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Die Zahl der Lutherbiographien aus älterer und neuerer Zeit ist groß, und die Einzeluntersuchungen zu Leben und Werk des Reformators sind unüberschaubar. Das liegt einerseits an der Fülle der Quellen, die von und über Luther erhalten sind, andererseits an der epochalen Bedeutung des Mannes und an dem dadurch geweckten, seit seinen Lebzeiten bei Anhängern und Gegnern bis heute anhaltenden Interesse. Martin Luther steht in einzigartiger Weise zwischen zwei Zeitaltern der abendländischen Geschichte. Noch im Mittelalter geboren und aufgewachsen, hat er entscheidend zum Ende der seit der Spätantike ausgebildeten Gestalt des westlichen Christentums beigetragen, ohne sie doch durch etwas ganz Neues zu ersetzen. Seine Stellung »zwischen den Zeiten« gab und gibt immer wieder Anlaß zu vielfältigen Fragen und Deutungsversuchen. Wie weit ist Luther vom Mittelalter geprägt und wieviel an ihm gehört dauerhaft dieser vergangenen Zeit an? Wie sehr hat er dadurch die Heraufkunft eines Neuen verzögert? Wodurch weist er andererseits selbst in die Neuzeit hinein und wie weit spricht er noch zu unserer Gegenwart? Das Nachdenken über diese und ähnliche Fragen ist in einer mehr als hundertjährigen Forschungsgeschichte nicht zum Abschluß gekommen. Doch vielleicht wurden von der Forschung manche Alternativen falsch formuliert und sind gerade »mittelalterliche« Elemente bei Luther zu Keimen für neue, in die Zukunft weisende Entwicklungen geworden. Gewiß wurden Einflüsse, die Luther in seiner Frühzeit aufgenommen und selbständig verarbeitet hat, durch ihn in besonderer Weise geschichtsmächtig. Darin liegt ein Teil seiner geschichtlichen Bedeutung.
Offene Fragen verleiten den Lutherbiographen leicht zu Konstruktionen mit Übertreibung der in der Vergangenheit verhafteten oder der in die Zukunft weisenden Momente. Auch das vorliegende Buch kommt nicht ohne die eine oder andere historische Rekonstruktion aus. Doch verzichtet es auf gewagte Hypothesen und bloße Vermutungen. Es bemüht sich einerseits, die wichtigsten gesicherten Tatsachen aus Luthers Leben in einen biographischen Zusammenhang zu bringen. Es möchte andererseits zu Luthers Werk hinführen, das vor allem im Wort bestand: im gesprochenen und noch mehr im geschriebenen Wort. In zahlreichen gedruckten Zeugnissen wirkt es bis heute fort. Daher soll Luther selbst hier möglichst oft zu Wort kommen. Neben einem Überblick über sein außerordentlich umfangreiches schriftliches Werk soll eine Vorstellung davon vermittelt werden, wie Luthers Person und Luthers Denken in sprachmächtiger Weise gewirkt haben. Dabei soll der Reformator weder verteidigt noch verherrlicht, sondern möglichst nüchtern als Mensch in seiner Zeit und mit seinen Abhängigkeiten und Schwächen vorgestellt werden. Auch die Härte, mit der er seine Gegner oft behandelt hat, soll nicht beschönigt werden.
Wie nur wenige Autoren will Luther immer wieder gelesen werden; seine tiefsten Gedanken erschließen sich erst anhaltender Bemühung. Dieses Buch führt zu zentralen Aussagen des Reformators hin. Es hilft dem Leser, sich in der Fülle seiner Schriften zurechtzufinden und sich ein eigenes Urteil über seine Persönlichkeit und sein Wirken zu bilden. Der begrenzte Umfang erlaubt es allerdings nicht, seine Biographie ausführlich in die Geschichte seiner Zeit einzubetten. Wer sich eingehender über die allgemeinhistorischen Hintergründe informieren möchte, der sei auf die bei Reclam erschienene Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung. Band 3: Reformationszeit 1495–1555 hingewiesen.
Martin Luther gehört zu den bekanntesten, berühmtesten und zugleich umstrittensten Personen der deutschen Geschichte. Bereits seit seinen Lebzeiten ist sein Bild durch Verehrung und Haß in positiver wie in negativer Weise entstellt worden. Wie anderen vielgenannten Gestalten wurden ihm Aussagen zugeschrieben, die nicht von ihm stammen. Am häufigsten wird heute wohl das einprägsame Wort von dem Apfelbäumchen zitiert, das er auch angesichts des unmittelbar bevorstehenden Weltuntergangs pflanzen würde. Doch gerade dieses Wort stammt nicht von ihm; es läßt sich erst in der Zeit des Zweiten Weltkriegs nachweisen. Angesichts vieler unterschiedlicher Lutherbilder stellen sich die Fragen: Was wissen wir wirklich von Luther, was können wir überhaupt von ihm wissen?
Zunächst: Wohl von keinem und über keinen Menschen seiner Zeit gibt es so viele schriftliche Zeugnisse wie von und über Luther. Die 1883 begonnene, 2009 mit dem letzten Band eines umfangreichen Registers abgeschlossene kritische Gesamtausgabe seiner Werke, die Weimarer Ausgabe, umfaßt vier Abteilungen: Die Schriften mit 84 Bänden (WA) enthalten die von ihm veröffentlichten Werke, dazu Vorlesungen, Predigten und andere Texte. Luthers Bibelübersetzung ist in ihren verschiedenen Fassungen mit Vorreden, Randbemerkungen und Protokollen der Überarbeitung in einer eigenen Abteilung Deutsche Bibel (WADB) in 15 Bänden enthalten. Dazu kommen der Briefwechsel (WAB) mit 18 und die Tischreden (WATR) mit 6 Bänden. Insgesamt umfaßt die Ausgabe 123 Bände, von denen sechs Bände Revisionsnachträge (RN) in Faszikeln (Heften) erhalten haben.
