ARTLIMA
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Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie, Zürich
Umschlagfoto: © Harrison Funk/ZUMA Press/Corbis
Vertrieb durch Friedrich Reinhardt Verlag, Basel
ISBN 978-3-7245-2104-4
ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2089-4
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Für Michael Jackson
(1958–2009)
«Wir sind Brüder, Dieter, wir müssen zusammenhalten, lass nicht zu, dass das System sich zwischen uns drängt.»1
Michael Jackson
Talent ist eine Sache, die Gott nur wenigen Auserwählten auf dieser Welt verleiht. Mein Sohn Michael gehörte mit seiner aussergewöhnlichen Begabung zu jenen Auserwählten und ihm war stets bewusst, dass dies zugleich eine grosse Verpflichtung war. Darum war er ständig darum bemüht, mit dem kreativen Talent, das ihm gegeben war, möglichst viele Menschen zu berühren.
Ich danke dir, Dieter, dass du uns an diesen wunderbaren Geschichten teilhaben lässt, in denen wir erfahren, wie Michael als Mensch war. Und ich bedanke mich dafür, dass du der Welt von den zahlreichen Projekten erzählst, die er ins Leben rief, Plänen, die vielen Leuten bisher unbekannt waren.
Die Musik, die er schrieb, die Bilder, die er malte, die Gebäude und Anlagen, die er mitgestaltete – sie alle sind sein persönliches Geschenk an uns, damit wir den Geist der Liebe, des Friedens, der Toleranz und der Unbeschwertheit weiterverbreiten können.
Ich danke dir, dass du der Welt zeigst, was für ein liebenswertes und feines Wesen mein Sohn hatte. Im Namen der Millionen Fans auf der ganzen Welt und im Namen unserer Familie danke ich dir. Wir vermissen ihn von Herzen.
Katherine Jackson
Über Michael Jackson wurde endlos viel gesagt und geschrieben. Manches davon entspricht der Wahrheit, anderes nicht. Während etlicher Jahre seiner wichtigsten Schaffensphase hatte ich das Glück, nicht nur sein Manager zu sein, sondern auch engster Vertrauter und Freund. Ich wohnte bei ihm auf der legendären Neverland Ranch und begleitete ihn bei über 120 Konzerten auf allen Kontinenten. Mit diesem Buch möchte ich das Bild, das die Öffentlichkeit von Michael Jackson hat, korrigieren, ergänzen und zurechtrücken. Dies empfinde ich als meine Aufgabe und Schuld ihm gegenüber. Michael war so anders, als er häufig dargestellt wird, und es gibt noch so viel über ihn zu berichten. Er war witzig und liebenswert, machte Spässe und hielt mich zum Narren – dann wiederum wandte er sich plötzlich an mich, getrieben von Angst und Verzweiflung.
Was viele nicht wissen: Michael Jackson stand ab dem Jahr 2000 vor einem grossen Umbruch in seinem Leben und Schaffen, und er hat mir seine Absichten, konkreten Pläne und Geheimnisse – häufig in nächtlichen Gesprächen und Telefonaten – anvertraut. Dieses Buch soll den «wahren» Michael Jackson zeigen und einen Einblick in das Leben eines der faszinierendsten Popstars unserer Zeit gewähren. Ein Leben, in dem sich Michael Jackson irgendwann selbst verlor und zum Opfer derer wurde, denen er glaubte, vertrauen zu können. Ein Leben, das viel zu früh zu Ende war. Als Künstler stand Michael Jackson kurz davor, sich noch einmal komplett neu zu erfinden, als Mensch war er den Erwartungen, die auf ihm lasteten, irgendwann einfach nicht mehr gewachsen. Die Nachricht von seinem Tod am 25. Juni 2009 schockte die Welt. Was wäre aus Michael Jackson geworden, hätte man ihn nur einmal sich selbst sein lassen? Ich habe das unfassbare Glück, Michael Jackson tatsächlich gekannt zu haben, und vermisse ihn sehr. Als Freund, als Mensch, als Star. Hiermit möchte ich der Welt noch einmal die Möglichkeit geben, Michael neu zu entdecken und mit ganz anderen Augen zu sehen. Hautnah.
Dieter Wiesner
Sein Anwesen war ein Traum, abgesehen von diesen Krokodilen. Es war heiss, und ein tiefblauer, kalifornischer Himmel spannte sich wie ein riesiges, schützendes Dach über die Weiten der Neverland Ranch. Es herrschte eine Stille, die vom gelegentlichen, leisen Geflatter einiger Vögel und ihrem Gezwitscher, von einer einsam zirpenden Grille und dem rhythmisch zuckenden Geräusch eines entfernten Rasensprengers nicht gestört, sondern eher bestätigt wurde.
Michael kam über eine unendlich weite Wiese gelaufen und wirkte aus der Entfernung zuerst winzig, bis seine Gestalt allmählich immer näher kam und grösser wurde. Er trug ein offenes rotes Hemd, ein weisses T-Shirt darunter und eine schwarze Hose. Die Hitze war erträglich, weil ein sanfter Wind durch das Santa Ynez Valley blies und kühle Wasserpartikel der Rasensprenger mit sich trug und ringsum verteilte wie ein Zerstäuber. Michaels Haare und sein Hemd wehten in diesem feuchten Wind, sein Gang war schnell, elastisch und sportlich, manchmal für einen Moment von einem tänzelnden Sprung unterbrochen. Er blickte in verschiedene Richtungen, er lächelte, er hatte beste Laune an diesem traumhaften Sommertag. Er war in seinem Reich. Er war bei sich.
