Torsten Reters
Das geheimnisvolle 1x1
der Lebenskunst
Oder: Warum Vegetarier keine
Currywurst essen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für Niklas
ISBN 978-3-89733-370-3
© 2015 projekt verlag, Bochum/Freiburg
www.projektverlag.de
Umschlaggestaltung und Titelei unter Verwendung dreier Illustrationen von
Marc Westermann (www.flexe.de).
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
Cover
Titel
Impressum
„Warum Vegetarier keine Currywurst essen?“ Das 1 x 1 der Lebenskunst
I. „Life is live!“ – Über das Unberechenbare des Lebens und wie man ihm (nicht) entgegen treten sollte!
1. „Wehe, du kennst Luhmann nicht!“ Über Komplexität, Kontingenz und Regelfragen
2. „Was gegen Außerirdische hilft!“: Humor und Wahrscheinlichkeitsrechnung
3. „Glücklich sein – und was hast du schon davon?“ – Über Glückspilze und Pechvögel
4. Wenn du etwas suchst, das es nicht gibt, wirst du es nicht finden!
5. Entdecke die Kraft des Nicht-Bedenkens!
II. „Wie du den Krisen des Lebens tapfer begegnen kannst!“ – Psychologische und philosophische Tipps für schwierige Lagen
1. D.R.A.M.A: das ultimative Krisen-Tool
2. Wenn positive Erwartungen zerbrechen: Krise und Krisenbewältigung
3. „Wie man dunkle Zeiten übersteht!“ Der Krisenerfahrung Sinn geben!
4. Lerne, selbstbestimmt zu leben!
5. Wie du deine Ängste besiegst und das Lächeln Gottes gewinnst!
III. „Mieses Karma?“ – Folge dem mittleren Weg des Buddha
1. Warum ein Mann Frau und Kind verlässt und zum spirituellen Meister wird?
2. Dich gibt es gar nicht! Die Illusion des Ich und die vier edlen Wahrheiten vom Leiden
3. Weder als „Bettler“ noch als „König“! Über den Weg der Mitte zur Gelassenheit
4. „Was ist ein Elefant?“ Über die rechte Art zu denken
5. „Wie benehme ich mich auf dem Weg ins Kloster?“ Oder: Die rechte Art zu handeln
6. Mit der richtigen Spiritualität ins Nirwana
7. „Welches Geräusch macht ein Sonnenuntergang?“ Die Weisheiten des Zen
8. „Wenn dich dein Nachbar einmal nicht grüßt!“ Buddhistische Ethik für den Alltag
IV. „Wie du es mühelos schaffst, dir dein Leben (nicht) schwerer zu machen als nötig!“ – Eine humorvolle Pannenstrategie für den Alltag
1. Vom Esel zur Schwiegermutter: Die Idee der Kurzzeittherapie
2. Es gibt kein Entrinnen: Ehepaare im „Gefängnis“ der Kommunikation
3. „Ich verstehe dich nicht!“: Über flirtende Ehemänner, eifersüchtige Gattinnen, „Kommunikationsbomben“ sowie die Unschärfe in Sprache und Wahrnehmung
4. „Was einen Mann in den Wahnsinn treibt!“ Inhalts- und Beziehungsebene mischen
5. „Wie aus Mücken Elefanten werden!“ Kommunikation als „Problem-Speicher“
6. „Sich selbst treu bleiben!“ oder „Ich weiß auch nicht so recht!“ – Zwei bewährte Katastrophenrezepte
7. Die Lösung ist das Problem! (Teil 1): Die Grübel-Falle
8. Die Lösung ist das Problem! (Teil 2): Patentlösungen und andere Irrtümer
9. Wie ein Problem erdacht wird! Zur Selbstkonstruktion von Schwierigkeiten
10. Unheilvolle Wegweiser: individuelle und familiäre Orientierungsmuster
11. Wie man den Knoten lösen kann! Über kecke Arzthelferinnen und die Tools der Systemischen Psychologie
V. Wie (sich) unsere Liebe gelingt! Tipps für Flirt und Partnerschaft
1. Liebe ist: jemanden mühevoll als Lebenspartner zu suchen und es dann länger als 14 Tage mit ihm auszuhalten!
2. Warum zwei Trottel (wie wir) zueinanderfinden? Über Bindungshormone, psychische Prägungen, kulturelle Muster und Kommunikation
3. Wie aus Fremden Vertraute werden! Die Kontaktstrategien des Bewusstseins
4. Flirten – aber wie? Die ultimativen Tipps für unverbesserliche Neurotiker
5. Wie wir die Phasen der Zweisamkeit und die Prüfungen unserer Liebe erkennen!
6. „Wie man es miteinander schafft, ohne sich zu schaffen!“ Über das ultimative 1x1 der gelingenden Partnerschaft
7. „Sanfter Auftakt statt Gummiknüppel!“: Die Kunst des konstruktiven Gesprächs
8. „Let´s talk about sex!“: Wie die Lust nicht zum Frust wird!
9. „Niemals gemeinsam zu IKEA!“ Oder: Das „blaue“ Wunder der Liebe erleben
VI. „How to find true love and happyness and a perfect world!“ – Wege zur Zufriedenheit aus Philosophie, Glücksforschung und Positiver Psychologie
1. Jung, schön, gesund und reich! Das innere und das äußere Meer des antiken Glücks
2. „Lebe bescheiden, sinnlich und gerecht!“ – Die Lehren der Griechen und Römer
3. „Mach es wie ein Pinguin!“ Die „Glücksbringer“ der Positiven Psychologie
4. „Wo das Glück wohnt!“ Zufriedenheit im Ländervergleich
5. „Je besser es dir geht, je schlechter fühlst du dich!“ Über das „Fortschrittsparadox“
6. „Besser Pizza im Palazzo als geschieden im Ghetto!“ Das Umfeld bestimmt das Lebensglück!
7. „Entdecke die Zufriedenheit, die kein Geld kostet!“ Über die Ordnung des Bewusstseins und das „Flow“-Gefühl
8. „Denke an Sex im Himmel oder Droschken im Nebel!“ Sinn- und Transzendenzerleben machen glücklich!