Das gewaltige Corpus der Schriften bietet unmittelbare Zeugnisse von Luthers Wirken durch das geschriebene und gesprochene Wort, darunter auch mehrere autobiographische Rückblicke, deren Wert für die Kenntnis seines Lebens freilich jeweils im Vergleich mit anderen Quellen erwogen werden muß. Unmittelbaren Einblick in Luthers Lebensgang und in sein Denken bietet auch sein Briefwechsel mit mehr als 3700 Stücken, darunter etwa 2600 von Luther geschriebene sowie mehr als 160 Gutachten, die er zusammen mit Kollegen verfaßt hat. Dieser Briefwechsel ist allerdings wesentlich kleiner als der seines Wittenberger Kollegen Philipp Melanchthon (ca. 9600); viele Stücke sind verlorengegangen. Eine Quelle eigener Art sind die Tischreden, die meist auf die seit 1531 gemachten Niederschriften von Gesprächspartnern zurückgehen, aber auch Texte aus Luthers Briefen und Schriften enthalten. Ihre Auswertung ist besonders schwierig, da keine unmittelbaren Aufzeichnungen der Äußerungen Luthers erhalten sind. Die Schreiber haben das von Luther oder auch von anderen Ohrenzeugen Gehörte in Heften gesammelt, dabei oft eigene Formulierungen einfließen lassen und diese Aufzeichnungen später wieder – jetzt gewöhnlich in neuer Ordnung – abgeschrieben, um die dadurch entstandenen Bände gleichsam als Nachschlagewerke zu benutzen. Nur in solchen Abschriften sind die einzelnen Sammlungen überliefert. Sie müssen deshalb mit besonderer Vorsicht ausgewertet werden.
Von der Hinterlassenschaft vieler Gelehrter seiner Zeit, auch von der Melanchthons, unterscheidet sich Luthers Werk durch seine Zweisprachigkeit. Seine für Kollegen und Studenten bestimmten Abhandlungen und Briefe hat er lateinisch verfaßt, ist aber daneben schon früh mit deutschen Schriften an eine weitere Öffentlichkeit getreten, die kein Latein konnte. Durch seine vielen deutschsprachigen Briefe ist er der erste große Briefschreiber in deutscher Sprache geworden. In einer Zeit, in der es noch keine normierte hochdeutsche Sprache gab, bediente er sich beim Schreiben des »Frühneuhochdeutschen« in der Gestalt, die damals in der sächsischen Kanzlei gebraucht und in ganz Deutschland verstanden wurde. Wer seine Predigten und Tischreden liest, der wird überrascht sein, in vielen Texten eine Mischung lateinischer und deutscher Partien zu finden. Das geht in manchen Fällen auf den Brauch der Gelehrten zurück, deutsche Ausführungen mit geläufigen lateinischen Formulierungen zu durchsetzen oder im lateinischen Vortrag gelegentlich besonders plastische deutsche Wendungen zu gebrauchen. In anderen Fällen schrieben die Zuhörer in einer für das Lateinische geschaffenen Stenographie mit, die später auch lateinisch aufgelöst wurde. So viele Unsicherheiten in solchen Mischtexten stecken, so viel zuverlässiges Material zu Luthers Leben und Werk bieten doch seine Briefe und Schriften.
Dennoch stößt auch bei manchen elementaren Sachverhalten der Biographie Luthers unser Wissen immer wieder an Grenzen. Dies soll an drei Beispielen erläutert werden.
Zunächst an Luthers Geburtsjahr. Es wird in Biographien und Lexikonartikeln durchweg als 1483 angegeben. Diese Jahreszahl ist freilich unsicher. Amtliche Dokumente über Luthers Geburt gab es in einer Zeit ohne Standesämter und Kirchenbücher natürlich nicht. Man war damals auf das Gedächtnis angewiesen. Luther selbst wußte nicht genau, in welchem Jahr er geboren war. 1539 sagte er in einer Predigt, er glaube, Papst Julius sei in dem Jahr gestorben, in dem er selbst geboren sei (WA 47, 581,26 f.). Offenbar hat er Julius II. (Papst 1503–1513), den er bewußt erlebt hatte, mit Sixtus IV. (Papst 1471–1484) verwechselt. Demnach setzte er seine Geburt ins Jahr 1484. Doch kann man auf eine solche Angabe bauen? Unter den Tischreden finden sich mehrere Listen mit wichtigen und meist richtigen Lebensdaten. In einer sagt Luther: »Ich bin 1483 geboren« (WATR 2, Nr. 2250), in einer anderen: »Ich bin 1484 geboren« (WATR 5, Nr. 5347). Deshalb empfiehlt es sich, mit den früheren Biographen Philipp Melanchthon zu folgen, der in seinem Vorwort zum zweiten Band der lateinischen Werke Luthers berichtet, dessen Mutter sei selbst über das Geburtsjahr unsicher gewesen, habe sich aber an den Tag und die Stunde der Geburt erinnert: am 10. November nachts nach zehn Uhr sei der Sohn zur Welt gekommen und am folgenden Tag auf den Namen des Tagesheiligen Martin getauft worden. Sein Bruder Jakob habe aber das Geburtsjahr 1483 als Meinung der Familie genannt (CR 6, 156).
