J.M. Coetzee
Die Kindheit Jesu
Roman
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke
FISCHER E-Books
J. M. Coetzee, der 1940 in Kapstadt geboren ist und von 1972 bis 2002 als Literaturprofessor in seiner Heimatstadt lehrte, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er wurde für seine Romane und sein umfangreiches essayistisches Werk mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweimal mit dem Booker Prize, 1983 für ›Leben und Zeit des Michael K.‹ und 1999 für ›Schande‹. 2003 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Coetzee lebt seit 2002 in Adelaide, Australien.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
›The Childhood of Jesus‹ bei Harvill Secker, London
© 2013 by J. M. Coetzee
By arrangement with Peter Lampack Agency, Inc.,
350 Fifth Avenue, Suite 5300, New York, NY 10118, USA
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg / Sybille Dörfler nach einer Idee von WH Chong
Coverabbildung: iStockphoto
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402844-6
Im Englischen »godfather«, wie der Patensohn »godson« genannt wird – ein unübersetzbares Wortspiel.
Im Original deutsch.
Für D.K.C.
Der Mann am Tor zeigt auf ein niedriges, langgestrecktes Gebäude in einiger Entfernung. »Wenn ihr euch beeilt«, sagt er, »könnt ihr euch noch anmelden, bevor sie für heute schließen.«
Sie beeilen sich. Centro de Reubicación Novilla steht auf dem Schild. Reubicación – was bedeutet das? Das Wort hat er nicht gelernt.
Das Büro ist groß und leer. Auch heiß – noch heißer als draußen. Ganz hinten nimmt ein hölzerner Schalter die gesamte Raumbreite ein, unterteilt durch Milchglasscheiben. An der Wand steht eine Reihe niedriger Aktenschränke aus lackiertem Holz.
Über einem der Abteile hängt ein Schild: Recién Llegados, die Wörter wurden mittels einer Schablone schwarz auf ein Papprechteck gemalt. Die Beamtin hinter dem Schalter, eine junge Frau, begrüßt ihn mit einem Lächeln.
»Guten Tag«, sagt er. »Wir sind Neuankömmlinge.« Er spricht die Worte langsam aus, in dem Spanisch, das er sich mühevoll angeeignet hat. »Ich suche Arbeit, auch eine Unterkunft.« Er fasst den Jungen unter den Achseln und hebt ihn hoch, damit sie ihn richtig sehen kann. »Ich habe ein Kind dabei.«
Die junge Frau streckt dem Jungen die Hand hin. »Hallo, junger Mann!«, sagt sie. »Ihr Enkel?«
»Nicht mein Enkel, auch nicht mein Sohn, aber ich bin für ihn verantwortlich.«
»Eine Unterkunft.« Sie schaut in ihre Unterlagen. »Wir haben hier im Zentrum ein freies Zimmer, das Sie nutzen können, während Sie sich nach etwas Besserem umsehen. Es wird nicht besonders komfortabel sein, aber vielleicht macht Ihnen das nichts aus. Was eine Arbeit angeht, lassen Sie uns das morgen früh erkunden – Sie sehen müde aus, sicher wollen Sie sich ausruhen. Sind Sie weit gereist?«
»Wir sind die ganze Woche unterwegs gewesen. Wir kommen aus Belstar, aus dem Lager. Kennen Sie Belstar?«
»Ja, ich kenne Belstar gut. Ich bin selbst über Belstar hergekommen. Haben Sie dort Spanisch gelernt?«
»Sechs Wochen lang hatten wir jeden Tag Unterricht.«
»Sechs Wochen? Sie haben Glück gehabt. Ich bin drei Monate lang in Belstar gewesen. Ich bin vor Langeweile fast gestorben. Nur der Spanischunterricht hat mich durchhalten lassen. Hatten Sie zufällig Señora Piñera als Lehrerin?«
»Nein, wir hatten einen Lehrer.« Er zögert. »Darf ich auf etwas anderes zu sprechen kommen? Mein Junge« – er sieht das Kind an – »fühlt sich nicht wohl. Das kommt zum Teil daher, dass er verstört ist, verwirrt und verstört, und nicht richtig gegessen hat. Das Essen im Lager war für ihn ungewohnt, er mochte es nicht. Können wir hier irgendwo eine anständige Mahlzeit bekommen?«
»Wie alt ist er denn?«
»Fünf. Sein Alter wurde mit fünf angegeben.«
»Und Sie sagen, er ist nicht Ihr Enkel.«
»Nicht mein Enkel, auch nicht mein Sohn. Wir sind nicht verwandt. Hier« – er holt die zwei Ausweise aus seiner Tasche und reicht sie ihr.
Sie kontrolliert die Ausweise. »Die sind in Belstar ausgestellt worden?«
»Ja. Dort hat man uns auch unsere Namen gegeben, unsere spanischen Namen.«
Sie beugt sich über den Schalter. »David – das ist ein netter Name«, sagt sie. »Gefällt dir dein Name, junger Mann?«
Der Junge blickt sie ruhig an, antwortet jedoch nicht. Was sieht sie? Ein schmales, blasses Kind in einem bis zum Hals zugeknöpften Wollmantel, kurzen grauen Hosen, die bis über die Knie reichen, mit schwarzen Schnürstiefeln über Wollsocken und einer schräg aufgesetzten Tuchmütze.
»Ist es dir in den Sachen nicht sehr heiß? Möchtest du den Mantel ausziehen?«
Der Junge schüttelt den Kopf.
Er mischt sich ein. »Die Sachen stammen aus Belstar. Er hat sie selbst ausgesucht aus dem, was zur Verfügung stand. Er hat sich sehr an sie gewöhnt.«
»Ich verstehe. Ich habe gefragt, weil er mir für einen Tag wie den heutigen etwas zu warm angezogen schien. Zu Ihrer Information: Wir haben hier im Zentrum eine Kleiderkammer, der die Leute Sachen spenden, die ihren Kindern zu klein geworden sind. Sie ist an Wochentagen jeden Vormittag geöffnet. Dort können Sie sich gern etwas aussuchen. Sie haben dort eine größere Auswahl als in Belstar.«
»Vielen Dank.«
»Und dann können Sie sich auch, wenn Sie alle erforderlichen Formulare ausgefüllt haben, auf Ihren Ausweis Geld auszahlen lassen. Sie bekommen eine Umsiedlungsbeihilfe von vierhundert Reales. Der Junge ebenfalls. Für jeden vierhundert.«
»Vielen Dank.«
»Und nun möchte ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen.« Sie beugt sich hinüber zur Frau am Nachbarschalter, der mit Trabajos gekennzeichnet ist, und flüstert mit ihr. Die Frau zieht eine Schublade auf, sucht darin, schüttelt den Kopf.