VII. „Die Kunst, sich frei zu machen!“ – Der Kampf gegen die Zwänge einer kranken Gesellschaft!
1. Das Zufriedenheitsproblem: Anpassung macht dich krank!
2. „Haben oder Sein“ – Gelingendes Leben als Frage deines Charakters
3. „Erkenne den großen Schwindel!“ Über das Gewahr-Werden
4. „Tief durchatmen und dann auf die Couch!“ Meditation und Selbstanalyse“
5. „Wie man es schafft, ein Schnitzel zu bestellen!“ Die Psychoanalyse als Weg zur Selbsterkenntnis
6. „Wer keine Currywurst mag, sollte sein Unbewusstes kennen!“
7. „Du bist deines Glückes Schmidt!“ – Die eigene Einstellung zählt
8. „Entwickele deine Persönlichkeit!“ – Der Weg zum „freien Helden“
9. „Wie du zu einem ,neuen Menschen‘ werden kannst!“
VIII. „Money, Money, Money!“ Über Macht und Ohnmacht des Geldes
1. „Es wird gezockt!“ Kartentisch und Börse
2. „Was kostet die Welt?“ Wirtschaft als Teilsystem der Gesellschaft
3. Kredite machen dich reich oder kosten dein Leben! Über Geld, Opfer, Schuld(en) und Lebensenergie
4. Der „Homo oeconomicus“: Der Teufel unter dem Zylinder des Fortschritts
5. „Was du aus den Kreditgeschäften der Kellner lernen kannst!“ Über Preise und Risikomanagement
6. „Wem es an den Kragen geht, der neigt zum Betrug!“ Kriminelle Energie und falsches Spiel
7. Wenn etwas schief geht: Sicherheitsrituale, Sündenböcke und Menschenopfer
8. Wie man mit Geld und Schulden entspannter umgeht! Über Kreditwürdigkeit und produktives Tätig-Sein
9. Zurück zum Kartentisch: Gute Wirtschaft – böse Wirtschaft
IX. „Versuch’s mal mit Gemütlichkeit!“ Über die Zeit-Hölle einer „verkehrten“ Work-Life-Balance und wie man ihr entkommt
1. Entdecke das große Geheimnis der Zeit!
2. „Hüte dich vor den grauen Herren!“ Die Falle der Effizienz und der Wert der Arbeit
3. Die berufliche Zeitfalle: Die geliebte neue Arbeitswelt und ihre fleißigen Bewohner
4. Die private Zeitfalle: Die Schufterei in der „emanzipierteffizienten“ Familie
5. Der Zeitfalle entgehen: Selbst-Beschränkung statt Effizienzsteigerung!
6. Wie man die grauen Herren bezwingt: Mit neuem Bewusstsein gegen die verkehrte Welt!
X. „Wie man die Dämonen des Kapitalismus besiegt, um seine Seele zu retten!“
1. Warum sich der kleine Erich seines fleißigen Vaters schämte!
2. Die bösen Geister des Protestantismus und der Kreuzzug der Workaholics
3. „Oh Herr, befähige mich früh aufzustehen!“ – Persönliche und gesellschaftliche Widerstände gegen die neue Arbeitsmoral
4. Wie deine Seele kapitalistisch verdreht wird!
5. Gefangen in der Tretmühle entfremdeter Arbeit
6. Über die Kunst der Verweigerung und die optimale Ausnutzung der Ausnutzer
7. Gesunde Alternativen: Punk-Kommune, Arbeitslosigkeit, Revolution und innere Freiheit
XI. „Wie du ein kreatives Faultier wirst!“! Das kleine 1 x 1 des Savoir-vivre
1. Der ewige Dschihad: „Müßiggänger“ gegen „Plagegeister“
2. „Ich liege, also bin ich!“ – Über Kreativität und Untätigkeit
3. „Lass uns faul sein!“ – Ein Aufruf zum Müßiggang
4. Rituale der Lebenskunst
5. „Wer kein Geld hat, muss es auch nicht ausgeben!“ Über den Lebensgenuss fernab von Konsum, Sklavenarbeit und Askese
6. „Überwinde die Angst vor der Freiheit!“ Werde „halber“ Kapitalist!
7. „Wie du zu deinem eigenen Gottvater wirst!“ Ein Benimm-Knigge für kreative Faultiere
XII. „As time goes by!“ – Ein Epilog über Freude und Vergänglichkeit
1. Wer immer in deiner Nähe ist? Der Tod als Ratgeber
2. Nichts hat Bestand? Kohelet und die Vergänglichkeit als Fundament des Lebens
3. „We all shine on!“ Oder: Warum du schon das ewige Leben hast!
4. Wie man angesichts des Todes gelassen bleibt!
XIII. Quellenangaben
Weitere Bücher
Der Philosoph Sokrates wurde einmal von einem jungen Mann gefragt, ob er das Fräulein XY heiraten solle. Und der weise Denker antwortete ihm gelassen: „Ach, es ist egal, wie du dich entscheidest! Du wirst es sowieso bereuen!
Mit dem verzweifelten Anliegen des jungen Atheners, angesichts möglicher Alternativen auf dem Weg des Lebens nichts falsch machen zu wollen, und der illustren Antwort eines weisen Querdenkers sind wir inmitten der Fragestellung dieses Buches: Wie kann das Leben angesichts seiner Unwägbarkeit gelingen? Welche Entscheidungen und Daseinsmuster führen ins Glück und welche ins Unglück? Oder weniger philosophisch: Warum essen Vegetarier keine Currywurst? Das Leben nötigt Menschen zur Auswahl aus einem Pool von Alternativen, um überhaupt existieren zu können: Esse ich Currywurst oder nicht? Das ist die Frage! Und wer nicht bewusst entscheidet, den „platziert“ das Leben. Dieser Zwang zur „Reduktion von Komplexität“ (Luhmann) konfrontiert uns mit der Kontingenz des Daseins: 1. Festlegungen geben unserem Leben Sinn, Halt und Orientierung. 2. Alle Fixierungen wären auch anders möglich gewesen. 3. Die Möglichkeit der günstigsten Festlegung kann verpasst werden. Das bedeutet Risiko:
Eingefleischten Veganern muss diesbezüglich gesagt werden, dass ihre Ernährungsweise die Gefahr heraufbeschwört, trotz einer Überfülle von Restaurants in unseren Großstädten, dennoch verhungern zu können! Und auch die Suche nach schwarzen T-Shirts bleibt trotz einer Überfülle des Warenangebotes erfolglos, wenn diese nur von einer bestimmten Marke sein dürfen! Und: wer sich zu gesundheitsbewusst ernährt, gefährdet ernsthaft seine Gesundheit!
Über den Umgang mit derart stilisierten Selbstbeschränkungen lässt sich die Genese von Malaisen ebenso erklären wie die Chance der Einführung von neuen Möglichkeiten zu ihrer Behebung.