Sodann wissen wir, daß Luther wenige Jahre nach seinem Eintritt ins Kloster eine Reise nach Rom unternommen hat. Doch im späteren Rückblick macht er über die Zeit dieser Reise selbst nur wenige und unterschiedliche Angaben. Meist nennt er dafür das Jahr 1510, vereinzelt aber auch 1511 oder 1509. Als Ursache dieser Reise gibt er den »Staupitz-Streit« an, eine Auseinandersetzung innerhalb seines Ordens. Ob er die Reise für oder gegen Staupitz unternommen hatte, sagt er nirgends. Mit dem Zweck der Reise hängt aber ihre Datierung aufs engste zusammen. Nur eine sorgfältige Untersuchung und Abwägung aller Aussagen der Quellen kann eine Entwirrung dieser Fragen bringen. Im folgenden schließe ich mich der jüngst erschienenen Studie an, die eine Lösung auf der Grundlage neuer Quellenfunde vorschlägt (s. Literaturhinweise).
Ein drittes Problem verbindet sich mit den 95 Thesen über den Ablaß. Im geschichtlichen Bewußtsein vor allem der Deutschen hat sich die Vorstellung festgesetzt, Luther habe seine Thesen am 31. Oktober 1517 mit wuchtigen Hammerschlägen an der Tür der Wittenberger Schloßkirche befestigt und mit dieser symbolträchtigen Handlung die Reformation eingeleitet. Einige spätere Drucke der 95 Thesen sind ebenso erhalten wie der Brief, mit dem Luther am 31. Oktober 1517 ein handschriftliches Exemplar an Erzbischof Albrecht von Mainz gesandt hat. Im Vorwort der Thesen drückt der Verfasser die Absicht aus, in Wittenberg unter seinem Vorsitz eine Disputation über diese Sätze halten zu lassen; Abwesende bittet er um eine schriftliche Stellungnahme. Diese Disputation war offenbar nicht als eine Veranstaltung im Rahmen der regulären Lehrveranstaltungen der theologischen Fakultät gemeint, sondern sollte eine von Luther persönlich veranstaltete außerplanmäßige Diskussion werden. In späteren Briefen (WAB 1, 138,17–19; 152,6–10) bekräftigt er nachträglich diese Absicht. Doch die gewünschte Disputation fand nicht statt (139,46). Über einen Anschlag der Thesen an der Tür der Schloßkirche gibt es weder eine Aussage Luthers noch ein anderes zeitgenössisches Zeugnis. Er wird zum ersten Mal von Melanchthon in seinem bereits zitierten, wenige Monate nach Luthers Tod entstandenen Vorwort erwähnt: Luther habe die Thesen »am Vortag des Allerheiligenfestes 1517 öffentlich an die Wittenberger Schloßkirche angeheftet (oder: anheften lassen)« (CR 6, 162). In den Statuten der Universität Wittenberg vom 1. November 1508 ist festgelegt, die Feste, Disputationen und Promotionen der Universität sollten von den Pedellen bekanntgemacht und an den Türen der Wittenberger Kirchen mitgeteilt werden. Wahrscheinlich hat Melanchthon im Wissen um diese Bestimmung den Vorgang beschrieben, ohne nähere Kenntnis davon zu haben, ob er tatsächlich stattgefunden hatte. Alle anderen Erwähnungen eines Thesenanschlags dürften von seiner Darstellung abhängig sein – auch die späten Eintragungen von Luthers Schüler und Mitarbeiter Georg Rörer aus Deggendorf in Niederbayern (1492–1557; 1525–37 Diakon an der Wittenberger Stadtkirche, dann hauptamtlich Mitarbeiter an Ausgaben der Werke Luthers) in Luthers Handexemplar des Neuen Testaments (Wittenberg 1540; WA 48 RN 116) und in einen Band mit eigenen Handschriften (WADB 11 II, CXLI). Im übrigen ist es ganz unwahrscheinlich, daß der 1517 bereits sehr angesehene Professor mit dem öffentlichen Anschlag seiner Einladung zu einer Disputation weder ein positives noch ein negatives öffentliches Echo gefunden haben sollte. Die Rede von »Luthers Thesenanschlag« muß deshalb als historisch unbegründet gelten.
Martin wurde wohl als erster Sohn des Hans Luder (1458–1530) und seiner Frau Margarete, geb. Lindemann (um 1463–1531), in Eisleben in der Grafschaft Mansfeld geboren. Der Vater, der 1484 mit der Familie nach der Stadt Mansfeld umzog, stammte aus einem bäuerlichen Geschlecht, war selbst im Kupferbergbau tätig und brachte es im Laufe der Zeit zu Vermögen und Einfluß. Seinem Erfolgsstreben entsprach es, daß er seinem Ältesten eine sorgfältige Erziehung angedeihen ließ. Martin besuchte bis 1497 die städtische Schule in Mansfeld, dann ein Jahr wohl die Domschule in Magdeburg, schließlich noch drei Jahre die Pfarrschule in Eisenach, der Heimat seiner Mutter. Er verließ die Schule mit den Kenntnissen, die für die Aufnahme eines Studiums nötig waren, vor allem mit der Beherrschung der lateinischen Sprache.