»Es gibt ein kleines Problem«, sagt die junge Frau. »Offenbar haben wir den Schlüssel zu Ihrem Zimmer nicht. Die Gebäudeaufsicht muss ihn haben. Der Name der Beamtin ist Señora Weiss. Gehen Sie zum Haus C. Ich werde Ihnen eine Skizze machen. Wenn Sie Señora Weiss finden, bitten Sie sie, Ihnen den Schlüssel für C-55 zu geben. Sagen Sie ihr, Ana vom Hauptbüro schickt Sie.«
»Wäre es nicht einfacher, uns ein anderes Zimmer zu geben?«
»Leider ist C-55 das einzige freie Zimmer.«
»Und etwas zu essen?«
»Zu essen?«
»Ja. Können wir irgendwo etwas zu essen bekommen?«
»Wenden Sie sich auch in dieser Angelegenheit an Señora Weiss. Sie kann Ihnen bestimmt helfen.«
»Danke. Eine letzte Frage: Gibt es hier Organisationen, die darauf spezialisiert sind, Menschen zusammenzuführen?«
»Menschen zusammenführen?«
»Ja. Bestimmt suchen doch viele nach Angehörigen. Gibt es Organisationen, die bei der Zusammenführung von Familien helfen – von Familien, Freunden, Paaren?«
»Nein, von einer solchen Organisation habe ich nie gehört.«
Weil er müde und orientierungslos ist, aber auch weil die Skizze, die die junge Frau für ihn gemacht hat, nicht eindeutig ist und weil es keine Hinweisschilder gibt, braucht er lange, bis er Haus C und das Büro von Señora Weiss findet. Die Tür ist zu. Er klopft. Keine Reaktion.
Er hält eine Frau an, die vorübergeht, eine sehr kleine Frau mit einem Spitzmausgesicht, die die schokoladenfarbene Uniform des Zentrums trägt. »Ich suche Señora Weiss«, sagt er.
»Sie ist weg«, sagt die junge Frau, und als er nicht versteht: »Weg für heute. Kommen Sie morgen früh wieder.«
»Dann können Sie uns vielleicht helfen. Wir suchen den Schlüssel zum Zimmer C-55.«
Die junge Frau schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, für Schlüssel bin ich nicht zuständig.«
Sie gehen zurück zum Centro de Reubicación. Die Tür ist verschlossen. Er pocht ans Glas. Kein Lebenszeichen drinnen. Er pocht erneut.
»Ich habe Durst«, quengelt der Junge.
»Halt noch ein wenig aus«, sagt er. »Ich suche einen Wasserhahn.«
Die junge Frau, Ana, kommt um die Seite des Gebäudes. »Haben Sie geklopft?«, fragt sie. Wieder ist er beeindruckt: von ihrer Jugend, von der Gesundheit und Frische, die sie ausstrahlt.
»Señora Weiss ist offenbar nach Hause gegangen«, sagt er. »Können Sie nicht irgendetwas tun? Haben Sie keinen – wie heißt das? – llave universal, um unser Zimmer aufzuschließen?«
»Llave maestra. So etwas wie einen llave universal gibt es nicht. Wenn wir einen llave universal hätten, wären alle unsere Probleme gelöst. Nein, Señora Weiss ist die Einzige, die einen llave maestra für Haus C hat. Haben Sie vielleicht einen Freund, der Sie für die Nacht aufnehmen kann? Dann können Sie morgen früh wiederkommen und mit Señora Weiss sprechen.«
»Einen Freund, der uns aufnehmen kann? Wir sind vor sechs Wochen in diesem Land angekommen, haben seitdem in einem Zelt in einem Lager draußen in der Wüste gehaust. Wie können Sie erwarten, dass wir hier Freunde haben, die uns aufnehmen werden?«
Ana runzelt die Stirn. »Gehen Sie zum Haupttor«, befiehlt sie. »Warten Sie vor dem Tor auf mich. Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Sie gehen durchs Tor, überqueren die Straße und setzen sich in den Schatten eines Baumes. Der Junge lehnt den Kopf an seine Schulter. »Ich habe Durst«, klagt er. »Wann findest du einen Wasserhahn?«
»Pst«, sagt er. »Hör den Vögeln zu.«
Sie lauschen dem fremden Vogelgesang, spüren den fremden Wind auf der Haut.
Ana taucht auf. Er steht auf und winkt. Auch der Junge erhebt sich, die Arme steif herabhängend, die Daumen in den Fäusten vergraben.
»Ich habe hier etwas Wasser für Ihren Sohn«, sagt sie. »Hier, David, trink.«
Das Kind trinkt, gibt ihr die Tasse zurück. Sie steckt sie in ihre Tasche. »War das gut?«, fragt sie.
»Ja.«
»Gut. Folgt mir. Es ist ein ziemlicher Fußmarsch, aber ihr könnt es ja als sportliche Betätigung ansehen.«
Rasch schreitet sie auf dem Pfad durch die Parklandschaft. Eine attraktive junge Frau, ganz gewiss, obwohl die Kleidung, die sie trägt, ihr kaum steht: ein dunkler, formloser Rock, eine weiße Bluse, die den Hals eng umschließt, flache Schuhe.
Allein könnte er vielleicht mit ihr Schritt halten, aber mit dem Kind in den Armen schafft er es nicht. Er ruft ihr zu: »Bitte – nicht so schnell!« Sie hört nicht auf ihn. In immer größer werdendem Abstand folgt er ihr quer durch den Park, über eine Straße, über eine zweite Straße.
Vor einem schmalen, bescheiden wirkenden Haus bleibt sie stehen und wartet. »Hier wohne ich«, sagt sie. Sie schließt die Haustür auf. »Folgt mir.«
Sie führt sie einen düsteren Flur entlang, durch eine Hintertür, morsche Holzstufen hinunter in einen kleinen Hof, in dem Gras und Unkraut wuchern, auf zwei Seiten von einem Holzzaun umgeben und auf der dritten Seite von einem Maschendrahtzaun.
»Setzt euch«, sagt sie und deutet auf einen rostigen gusseisernen Stuhl, der halb im Gras verborgen ist. »Ich besorge euch was zu essen.«
Er möchte sich nicht setzen. Er wartet mit dem Jungen bei der Tür.
Die junge Frau erscheint wieder mit einem Teller und einem Krug. Im Krug ist Wasser. Auf dem Teller liegen vier Scheiben Brot mit Margarine. Genau dasselbe hatten sie zum Frühstück beim Wohlfahrtsstützpunkt.
»Als Neuankömmling sind Sie gesetzlich verpflichtet, in einer offiziell zugelassenen Unterkunft oder aber im Zentrum zu wohnen«, sagt sie. »Doch es geht in Ordnung, wenn Sie die erste Nacht hier verbringen. Da ich beim Zentrum beschäftigt bin, können wir behaupten, dass mein Zuhause als offiziell zugelassene Unterkunft gilt.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, sehr großzügig«, sagt er.