Nach eingehendem psychoanalytischen „Thora-Pheutikum“ war der Jude Erich Fromm locker in der Lage, eine lecker duftende Bratwurst zu verspeisen, obwohl diese nach dem Verständnis orthodoxer Reinheitsvorschriften nicht „koscher“ ist. Fromm gelang es, seine psychischen und kulturellen Orientierungen bezüglich des Essens neu zu kalibrieren, ohne dass er von der philosophischen Weisheit des Judentums Abstand nehmen musste. Richard Wagner bezeichnete sich selbst als Vegetarier, obwohl er niemals auf ein knuspriges Steak verzichtet haben soll. Der Kapitalismuskritiker Karl Marx erzielte einen wesentlichen Teil seiner Einkünfte über Aktienspekulationen. Ähnlich weise sind die Studenten Berlins: Bei ihnen erfreut sich eine Currywurst großer Beliebtheit, die aus vegan ernährten Schweinen hergestellt wird: Die Viecher werden ausschließlich mit Öko-Äpfeln gefüttert.
In diesem illustren Sinne geht es um Wege zum seelischen Wohlsein angesichts der Kontingenz des Lebens und den daraus erwachsenden Tretmühlen. Wir entdecken, was in schwierigen Lagen helfen kann und wie sich aus elegant-humorvollen Problemlösungen eine buddhistische Gelassenheit entwickelt. Dazu erkunden wir das Wunder der Zweisamkeit und die Wonnen spiritueller Glückserfahrungen. Wir lernen nicht nur, wie die kapitalistische Konsum- und Arbeitsgesellschaft funktioniert, sondern auch, wie man sich von ihren Zwängen befreit und selbige zum eigenen Vorteil nutzt. Künstler wie Bryan Ferry wissen, wie das geht. In „Streetlife“(1973) weist Ferry uns die Richtung:
“education is an important key
but the good life’s never won by degrees
pointless passing through Harvard or Yale
only window shopping – and strictly no sale.”
Am Ende wissen wir, wie man es schafft, optimistisch und mit Genuss zu leben und sogar dem Tod entspannt und ohne Angst zu begegnen. Selbst auf dem Sterbebett verließ Torbergs „Tante Jolesch“ nicht der Humor, als ihre Lieblingsnichte – tränenreich und mit „verschnürter Kehle“ – mit folgender Bitte an sie herantrat:
„,Tante – ins Grab kannst du das Rezept ja doch nicht mitnehmen (…). Willst du uns nicht endlich sagen, wieso deine Krautfleckerln immer so gut waren?‘
Die Tante Jolesch richtete sich mit letzter Kraft ein wenig auf: ,Weil ich nie genug gemacht hab …‘ Sprach’s, lächelte und verschied.“
Mithilfe humoriger Anekdoten, philosophischer und wissenschaftlicher Reflexionen entfaltet das Buch seine „humorvolle Spiritualität“ mit praktischen Tipps für den Alltag – ganz im Geiste von „Marge Simpson als Seelsorgerin“:
„Moe: ,Ich habe meinen Lebenswillen verloren.‘
Marge: ,Aber das ist doch absolut lächerlich, Moe. Sie haben so viel, wofür es sich lohnt zu leben.‘
Moe: ,Wirklich? So was Nettes hat mir Reverend Lovejoy noch nie gesagt (…). Danke.“
Mein Dankeschön gilt Fred Pusch (Projekt Verlag), Marc Westermann („N.Achtbar“-Bilder) und Thorsten Trelenberg (Lyrik), die mir hilfreich zur Seite standen, um dieses Projekt gelingen zu lassen.
Torsten RetersSchwerte, im April 2015
Stell dir vor: Da war ein Mann, der saß glücklich und zufrieden im Kaffeehaus, bis er eines Tages die fatale Eingebung hatte, sich zu fragen, ob es gut für ihn sei, gerade jetzt im Café zu sitzen. Schließlich gab es Alternativen, um seine Zeit möglicherweise sinnvoller zu nutzen: Er könnte seiner Frau beispielsweise im Haushalt helfen, ein Manuskript für seinen Arbeitgeber zu Ende bringen, den Streit mit der Schwiegermutter schlichten oder sich um den Erwerb einer neuen Immobilie kümmern. Im Anschluss stellte er sich die für ihn katastrophale Frage, ob das Leben feststehende Regeln hätte, auf die sich Entscheidungen mit Sicherheit bauen ließen. Er wollte erfahren, ob es eine vom Menschen unabhängige Regelhaftigkeit gäbe, die – angesichts anderer Lösungsmöglichkeiten – zum Glück führt und ärgerliche Situationen zu vermeiden hilft. Offensichtlich hat er niemals Niklas Luhmanns „Soziale Systeme“ gelesen. Darin hätte er eine erste Antwort in der rätselhaften Sprache des soziologischen „Meisters aus Bielefeld“ finden können:
„Komplexität (…) heißt Selektionszwang, Selektionszwang heißt Kontingenz, und Kontingenz heißt: Risiko. (…) Die Selektion placiert (…) die Elemente, obwohl für diese andere Relationierungen möglich wären. Dieses ,auch anders möglich sein‘ (…) gibt zugleich den Hinweis auf die Möglichkeit des Verfehlens der günstigsten Formung.“
Von der Lehre des Konstruktivismus hatte der Mann keine Ahnung. Paul Watzlawick hätte ihm (in: „Vom Schlechten des Guten“) erklärt, dass jedes Lebewesen Konstrukteur seiner eigenen Wirklichkeit ist – und damit seine Glücks- und Unglückserlebnisse selber kreiert. Erst ein Scheitern der Vorstellungen, Anschauungen und Ideale in der Realität zeigt, dass die Wirklichkeit falsch erfasst wurde: Steuert ein Kapitän ein Schiff – ohne Radaranlage – durch ein unbekanntes Gewässer mit gefährlichen Untiefen und Minen, hätte ihm nur der Untergang offenbaren können, dass sein Kurs (= seine Anschauung von der Welt) „falsch“ gewählt war. Kommt er mit dem Boot durch, weiß er noch lange nicht, wie nah er an möglichen Gefahren vorbeigefahren war.
Wäre unser Freund bloß nicht auf die Idee gekommen, sich der Regel-Frage zu widmen. Fortan war es vorbei mit seiner Zufriedenheit. Es ging ihm wie dem Tausendfüßler, den die kecke Küchenschabe einmal fragte, wie er es schaffe, seine tausend Beine in derartiger Harmonie und Vollendung zu bewegen. Der Tausendfüßler überlegte, fiel auf die Nase – und war fortan nicht mehr in der Lage sich fortzubewegen. Ein „Landei“ sinnt, wie man es nur schaffen könne, auf den mehrspurigen Verkehrsringen unserer Großstädte unfallfrei zu fahren.