Im Frühjahr 1501 begann Martin das Studium an der Universität, die Eisenach am nächsten gelegen war: in Erfurt. Wie seit den Anfängen der Universität üblich absolvierte er zunächst das Grundstudium an der Fakultät der Artes. Diese hatte ihren Namen von ihren Inhalten: den sieben »freien Künsten« (artes liberales) Grammatik, Rhetorik und Logik (Dialektik) sowie Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie, die freilich schon seit dem 13. Jahrhundert durch verschiedene philosophische Disziplinen erweitert worden waren. Alle Fächer wurden auf der Grundlage älterer, meist sogar antiker Lehrbücher betrieben; die Logik und die philosophischen Fächer Metaphysik, Physik und Naturkunde, Psychologie, Ethik, Oekonomik und Politik auf der Grundlage von Werken des Aristoteles. Dadurch wurde Aristoteles zur beherrschenden Autorität dieser Fakultät. In der Auslegung seiner Lehren bildeten sich verschiedene Schulen heraus. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Lösung des Universalienproblems: Hatten die Allgemeinbegriffe (universalia) ein von den konkreten Dingen unabhängiges Sein oder existierten sie nur in diesen Dingen? Gab es beispielsweise »das Weiße« oder nur weiße Dinge, »das Menschsein« oder nur einzelne Menschen? Seit den griechischen Philosophen Platon und Aristoteles war unter dem Thema der »Ideen« über diese Fragen diskutiert worden; im späten Mittelalter hatten sich daran Richtungen (viae: »Wege«, d. h. Schulen) geschieden, die nach ihren wichtigsten Vertretern bezeichnet wurden. Im Gegensatz zum nahen Leipzig wurde von den Artisten in Erfurt die via moderna gelehrt. Sie vertrat im Anschluß vor allem an Wilhelm von Ockham (1285/90 – ca. 1349) die »Nominalismus« oder besser »Terminismus« genannte Meinung, die Allgemeinbegriffe besäßen kein selbständiges Sein, sondern würden vom Verstand aus den einzelnen Dingen abstrahiert.
Martin hat sein Grundstudium noch ganz im Rahmen des überkommenen scholastischen (schulmäßigen) Lehrbetriebs mit der geschilderten Ausrichtung des spätmittelalterlichen Aristotelismus absolviert. Aus seiner weiteren Entwicklung läßt sich schließen, daß er daneben auch schon von dem in Erfurt außerhalb der Universität bestehenden Humanismus beeinflußt wurde. Die Humanisten Hieronymus Marschalck und Crotus Rubeanus haben ihm aber wohl noch keine traditionskritische Haltung, sondern vor allem das Interesse an der lateinischen Sprache und Dichtung vermittelt.
Anfang Februar 1505 schloß Martin sein Grundstudium erfolgreich mit der Promotion zum »Magister artium« ab. Damit erhielt er das Recht, wurde aber auch dazu verpflichtet, noch zwei Jahre lang als Dozent der Artistenfakultät zu lehren – auch falls er ein weiterführendes Studium an einer der drei »oberen« Fakultäten (der medizinischen, juristischen und theologischen) aufnehmen sollte. Auf Wunsch seines Vaters, der sein bisheriges Studium finanziert hatte, für ihn einen einträglichen weltlichen Beruf erhoffte und auch schon an seine Bindung durch eine »ehrbare und reiche Heirat« dachte (WA 8, 573,24), begann er neben der Lehrtätigkeit als Artist im Sommersemester mit dem Studium der Rechtswissenschaften, das ihm freilich nichts bedeutete.
Noch während des ersten Semesters seines Jurastudiums ergab sich eine einschneidende Wende in Martins Leben: Am 17. Juli trat er in ein Erfurter Kloster ein. Diese Lebenswende ist mit vielen Fragen verbunden. Aus unbekannten Gründen war Martin für einige Tage in sein Elternhaus zurückgekehrt. Er berichtet in späteren Jahren, als er am 2. Juli zurückkehrte, habe ihn bei Stotternheim nahe Erfurt ein Blitz überrascht und so erschüttert, daß er in seinem Schrecken gesagt habe: »Hilff du, S. Anna, ich wil ein monch werden!« Als ihn hinterher sein Gelübde reute und viele ihm zuredeten, es nicht zu halten, blieb er standhaft, verabschiedete sich von seinen Freunden und hielt gegen den Willen seines erzürnten Vaters an seinem Vorsatz fest (WATR 4, Nr. 4707). Wer die spätmittelalterliche Frömmigkeit kennt, die von Furcht vor dem göttlichen Gericht und vor einem plötzlichen Tod ohne letzte Zuwendung der kirchlichen Gnadenmittel geprägt war, der kann seine Schilderung verstehen. Martin lebte noch tief in dieser Frömmigkeit – weit stärker als sein Vater, der durch den plötzlichen Entschluß seine Hoffnungen auf einen sozialen Aufstieg des Sohns zerstört sah und, »moderner« als dieser eingestellt, dem Mönchtum kritisch gegenüberstand (WATR 3, Nr. 3556A). Wahrscheinlich hat Martin das Gelübde nicht ganz unvorbereitet geleistet; es gibt Nachrichten darüber, daß er durch verschiedene Erschütterungen innerlich auf eine Änderung seiner Lebensplanung vorbereitet war. Das Kloster bot seinem tief verunsicherten Gewissen einen sicheren Weg, um sich aus den Anfechtungen zu retten, die ihn offenbar zunehmend bedrängten. Der vom Gewitter verursachte Todesschrecken dürfte die wohl seit längerem erwogene Entscheidung für diesen Weg ausgelöst haben.
