durch Kerzen verursachten Wohnungsbränden. Wie viele Familien können wir uns einen Generator leisten, den wir bis vor Kurzem auf dem Balkon untergebracht hatten. Allerdings gab es aufgrund unsachgemäßen Gebrauchs dieser Generatoren viele Unfälle. Man hört erschreckende Geschichten: von Explosionen, von Feuer, von Menschen, die durch einen Stromschlag verstümmelt werden oder ums Leben kommen. Nach einem Jahr beschlossen wir, den Generator nicht mehr zu benutzen. Es war zu gefährlich. Ohne Generator und Kerzen aber müssen wir die Hälfte der Zeit im Dunkeln verbringen. Alles ist jedoch besser als Verbrennungen dritten Grades oder ein Stromschlag.
Das Thema muss ich mit Hanna noch einmal besprechen, damit ich wenigstens nachts für mein Schreiben Kerzen anzünden darf. Nur fürs Schreiben. Aber dann stelle ich mir vor, wie das Papier Feuer fängt, also lasse ich es erst einmal, versuche, mit der Dunkelheit zu leben.
Mangels Fernseher stellen Hanna und ich uns ans Fenster und blicken gemeinsam auf die Stadt hinunter. Finstere Felder in alle Richtungen. Eine Geisterstadt. Die einzigen Lichter sind die der F16-Kampfjets und der Drohnen, die über uns schweben.
Donnerstag, 10. Juli
Gestern Abend, als meine Freunde und ich bei Ayman in Kasasib das zweite Halbfinale zwischen den Niederlanden und Argentinien ansahen, taten andere befreundete Männer das Gleiche in einem Café am Strand von Khan Yunis. Das Café hieß »Sahar al-Layali«, was »die ganze Nacht aufbleiben« bedeutet – nach dem Lied der libanesischen Sängerin Fairuz. Wie wir rauchten sie Shisha, feuerten ihre Lieblingsmannschaft an, beklagten sich über die Fehler der Stars, griffen sich an den Kopf bei Fehlpässen und verpassten Chancen. Kaum vorstellbar, dass sie an den Kampfhubschrauber dachten, der ihnen im Dunkeln auflauerte, oder an die Wut, die er aufbaute, als sie jubelnd und juchzend das Spiel feierten. Kaum möglich, dass sie an seinen Schlund dachten, das gähnende Maul seines Geschützturms, das geifernd nach ihren Seelen verlangte.4
Sechs von ihnen waren sofort tot, vierzehn weitere verstümmelt. Der Sand um das Café herum war von ihrem Blut durchtränkt, das langsam Richtung Meer rann. Die roten Kohlestückchen ihrer Wasserpfeifen flogen erst hoch in die Luft, dann wieder herab, noch immer brennend, wie Sternschnuppen. Bis zum Morgen hatten drei der Schwerverletzten sich zu den Toten gesellt. Das Finale der Weltmeisterschaft sollten sie nicht erleben. Keiner ihrer Lieblingsspieler würde je von ihrem Tod erfahren.
Gegen neun Uhr erwache ich und erfahre aus den Nachrichten, dass während der frühen Morgenstunden über dreißig Menschen getötet wurden. Die Opferzahl steigt stetig. Ein einziger Angriff kostet immer mehr Menschen das Leben. Sie sterben zu fünft, zu siebt, zu neunt. Das Ziel ist nicht der Einzelne, sondern Wohngebäude, Häuser von Familien. Sie werden bombardiert, bis nichts mehr übrig ist.
Mittags lässt eine donnernde Explosion das Haus erbeben. Offensichtlich ist am Saftawi-Platz ein Auto beschossen worden. Drei der Insassen sind tot, der vierte ist lebensgefährlich verletzt.
Hanna, die Kinder und ich wollen das Beste aus den wenigen Stunden machen, in denen wir Strom haben, und wir setzen uns für eine Weile vor den Fernseher und schauen uns Cartoons an. »Sponge Bob Schwammkopf« und »Gumball«. Man muss die Welt draußen vergessen oder zumindest so tun, als hätte man die Gabe der Vergesslichkeit. Nach etwa einer Stunde erschüttert eine Detonation im Osten das Haus, der Blitz erhellt den Raum einen Sekundenbruchteil vor dem Knall. Einen Augenblick später dringt eine dicke Sandwolke durch das Fenster hinter uns ins Wohnzimmer. Offenbar haben sie die Orangenplantage einige Hundert Meter entfernt angegriffen. Die Bäume wurden in die Luft geschleudert und fielen dann übereinander, ein Haufen zerborstener Äste. Als ich mir später den Schaden ansehe, stelle ich fest, dass Tonnen von Sand unterhalb der Plantage fehlen. Ein paar Kilo bedecken nun unseren Fußboden und die Möbel im Wohnzimmer.
Genau so fühlt es sich an: als würden wir uns in einer dahindriftenden Wolke aus Sand befinden. Zentimeter für Zentimeter bewegen wir uns vorwärts, fahrig, sehen nicht einmal einen Meter weit, und wenn wir an einem Haufen Orangenbäume vorbeikommen, die wie Anschlagsopfer versprengt vor unseren Füßen liegen, schätzen wir uns glücklich. Man hat sie mit uns verwechselt. Der Tod ist so nah, dass er uns nicht mehr sieht. Er hält dich für einen Baum, und den Baum für dich. Dankesgebete für diesen seltsamen Nebel, diese Blindheit.
Yasser bittet mich, ihm ein Eis zu kaufen. Er ist sicher, dass die Eisdiele am Saftawi-Platz geöffnet hat. »Sie ist geschlossen«, sage ich.
»Öffnet sie nach dem Iftar?«
Ich hatte den Kindern versprochen, mit ihnen Eis essen zu gehen. Die Eisdielenkette der Familie Abu Zatoun hat eine neue Filiale aufgemacht. Ein weiteres Versprechen, das ich brechen muss. Dann hat Yasser eine Idee. »Gehst du mit uns, wenn die Zanana weg ist?«
»Abgemacht.«
Als ich ihn später zudecke, bin ich sicher, dass er mit gespitzten Ohren lauscht, ob das Sirren der Drohne verschwindet. Er schläft ein, die Eisdiele bleibt geschlossen, die Drohne schwebt über uns.