Die Systemische Psychologie hält für solche Fälle „So-tun-als-ob-Verschreibungen“ parat: „Lieber Tausendfüßler, versuche einmal so zu tun, als ob du deine Beine zur Fortbewegung nicht einzeln steuern müsstest“. Auf den Autofahrer angewendet gilt: Verhalte dich so, als ob du den Verkehr und dein Auto jederzeit unter Kontrolle hättest; Scheibe runter, Zigarette im Mundwinkel, laute Musik! Bloß nicht nachdenken! So geht´s! In Krisenzeiten verhielten sich die Besucher der klassischen Kaffeehäuser gern nach dieser auf den Philosophen Vaihinger zurückgehenden „So-als-ob-Theorie“. Hilde Spiel berichtet in „Glanz und Untergang“:
„Die Cafébewohner verfassten ein Elaborat, ,als ob‘ es möglich wäre, sich als Universitätsdozenten zu habilitieren. Sie entwarfen eine Monatsschrift, ,als ob‘ ein Verleger sie finanzieren könnte. All ihre Taten fanden nur in Gesprächen rund um die Marmortische statt. Dieser Schwebezustand, diese Interimsexistenz, konnte ihnen das raue Leben in der Außenwelt überhaupt erst erträglich machen.“
Von dieser Art des hoffnungsfrohen Umgangs mit Notlagen wusste der Held unserer kleinen Geschichte nichts. Schließlich war unsere Schlüsselfigur ein lupenreiner Denker. Und das war sein Problem. „Ach“, sagte er sich immer wieder, „ich muss Regeln finden, auf die sich mein Glück mit Sicherheit bauen lässt, sodass mein Kurs nirgends aneckt.“ Mit dieser Fragestellung hatte er geradezu vom Baum einer negativen Erkenntnis gekostet. Statt in aller Ruhe im Kaffeehaus zu sitzen und sich damit zufriedenzugeben, dass es keine letzte Sicherheit im Leben gibt, stürzte er in ein seelisches Kellerloch. Nicht wenige Menschen suchen Rezepte gegen das Unberechenbare des Lebens. Sie fragen nach Regeln, die ihnen helfen sollen, ihre Angespanntheit in Flirt- oder Prüfungssituationen zu verscheuchen. Sie forschen nach Sicherheiten, die ihnen anzeigen sollen, ob ihre Gesprächsbeiträge beim Visavis zünden werden. Sie erkennen nicht, dass eine diesbezügliche Unsicherheit normal, also nicht pathologisch ist. Niklas Luhmann hätte ihnen beim Tee erklärt, dass für die Kommunikation mit anderen zwei Axiome gelten: 1. Nicht zu wissen, was im Kopf des Visasvis vor sich geht. 2. Nicht zu wissen, wie das Gespräch ausgeht. Und das macht das Leben erst spannend! Ein guter Stratege beobachtet die Erfolge und Misserfolge seiner Kommunikationsbeiträge. Und: Er agiert und reagiert darauf resonanzsensibel, egal ob in der Liebe oder im Marktgeschehen.
Schon das einfache Spiel zwischen zwei Menschen ist komplex und entwickelt eine große Eigendynamik. Die Teilnehmer können mit ihren Zügen die Partie zwar erheblich beeinflussen, nicht aber vorhersehbar steuern. Die Wirtschaftswissenschaftler beobachten die Spieler auf den Finanzmärkten und üben sich an der Frage der Berechenbarkeit des Unberechenbaren. Im Versuch der treffsicheren Prognostizierbarkeit des Marktgeschehens beißen sie sich die Zähne aus. Anlässlich der Fußball-WM 2006 hatte Paul, die kleine Krake, eine größere Treffsicherheit bei der Vorhersage der richtigen Spielergebnisse als so mancher große Experte. Diese elementare Ungewissheit – mit Blick auf Zukünftiges – beunruhigt die Menschen seit biblischer Zeit. Immerhin: Diese Unsicherheit ist ein Axiom, auf das wir mit Sicherheit bauen können. Diese Einstellung führt zur Gelassenheit. Sie öffnet uns den Blick für die Kontingenz und die Zufälle des Lebens, das so oder anders verlaufen kann.
Eine plötzliche Auflösung einer festgefügten Erwartung in ein Nichts kann unser Weltbild erschüttern, kann uns in Verzweiflung stürzen lassen oder zur Weisheit führen. Auch die Transformation eines Spannungszustands in Humor ist möglich: James M. Wallace beleuchtet in „Die Simpsons und die Philosophie“, wie das funktioniert: „Mein Gott. Außerirdische! Fresst mich nicht! Ich habe Frau und Kinder. Fresst die!“ Homer Simpson hat mit dieser Äußerung die Lacher und unsere Bewunderung auf seiner Seite. Er wird eben nicht von den Qualen sauberen und moralisch einwandfreien Denkens geplagt: „Ich kann nicht so nach 08/15-Muster vor mich hinleben wie du. Ich will alles! Die erschütternden Tiefs, die berauschenden Hochs und das sahnige Dazwischen!“
Die Kontingenz kann einem sauberen Denker die Hölle auf Erden bereiten, wenn dieser der elementaren Unsicherheit des Lebens gewahr wird und – im Unterschied zu Homer Simpson – keinen Humor besitzt. Dann wächst sich das versuchte Erkennen zu einer schweren Krankheit aus! Der Held unserer Erzählung wollte nicht auf seelischer Talfahrt bleiben und als Pessimist im Spital enden. Er wandte sich an den Mathematiker. Schließlich erschien ihm die Mathematik, aufgrund ihres Anspruchs auf Berechenbarkeit, als „Königin der Wissenschaften“. Den Fortgang der Geschichte mit der Antwort des Mathematikers und der Reaktion unseres Mannes schildert Paul Watzlawick in „Vom Schlechten des Guten“: „Aber selbstverständlich, auf diese Fragen gäbe ein Teilgebiet der Mathematik klare Antworten; nämlich die Wahrscheinlichkeitslehre und die sich auf ihr gründende Statistik. So könne man zum Beispiel aufgrund jahrzehntelanger Untersuchungen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen, dass die Benützung von Verkehrsflugzeugen für 99,92 Prozent der Passagiere vollkommen sicher sei, 0,08 Prozent aber bei Abstürzen ums Leben kämen. Als unser Mann bloß noch wissen wollte, welchem Prozentsatz er persönlich angehöre, riss dem Mathematiker der Geduldsfaden, und er warf ihn hinaus.“
Angesichts einer bevorstehenden Flugreise hätte Eckart von Hirschhausen – frei nach „Die Leber wächst mit ihren Aufgaben“ – unserem Unglücksknaben sicher geraten, eine Bombe mit an Bord des Flugzeugs zu nehmen. Denn: Die Chance, dass sich eine Bombe an Bord befindet, liegt normalerweise bei 1 zu 1 Million, die Wahrscheinlichkeit, dass Attentäter zugleich zwei Bomben in einem Flugzeug versteckt haben, beträgt 1 zu 5 Millionen!