Nach zweiwöchigen Überlegungen und Beratungen mit seinen Freunden, aber noch ohne Wissen seiner Eltern, wandte sich Martin am 17. Juli als Postulant (Bewerber) an das Erfurter Augustinereremiten-Kloster (wegen der Farbe der Ordenstracht »Schwarzes Kloster« genannt). Die Augustinereremiten waren ein Orden, der sich um die Mitte des 13. Jahrhunderts durch den Zusammenschluß mehrerer mittelitalienischer Eremitengemeinschaften gebildet hatte und die sogenannte »Augustinusregel« befolgte. In ihrer Verfassung als zentralisierter Personenverband wie in ihrer Lebensführung orientierten sie sich an den bestehenden Mendikantenorden (Bettelorden), besonders an den Dominikanern. Ein Leben in sexueller Enthaltsamkeit, der Verzicht des einzelnen wie der Gemeinschaft auf Eigentum und unbedingter Gehorsam gegenüber den Oberen machten sie ständig für geistliche Aufgaben verfügbar.
Da Martin sich nicht über die Gründe seiner Wahl geäußert hat, wurde in der neueren Forschung überlegt, weshalb er gerade diesen und nicht einen der anderen in Erfurt ansässigen Bettelorden (Dominikaner und Franziskaner) wählte. Zogen ihn der gute Ruf, in dem die Erfurter Augustiner standen, ihre besondere Strenge oder gar ihre enge Verbindung zur Universität an? War er durch die räumliche Nähe ihres Klosters zur Georgenburse, in der er als Artist gelebt hatte, auf sie aufmerksam geworden? Wir wissen es nicht. Auf keinen Fall dürfte ihn aber der Gedanke an eine weitere wissenschaftliche Karriere an der theologischen Fakultät zu diesem Schritt bewogen haben. Wer in ein Kloster eintritt, der verläßt damit bewußt die »Welt«, d. h. alles, was außerhalb des Klosters ist und geschieht. Mit der »ewigen« (unwiderruflichen) Profeß (Ablegung der Gelübde), dem endgültigen Kleiderwechsel und dem Empfang der Tonsur (dem Scheren des Hauptes bis auf einen Haarkranz) – im Mönchtum gleichsam als zweite Taufe verstanden – beginnt er ein neues Leben, das als ein Stand fortwährender Buße aufgefaßt wird. Der Tageslauf des Mönchs ist seit alters durch das regelmäßige Stundengebet (Horen) gegliedert. Es wird zu festen Zeiten von der Gemeinschaft im Chor gebetet und besteht vor allem aus dem Psalter, der in Verbindung mit anderen Texten einmal im Laufe der Woche vollständig rezitiert wird. Auch wenn die Augustinereremiten nicht alle Horen – herkömmlich sieben am Tag und eine in der Nacht – beteten wie die kontemplativen Gemeinschaften der Benediktiner und Zisterzienser, war das Pensum ihres Chordiensts beträchtlich.
Das in den Gelübden konkretisierte Mönchsideal blieb für Martin zwanzig Jahre hindurch die Grundlage seiner Existenz. Von 1505 bis 1525 – also im zweiten, entscheidenden Drittel seines Lebens – lebte er als Mönch. Als Mönch gewann er seine wegweisenden religiösen Erfahrungen und theologischen Erkenntnisse, als Mönch brach er mit der theologischen und kirchlichen Überlieferung und noch als Mönch begründete er eine neue Theologie und ein neues Kirchenwesen. Erst in den letzten Jahren dieses Zeitraums distanzierte er sich allmählich von der monastischen Lebensweise.
Nach der vorläufigen Aufnahme ins Kloster mußte Martin ein einjähriges Noviziat durchmachen, in dem er mit dem neuen Leben bis hin zum Bettel vertraut gemacht und zugleich auf seine Eignung für dieses Leben geprüft wurde. Das erste Jahr im Kloster schloß vermutlich im Spätsommer 1506 mit der feierlichen Profeß: der Ablegung der drei Gelübde Armut, Keuschheit und Gehorsam.