»Dort drüben sind noch einige übrig gebliebene Baumaterialien.« Sie deutet darauf. »Sie können sich einen Unterschlupf bauen, wenn Sie möchten. Soll ich Sie jetzt machen lassen?«
Er starrt sie verblüfft an. »Ich weiß nicht, ob ich verstanden habe«, sagt er. »Wo genau werden wir die Nacht verbringen?«
»Hier.« Sie deutet auf den Hof. »Ich bin gleich zurück und überzeuge mich, wie Sie zurechtkommen.«
Die fraglichen Baumaterialien sind ein halbes Dutzend Wellbleche, stellenweise durchgerostet – zweifellos alte Dachbleche – und einige Bauholzreste. Ist das ein Test? Will sie wirklich, dass er und das Kind im Freien schlafen? Er wartet auf die versprochene Rückkehr, aber sie kommt nicht. Er klinkt an der Hintertür – sie ist verschlossen. Er klopft; nichts rührt sich.
Was ist hier los? Steht sie hinter der Gardine und beobachtet, wie er reagiert?
Sie sind keine Gefangenen. Es wäre eine leichte Sache, den Maschendrahtzaun zu überwinden und sich davonzumachen. Sollten sie das tun – oder sollte er abwarten, was als Nächstes geschieht?
Er wartet. Als sie wieder auftaucht, geht die Sonne gerade unter.
»Viel haben Sie nicht getan«, bemerkt sie stirnrunzelnd. »Hier.« Sie reicht ihm eine Flasche Wasser, ein Handtuch, eine Rolle Toilettenpapier; und als er sie fragend ansieht: »Keiner schaut zu.«
»Ich habe mich anders entschieden«, sagt er. »Wir gehen zurück zum Zentrum. Dort muss es einen Aufenthaltsraum geben, wo wir die Nacht verbringen können.«
»Das können Sie nicht. Die Tore zum Zentrum sind geschlossen. Sie schließen um sechs.«
Verärgert geht er mit großen Schritten zum Stapel mit den Wellblechen, zieht zwei davon hervor und lehnt sie schräg an den Holzzaun. Dasselbe macht er mit einem dritten und vierten Blech und schafft so einen behelfsmäßigen Unterschlupf. »Haben Sie das für uns vorgesehen?«, sagt er an sie gewandt. Aber sie ist fort.
»Hier werden wir heute Nacht schlafen«, sagt er dem Jungen. »Das wird ein Abenteuer.«
»Ich habe Hunger«, sagt der Junge.
»Du hast dein Brot nicht gegessen.«
»Ich mag kein Brot.«
»Nun, du wirst dich dran gewöhnen müssen, weil es nichts anderes gibt. Morgen werden wir was Besseres finden.«
Misstrauisch nimmt der Junge eine Scheibe Brot und knabbert daran. Seine Fingernägel sind schwarz vor Schmutz, bemerkt er.
Als das letzte Tageslicht schwindet, legen sie sich in ihren Unterschlupf, er auf ein Bett aus Unkraut, der Junge in seine Armbeuge. Bald ist der Junge mit dem Daumen im Mund eingeschlafen. In seinem Fall will der Schlaf nicht kommen. Er hat keinen Mantel; nach kurzer Zeit dringt die Kälte in seinen Körper; er beginnt zu frösteln.
Es ist nicht schlimm, es ist nur Kälte, sie bringt dich nicht um, sagt er sich. Die Nacht wird vergehen, die Sonne aufgehen, der Tag kommen. Nur krabbelnde Insekten mögen ihm erspart bleiben. Krabbelnde Insekten wären wirklich zu viel.
Er ist eingeschlafen.
In den frühen Morgenstunden wacht er auf, mit vor Kälte steifen und schmerzenden Gliedern. Zorn steigt in ihm hoch. Wozu dieses sinnlose Elend? Er kriecht aus dem Unterschlupf, tastet sich zur Hintertür und klopft, zuerst diskret, dann immer lauter.
Über ihm geht ein Fenster auf; im Mondlicht kann er schwach das Gesicht der jungen Frau erkennen. »Ja?«, sagt sie. »Stimmt etwas nicht?«
»Nichts stimmt«, sagt er. »Hier draußen ist es kalt. Lassen Sie uns bitte ins Haus.«
Es entsteht eine lange Pause. Dann: »Warten Sie«, sagt sie.
Er wartet. Dann: »Hier«, sagt ihre Stimme.
Es fällt ihm etwas vor die Füße – eine Decke, nicht allzu groß, vierfach zusammengelegt, aus irgendeinem groben Stoff, nach Kampfer riechend.
»Warum behandeln Sie uns so?«, ruft er. »Wie Dreck?«
Das Fenster schlägt zu.
Er kriecht zurück in den Unterschlupf, wickelt die Decke um sich und das schlafende Kind.
Er wird durch lärmenden Vogelgesang geweckt. Der Junge, immer noch fest schlafend, liegt abgewandt von ihm, seine Mütze unter der Wange. Seine eigenen Sachen sind feucht vom Tau. Er nickt wieder ein. Als er die Augen erneut öffnet, blickt die junge Frau auf ihn herunter. »Guten Morgen«, sagt sie. »Ich habe euch was zum Frühstück gebracht. Ich muss bald gehen. Wenn ihr fertig seid, lasse ich euch hinaus.«
»Uns hinauslassen?«
»Durch das Haus hinaus. Beeilt euch bitte. Vergesst nicht die Decke und das Handtuch mitzubringen.«
Er weckt das Kind. »Komm«, sagt er, »Zeit zum Aufstehen. Zeit fürs Frühstück.«
Sie pinkeln Seite an Seite in einer Ecke des Hofes.
Das Frühstück ist, wie sich herausstellt, wieder Brot und Wasser. Das Kind rümpft die Nase; er selbst hat keinen Hunger. Er lässt das Tablett unberührt auf der Stufe stehen. »Wir können jetzt gehen«, ruft er.
Die junge Frau führt sie durch das Haus auf die leere Straße hinaus. »Auf Wiedersehen«, sagt sie. »Sie können heute Abend wiederkommen, wenn es nötig ist.«
»Was ist mit dem Zimmer im Zentrum, das Sie uns versprochen haben?«
»Wenn man den Schlüssel nicht finden sollte oder das Zimmer in der Zwischenzeit vergeben wurde, können Sie wieder hier schlafen. Auf Wiedersehen.«
»Einen Moment bitte. Können Sie uns mit etwas Geld aushelfen?« Bisher musste er nicht betteln, aber er weiß nicht, an wen er sich sonst wenden soll.