Plötzlich stand er vor mir, verschränkte die Arme auf dem Rücken, schaute erst mich an, dann hoch zum Himmel und grüsste mich lachend mit seinem unnachahmlichen «Hi, Dieter!» und fügte hinzu: «God bless you! You’re looking fine! Oh, what a wonderful day!» Er hatte gemerkt, dass ich ganz schön Farbe im Gesicht bekommen hatte, und ich erzählte ihm, dass ich den Mittag über oben auf einem der Berge von Neverland, wo dicke Felsbrocken lagen, lange in der Sonne gesessen hatte, um nachzudenken. Er sah an mir herunter, zeigte auf meine Beine, riss die Augen auf und rief entsetzt: «Like this??? What are you doing?» Er legte mir eine Hand auf die Schulter: «Are you crazy? Are you nuts???» Ihm war aufgefallen, dass ich barfuss und in Sporthosen vor ihm stand. Die Neverland Ranch wurde in den Medien oft als ein Paradies auf Erden beschrieben, was sie gewiss auch war, voller Schmetterlinge, Libellen und Wildblumen. Was Michael aber meinte, das waren die Klapperschlangen und Skorpione, die manchmal unter den Felssteinen hervorkrochen, und es war ihm daher unbegreiflich, dass ich ohne Schuhe unterwegs war.
Er legte die Hände an den Kopf, warnte mich erneut vor den heimtückischen «rattlesnakes» und beschwor mich mit ernster Miene, nie wieder barfuss über die Ranch zu laufen. Auch solche eher gefährlichen Lebewesen gehören zur Schöpfung und haben das Recht auf eine Platzkarte in der Arche Noah, und so liess er sie auch nicht entfernen, sondern betrachtete sie als Teil seines Neverland-Universums. Manchmal hörte man nachts in der Ferne auch Kojoten heulen, seltsame und unheimliche Klagegesänge. Michael verschränkte dann die Arme vor der Brust, machte eine Geste, als habe er Schüttelfrost, und ging zu seinem Sohn und seiner Tochter Prince und Paris, um nach ihnen zu sehen und in ihren Zimmern die Fenster zu schliessen. Auch tagsüber achtete er als Vater darauf, dass er die Kinder im Blick hatte und dass sie sich nicht zu weit entfernten auf dem riesigen Gelände. Denn die Kojoten waren nicht nur nachts aktiv.
Nachdem ich mir Hosen und feste Sportschuhe angezogen hatte, tranken wir im Schatten auf einer Veranda einen Eistee und brachen dann zu einem kleinen Spaziergang über die Ranch auf. Was für ein schöner Nachmittag! So sprachen wir auch weder über neue Projekte noch über sonstige Geschäftsangelegenheiten. An Tagen wie diesem waren auf der Ranch alle Sorgen ausgesperrt, und mir kam es auf einmal so vor, als sei ein wenig müssiggängerische Langeweile eigentlich der grösste Luxus, den sich ein Mensch leisten kann. Verlängert sich das Leben nicht gerade durch jene Momente, in denen man eben nicht genau weiss, was man als Nächstes tut, aus denen alle Hektik verbannt und die Zeit stillzustehen scheint? Wir spazierten an uralten Bäumen vorbei, an dem See mit den schwarzen Schwänen, an einem Pfau, der sein Rad schlug, und näherten uns den Volieren und Freigehegen von Michaels Privatzoo. Wahrscheinlich waren wir instinktiv einfach den schrillen Lauten der Papageien gefolgt. Schliesslich hielten wir und lehnten uns an die hüfthohe Umzäunung des Krokodilgeheges. Als sei man im Dschungel, genoss ich nach der Stille zuvor nun die exotischen Tiergeräusche jeglicher Art und blickte mich nach ihren Verursachern in alle möglichen Richtungen um. Ich fühlte mich wie im Paradies. Doch plötzlich, wie aus heiterem Himmel, sprang Michael – gerade noch ganz ruhig neben mir – mit einem gewaltigen Satz aus dem Stand über den Zaun des Krokodilbeckens, lief zu einer Ecke des Beckens und setzte sich ganz locker auf die Begrenzungsmauer. In fast übermütiger Stimmung lächelte er verschmitzt und beobachtete neugierig die Tiere, die Mitbewohner seines ureigenen Universums. Wie ausgestopfte Präparate lagen sie träge im Wasser, dicke Brocken, um die 1,80 Meter lang. Und genau dort, wo Michael jetzt sass, lag unter ihm ein solches Reptil ganz nah mit dem Kopf an der Mauer. Mir war bei dem Anblick etwas unwohl, aber ich wusste ja nicht, ob er nicht womöglich schon öfter da gesessen und sich mit dem Tier angefreundet hatte. Michaels Beine baumelten an der Begrenzungsmauer knapp über der Wasseroberfläche. Er blickte lange auf den völlig bewegungslosen Riesenburschen, lächelte noch immer und nahm dann eine Handvoll Kieselsteine auf und begann, einzelne von ihnen auf den dicken Panzer des Krokodils zu werfen. Das konnte dem Tier keinesfalls wehtun, wenn es denn überhaupt etwas davon merkte. Die kleinen Steine, die Michael