Weder klerikale Weihen noch eine weitere wissenschaftliche Ausbildung sind anfänglich mit dem Mönchsleben verbunden – im Gegenteil, sie gefährden das Mönchsein in seinem ursprünglichen Sinn. Freilich war zu Martins Zeit die Spannung zwischen Mönchsein und Priesteramt weitgehend geschwunden, so daß er sich nach der Profeß nicht gegen das Ansinnen seines Oberen sträubte, Priester zu werden. Voraussetzung für die Priesterweihe war damals noch nicht ein Theologiestudium. Doch mußte sich Martin auf die priesterlichen Aufgaben, vor allem die Abhaltung des Meßgottesdiensts und die Verwaltung der übrigen Sakramente, besonders der Buße, durch Lektüre von zwei modernen Handbüchern vorbereiten: der Erklärung der Meßfeier (Expositio canonis missae) des Tübinger Professors Gabriel Biel (vor 1410–1495) und des Beichthandbuchs (Summa de casibus conscientiae oder Summa Angelica) des italienischen Franziskaners Angelo da Clavasio (gest. 1495). Nachdem Martin an einem nicht genau bekannten Zeitpunkt (zwischen Februar und April 1507) zum Priester geweiht worden war, feierte er am 2. Mai 1507 seine Primiz (die erste von ihm selbst zelebrierte Meßfeier). Später berichtet er wiederholt, damals habe er beim Aussprechen von Gottesanreden im Meßkanon gestockt und sei von Schrecken vor der göttlichen Majestät ergriffen worden (WA 43, 382,1–6), ja wäre deshalb vom Altar weggelaufen, wenn ihn sein Prior nicht ermahnt hätte (WATR 2, Nr. 1558; 3, Nr. 3556A). Sein Vater, der mit zwanzig Begleitern und einem Geldgeschenk zu der Feier gekommen war, erinnerte Martin an das Gebot, die Eltern zu ehren, und redete ihm ins Gewissen, indem er fragte, ob das Erlebnis, das zu seinem Eintritt ins Kloster führte, nicht vielleicht ein Blendwerk gewesen sei (WA 8, 574,2; TR 3, Nr. 3556A u. ö.). Anders als sein Vater war Martin noch tief in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit gefangen. Die Frage des Vaters hat ihn heftig und noch lange Zeit beunruhigt.
Die Pflichten seines neuen Standes nahm der junge Mönch sehr ernst. Vor allem aus späteren Jahren liegen zahlreiche Äußerungen vor, in denen er auf seinen Eifer in der Erfüllung des Mönchsideals hinweist. Als ihm Herzog Georg von Sachsen (1471–1539) 1533 vorwarf, er habe seine Gelübde gebrochen, beteuerte er:
»War ists, Ein fromer Münch bin ich gewest, Und [habe] so gestrenge meinen Orden gehalten, das ichs sagen thar [wage]: ist jhe ein Münch gen himel komen durch Müncherey, so wolt ich auch hinein komen sein. Das werden mir zeugen alle meine Klostergesellen, die mich gekennet haben. Denn ich hette mich (wo es lenger geweret [gewährt] hette), zu tod gemartert mit wachen, beten, lesen und ander erbeit [Mühe] etc.« (WA 38, 143,25–29)
Mit der Bemühung waren aber auch heftige Anfechtungen verbunden. Je höher die Forderung ist, die der Mönch an sich selbst stellt, um so schwerer fällt es ihm, sie angemessen zu erfüllen, und um so leichter drängt sich ihm der Verdacht auf, er könne dieser auf Gott zurückgeführten Forderung nicht gewachsen sein und sei deshalb der Strafe verfallen, die das Versagen nach sich zieht. In Martin verbanden sich die spätmittelalterliche Angst vor dem richtenden Gott in der Gestalt Christi mit der Bedenklichkeit des besonders gewissenhaften Mönchs.
Gegenüber dem Einsiedler hat der in einer Gemeinschaft lebende Mönch aber den Vorteil, daß ihm Mitbrüder zur Seite stehen, vor allem Obere, die ihn seelsorgerlich betreuen. Unter seinen Vorgesetzten hatte einer für Martin in mehrfacher Hinsicht besondere Bedeutung: als Ordensoberer, der wiederholt in seinen Lebensgang eingriff, wie als Seelsorger, der ihm immer wieder Trost und Weisung für sein inneres Leben gab. Das war Johann von Staupitz (ca. 1468 Motterwitz bei Leisnig – 1524 Salzburg). Einem sächsischen Adelsgeschlecht entstammend war er nach dem artistischen Studium zwischen 1489 und 1494 dem reformierten Zweig der Augustinereremiten beigetreten. Schon im späten 14. Jahrhundert war nämlich wie bei anderen religiösen Gemeinschaften auch unter den Augustinereremiten eine Bewegung entstanden, die auf schärfere Beachtung (Observanz) der eigenen Regeln und Verfassungsdokumente drang und in ihrem Sinne Reformen in Klöstern und Orden durchführte. Die daraus hervorgegangene Reformkongregation der deutschen Augustinereremiten stand in Spannung zur Organisation des Ordens in Provinzen. Staupitz, seit 1497 Mitglied des Tübinger Konvents, dort 1500 zum Doktor der Theologie promoviert und anschließend Prior des Münchener Konvents, wechselte 1502 auf Wunsch des sächsischen Kurfürsten Friedrichs III., des Weisen (1463–1525) nach Wittenberg, um hier an der Gründung der Universität mitzuwirken. Diese wurde 1502 als vorletzte Gründung der sogenannten »zweiten Gründungswelle« deutscher Universitäten von Friedrich dem Weisen in einer seiner Residenzstädte errichtet. Zwölf Professuren wurden durch Pfründen der Chorherren des erweiterten Allerheiligenstifts besoldet, drei weitere hatten die beiden Bettelorden der Franziskaner und der erst zur Universitätsgründung nach Wittenberg geholten Augustinereremiten unbesoldet zu besetzen. Die Verfassung der neuen Universität war stark von Tübingen bestimmt. Die ältesten Statuten ihrer Artistenfakultät sind fast wörtlich aus Tübingen übernommen. Doch während dort mit den beiden »Wegen« via antiqua und via moderna gemeint waren, wurde in Wittenberg die via moderna nur kurz und einflußlos vertreten (1507–1510 durch Jodocus Trutfetter aus Erfurt). Hier wurden vielmehr die beiden Richtungen der via antiqua gelehrt: der Weg des Dominikaners Thomas von Aquin und der des Franziskaners Johannes Duns Scotus. Auf die theologische Fakultät hatten diese in stark harmonisierender Weise gelehrten philosophischen Richtungen keinen prägenden Einfluß. Sie wurde stärker davon bestimmt, daß die Verfassung der Universität trotz ihrer mittelalterlichen Grundstruktur von Anfang an nicht ganz abgeschlossen, sondern für Ergänzungen durch den Humanismus offen war. Als Professor hat später auch Martin Luther einiges zu ihrer Reform beigetragen.