»Ich habe gesagt, dass ich Ihnen helfen werde, ich habe nicht gesagt, dass ich Sie mit Geld versorgen werde. Dafür müssen Sie in die Büros der Asistencia Social gehen. Sie können mit dem Bus in die Stadt fahren. Nehmen Sie auf jeden Fall Ihren Ausweis und Ihren Aufenthaltsnachweis mit. Dann können Sie Ihre Umsiedlungsbeihilfe einlösen. Sie können sich aber auch eine Arbeit suchen und um einen Vorschuss bitten. Ich werde heute Vormittag nicht im Zentrum sein, ich muss zu Sitzungen, aber wenn Sie hingehen und sagen, dass Sie Arbeit suchen und un vale wollen, werden sie wissen, was Sie meinen. Un vale. Jetzt muss ich mich wirklich beeilen.«
Der Pfad, auf dem er und der Junge durch die menschenleere Parklandschaft gehen, erweist sich als der falsche; als sie endlich beim Zentrum ankommen, steht die Sonne schon hoch am Himmel. Hinter dem Trabajos-Schalter sitzt eine Frau mittleren Alters mit strengem Gesicht und über den Ohren nach hinten frisiertem, straff zusammengebundenem Haar.
»Guten Morgen«, sagt er. »Wir haben uns gestern angemeldet. Wir sind Neuankömmlinge und ich suche Arbeit. Ich habe gehört, Sie können mir un vale geben.«
»Vale de trabajo«, sagt die Frau. »Zeigen Sie mir Ihren Ausweis.«
Er reicht ihr seinen Ausweis. Sie prüft ihn, gibt ihn zurück. »Ich stelle Ihnen ein vale aus, aber was die Art der Arbeit angeht, die Sie machen wollen, da müssen Sie sich schon selbst entscheiden.«
»Können Sie mir einen Tipp geben, wo ich anfangen sollte? Das ist alles neu für mich.«
»Versuchen Sie es im Hafen«, sagt die Frau. »Dort brauchen sie gewöhnlich Arbeiter. Nehmen Sie den Bus Nr. 29. Er fährt alle halbe Stunde vor dem Haupttor ab.«
»Ich habe kein Geld für Busse. Ich habe überhaupt kein Geld.«
»Der Bus ist umsonst. Alle Busse sind umsonst.«
»Und eine Unterkunft? Darf ich die Frage einer Unterkunft ansprechen? Die junge Dame, die gestern Dienst hatte, sie heißt Ana, hat ein Zimmer für uns reserviert, aber wir konnten nicht hinein.«
»Es gibt keine freien Zimmer.«
»Gestern war ein Zimmer frei, Zimmer C-55, aber der Schlüssel war nicht da. Señora Weiss hatte ihn bei sich.«
»Davon weiß ich nichts. Kommen Sie heute Nachmittag wieder.«
»Kann ich nicht mit Señora Weiss sprechen?«
»Heute Vormittag findet eine Versammlung des leitenden Personals statt. Señora Weiss nimmt daran teil. Sie ist heute Nachmittag wieder da.«
Im Bus 29 schaut er sich das vale de trabajo an, das man ihm gegeben hat. Es ist nur ein von einem Notizblock abgerissener Zettel, auf den gekritzelt steht: »Der Inhaber ist Neuankömmling. Bitte berücksichtigen Sie ihn bei der Arbeitsvergabe.« Kein Amtsstempel, keine Unterschrift, lediglich die Initialen P. X. Es wirkt alles sehr formlos. Ob das ausreicht, um ihm Arbeit zu beschaffen?
Sie sind die letzten Fahrgäste, die aussteigen. Wenn man bedenkt, wie weitläufig die Hafenanlagen sind – so weit das Auge reicht erstrecken sich flussaufwärts Kais –, wirkt alles seltsam verlassen. Nur auf einem Kai scheint etwas los zu sein: Ein Frachter wird beladen oder entladen, Männer gehen eine Planke hinauf und hinunter.
Er wendet sich an einen hochgewachsenen Mann im Overall, der offenbar das Geschehen überwacht. »Guten Tag«, sagt er. »Ich suche Arbeit. Im Umsiedlungszentrum hat man mir gesagt, ich solle mich hierher wenden. Sind Sie der richtige Ansprechpartner? Ich habe ein vale.«
»Sie können mit mir sprechen«, sagt der Mann. »Aber sind Sie nicht etwas zu alt für einen estibador?«
Estibador? Er schaut offenbar verblüfft drein, denn der Mann (der Vorarbeiter?) stellt pantomimisch dar, dass er sich eine Last auf den Rücken lädt und unter dem Gewicht schwankt.
»Ah, estibador!«, ruft er aus. »Entschuldigen Sie, mein Spanisch ist nicht besonders gut. Nein, überhaupt nicht zu alt.«
Stimmt das, was er sich gerade sagen gehört hat? Ist er wirklich nicht zu alt für schwere Arbeit? Er fühlt sich nicht alt, wie er sich auch nicht jung fühlt. Er hat überhaupt kein Gefühl für sein Alter. Er fühlt sich alterslos, wenn das möglich ist.
»Versuchen Sie es mit mir«, schlägt er vor. »Wenn Sie entscheiden, dass ich es nicht schaffe, werde ich sofort aufgeben, ohne es Ihnen übelzunehmen.«
»Gut«, sagt der Vorarbeiter. Er knüllt das vale zusammen und wirft es in hohem Bogen ins Wasser. »Du kannst sofort anfangen. Der Junge gehört zu dir? Er kann hier bei mir bleiben, wenn du willst. Ich habe ein Auge auf ihn. Und was dein Spanisch angeht – mach dir keine Gedanken, bleib dran. Eines Tages empfindet man es nicht mehr als eine Sprache, es wird ganz selbstverständlich.«
Er wendet sich an den Jungen. »Willst du bei dem Herrn hier bleiben, während ich die Säcke tragen helfe?«
Der Junge nickt. Er hat wieder den Daumen im Mund.
Die Planke ist gerade breit genug für einen Mann. Er wartet, während ein Schauermann mit einem prall gefüllten Sack auf dem Rücken herabkommt. Dann klettert er aufs Deck und eine stabile Holzleiter hinunter in den Laderaum. Seine Augen brauchen eine Weile, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Im Laderaum stapeln sich gleichförmige prall gefüllte Säcke, Hunderte, vielleicht Tausende.
»Was ist in den Säcken?«, fragt er den Mann neben sich.
Der Mann wirft ihm einen seltsamen Blick zu. »Granos«, sagt er.
Er möchte fragen, was die Säcke wiegen, aber es ist keine Zeit dazu. Er ist an der Reihe.
Oben auf dem Stapel hockt ein großer Kerl mit muskulösen Armen und einem breiten Grinsen, dessen Aufgabe es offensichtlich ist, dem nächsten in der Reihe wartenden Schauermann einen Sack auf die Schultern zu laden. Er wendet ihm den Rücken zu, der Sack kommt herab; er schwankt, packt dann die Zipfel, wie er es bei den anderen Männern beobachtet hat, tut einen ersten Schritt, einen zweiten. Ist er wirklich in der Lage, die Leiter hochzusteigen, mit dieser schweren Last auf dem Rücken, wie die anderen? Schafft er das?