warf, erzeugten ein dumpfes, tiefes und hölzernes Geräusch beim Aufschlagen auf diesem Resonanzkörper, als würde man sie auf einen dicken Baumstamm werfen. Das ging eine Weile so, Michael kicherte, er wollte das Tier necken, wecken und etwas aus der Reserve locken, vielleicht etwas in dem Sinne von: «Wenn ich schon Krokodile habe, dann sollen die doch bitte mal irgendwas Interessantes machen, statt hier ständig reglos rumzuliegen!» Ich musste inzwischen auch schon schmunzeln über seine ausgefallenen Ideen, wollte ihn gleichzeitig aber auch ermahnen: «Michael, be careful! Don’t overdo it …», flüsterte ich und fügte scherzhaft hinzu, dass er seinen Moonwalk ja wohl vergessen könne, wenn er so weitermache. Er wollte nicht hören, die Steine flogen noch immer. Aber nur kurz. Plötzlich brodelte das Wasser und im Bruchteil einer Sekunde schoss das Tier an die Oberfläche. Es riss das Maul mit tiefem Fauchen fast zum 90-Grad-Winkel auf und schnappte nach Michaels Beinen, die er blitzschnell gerade noch hochziehen konnte, bevor die spitzen Zahnreihen in den mächtigen Kiefern des Reptils aufeinanderkrachten mit einem Geräusch, als würde man den Deckel einer schweren Truhe zuknallen. Michael hatte sich rücklings wieder auf die Mauer geschwungen. Auf der stand er nun und – ich fasste es nicht! – bog sich vor Lachen. Er warf seinen Kopf in den Nacken und konnte einfach nicht aufhören. So war er.
Draussen wehte der laue Wind einer stillen Sommernacht. Weniger still war es allerdings in meinem Büro, wo wie jeden Tag die Telefone im Minutentakt klingelten. Die Arbeitsräume liegen am Rand eines Industriegebiets, das abends wie ausgestorben wirkt. In dieser selbst gewählten Abgeschiedenheit arbeite ich nun schon seit Jahren und kann in aller Ruhe bis spät in die Nacht geschäftliche Telefonate führen, wie es die Zeitverschiebung zu den USA erfordert. Vor einer knappen Stunde hatte mich ein guter Bekannter aus L.A. angerufen, um mir mitzuteilen, dass es Michael Jackson gesundheitlich sehr schlecht gehe und sein Leben auf dem Spiel stehe. So makaber es klingt, doch meine erste Reaktion war ein lautes Lachen. Das konnte ja gar nicht sein! Niemals, nicht im Entferntesten, wäre mir der Gedanke gekommen, dass an dieser Nachricht etwas Wahres sein könnte.
Stattdessen vermutete ich, dass diese Mitteilung auf eine mir nur allzu bekannte Taktik Michaels zurückzuführen war: Sich – unter dem Vorwand, gesundheitlich dazu nicht in der Lage zu sein – der anstehenden «This Is It»-Tour zu entziehen. Seit der Ankündigung seiner grossen Abschiedstournee am 5. März in London waren alle Tickets der geplanten Show ausverkauft. Und Michael Jackson stand – als grösster Popstar aller Zeiten – mehr denn je im Fokus der Öffentlichkeit. Am 13. Juli 2009, in nur 18 Tagen, sollte die Tour starten. Nach dem Telefonat war ich mir sicher, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Tournee aufgrund von «Herzproblemen» oder Ähnlichem offiziell abgesagt würde. Für ihn war diese Tour nach meinem Wissen ganz jenseits seiner Vorstellungen, derlei Unternehmungen standen nicht mehr auf seiner Agenda und widerstrebten ihm. Zu zehn Konzerten hatte er sich hinreissen lassen, aber es sollte inzwischen nach dem Wunsch der Veranstalter um 50 Auftritte gehen. So rechnete ich am darauffolgenden Tag mit einer Pressemeldung, die ihn wegen einer «Erkrankung» von all dem vorerst trickreich entbunden hätte.
Doch ich sollte mich irren. Kurz vor Mitternacht erhielt ich einen weiteren Anruf von dem Bekannten, der sich in Michaels Villa aufhielt und mittlerweile genauere Informationen hatte. Etwas Schreckliches sei passiert: Michael ist tot. Das Blut gefror in meinen Adern, denn der Tonfall, mit dem man mir die Nachricht mitteilte, liess keinerlei Zweifel. Ich stand unter Schock und konnte die Tränen nicht zurückhalten. Ich war paralysiert und ausser Stande, das Telefonat fortzusetzen. Gewöhnt daran, jedes auftretende Problem sofort tatkräftig zu lösen, erfüllte mich diesmal grenzenlose Ohnmacht. Wie durch einen Schleier sah ich auf all die Plakate, Fotos und Erinnerungsstücke von Michael Jackson in meinem Büro, die er mir zum Dank für die gemeinsame Arbeit geschenkt hatte. Zeit meines Lebens galt auch ich eher als Einzelgänger und, so behaupteten zumindest manche, im Geschäftsleben als erfahrener Stratege, und dennoch verband mich mit Michael Jackson mehr als nur eine langjährige Geschäftsbeziehung: In dieser Nacht verlor ich einen Freund.