Staupitz wurde sogleich Dekan der theologischen Fakultät und übernahm die Professur dieser Fakultät, die sein Orden zu besetzen hatte. Bereits 1503 wurde er jedoch als Nachfolger von Andreas Proles (1429–1503) Generalvikar der Reformkongregation der Augustinereremiten in Deutschland – ein Amt, das ihn von nun an stark in seiner Lehrtätigkeit behinderte. In seinem Bemühen um Ausweitung der Reform strebte er einen Zusammenschluß der sächsischen Ordensprovinz mit der deutschen Reformkongregation an. Im Dezember 1507 stellte der päpstliche Gesandte Kardinal Carvajal in Memmingen eine Bulle (päpstliche Urkunde) aus, die den von Staupitz angestrebten Zusammenschluß bestätigte. Das Kapitel der sächsischen Provinz in Münnerstadt am 9. September 1509 billigte die Union und wählte den Generalvikar der Observanten Staupitz zugleich zum Oberen der Provinz (Provinzial). Doch eine Minderheit von sieben observanten Konventen – darunter der Erfurter – leistete dagegen erbitterten Widerstand. Weil sie durch die Verbindung der beiden Ämter in einer Person eine Abschwächung der Observanz befürchtete, erklärte sie diese Verbindung für einen Verstoß gegen die Verfassung des Ordens.
Trotz seines großen Einsatzes in Ordensleitung und Ordenspolitik hat Staupitz weiterhin häufig gepredigt. Aus zwei Predigtreihen formte er Traktate, die rasch gedruckt wurden. Auch andere kleine Schriften haben erbaulichen Charakter. Alle seine Werke zeigen Staupitz als einen der Schultheologie fernstehenden, stark an Paulus und Augustinus orientierten, gegenüber äußerlichen Bräuchen und Institutionen zurückhaltenden seelsorgerlich-praxisbezogenen Theologen, in dessen Denken das durch Christus vermittelte Verhältnis des einzelnen zu Gott eine zentrale Rolle spielt.
Doch nicht so sehr durch seine Veröffentlichungen als durch persönlichen Zuspruch und Weisungen hat Staupitz dem jungen Mitbruder in seinen religiösen Nöten und Anfechtungen wiederholt hilfreichen Rat gegeben. Noch in späteren Jahren erinnerte dieser sich gerne daran:
»Als ich ins Kloster eingetreten war, geschah es, daß ich ständig traurig und betrübt einherging und diese Traurigkeit nicht ablegen konnte. Deswegen bat ich Doktor Staupitz um Rat und beichtete ihm, einem Mann, den ich gerne erwähne, und bekannte ihm, welch schreckliche Gedanken ich hatte. Darauf sagte jener: Du weißt nicht, Martin, wie nützlich und notwendig dir jene Anfechtung ist; denn Gott beunruhigt dich so nicht ohne Grund. Du wirst sehen, daß er dich als Diener für große Vorhaben gebraucht. Und so geschah es.« (WAB 5, 519,25–32 [1530])
Wenn Martin sich wegen verbotener Regungen für verdammt hielt, wies Staupitz ihn auf den Heiland hin: »So habe ich Christus, enthalte mich der Begierde, so gut ich kann, und was ich nicht habe, das verzeiht er durch die Vergebung der Sünden« (WA 40II, 92,6–8). Offenbar hat Staupitz seinen von Gewissensnöten geplagten Mitbruder besonders wirksam auf die Bedeutung Christi für sein persönliches Leben hingewiesen: »Man mus den man ansehen, der da heyst Christus.« Martin fügt knapp hinzu: »Staupicius hat die doctrinam [Lehre] angefangen« (WATR 1, Nr. 526 [1533]). 1522 trat Staupitz in das Benediktinerkloster St. Peter zu Salzburg ein und ließ sich hier zum Abt wählen. Trotz seiner Enttäuschung über diesen Schritt versicherte Martin ihm, durch ihn habe zuerst das Licht des Evangeliums in der Finsternis seines Herzens aufzuleuchten begonnen (WAB 3, 155,7 f.). Diese und viele andere Äußerungen zeigen, wie viel der Zuspruch des Oberen zur religiösen Entwicklung Martins beigetragen hat. Seine theologische Entwicklung, die ihn schließlich in die Öffentlichkeit führen sollte, vollzog sich aber auf einem anderen Weg, auf den ihn freilich ebenfalls Staupitz gebracht hatte.
Martin war nach der Sitte seiner Zeit Priester geworden, ohne eine regelrechte theologische Ausbildung genossen zu haben. Doch der Orden hatte schon früh seine geistige Eignung zu einer Laufbahn als Theologe erkannt. Deshalb bestimmte er ihn bald nach seiner Priesterweihe zum Studium an der theologischen Fakultät der Universität Erfurt, das er wohl schon im Sommersemester 1507 aufnahm. Als Magister artium besaß er die formale Voraussetzung dazu. Er hat das Studium planmäßig, jedoch ungewöhnlich rasch absolviert.