»Langsam, viejo«, sagt eine Stimme hinter ihm. »Lass dir Zeit.«
Er setzt den linken Fuß auf die unterste Leitersprosse. Es ist eine Sache der Balance, sagt er sich, des Gleichgewichts, der Sack darf nicht verrutschen oder sein Inhalt sich verlagern. Wenn die Dinge erst einmal ins Rutschen und Gleiten kommen, bist du geliefert. Vom Schauermann wirst du wieder zum Bettler, der in einem Wellblechunterschlupf im Hinterhof einer Fremden vor Kälte zittert.
Er zieht den rechten Fuß hoch. Allmählich lernt er etwas über die Leiter – wenn du dich mit dem Brustkorb an ihr abstützt, dann stabilisiert dich das Gewicht des Sacks, statt dass es dich aus dem Gleichgewicht zu bringen droht. Sein linker Fuß findet die zweite Sprosse. Von unten kommt ein kurzer Applaus. Er beißt die Zähne zusammen. Noch achtzehn Stufen (er hat sie gezählt). Er wird nicht versagen.
Langsam, Stufe für Stufe, nach jedem Tritt pausierend, auf sein rasendes Herz achtend (wenn er nun einen Herzanfall erleidet? Wie peinlich wäre das!), steigt er hinauf. Oben angekommen schwankt er, fällt vornüber, so dass der Sack aufs Deck stürzt.
Er kommt wieder auf die Füße und zeigt auf den Sack. »Kann einer mir helfen?«, sagt er und versucht, seinen keuchenden Atem unter Kontrolle zu bekommen und beiläufig zu klingen. Willige Hände wuchten ihm den Sack auf den Rücken.
Die Planke hat ihre eigenen Schwierigkeiten: mit der Bewegung des Schiffes schwankt sie sachte von einer Seite zur anderen und bietet ihm keinerlei Stütze wie die Leiter. Er gibt sein Bestes, um sich beim Herabschreiten aufrecht zu halten, obwohl das bedeutet, dass er nicht sieht, wohin er die Füße setzt. Er fixiert den Jungen, der regungslos neben dem Vorarbeiter steht und zusieht. Ich darf ihm keine Schande machen!, sagt er sich.
Ohne zu stolpern erreicht er den Kai. »Nach links!«, ruft ihm der Vorarbeiter zu. Mühsam dreht er sich um. Ein Wagen kommt gerade heran, ein niedriger, flacher Wagen, gezogen von zwei mächtigen Pferden mit zottigen Fesseln. Percheronpferde? Er hat noch nie ein lebendes Percheron gesehen. Ihr Uringestank umgibt ihn.
Er dreht sich und lässt den Getreidesack auf die Wagenfläche fallen. Ein junger Mann mit einem zerknautschten Hut springt leichtfüßig auf und zieht den Sack nach vorn. Eins der Pferde lässt einen Haufen dampfender Äpfel fallen. »Aus dem Weg!«, ruft es hinter ihm. Es ist der nächste Schauermann, der nächste seiner Arbeitskameraden mit dem nächsten Sack.
Er kehrt zurück in den Laderaum, kommt mit einer zweiten Last wieder, dann mit einer dritten. Er ist langsamer als seine Kameraden (sie müssen manchmal auf ihn warten), aber nicht allzu viel langsamer; mit der Gewöhnung an die Arbeit und der Ertüchtigung seines Körpers wird er besser werden. Doch nicht zu alt.
Obwohl er die anderen Männer aufhält, spürt er keine Feindseligkeit bei ihnen. Im Gegenteil, sie gönnen ihm das eine oder andere aufmunternde Wort und einen freundlichen Klaps auf den Rücken. Wenn das die Arbeit eines Schauermanns ist, dann ist das kein schlechter Job. Zumindest leistet man etwas. Zumindest hilft man, Getreide auszuladen, Getreide, das zu Brot, der Grundlage des Lebens, werden wird.
Eine Pfeife ertönt. »Pause«, erklärt der Mann neben ihm. »Na ja, wenn du mal – du weißt schon.«
Zu zweit pinkeln sie hinter einem Schuppen, waschen sich die Hände an einem Wasserhahn. »Kann man hier irgendwo eine Tasse Tee bekommen?«, fragt er. »Und vielleicht etwas zu essen?«
»Tee?«, sagt der Mann. Er ist offenbar belustigt. »Nicht dass ich wüsste. Wenn du Durst hast, kannst du meinen Becher benutzen; bring aber morgen deinen eigenen mit.« Er füllt seinen Becher am Hahn, reicht ihn dann rüber. »Bring auch ein Brot mit, oder ein halbes Brot. Es ist ein langer Tag auf nüchternen Magen.«
Die Pause dauert nur zehn Minuten, dann geht das Ausladen weiter. Als der Vorarbeiter mit seiner Pfeife das Ende des Arbeitstages anzeigt, hat er einunddreißig Säcke aus dem Laderaum auf den Kai getragen. An einem vollen Arbeitstag könnte er vielleicht fünfzig schaffen. Fünfzig Sack pro Tag: zwei Tonnen, ungefähr. Nicht die Menge. Ein Kran könnte zwei Tonnen auf einmal bewegen. Warum benutzen sie keinen Kran?
»Ein guter junger Mann, dein Sohn hier«, sagt der Vorarbeiter. »Keinerlei Probleme.« Zweifellos nennt er ihn einen jungen Mann, un jovencito, damit er sich gut fühlt. Ein guter junger Mann wird heranwachsen, um auch Schauermann zu werden.
»Wenn ihr einen Kran besorgen würdet«, bemerkt er, »könntet ihr das Entladen zehnmal so schnell schaffen. Selbst mit einem kleinen.«
»Stimmt«, pflichtet ihm der Vorarbeiter zu. »Aber welchen Sinn hätte das? Welchen Sinn hätte es, die Arbeit zehnmal so schnell zu schaffen? Es herrscht ja kein Notstand, eine Nahrungsmittelknappheit zum Beispiel.«
Welchen Sinn hätte das? Es klingt wie eine echte Frage, nicht wie ein Schlag ins Gesicht. »Damit wir unsere Kräfte einer besseren Aufgabe widmen können«, schlägt er vor.
»Besser als was? Besser als unsere Mitmenschen mit Brot zu versorgen?«
Er zuckt mit den Schultern. Er hätte den Mund halten sollen. Bestimmt wird er nicht sagen: Besser als schwere Säcke zu schleppen wie Lasttiere.