Also enttäuscht begab sich unser Held auf einen langen Leidensweg. Dieser Geld und Nerven verschlingende Pfad führte ihn zu allerlei Philosophen, Theologen, Soziologen und diversen Quacksalbern. Doch auch deren zweitrangige Weltdeutungen konnten ihn nicht zufriedenstellen. Die einfache Erkenntnis, dass das Leben und das Schicksal nicht von unumstößlichen Gesetzen beherrscht werden, hätte unserem Manne nicht genügt. Die Erkenntnis, dass unser Glück und Elend von der Wahrscheinlichkeit des Wahrscheinlichen (bzw. der Unwahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen) abhängen, lag außerhalb seines Horizontes. Die weise Einsicht des „Glücksbringers“ Eckart von Hirschhausens hätte ihn nicht zu fesseln vermocht: „Häufiges kommt öfter vor als Seltenes! Warum machen die Menschen nur ihr Glück von Dingen abhängig, die selten vorkommen? Und dann wundern sie sich, dass sie selten glücklich sind!“
David Kahnemann, Nobelpreisträger für Ökonomie, Psychologe und Glücksforscher, bestätigt die These, dass unser Bewusstsein Glück bzw. Unglück selber konstruiert: Wir erleben glückliche Momente in solchen Augenblicken, in denen wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas Positives fokussieren. Der Nachteil: Man kann sich zwar ein schönes Auto kaufen, aber sich nicht ewig darüber freuen.
Eckart von Hirschhausen unterscheidet in seinem Comedy-Programm „Glücksbringer“ zwei Gruppen von Menschen voneinander: „Glückspilze“ und „Pechvögel“. Den „Glückspilzen“ fällt alles in den Schoß: Ihre große Liebe fanden sie beispielsweise, als sie auf der Treppe zum Bahnsteig übereinander stolperten und sich zufällig in den Armen wiederfanden. Glückspilze müssen sich nicht um einen Job oder eine neue Wohnung bemühen. Sie lauschen einfach einem Gespräch auf der Party – und schon bekommen sie das Gewünschte ohne besonderes Engagement. Und die Pechvögel? Die gewinnen nie im Lotto – weil sie auch nie mitspielen. „Ich gewinne eh nichts“, ist ihre Parole für die Lebensgestaltung. Und das wirkt wie eine „Selffulfilling Prophecy“. Dafür sind die Pechvögel bei Katastrophen im vorderen Feld, flachst von Hirschhausen: „Das Unglück war eigentlich für jemand anderes bestimmt, aber im letzten Moment wirft sich der Pechvogel dazwischen.“
Glück und Pech sind normalerweise recht ausgewogen verteilt unter den Menschen. Echte Pechvögel und wirkliche Glückspilze gibt es zwar, aber doch recht selten. Entscheidend für die Zufriedenheit ist es, die positiven und negativen Lebenserfahrungen zu einem subjektiv sinnvollen Muster zu fügen. In diesem Rahmen zahlt es sich aus, negative Erlebnisse als Lern-Potenzial zu verarbeiten und erfahrenes Leiden als ersten Schritt zur Besserung einer Krankheit zu interpretieren.
Der heilige Augustinus zählte 289 Ansichten über das Glück. Aristoteles glaubte zwar, dass alle Menschen glücklich werden wollen. Aber was das Glück ausmacht, darüber streiten sich die bis heute die Gelehrten. Die verzweifelte Glückssuche ist hingegen der erste Schritt in die Unzufriedenheit. „Und glücklich sein, was hat man schon davon?“ fragt der Vater den Sohn, der glaubt, nur mit Fräulein Katz glücklich werden zu können.
Nur zu oft zielen unsere Entscheidungen am Glück vorbei! Studien beweisen, dass viele von uns die Freude, welche ein Lottogewinn, ein neues Haus, ein Umzug zum Mittelmeer oder die Ehe mit Fräulein Katz einbrächte, hoffnungslos überschätzen! Das angestrebte große Glück des Neuen nutzt sich schnell ab. Über die ultimative „Formel für ein besseres Leben“ berichtete Jens Heuser am 1. 12. 2011 in einem Artikel der „ZEIT“: „Die momentane Zufriedenheit hängt anscheinend viel stärker von Aktivitäten als von Dingen ab. Ob man morgens in einem teuren Mercedes im Stau steht oder in einem billigen Fiat, ist gar nicht so wichtig. An den Auto-Typen gewöhnt man sich, an das Erlebnis, egal ob positiv oder negativ, nicht.“
Viele kleine Freuden über den Tag verteilt und angenehme soziale Kontakte stellen die Zufriedenheit eher auf Dauer, glaubt David Kahnemann. Wer ein aktives Leben führt und sich Genüsse (wie Sauna und Cappuccino) gönnt, gehört zu den Glücklichen im Lande. Der Glaube, Herr über sein Schicksal zu sein und das Leben beeinflussen zu können, führt uns ebenfalls in die Zufriedenheitsspur. Aber die Suche nach dem Glück?