Das Theologiestudium besaß zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch genau die Grundstruktur, die sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts zuerst an der Universität Paris entwickelt hatte. Nachdem der Theologiestudent zunächst als Hörer an Vorlesungen und Disputationen teilgenommen hatte, wurde er zum »Baccalaureus biblicus« graduiert. Als solcher mußte er den Inhalt je eines Buches des Alten und des Neuen Testaments relativ rasch (kursorisch) darlegen (daher auch der Titel »Cursor«). Anschließend hatte er als »Baccalaureus sententiarius« die vier Sentenzenbücher des Petrus Lombardus (gest. 1161) zu erklären, eine systematisch nach Themen geordnete Sammlung vor allem von Zitaten aus der Bibel und der altkirchlichen Literatur. Waren die ersten beiden Bücher erklärt, so mußte man unter dem Titel eines »Baccalaureus (sententiarius) formatus« noch die beiden letzten auslegen. Im Laufe dieses Studiums hatte man auch zunehmend aktiv an den von den Professoren geleiteten Disputationen mitzuwirken. Nach frühestens fünf Jahren konnte man zum »Lizentiaten« der Theologie promoviert werden; der Grad verlieh die Befugnis (licentia), die Heilige Schrift in aller nötigen Ausführlichkeit zu kommentieren und selbst Disputationen zu veranstalten, für die man als Leiter Thesen aufstellte und an deren Ende man das Ergebnis formulierte. Der Titel »Magister« (Doktor) erhöhte zwar das Ansehen des Lehrenden, setzte aber keine weiteren wissenschaftlichen Leistungen voraus, sondern erforderte nur beträchtliche Ausgaben für den Doktorschmaus und Geschenke, so daß sich manche Theologen mit der Lizenz begnügten.
Über den äußeren Verlauf von Martins Theologiestudium wissen wir wenig. Von Herbst 1508 bis Herbst 1509 war er an die Universität Wittenberg abgeordnet. Zusammen mit ihm wurden sechs weitere Augustiner immatrikuliert: eine kräftige Verstärkung des Ordens an der jungen Universität. Luther sollte zugleich die Professur an der Artistenfakultät vertreten, zu deren Besetzung sich sein Orden verpflichtet hatte. Er las über Moralphilosophie an Hand der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Gleichzeitig setzte er sein Theologiestudium fort. Am 8./9. März 1509 erwarb er den Grad eines »Baccalaureus biblicus« und las jetzt kursorisch über die Bibel, nahm aber weiterhin an Lehrveranstaltungen der Professoren teil. Nachdem er bereits die Disputation zur Erlangung des Grades eines »Baccalaureus sententiarius« absolviert hatte, wurde er im Herbst 1509 plötzlich nach Erfurt zurückversetzt. Vielleicht dürfen wir darin ein Zeichen des Protests des observanten Erfurter Konvents gegen die Ordenspolitik Johanns von Staupitz sehen. Erst nach einigen Schwierigkeiten erhielt Martin wohl im Frühjahr 1510 in Erfurt den Grad eines Sententiars. Das Exemplar der Sentenzen, in das er Notizen zur Vorbereitung seiner Vorlesung eintrug, blieb erhalten und läßt manche selbständigen Züge in Martins Arbeit erkennen. Von humanistischen Interessen zeugt, wie er Belege für den hebräischen Gottesnamen elohim zusammenträgt (AWA 9, 270–272). Zugleich begann er sich in einer Kritik an der scholastischen Tugendlehre bereits von dem rüde kritisierten Aristoteles abzusetzen (AWA 9, 320,6 f.). Andere erhaltene Bücher aus dem Erfurter Konvent mit Martins Eintragungen – gewiß nur ein Teil seiner Lektüre – zeigen, wie breit schon damals sein Interesse war. Neben scholastischer Literatur las er Augustinus (unter anderem die großen Werke De trinitate und De civitate Dei), das Gesamtwerk Anselms von Canterbury und kleine Schriften des Franziskanertheologen Bonaventura: durchweg Werke, die den Horizont der Schultheologie aufbrachen.
Die Eintragungen im Erfurter Exemplar der Sentenzen zeigen, daß Luther hier die drei ersten Sentenzenbücher auslegte, während das vierte Buch nur noch zwei Bemerkungen aufweist. Im Spätsommer 1511 brach er nämlich nach Vollendung des dritten Buches seine Vorlesung ab, um dem erneuten Ruf seines Oberen Staupitz nach Wittenberg zu folgen, jetzt mit dem Ziel, hier seine theologische Ausbildung mit einer Doktorpromotion abzuschließen. Staupitz wünschte durch einen Nachfolger auf der theologischen Professur, die das Augustinerkloster zu besetzen hatte, seine Doppelbelastung zu beenden. Martin erinnerte sich später daran, wie ihn der Obere, unter einem Birnbaum im Klostergarten sitzend, zum Erwerb des Doktorgrads aufgefordert hatte. Auf Martins Einwand, dieses Unterfangen werde seine letzten Kräfte aufzehren, habe Staupitz geantwortet, Gott benötige im Himmel kluge Ratgeber, denen er Martin, falls er sterben sollte, beigesellen werde (WATR 2, Nr. 2255 u. ö.). Das war natürlich Ironie; Staupitz wußte wohl, was er seinem jungen Mitbruder zumuten konnte.