Kaum hatte ich die Nachricht erhalten, ging sie auch schon um die Welt, und innerhalb weniger Minuten konnte ich mich vor Mails und Anrufen nicht mehr retten. Die Lage wurde dramatisch, und es war mir nicht mehr möglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Telefone klingelten im Sekundenabstand, mein Mailaccount brach zusammen, und es war aussichtslos, allen Interviewanfragen gleichzeitig gerecht zu werden. Hinzu kamen die Mails und Anrufe zahlreicher zutiefst geschockter Fans, die die Nachricht von Michael Jacksons Tod weder glauben konnten noch wollten. Ich merkte schnell, wie sehr diese Nachricht die ganze Welt bewegte, wie tief der Schock sass, aber auch welchen Unglauben sein Tod bei vielen die ersten Tage hervorrief. Michael Jackson tot: Das konnte, das durfte nicht sein! Eine Frage jedoch, die mir schon in dieser Nacht immer wieder gestellt wurde, konnte ich eindeutig mit «Nein» beantworten: Nein, Michael Jackson hatte bestimmt keinen Selbstmord begangen. Nicht nur weil Michael seine Kinder über alles liebte, sondern auch weil er sich noch so viel vorgenommen hatte in seinem Leben, ein freiwilliges Ende einfach nicht zu ihm passte. Michael wollte leben.
An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken, immer noch geschockt, überkamen mich auf einmal unzählige Erinnerungen an die gemeinsam verbrachte Zeit: unser erstes Treffen, die stundenlangen Gespräche, die «HIStory»-Tour, all die furchtbaren, aber auch schönen Erlebnisse, die ich mit ihm geteilt hatte. Ich verlor das Zeitgefühl, doch irgendwann – es dämmerte schon – sass ich in meinem Wagen und fuhr durch die menschenleere Landschaft nach Hause.
Am nächsten Morgen offenbarte sich dann das ungeheure Ausmass der Flut an Anfragen und Kondolenzbekundungen aus aller Welt, die über Nacht nicht abgerissen war. Aber nicht nur das: Viele der Fans schienen so geschockt und verzweifelt, dass einige von ihnen sogar drohten, Selbstmord zu begehen. Und selbst heute erreichen mich immer noch unzählige Mails, die Zeugnis ablegen von dem grossen Vakuum, das Michael Jackson hinterlassen hat – die nach dem wahren Michael fragen, die mehr wissen wollen und die die Umstände seines Todes nicht loslassen.
Seit Michaels Tod sind auch die Stimmen seiner notorischen Kritiker verstummt, und verächtliche Bezeichnungen wie «Wacko Jacko» wurden respektvoll wieder durch «King of Pop» ersetzt. Der Todestag von Michael Jackson gehört für viele Menschen zu den kollektiv erlebten Eckdaten, von denen man sagt, die Welt sei danach nie mehr so gewesen wie zuvor. Jeder weiss noch genau, was er zu dem Zeitpunkt, als er die Nachricht erfuhr, gemacht hat und wo er gewesen ist. Jeder hat seine eigene Geschichte zu Michael Jacksons Tod, denn, ob man nun tatsächlich Fan war oder nicht, sein viel zu früher Tod riss eine Lücke in die Musikwelt.
Dem Schock folgte eine Zeit der Lähmung. Die Millionen von Fans, die Mitarbeiter, Freunde und Verwandten von Michael versuchten während der Tage danach in einer stillen, verzweifelten Trauerarbeit überhaupt erst einmal mit der Tatsache seines Todes klarzukommen und sich dessen bewusst zu werden. So sehr auch mich sein Tod mitnahm und beschäftigte, sah ich in den ersten Tagen jedoch davon ab, mich mit seiner Familie in Verbindung zu setzen. Niemand möchte, so gut es auch gemeint sein mag, mit Beileidsbekundungen konfrontiert werden, wenn er selbst noch unter Schock steht.
Erst einige Tage später rief ich Michaels Vater Joe an. Es war ein knappes, leises und trauriges Gespräch mit einem guten Bekannten, den ich als robusten Geschäftsmann kannte, der nie um einen Scherz oder verwegenen Vorschlag verlegen war. Während des Gesprächs wirkte er jedoch auf einmal wie ein gebrochener Mann. Ihm war zu diesem Zeitpunkt noch völlig unklar, wie er und der Rest der Jackson-Familie den Medien gegenüber auftreten sollten, um auf den Tod des mit Abstand bekanntesten und erfolgreichsten Familienmitglieds zu reagieren. Er fragte mich, ob ich zur Trauerfeier nach Los Angeles kommen würde. Ich war mir nicht sicher, doch als danach allmählich klar wurde, welche Dimension die Feier annehmen würde, nahm ich davon Abstand. Am 7. Juli dann fand im Staples Center in Los Angeles der offizielle Abschied von Michael Jackson statt, ehemalige Weggefährten wie Diana Ross, Berry Gordy oder Brooke Shields gaben ihm die letzte Ehre – und nicht zuletzt natürlich auch die Familie. Weltweit verfolgten Millionen von Zuschauern die Abschiedszeremonie am Bildschirm. Auch mich liess sie nicht kalt, dennoch war ich froh, mich später in einem weitaus stilleren Moment von Michael verabschieden zu können.