Die Romantiker wussten immerhin, wonach sie suchten: die ominöse blaue Blume war das Ziel ihrer Begierden. Und sie verzweifelten, weil sie unauffindbar blieb. Unser Mann hingegen wusste nicht einmal, was er suchte und auch nicht, wo es zu finden wäre. Dem Wahnsinn nahe rannte der Kerl durch die Welt. Ein jedes Glück beim Schopfe fassend horchte er in sich hinein und befragte sich: „Ist es das?“ Und zur Antwort kam ihm immer wieder: „Das ist es nicht!“ Was unser Glückssucher nicht bedachte hatte, war der einfache Umstand, dass man nicht fündig werden kann, wenn man nicht genau weiß, was man sucht. Finden oder Nicht-Finden wurde zur existenziellen Frage seines Lebens. Und dieser Kampf, von dem er nicht wusste, dass er nicht zu gewinnen war, trieb den Mann in die Verzweiflung. Claire Goll zeigt uns in „Ich verzeihe keinem“, wie der Kaffeehausgänger Jean Cocteau derartiger Pein entging. Der Maler und Schriftsteller nahm derartigen manichäischen Dualismen durch das Gleichsetzen von Gegensätzlichem die Unheil stiftende Kraft: „Er betrat den Salon mit den Worten: ,Ich interessiere mich für nichts außer Gott und Lenin!‘, worauf sich ein Stimmenchor erhob: ,Jean, du bist verrückt!‘ Die Replik kam blitzschnell wie gestochen: ,Die Verrücktheit ist die einzige Weisheit.‘ Solche Axiome wiederholten sich in allen Tonarten, durch alle Themen. ,Ordnung bedeutet Anarchie‘, ,die Ungerechtigkeit muss gerechtfertigt werden‘, ,Das Heilige ist das Laster.‘“
Was bescherte nun unserem tragischen Helden eine überraschende Lösung? Da er fast alle Ziele, die er ansteuerte, um seine Frage zu beantworten, erreichte, konnte er sich leicht von den diesbezüglichen Glückserwartungen lösen: jedes Ziel hielt nicht, was er sich davon versprochen hatte, offenbarte ihm nicht die Regeln des Lebens und des letzten Glücks. Eines Tages gab es eine kaum spürbare Verschiebung der Betonung von „das“ auf „es“ in seiner unglückseligen Fragestellung „Ist es das?“ an die Welt. Bisher betonte unser Glückssucher immer das dritte Wörtchen „das“ der Frage: „Ist es das?“ Und das gefundene „das“ war ja nie das Gesuchte! Als er begann, das zweite Wort „es“ zu betonen, veränderte sich die Welt um ihn: „Ist es das?“ Und er erkannte für einen flüchtigen Moment, dass kein „Das“ in der Welt jemals das innere „Es“ sein konnte. Denn: Die Welt kann nicht verbergen, was sie nicht enthält. Im Außen kannst du keine Antworten (= „das“) finden, die du nicht schon in deinem Innern (= „es“) kennst. In der Welt wirst du nie entdecken, was deine Intuition nicht weiß. Du kannst außerhalb deines Selbst nie haben, was du immer schon bist. Und so wurde ihm bewusst, dass seine unglückliche Suche nach dem Glück und seinen Regeln, die Ursache war, es nicht zu finden. Nur die cocteausche Aufhebung von Unterscheidungen (wie „es“ und „das“) führt zum Glückserleben: Nur wer in der Betrachtung versinkt, ohne zu interpretieren und ohne zu hinterfragen, spürt diese göttliche Dimension des Glücks:
„Und so gewahrt’ ich Gott: insh’allah,
Dort: wo er sich selbst erdacht!
Und wie er lacht! Und wie er lacht!
Und wie? – Erlacht!“
Diese Aufhebung aller Unterscheidungen zwischen Welt und Beobachter führt direkt ins Nirwana, in die paradiesische Erfahrung des Aufhebens der Zeit. Auf diese Weise stürzen wir in die „zeitlose Fülle des gegenwärtigen Augenblicks“ und treten aus den Anforderungen der Welt heraus. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte unser Mann die Zeitlosigkeit. Leider verfiel er sofort auf die Idee, dem Erlebnis einen Namen geben zu wollen und nach seiner Wiederholung zu trachten. Und wieder war es mit seinem Glück vorbei. Erlebnisse dieser Art können wir erfahren, wenn wir ganz im Schauen versunken sind: bei einem Klavierkonzert, beim Blick in die schönen Augen einer Frau; immer dann, wenn wir erleben, ohne zu interpretieren. Nach Kübler-Ross können sich derartige „Erleuchtungen“ im Erlebnis der Todesnähe ereignen. Eine eindrucksvolle Begegnung mit der Ewigkeit schildert Dostojewski in „Der Idiot“. Es handelt sich um die Erfahrungen eines Epileptikers vor dem „Grand Mal“: „In jenem Augenblicke scheine ich irgendwie die Bedeutung jenes ungewöhnlichen Wortes zu verstehen, dass hinfort keine Zeit mehr sein soll. Dies ist wahrscheinlich jene Sekunde, die für das Wasser nicht ausreichte, um aus Mohammeds Krug zu fließen, wo der epileptische Prophet Zeit hatte, alle Wohnstätten Allahs zu schauen.“
In Robert Musils Erzählung „Der Fliegerpfeil“ schildert der Autor ein Erlebnis aus dem Ersten Weltkrieg. Eine Bombe wird aus einem Flugzeug geworfen und saust mit sirrendem Ton direkt auf ihn herab. Angesichts der unmittelbaren Todesgefahr wird seine Wahrnehmung eins mit dem Klang des herabrasenden „Fliegerpfeils“: „Kein einziger Gedanke von mir war in der Art, die sich in den Augenblicken des Lebensabschieds einstellen soll, sondern alles, was ich empfand, war in die Zukunft gerichtet. Ich muss einfach sagen, ich war sicher, in der nächsten Minute Gottes Nähe in der Nähe meines Körpers zu fühlen. Mein Herz schlug breit und ruhig. Ich kann auch nicht den Bruchteil einer Sekunde erschrocken gewesen sein. Es fehlte nicht das kleinste Zeitteilchen in meinen Leben. In diesem Augenblick überströmte mich ein heißes Dankgefühl. Ich glaube, dass ich am ganzen Körper errötete. Wenn einer da gesagt hätte, Gott sei in meinen Leib gefahren; ich hätte nicht gelacht, ich hätte es aber auch nicht geglaubt.“
In Arthur Koestlers Biografie „Die Geheimschrift. Bericht meines Lebens“ finden wir einen weiteren Beleg für eine eigentümliche „Near-Death-Experience“. Der Journalist Koestler wartete während des Spanischen Bürgerkrieges in einem Gefängnis der Franco-Truppen in Sevilla auf seine Hinrichtung, die dann glücklicherweise nicht stattfand. Um sich die Zeit zu vertreiben, beschäftigte er sich damit, mathematischen Formeln auf die Wand seines Kerkers zu ritzen: „Die an die Wand gekritzelten Symbole stellten einen der seltenen Fälle dar, in denen eine sinnvolle und fassbare Aussage über das Unendliche, mit präzisen endlichen Mitteln erreicht wird. Das Unendliche ist wie eine mystische, in Nebel gehüllte Masse. Und doch war es möglich, etwas darüber zu erfahren, ohne sich in verschwommenen Unklarheiten zu verlieren. Die Bedeutung dieser Erkenntnis schlug über mir zusammen wie eine Welle. Die Welle war von einer artikulierten verbalen Einsicht entsprungen, die sich aber sofort verflüchtigt hatte und nur einen wortlosen Niederschlag zurück ließ: einen Hauch von Ewigkeit, ein Schwingen des Pfeils im Blauen. Ich muss so einige Minuten verzaubert dagestanden haben in dem wortlosen Bewusstsein: das ist vollkommen, vollkommen. Dann gewahrte ich ein leichtes geistiges Missbehagen im Hintergrund meiner Gedanken. Ein trivialer Umstand störte die Vollkommenheit des Augenblicks. Ich war ja im Gefängnis und man würde mich wahrscheinlich erschießen. Aber gleich darauf stellte sich ein Gefühl ein, das in Worte übersetzt lauten würde: und wenn schon? Ernstere Sorgen hast Du nicht?“
Auf diese Weise „vergaß“ Koestler die Anforderungen des Alltags (hier: seine Hinrichtung!) und es wurde ihm blitzartig die beglückende Erfahrung des „Nirwana“ zuteil: „Dann wurde mir, als glitte ich, auf dem Rücken liegend, in einen Fluss des Friedens unter Brücken des Schweigens. Ich kam von nirgendwo und trieb nirgendwo hin. Dann war weder der Fluss da noch ich. Das Ich hatte aufgehört zu sein.“
Die Kraft der Gedanken schafft – im Leben und in Dostojewskis „Dämonen“ – das Glückserleben: „Alles ist gut (…) Alles. Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, dass er glücklich ist. Nur deshalb. Das ist alles, alles! Wer das erkennt, der wird gleich glücklich sein, sofort, im selben Augenblick.“
„Je älter du wirst, je näher kommen die Einschläge!“ Diese Weisheit zu berücksichtigen heißt, zu wissen, dass Krisen ein unvermeidlicher Bestandteil des Lebens sind. Dass Leben Problemlösen ist, gilt seit Karl Popper. In schwierigen Situationen kann die Psychologie Hilfestellung geben. Frei nach Rogers, Fromm und Watzlawick platziert Mike Myers „Love Guru“ Pitka (im gleichnamigen US-Spielfilm) seine heitere Krisenbewältigungstherapie, genannt „D.R.A.M.A.“:
„D.“ steht für „Distraktion“: Es zielt auf die emotionale Ablenkung meines Bewusstseins von Problemen, die ich im Moment nicht lösen kann. Anstatt mich weiter mit Grübeln zu quälen, beschäftige ich mich in der Krise besser mit schönen Dingen, die meine Psyche stärken!