»Der Junge und ich müssen uns beeilen«, sagt er. »Wir müssen bis sechs Uhr wieder im Zentrum sein, sonst müssen wir im Freien schlafen. Soll ich morgen früh wiederkommen?«
»Natürlich, natürlich. Du hast es gut gemacht.«
»Und kann ich einen Vorschuss auf meinen Lohn bekommen?«
»Das geht leider nicht. Der Zahlmeister macht seine Runde nicht vor Freitag. Aber wenn du knapp bei Kasse bist« – er gräbt in seiner Tasche und bringt eine Handvoll Münzen heraus –, »hier, nimm, was du brauchst.«
»Ich bin nicht sicher, was ich brauche. Ich bin neu hier, ich habe keine Ahnung von den Preisen.«
»Nimm alles. Du kannst es mir am Freitag zurückzahlen.«
»Vielen Dank. Das ist sehr freundlich von dir.«
Es ist wahr. Ein Auge auf deinen jovencito zu haben, während du arbeitest, und es damit zu krönen, dir Geld zu leihen – das würde man von einem Vorarbeiter nicht erwarten.
»Nicht der Rede wert. Du würdest genauso handeln. Auf Wiedersehen, junger Mann«, sagt er zum Jungen gewandt. »Morgen früh in alter Frische.«
Sie erreichen das Büro, als die Frau mit dem griesgrämigen Gesicht gerade dabei ist zu schließen. Keine Spur von Ana.
»Wie steht’s mit unserem Zimmer?«, fragt er. »Haben Sie den Schlüssel gefunden?«
Die Frau runzelt die Stirn. »Gehen Sie die Straße hinunter, nehmen Sie die erste Abbiegung rechts, halten Sie Ausschau nach einem langen, flachen Gebäude, es ist das Haus C. Fragen Sie nach Señora Weiss. Sie wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Und fragen Sie Señora Weiss, ob Sie die Waschküche benutzen können, um Ihre Sachen zu waschen.«
Er versteht den Wink und wird rot. Nach einer Woche ohne Bad hat das Kind angefangen zu riechen; bestimmt riecht er noch schlimmer.
Er zeigt ihr sein Geld. »Können Sie mir sagen, wieviel das ist?«
»Können Sie nicht zählen?«
»Ich meine, was kann ich damit kaufen? Kann ich eine Mahlzeit bezahlen?«
»Das Zentrum stellt keine Mahlzeiten bereit, nur Frühstück. Aber sprechen Sie mit Señora Weiss. Schildern Sie Ihre Situation. Vielleicht kann sie Ihnen helfen.«
C-41, Señora Weiss’ Büro, ist zu und verschlossen wie zuvor. Aber im Untergeschoss, in einem Winkel unter der Treppe, der von einer einzigen nackten Glühbirne erhellt wird, stößt er auf einen jungen Mann, der auf einem Stuhl lümmelt und dabei eine Zeitschrift liest. Zusätzlich zur schokoladenbraunen Uniform des Zentrums trägt der Bursche einen winzigen runden Hut, der von einem Riemen unterm Kinn festgehalten wird, ähnlich dem eines Zirkusaffen.
»Guten Abend«, sagt er. »Ich suche die schwer fassbare Señora Weiss. Haben Sie eine Ahnung, wo sie steckt? Uns ist ein Zimmer in diesem Haus zugewiesen worden und sie hat den Schlüssel oder zumindest den Hauptschlüssel.«
Der junge Mann erhebt sich, räuspert sich und antwortet. Seine Antwort ist höflich, doch am Ende nicht hilfreich. Wenn Señora Weiss’ Büro verschlossen ist, dann ist die Señora wahrscheinlich nach Hause gegangen. Und was einen Hauptschlüssel betrifft, wenn einer existiert, dann ist er wahrscheinlich im selben verschlossenen Büro. Der Schlüssel zur Waschküche ebenfalls.
»Können Sie uns wenigstens das Zimmer C-55 zeigen?«, fragt er. »C-55 ist das uns zugewiesene Zimmer.«
Wortlos führt sie der junge Mann einen langen Korridor hinunter, vorbei an C-49, C-50, …, C-54. Sie kommen bei C-55 an. Er probiert die Tür. Sie ist nicht verschlossen. »Ihre Probleme haben sich erledigt«, bemerkt er mit einem Lächeln und zieht sich zurück.
C-55 ist klein, fensterlos und äußert schlicht möbliert: ein Einzelbett, eine Kommode, ein Waschbecken. Auf der Kommode befindet sich ein Tablett mit einer Untertasse, auf der zweieinhalb Stück Zucker liegen. Er gibt dem Jungen den Zucker.
»Müssen wir hierbleiben?«, fragt der Junge.
»Ja, das müssen wir. Es ist nur für kurze Zeit, während wir uns nach etwas Besserem umsehen.«
Ganz am Ende des Korridors entdeckt er eine Dusche. Es gibt keine Seife. Er zieht das Kind aus, zieht sich selbst aus. Zusammen stehen sie unter einem dünnen Strahl lauwarmen Wassers, während er sie beide wäscht, so gut es geht. Das Kind wartet, als er dann ihre Unterwäsche unter denselben Strahl hält (der bald kühl und dann kalt wird) und sie auswringt. Splitternackt tappt er, das Kind neben sich, den kahlen Korridor entlang zu ihrem Zimmer zurück und verriegelt die Tür. Mit ihrem einzigen Handtuch trocknet er den Jungen ab. »Geh jetzt ins Bett«, sagt er.
»Ich habe Hunger«, klagt der Junge.
»Hab Geduld. Morgen früh gibt’s ein reichliches Frühstück, versprochen. Denk daran.« Er steckt ihn ins Bett, gibt ihm einen Gutenachtkuss.
Aber der Junge ist nicht müde. »Warum sind wir hier, Simón?«, fragt er leise.
»Hab ich dir doch gesagt: Wir sind hier nur für ein oder zwei Nächte, bis wir eine bessere Unterkunft finden.«
»Nein, ich meine, warum sind wir gerade hier?« Seine Geste umfasst das Zimmer, das Zentrum, die Stadt Novilla, alles.
»Du bist hier, um deine Mutter zu finden. Ich bin hier, um dir zu helfen.«
»Aber nachdem wir sie gefunden haben, warum sind wir dann hier?«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wir sind aus dem gleichen Grund hier wie alle anderen auch. Wir haben die Chance bekommen zu leben und wir haben diese Chance ergriffen. Zu leben ist großartig. Das Größte, was man sich vorstellen kann.«
»Aber müssen wir hier leben?«
»Hier im Gegensatz zu wo? Es gibt sonst keinen anderen Ort. Mach jetzt die Augen zu. Schlafenszeit.«
Er wacht gut gelaunt auf, voller Tatkraft. Sie haben eine Unterkunft, er hat Arbeit. Es ist an der Zeit, sich der Hauptaufgabe zu widmen – die Mutter des Jungen zu finden.