Mit Joe Jackson stand ich nach Michaels Tod immer wieder in Kontakt, der sich bis heute fortsetzt. Von Vätern, deren Söhne viel zu früh starben, etwa in Kriegen, weiss man, dass sie oft von einem Gefühl der inneren Leere beherrscht werden, indem die normale Generationenabfolge ad absurdum geführt wurde und das eigene Dasein nunmehr sinnlos erscheint. Joseph Jackson jedenfalls, der Vater, beteuert stets, wie sehr er seinen Sohn geliebt hat und liebt – so schwierig ihr Verhältnis zuweilen gewesen sein mag. Irgendwann fragte ich ihn mal nach der schweren Kette um seinen Hals, an der sich ein grosses silbernes Amulett in Form eines Vogels befindet. Die abgesenkten Flügel und die Schwanzfedern unten in der Mitte bilden ein «M». «Das ist Michael …», so die Erklärung zum Schmuck über seinem Herzen, «… mein Sohn!»
Michael Jackson starb zu einem Zeitpunkt, als ihm die Kontrolle über sein eigenes Leben längst entglitten war. Durch trickreiches Handeln des Systems, das ihn umgab, blieb ihm schlicht kein Ausweg mehr, man hatte ihn gezwungen, aufzutreten und die «This Is It»-Tour durchzuführen, er selbst hat auf die Entscheidung keinen Einfluss mehr gehabt. Er war in eine Ecke gedrängt worden, aus der er nicht mehr herauskam.
Ein bekannter Schriftsteller wurde zu seinem 75. Geburtstag einmal gefragt, wie er sich fühle, und er antwortete: «Als ob ich in eine Garage fahre, und die Wand kommt immer näher.» Solch eine Aussage mag in diesem Fall der Unabdingbarkeit des Alters geschuldet sein – der unausweichlich fortschreitenden Zeit, der niemand entkommt. Michaels Zeit jedoch war – biologisch gesehen – noch nicht abgelaufen. Nicht das fortgeschrittene Alter hielt ihn vom Leben ab, sondern ein System aus Interessenvertretern, das sich über die Jahre verselbstständigt hatte und ihm wenig Spielraum für eigene Konzepte und Ideen liess.
Manch einer mag daher denken, der Tod sei eine Erlösung für ihn gewesen – wie manchmal bei unheilbar Kranken – oder der einzig mögliche Ausbruch aus seinem Gefängnis. Meiner Meinung nach jedoch trifft das nicht zu. Die Welt hätte für viele Jahre einen neuen, einen anderen Michael Jackson erleben können. Einen Michael, der nie müde wurde, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln und Kraft aus sich selbst und seinem schier unendlichen Kreativitätspotenzial zu schöpfen.
Noch heute denke ich manchmal: Mensch, ich muss ihn ja anrufen! Um eine Sekunde später zu erkennen, dass dies nie wieder möglich sein wird. Ich war neun Jahre älter als er und einmal bat ich ihn scherzhaft, sollte es einmal so weit sein, doch bitte zu meiner Beerdigung zu kommen. Und was für einen Auflauf und Presserummel es seinetwegen dann wohl in der kleinen, ruhigen Stadt, in der ich wohne, geben würde. Nach einem kurzen Lachen antwortete er darauf sehr ernst: «Please don’t talk about things like this!»
Der Flug von Frankfurt nach L.A. verlief ruhig. Nachdem ich in der Maschine etwas eingedöst war, wurde ich mit der Frage wach, was ich eigentlich hier machte. Richtig, ich war auf dem Weg zu einem aussergewöhnlichen Künstler, dem grössten Popstar der Welt. Nie hätte ich geglaubt, Michael Jackson einmal persönlich zu treffen, und nun stand ich sogar kurz davor, ihm eine von mir mitentwickelte Geschäftsidee zu präsentieren!
Jahrelang war ich im Merchandising-Business aktiv gewesen, hatte mit grossen Unternehmen wie Lufthansa oder Haribo gearbeitet und etliche Vermarktungsideen der Partner erfolgreich umgesetzt. Etwa acht Monate vor diesem Flug nach L.A. war ein Bekannter zu mir gekommen, der bei Red Bull gearbeitet und sich inzwischen auf das Entwickeln neuer Energy Drinks spezialisiert hatte. Das Thema lag Mitte der 1990er-Jahre voll im Trend. Er fragte mich, wie man den von ihm entwickelten neuen Drink optimal vermarkten könnte. Damals hatte ich allerdings noch keine Ahnung von solchen Getränken und ihrem Erfolgspotenzial und äusserste erst mal meine Zweifel. Doch nach mehreren Gesprächen kam uns die zündende Idee: Man müsste den Energy Drink mit einem Popstar in Verbindung bringen. Aber mit wem? Warum nicht gleich mit dem grössten der Welt? Michael Jackson! Doch schon kurz darauf mussten wir lachen, da wir der Idee natürlich keine ernsthaften Chancen einräumten.