„R.“ steht für „Regression“: Der Begriff zielt – im Sinne Freuds – auf die therapeutische Auseinandersetzung mit meiner Vergangenheit. Lebe ich so, wie ich es mir damals vorgestellt habe? Oder habe ich mich von meinen Wünschen und Idealen entfremdet? Sind es die Traumata der Vergangenheit, die mich über Ängste in der Gegenwart blockieren?
„A.“ steht für „Adjustment“: Ich sollte bestrebt sein, die Anpassung meines Denkens an die vollständige Mündigkeit eines Erwachsenen zu erreichen. Ich wachse spirituell und erkenne: Ich bin der, der sein Leben bewegen kann. Ich bin kein Opfer der Geschichte.
„M.“ heißt „Maturity“: Ich bin jetzt reif genug, um in Freiheit ganz allein zu entscheiden, was gut für mich ist und gut für die anderen, und was nicht. Ich lerne abzuwägen, ob es besser ist, meine Wünsche durchzusetzen oder einmal auf ihre Durchsetzung zu verzichten.
„A.“ meint „Action“: Aus meinem veränderten, heil gewordenen Denken erfolgen veränderte, heil gewordene Handlungen in der Welt: Ich handle, also bin ich!
Um Turbulenzen zu überstehen und dabei seelisch heil zu bleiben, ist es nötig, den negativen Erfahrungen der Krise einen positiven Sinn für sich und/oder für andere zuschreiben zu können. Zum Beispiel: Okay, der Schmerz war schlimm, aber er hat mich zum Arzt geführt und die anschließende Operation hat meine Gesundheit wieder hergestellt. Oder: Die Schmerzen waren schlimm, die Behandlung ist nicht gelungen; und ich werde sterben. Aber mir bleibt die Hoffnung, dass die Ärzte nach weiteren zwei- oder dreihundert solcher misslungenen Eingriffe wenigstens wissen, wie man diese Krankheit besser nicht bekämpfen sollte. Selbst unter widrigsten Lebensumständen, die kaum eine Chance auf aktive Selbstverwirklichung, Genuss oder Müßiggang bieten, kann eine derartige Sinnkonstruktion gelingen. In ausweglosen Situationen muss man nicht verzagen: In der Annahme eines unvermeidlichen Schicksals lässt sich positiver Sinn finden.
Um Krisen zu überwinden, ist es nötig, unsere Ängste zu vertreiben. Unsere Befürchtungen sind es, die uns in leidvollen Situationen gefangen halten und dafür sorgen, dass wir die bekannte Hölle dem unbekannten Paradies vorziehen. Nur wer seine Ängste besiegt, kann sich zu einer voll entwickelten Persönlichkeit verändern.
Spannungen zwischen meinen Erwartungen der Normalität und meiner aktuellen Lebenssituation erzeugen psychisches Unbehagen: Ich leide an der Nicht-Übereinstimmung meines Selbst- und Weltbildes mit dem, was ich momentan erlebe: Ich bin nicht der, der ich eigentlich sein möchte. Mein Lebensideal und meine Lebenswirklichkeit kommen nicht zur Deckung. Und das lässt mich verzweifeln. Rogers und Tausch sprechen von der tragischen Erfahrung der „Inkongruenz“. Im Zustand der Krise erstarrt die Persönlichkeit in einer rigiden Schockstarre. Man ist ratlos angesichts des eigenen Gefangenseins in einer bestimmten Notsituation, die man als nicht veränderbare Normalität ansieht: „Die Welt ist eben so – und basta! Also, nix zu machen, oder?“ Der Zugang zur banalen Erkenntnis: „Ich leide!“ ist versperrt. Der Schmerz wird erfolgreich weggeschoben. Aber dann bricht das Verdrängte plötzlich hervor. Es kommt zum „Nervenzusammenbruch“: Unter Heulen und Toben bricht die Fassade der Contenance. Die belastenden Gefühle werden zum ersten Mal stürmisch erlebt – und zwar im Sinne einer Katastrophe. Wichtig ist, dass man dieses frustrierende Erlebnis und die daran geknüpften Gefühle zulässt und artikuliert. Auf diese Weise wird man gewahr, dass die persönliche Tragödie nur an eine (!) bestimmte Rolle geknüpft ist, die man in einer bestimmten Situation zu spielen hat: etwa als Gatte in der Ehe oder als Arbeitnehmer im Betrieb oder als Schuldner einer Bank. Zur Reichhaltigkeit unserer Persönlichkeit gehören jedoch nicht nur die Leiderfahrungen in einem Lebensbereich, sondern auch die positiven Rollenerfahrungen in anderen: etwa im Fußball, im Freundeskreis, an der Universität etc. Solche Kompetenzen kann man nutzen, um den negativen Rollenerlebnissen in der Leidsituation mit alternativen Lösungen zu begegnen, d. h. neue Kontingenz einzuführen.