Er lässt den Jungen schlafen und schleicht sich aus dem Zimmer. Das Hauptbüro hat gerade geöffnet. Ana, hinter dem Schalter, begrüßt ihn mit einem Lächeln. »Hatten Sie eine gute Nacht?«, fragt sie. »Haben Sie sich eingewöhnt?«
»Vielen Dank, wir haben uns eingewöhnt. Aber jetzt muss ich Sie noch einmal um einen Gefallen bitten. Sie erinnern sich vielleicht, dass ich Sie danach fragte, wie man Angehörige aufspüren könne. Ich muss Davids Mutter finden. Das Problem ist, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Führen Sie ein Register der Menschen, die hier in Novilla ankommen? Wenn nicht, gibt es ein Zentralregister, das ich einsehen kann?«
»Wir legen eine Akte von jedem an, der durch das Zentrum hereinkommt. Aber Akten werden nicht weiterhelfen, wenn Sie nicht wissen, wonach Sie suchen. Davids Mutter wird einen neuen Namen haben. Ein neues Leben, ein neuer Name. Erwartet sie Sie?«
»Sie hat nie etwas von mir gehört, daher hat sie keinen Grund, mich zu erwarten. Aber sobald das Kind sie sieht, wird es sie erkennen, das weiß ich.«
»Wie lange sind sie schon getrennt?«
»Das ist eine verwickelte Geschichte, ich will Sie damit nicht belasten. Lassen Sie mich einfach sagen, dass ich David versprochen habe, seine Mutter zu finden. Ich habe ihm mein Wort gegeben. Darf ich also Einblick in Ihre Akten nehmen?«
»Aber ohne einen Namen, wie soll Ihnen das weiterhelfen?«
»Sie bewahren Kopien von Pässen auf. Der Junge wird sie anhand eines Fotos erkennen. Oder ich. Ich werde sie erkennen, wenn ich sie sehe.«
»Sie sind ihr nie begegnet, werden sie aber erkennen?«
»Ja. Getrennt oder gemeinsam werden er und ich sie erkennen. Davon bin ich überzeugt.«
»Was ist mit dieser anonymen Mutter selbst? Sind Sie sicher, dass sie mit ihrem Sohn wieder vereint werden will? Es mag herzlos klingen, doch die meisten haben, wenn sie dann hierher gelangt sind, das Interesse an alten Verbindungen verloren.«
»Dieser Fall ist anders, wirklich. Ich kann nicht erklären, warum. Also: Darf ich Ihre Akten einsehen?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein, das kann ich nicht erlauben. Wenn Sie den Namen der Mutter hätten, wäre das etwas anderes. Aber ich kann Sie nicht unsere Unterlagen willkürlich durchstöbern lassen. Das ist nicht nur gegen die Vorschriften, es ist absurd. Wir haben Tausende Einträge, Hunderttausende, mehr als Sie zählen können. Woher wissen Sie außerdem, dass sie durch das Zentrum in Novilla gekommen ist? In jeder Stadt gibt es ein Aufnahmezentrum.«
»Zugegeben, es ist unlogisch. Trotzdem bitte ich Sie. Das Kind ist mutterlos. Es ist verloren. Sie müssen doch gesehen haben, wie verloren es ist. Es befindet sich im Niemandsland.«
»Im Niemandsland? Ich weiß nicht, was das heißen soll. Die Antwort ist: nein. Ich werde nicht nachgeben, bedrängen Sie mich also nicht. Es tut mir leid für den Jungen, doch das ist nicht die korrekte Vorgehensweise.«
Zwischen ihnen entsteht ein langes Schweigen.
»Ich kann es spät nachts machen«, sagt er. »Keiner wird es merken. Ich werde still sein, ich werde diskret sein.«
Aber sie hört ihm nicht zu. »Hallo!«, sagt sie über seine Schulter hinweg. »Bist du gerade erst aufgestanden?«
Er dreht sich um. In der Tür steht, mit zerzaustem Haar, barfuß, in Unterwäsche, mit dem Daumen im Mund, noch halb schlafend, der Junge.
»Komm!«, ruft er ihm zu. »Sag Ana guten Tag. Ana wird uns bei unserer Suche helfen.«
Der Junge kommt zu ihnen geschlendert.
»Ich werde euch helfen«, sagt Ana, »aber nicht auf die von Ihnen gewünschte Weise. Die Menschen hier haben sich von alten Bindungen reingewaschen. Sie sollten dasselbe tun: alte Beziehungen loslassen, sie nicht weiterverfolgen.« Sie langt nach unten und zaust das Haar des Jungen. »Hallo, Schlafmütze!«, sagt sie. »Bist du noch nicht reingewaschen? Sag deinem Papa, dass du reingewaschen bist.«
Der Junge schaut von ihr zu ihm und wieder zurück. »Ich bin reingewaschen«, murmelt er.
»Na also!«, sagt Ana. »Hab ich’s Ihnen nicht gesagt?«
Sie sind im Bus, unterwegs zum Hafen. Nach einem gehaltvollen Frühstück ist der Junge entschieden vergnügter als gestern.
»Treffen wir Álvaro wieder?«, fragt er. »Álvaro mag mich. Er lässt mich auf seiner Pfeife blasen.«
»Das ist nett. Hat er gesagt, dass du ihn Álvaro nennen darfst?«
»Ja, so heißt er. Álvaro Avocado.«
»Álvaro Avocado? Hör mal, Álvaro ist sehr beschäftigt. Er hat viel zu tun, außer auf ein Kind achtzugeben. Du musst aufpassen, dass du ihn nicht störst.«
»Er hat nicht viel zu tun«, sagt der Junge. »Er steht nur da und guckt.«
»Für dich sieht es vielleicht wie Dastehen und Gucken aus, doch eigentlich beaufsichtigt er uns, achtet darauf, dass Schiffe pünktlich entladen werden, achtet darauf, dass jeder das tut, was er tun soll. Das ist eine wichtige Aufgabe.«
»Er sagt, er bringt mir Schach bei.«
»Das ist gut. Schach wird dir gefallen.«
»Werde ich immer mit Álvaro zusammen sein?«
»Nein, bald wirst du andere Jungen kennenlernen, mit denen du spielen kannst.«
»Ich will nicht mit anderen Jungen spielen. Ich möchte mit dir und Álvaro zusammen sein.«
»Aber nicht die ganze Zeit über. Es ist nicht gut für dich, die ganze Zeit mit Erwachsenen zusammen zu sein.«
»Ich will nicht, dass du ins Meer fällst. Ich will nicht, dass du ertrinkst.«
»Mach dir keine Sorgen, ich werde gut aufpassen, dass ich nicht ertrinke, das verspreche ich dir. Solche dunklen Gedanken kannst du fortscheuchen. Du kannst sie verjagen wie Vögel. Wirst du das tun?«
Der Junge antwortet nicht. »Wann gehen wir wieder zurück?«, fragt er.