Der Drink – aufwendig konzipiert von dem Mitstreiter und der Firma Wild in Heidelberg (Capri Sonne) – hatte einen interessanten Peach Flavor, einen Pfirsichgeschmack, eiskalt getrunken sehr erfrischend und aussergewöhnlich. Es war, ganz dem Zeitgeist entsprechend, ein isotonischer Healthy Drink, und schnell hatten wir den Namen «MJ Mystery Drink» erfunden, in Anklang an die bevorstehende «HIStory»-World-Tour von Michael Jackson. Als Behältnis dachten wir uns schliesslich eine damals besonders trendige Slim-Line-Dose in Gold aus, rot bedruckt: «fresh – cool – magic». Selbst heute noch werden leere Dosen von den Fans teuer gehandelt, es soll sogar noch ungeöffnete geben zum Preis von 800 Dollar, mit einem Inhalt, den man als fast antik bezeichnen kann, 20 Jahre über dem Haltbarkeitsdatum. Nachdem wir das Produkt Sony/USA angeboten und das Schreiben dazu abgeschickt hatten, vergass ich es allerdings nahezu und hielt das Ganze eher für einen Witz. Umso grösser unsere Überraschung, als etwa ein halbes Jahr später eine Einladung von Sony eintraf mit dem Vorschlag, den neuen Drink vor Ort noch einmal richtig zu präsentieren und bei dieser Gelegenheit auch gleich Michael Jackson kennenzulernen. Schliesslich waren es seine Person und sein Name, die für den Drink stehen sollten, und daher war er auch der Erste, den es zu überzeugen galt. Auf dem Flug dachte ich immer wieder, wie merkwürdig es sich doch anfühlt, wenn Träume wahr werden.
Der Kampf um den Künstler und seinen Marktwert war damals sehr gross. Michael Jackson war ein Produkt, mit dem auch jenseits seiner Musik ein riesiges Geschäft zu machen war. Seit Jay Coleman 1983 und 1985 für Michael Jackson die Pepsi-Deals über jeweils fünf und zehn Millionen Dollar verhandelt hatte, stand immer wieder der Bezug des Künstlers zu einem jugendlichen Erfrischungsgetränk im Raum. Colemans Geniestreich bestand darin, die Aura, Frische und Jugendlichkeit des Popstars mit der Marke Pepsi zu assoziieren, was Coca-Cola plötzlich ziemlich alt aussehen liess und Pepsi Millionenumsätze bescherte. Wir hatten für Michael Jackson nun einen neuen, ganz eigenen Drink entwickelt – unabhängig von einem grossen Getränkekonzern. Angesichts des Volumens der Coleman-Deals wusste ich, in welchem Bereich wir uns bewegten.
Doch ich müsste lügen, würde ich behaupten, damals schon ein Fan von Michael Jackson gewesen zu sein. Sicher, wenn ich in den 1980er- oder frühen 1990er-Jahren an einem Sommerabend durch irgendeine Stadt ging, in Europa oder auf einem anderen Kontinent, konnte ich mich der Musik von Michael Jackson nicht entziehen. Ob «Thriller», «Beat it» oder «Billie Jean» – wie Echos hallten seine Songs damals durch die Strassen und Innenstädte, die Musik von Michael Jackson schien der Soundtrack einer ganzen Generation zu sein. Deshalb war er mir ein Begriff, er war ein Phänomen! Ein Fan seiner Musik wurde ich jedoch erst später.
Bei Sony angekommen, mussten wir uns, meine Geschäftspartner und ich, in einer abgeschotteten Büroetage einer seltsamen Prozedur unterziehen. Mit Sicherheitsleuten sollten wir das Aufstehen und Setzen zur Begrüssung des Weltstars üben. Eigentlich kam uns dies ein wenig lächerlich vor, doch wir machten natürlich mit, um uns das Treffen so kurz vor dem Ziel nicht doch noch zu verbauen. Doch noch während wir zum wiederholten Male das Aufstehen übten, ging auf einmal leise die Tür auf und Michael Jackson stand plötzlich mitten im Raum: Michael Jackson direkt vor mir! Der grösste Künstler dieser Welt war kleiner und schmächtiger, als ich erwartet hatte, wirkte dabei aber unglaublich energiegeladen und elastisch. Augenblicklich verstummten wir und blickten nur noch auf ihn. Aufstehen? Setzen? Niemand von uns dachte mehr daran, denn nun war es ohnehin zu spät. Michael Jackson selbst stand ja schon vor uns. Zum Anfassen nah! Später verstand ich, dass sein plötzliches Auftauchen Teil seiner Inszenierung war. Auf der Bühne wie im echten Leben: Michael liebte den Auftritt. Das ausgeklügelte Timing, die eingeübte Choreografie, sein plötzliches Auftauchen aus dem Nichts (nach häufig stundenlanger Warterei) – alles das war für ihn unabdingbarer Teil seines Auftretens und seiner Persönlichkeit in der Öffentlichkeit. Er inszenierte damit eine Aura von Unnahbarkeit, die ihn geheimnisvoll und respektvoll umgab, eine unsichtbare Distanz, die er jedoch durch freundliche Worte sofort wieder durchbrach und so die für die Umstehenden mitunter schier unerträgliche Spannung aus Ehrfurcht und Respekt zu ihrer Erleichterung auflöste.