Schmerzen gehören zum eigenen Leben genauso dazu wie der Erfolg. Aber nur wer sein Leiden bemerkt, ist in der Lage, die Veränderungsbedürftigkeit der Situation sich selbst gegenüber einzugestehen und anderen gegenüber zu artikulieren. Wohl dem, der seinen Eigenanteil an der „Schaffung“ der Malaise einsieht: Falsche Ansichten und wirklichkeitsferne Ideale erschweren häufig das Leben: Wer mich mag, muss auch Schalke 04 und Knoblauch mögen. Durch eine veränderte Wahrnehmung des Problems findet man zu einer besseren Lösung: … und geht als Schalke-Fan sogar mit einer BVB-Anhängerin ins Bett.
Nichtfunktionierende Lösungen tragen ebenso zum Seelenleid bei. Erreicht man mit einer Methode nicht das Ziel, ist es dringend ratsam, die Strategie zu wechseln. Denn auch bei gesteigerter Anstrengung wird der alte Lösungsweg nicht zum Erfolg führen, sondern eher das Leiden verewigen: Wem es nach drei Stunden immer noch nicht gelungen ist, die Hauswand herauf zu klettern, sollte eine Leiter benutzen. Bei schwerwiegenden Blockaden des Denkens durch das Kreisen um nicht lösbare Schwierigkeiten hilft Guru Pitkas Methode der „Distraktion“. Es geht dabei um eine bewusst herbeigeführte Ablenkung emotionaler und kognitiver Art: „Wenn Platon, Shakespeare und Einstein über den Sinn des Lebens diskutieren würden und zwei Elefanten draußen anfingen zu ,vögeln‘. Dann würden sogar sie zum Fenster laufen. Das ist die ultimative Distraktion!“
Nicht jedes Drama ist behebbar. Eine bejahende Einstellung zum Schlechten, das man nicht verändern kann, eröffnet die Chance für neue positive Erfahrungen: Eine Scheidung schafft am Ende die Offenheit für neue Partner, die Todesnähe gibt zugleich die Chance zur spirituellen Reifung. Die persönliche Perspektive entscheidet darüber, ob man das Glas des Lebens als halb leer oder halb voll empfindet. Und außerdem: Ist ein Problem gelöst, ergibt sich schnell ein neues: Wohl dem, der es in Bezug auf die Malaisen mit der Weisheit Ludwig Wittgensteins aus dem „Tractatus logico-philosophicus“ hält: „Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben. Und wenn ich mich hierin nicht irre, so besteht nun der Wert dieser Arbeit (…) darin, dass sie zeigt, wie wenig damit getan ist, dass alle Probleme gelöst sind.“
In seiner Autobiografie „… und trotzdem Ja zum Leben sagen!“ zeigt der Psychologe Viktor Frankl, wie es ihm möglich war, die größte Prüfung seines Lebens zu bestehen: nämlich als Jude während der NS-Zeit mehrere deutsche Konzentrationslager zu überleben.
Erstens: Glück gehabt! Ständig wurden in den Lagern Selektionen vorgenommen. Nie wusste man, ob die Freiwilligenkommandos, zu denen man sich melden konnte, oder die Zurückbleibenden in den Tod gingen.
Zweitens: Selbstsuggestion! Angesichts der menschenverachtenden Zustände im Lager verfielen viele Häftlinge der Depression, begingen Selbstmord oder ergaben sich hoffnungslos ihrem Schicksal und dem Zugriff der Häscher. Frankl entging der Hoffnungslosigkeit, in dem er sein negatives Schicksal uminterpretierte. Er betrachtete seinen Lageraufenthalt als gute Gelegenheit, ein psychologisches Feldexperiment über die psychische Befindlichkeit der Lagerinsassen und des Wachpersonals zu starten. Nach dem Kriege wollte er, so suggerierte er sich damals, über das Erlebte einen Vortrag an der Universität Wien halten (was 1973 tatsächlich geschah). Eine Umdeutung des negativ Erlebten ins Positive kann aus der Sinnkrise führen und das Erleiden zur Leistung werden lassen. Im Zentrum steht die Frage, wie sich der Mensch (die Seele) gegenüber den leiderzeugenden Eindrücken des Alltags (im Lager) verhält? Die seelischen Reaktionen der Neuankömmlinge (= der Gesunden) auf das Lager (= die Krisensituation) lassen sich nach Frankls Werk wie folgt skizzieren:
Angesichts schwerer Leidsituationen sind die Wege, über das schöpferische Tun oder den Genuss schöner Dinge zum Glück zu gelangen, verschlossen. Was bleibt, ist dem Leiden Sinn zu geben. Der Tod und die Not fügen das menschliche Dasein erst zu einem sinnhaften Ganzen. Nur wer das Leiden nicht verdrängt, kann seelisch wachsen. Viktor Frankl beschreibt in „… und trotzdem Ja zu Leben sagen!“, dass die Sinnfrage sich nicht auf das eigene Überleben beziehen darf: „Denn ein Leben, dessen Sinn damit steht und fällt, dass man mit ihm davon kommt (…), solch ein Leben wäre eigentlich nicht wert, überhaupt gelebt zu werden.“
In der Art, wie der Mensch sein Schicksal aufnimmt – ob als sinnlose Strafe oder als Geschenk – eröffnet sich ihm ein Horizont von Möglichkeiten, das Leben immer noch sinnvoll zu gestalten. Als würdig erweist sich, wer aus dem Leidenszustand eine innere Leistung macht und sein schweres Schicksal als „Geschenk des Himmels“ betrachtet: Ein kranker Mann lag im Spital. In seiner Jugend hatte er sich gewünscht, zu wissen, wann es ans Sterben ginge. Als seine Ärzte ihn plötzlich über sein zu erwartendes baldiges Ableben informierten, war er erfreut über die Erfüllung seines Wunsches von einst. Eine dem Tode geweihte Dame (im Lager) entdeckte angesichts ihrer Krankheit das Wunder des ewigen Lebens in den Formen der Natur, in der Schönheit eines Baumes. Vorher, in ihrer gelangweilten, konsumorientierten, bürgerlichen Existenz hatte sie für derartig beseligende Erfahrungen keinen Sinn gehabt. Erst die Todesnähe öffnete ihr die Augen.
Wer kein Ziel vor Augen hat, keinen Lebensinhalt und keinen Zweck erblickt, dem fehlt jede Energie fürs Durchhalten und Durchkämpfen der Krise: „Ich hab ja vom Leben nichts mehr zu erwarten“, hört man dann. Dem entgegnet Frankl: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ Den Verzweifelten müssen wir nach Frankl lehren, „dass es eigentlich nie und nimmer darauf ankommt, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf, was das Leben von uns erwartet!“
Wir sind die vom Leben Gefragten