Michael Jackson trug einen schwarzen Hut, eine Sonnenbrille und schwarze Hosen mit seitlichen Goldbändern, dazu ein schwarzes Hemd, das über der Hose hing. Nach einem Moment der Stille verbeugte er sich respektvoll in unsere Richtung. Auch wir waren topgestylt in dunklen Anzügen mit Krawatte. Er liess sich auf einen Freischwinger sinken, auf dem er nun wie ein Junge auf und ab wippte, die Beine lässig übereinander gelegt, um das Gespräch zu beginnen. Er war überaus nett, sehr schüchtern, beinahe scheu, jedenfalls ganz anders, als ich mir den King of Pop vorgestellt hatte. Er sprach leise und konzentriert und kam gleich zur Sache. Sehr gerne wolle er unseren MJ Mystery Drink sehen. Stolz präsentierten wir also die Dosen mit dem goldglitzernden Design und dem funkelnden Logo. Vom Anblick der Dose schon hellauf begeistert, setzte Michael Jackson an, den eigentlichen Kern des ganzen Projekts, nämlich den Peach-Flavor-Drink selbst, zu testen. Er war gerade dabei, eine Dose zu öffnen, als seine Sicherheitsleute aufsprangen und dies – schneller als wir zwinkern konnten – zu verhindern wussten. Sie nahmen dem Popstar die Dose aus der Hand, gleich so, als versuchten wir damit, einen König zu vergiften. Da musste selbst Michael Jackson lachen, wie bald alle im Raum, denn man war sich der unfreiwilligen Komik durchaus bewusst. Warum sollten wir ausgerechnet die Person vergiften, die einzig und allein für den Erfolg unseres Produkts stehen sollte?
So komisch die Situation auch war, sie gab uns auch einen ersten Eindruck davon, wie sehr der Megastar eigentlich von seiner Umgebung kontrolliert wurde. Viele Dinge entschied er vermutlich schon damals nicht mehr selbst. Mit wem er Geschäfte einging oder sich persönlich traf – sein ganzes Leben wurde von Interessen bestimmt, die nicht immer seine eigenen waren.
Mit der Zusage von Sony, dass das gemeinsame Merchandising-Projekt auf einem guten Weg sei, reisten wir wieder ab. Michael Jackson selbst hatte sich positiv geäussert, obwohl er nicht einmal die Gelegenheit bekommen hatte, den Drink zu probieren.
Der Drink kam dann auch bei einigen Konzerten probehalber in Umlauf, auch bei einer sehr aufwendigen Präsentation in Amsterdam. Letztendlich wurde er aber nie realisiert. Nachdem wir geglaubt hatten, Michael Jackson selbst auf unserer Seite zu haben, waren wir natürlich etwas enttäuscht und frustriert. Selbst ein wunderbares Promotion-Video zu dem Drink gab es schon, gedreht von den in den 1980er- und 1990er-Jahren sehr erfolgreichen «Torpedo Twins» (DoRo-Filmproduktion, Rudi Dolezal und Hannes Rossacher). Für unseren MJ Mystery Drink waren hohe Lizenzgebühren entrichtet worden, damit er über Michael Jackson vermarktet werden konnte, doch Sony entzog sich der angekündigten Unterstützung. Schon da merkte ich, dass der Künstler unter der strengen Kontrolle eines Systems war, das Quereinsteigern jeglichen Zugang strikt untersagte, auch wenn, wie in unserem Fall, bereits Zahlungen geleistet worden waren.
Immerhin: Ich hatte die Bekanntschaft des grössten Popstars aller Zeiten gemacht. Wie viele Menschen konnten das schon von sich behaupten?
Aber sollte dies schon das Ende sein?
Als jemand, der ein Projekt nicht so schnell aufgibt, wartete ich in der Lobby des Hotels Bayerischer Hof, in dem Michael Jackson während eines Besuchs in München untergebracht worden war. Ich hatte es geschafft, einige Male mit seinem Sicherheitschef zu telefonieren, der mir dabei half, ein zweites Treffen zu arrangieren. Eigentlich war jeder Kontakt zwischen Aussenstehenden und dem Star strikt verboten, doch nach etwa zehn Minuten holte mich Wayne Nagin, der Sicherheitschef, ab und brachte mich in Michaels Suite. Ich nahm auf einer Couch Platz und wartete eine knappe halbe Stunde, bis er nach einigen Telefonaten, die er geführt hatte, ganz entspannt zu mir in den Raum kam. Und wieder machte er einen äusserst höflichen und zuvorkommenden Eindruck. Wir setzten uns, und nun hatte er erstmals die Gelegenheit, einen Schluck von dem Gesundheitselixier zu probieren. Mit einem grossem «Wow!!!» war er sofort begeistert. Der Pfirsichgeschmack traf voll seinen Nerv. Ich erzählte ihm davon, dass Sony unser Team nicht dabei unterstützte, den MJ Mystery Drink auf den Weg zu bringen, und wie Quereinsteiger offenbar komplett abgeblockt würden. Er machte mir deutlich, dass er wisse, was sich hinter den Kulissen abspiele, und ich hatte bald den Eindruck, dass er mir helfen wollte.
Wir sprachen fast drei Stunden über alles Mögliche, und allmählich spielte der Drink schon fast keine Rolle mehr. Ein Thema kam zum anderen. In wenigen Monaten, am 7. September 1996, sollte in Prag die grosse «HIStory»-World-Tour starten, mit der er ein gutes Jahr lang weltweit unterwegs sein würde. Schliesslich schlug er vor, ich solle doch einfach mitkommen und ihn begleiten. Er meinte es ganz ernst, er lud mich ein. Als ich Stunden später den «Bayerischen Hof» verliess, lief ich erst mal etwas ziellos durch die Strassen in der Nähe des Münchner Hauptbahnhofs. Ich wusste nicht so ganz, wie mir geschehen war, und fühlte mich etwas benommen, aber auch sehr glücklich. Menschen kamen mir entgegen, doch ich nahm sie kaum wahr. Wenn sie nur wüssten! Noch vor wenigen Minuten hatte ich mit dem grössten Popstar aller Zeiten zusammengesessen und nun würde ich ihn sogar auf seiner Tournee begleiten. Doch niemand nahm von mir Notiz, wieso auch? Man konnte mir mein Erlebnis natürlich nicht ansehen, innerlich aber herrschte in mir eine Art Ausnahmezustand. Unbewusst spürte ich vermutlich, wie sehr die Begegnung mit Michael Jackson mein Leben verändern würde.
Die Antonov älterer sowjetischer Bauart, die ich mir auf einem der unzähligen Flughäfen, die wir während der Tour anflogen, näher anschaute, war das grösste Propeller-Transportflugzeug der Welt, ein absoluter Gigant der Lüfte mit einem maximalen Startgewicht von 250 Tonnen. Abgefedert von 14 Rädern direkt unter dem Rumpf, lag sie auf der Parking Position wie ein fetter gestrandeter Wal. Auf diesen Moby Dick könnten Käpt’n Ahab und seine Männer ihre Harpunen werfen, dachte ich, aber wie sollte so ein Ding jemals fliegen?
Ein weiteres Konzert lag hinter uns, gigantisch erfolgreich wie immer. Es war schon dunkel und regnete leicht, die riesige Öffnung unter dem hochgeklappten Bug der Maschine stand weit offen, eine breite Rampe war ausgefahren, und es drang ein geheimnisvolles Licht aus ihrem unersättlichen Bauch. Hier passten wahrscheinlich ganze Hubschrauber und Panzer hinein. Ständig fuhren grosse und kleinere Trucks heran, und die Roadies verluden Stück für Stück Michael Jacksons Tournee-Bühne in das gefrässige Monster, die Bretter, die die Welt bedeuten. Die Kulissen und Aufbauten, die ganze Akustiktechnik, die Lichtarchitektur und die Effektmaschinerie, die Garderoben, die Instrumente, das komplette Equipment: das Reisegepäck eines Megastars. Die Antonov war gross wie ein Haus, und dieser flugtechnische Superlativ wurde für den beinahe schmächtigen, aber athletischen Michael zum Dauereinsatz gebracht – ein Kontrast, wie man meinen könnte. Doch Michael selbst war dies ja auch: ein Superlativ! Seine Tour bewegte nicht nur die grössten Flugzeuge, sie bewegte die ganze Welt.
Michael Jacksons «HIStory»-World-Tour erstreckte sich über fünf Kontinente und wurde zu einer Tour der Superlative: 82 Konzerte in 35 Ländern. Mit 4,5 Millionen Besuchern und Einnahmen von 165 Millionen Dollar war sie eine der bis dato wirtschaftlich erfolgreichsten Tourneen überhaupt. Michael brach damit sogar seinen eigenen Rekord der «Bad»-World-Tour, die zehn Jahre zuvor, 1987, gestartet war. Und damit es an weiteren Superlativen nicht mangelte, hatte man für die Tour gleich zwei dieser russischen Riesenflugzeuge angemietet. Während die Antonov 2 hier beladen wurde, war die Antonov 1 – mit exakt gleicher Bühne und gleichem Equipment – bereits auf dem Weg von der vorherigen zur nächsten Tour-Location, und die soeben fertig beladene Antonov 2 flog schon den übernächsten Ort an, während Michael mit einer extra für die Tour angemieteten Boeing 737 hinter der Antonov 1 herflog. Michaels Tour-Mitarbeiter bewältigten Tag für Tag eine Irrsinnslogistik.
An diesem Abend sah ich zum ersten Mal eine der Antonovs abheben und fand, es sah einfach plump aus. Das monströse Frachtschiff schien sich kaum vom Boden lösen zu können, und als es endlich in der Luft war, befürchtete ich, es würde gleich wieder durchsacken. Doch schliesslich schaffte es der Koloss unter ohrenbetäubendem Lärm weiter hinauf.