»Zurück übers Meer? Wir gehen nicht zurück. Jetzt sind wir hier und leben hier.«
»Die ganze Zeit?«
»Für immer. Bald machen wir uns auf die Suche nach deiner Mutter. Ana wird uns helfen. Wenn wir erst einmal deine Mutter gefunden haben, wirst du nicht mehr daran denken, zurückzugehen.«
»Ist meine Mutter hier?«
»Sie ist irgendwo in der Nähe und wartet auf dich. Sie hat schon lange gewartet. Alles wird sich klären, wenn du sie zu sehen bekommst. Du wirst dich an sie erinnern und sie wird sich an dich erinnern. Du glaubst vielleicht, dass du reingewaschen bist, aber das stimmt nicht. Du hast noch deine Erinnerungen, sie sind nur zeitweilig verschüttet. Jetzt müssen wir aussteigen. Das ist unsere Haltestelle.«
Der Junge hat sich mit einem der Zugpferde angefreundet, dem er den Namen El Rey gegeben hat. Obwohl er verglichen mit El Rey winzig ist, hat er gar keine Angst. Auf Zehenspitzen bietet er ihm Hände voll Heu und das riesige Tier beugt träge den Kopf, um die Gabe anzunehmen.
Álvaro schneidet in einen der Säcke, die sie entladen haben, ein Loch, aus dem Körner rieseln können. »Hier, füttere El Rey und seinen Freund damit«, sagt er zu dem Jungen. »Pass aber auf, dass du ihnen nicht zu viel gibst, sonst blähen sich ihre Bäuche wie Luftballons und wir müssen sie mit einer Nadel anstechen.«
El Rey und sein Freund sind eigentlich Stuten, aber Álvaro korrigiert den Jungen nicht, bemerkt er.
Seine Schauermann-Kollegen sind recht freundlich, doch merkwürdig interesselos. Keiner fragt, wo sie herkommen oder wo sie untergebracht sind. Er nimmt an, dass sie ihn für den Vater des Jungen halten – oder vielleicht, wie Ana vom Zentrum, für seinen Großvater. El viejo. Keiner fragt, wo die Mutter des Jungen ist oder warum er den ganzen Tag hier im Hafen rumhängen muss.
Am Kai befindet sich ein kleiner Holzschuppen, den die Männer als Umkleideraum nutzen. Obwohl die Tür sich nicht abschließen lässt, sind sie es offensichtlich zufrieden, ihre Overalls und Stiefel dort aufzubewahren. Er fragt einen der Männer, wo er einen Overall und Stiefel für sich kaufen kann. Der Mann schreibt eine Adresse auf einen Zettel.
»Was muss man denn so ungefähr für ein Paar Stiefel bezahlen?«, fragt er.
»Zwei oder vielleicht drei Reales«, sagt der Mann.
»Das scheint sehr wenig«, sagt er. »Übrigens, ich heiße Simón.«
»Eugenio«, sagt der Mann.
»Darf ich fragen, ob du verheiratet bist, Eugenio? Hast du Kinder?«
Eugenio schüttelt den Kopf.
»Nun, du bist noch jung«, sagt er.
»Ja«, sagt Eugenio unverbindlich.
Er wartet darauf, nach dem Jungen gefragt zu werden – dem Jungen, der vielleicht als sein Sohn oder Enkel angesehen wird, es aber eigentlich nicht ist. Er wartet darauf, dass man ihn nach dem Namen des Jungen fragt, danach, wie alt er ist und warum er nicht in der Schule ist. Er wartet vergeblich.
»David, das Kind, das ich betreue, ist noch zu jung, um in die Schule zu gehen«, sagt er. »Weißt du etwas über Schulen hier in der Gegend? Gibt es« – er sucht nach dem Wort – »un jardin para los niños?«
»Meinst du einen Spielplatz?«
»Nein, eine Schule für kleinere Kinder. Eine Schule vor der eigentlichen Schule.«
»Tut mir leid, da kann ich nicht helfen.« Eugenio steht auf. »Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen.«
Am nächsten Tag kommt, gerade als das Pfeifsignal zur Mittagspause ertönt, ein Fremder auf einem Fahrrad angefahren. Mit seinem Hut, schwarzen Anzug und Schlips wirkt er fehl am Platz im Hafen. Er steigt ab, begrüßt Álvaro freundschaftlich. Seine Hosenaufschläge werden von Fahrradklammern festgehalten, die er nicht entfernt.
»Das ist der Zahlmeister«, sagt eine Stimme neben ihm. Es ist Eugenio.
Der Zahlmeister löst die Riemen am Gepäckträger und entfernt ein Wachstuch. Darunter kommt eine grün lackierte Metallgeldkassette hervor, die er auf ein umgestülptes Fass stellt. Álvaro winkt die Männer heran. Einer nach dem anderen treten sie vor, sagen ihren Namen und bekommen ihren Lohn ausgehändigt. Er stellt sich hinten an und wartet, bis er an der Reihe ist. »Simón heiße ich«, sagt er zum Zahlmeister. »Ich bin neu, vielleicht bin ich noch nicht auf Ihrer Liste.«
»Ja, hier sind Sie«, sagt der Zahlmeister und macht ein Häkchen hinter seinem Namen. Er zählt das Geld in Münzen aus, so viele sind es, dass sie seine Taschen nach unten ziehen.
»Vielen Dank«, sagt er.
»Nichts zu danken. Es steht Ihnen zu.«
Álvaro rollt das Fass fort. Der Zahlmeister schnallt die Geldkassette wieder auf sein Fahrrad, schüttelt Álvaro die Hand, setzt seinen Hut auf und radelt den Kai hinunter.
»Was hast du heute Nachmittag vor?«, fragt Álvaro.
»Ich habe nichts vor. Ich könnte mit dem Jungen spazieren gehen; oder wenn es einen Zoo gibt, könnte ich mit ihm hingehen, um die Tiere anzuschauen.«
Es ist Samstagmittag, das Ende der Arbeitswoche.
»Hättest du Lust, mit zum Fußball zu kommen?«, fragt Álvaro. »Dein junger Mann, mag der Fußball?«
»Er ist noch etwas jung für Fußball.«
»Irgendwann muss er anfangen. Das Spiel beginnt um drei. Wir treffen uns am Eingang, sagen wir Viertel vor drei.«
»Gut, aber an welchem Eingang, und wo?«
»Am Eingang zum Fußballplatz. Dort gibt es nur einen Eingang.«
»Und wo ist der Fußballplatz?«
»Geh auf dem Weg immer am Flussufer entlang, und du kannst ihn nicht verfehlen. Ungefähr zwanzig Minuten von hier, schätze ich. Wenn du nicht laufen willst, kannst du mit der Buslinie 7 fahren.«
Der Fußballplatz ist weiter weg, als Álvaro gesagt hat; der Junge wird müde und trödelt; sie kommen spät an. Álvaro steht am Eingang und wartet auf sie. »Beeilung«, sagt er, »gleich ist Anstoß.«
Sie gehen durch den Eingang auf den Platz.
»Müssen wir denn keine Eintrittskarten kaufen?«, fragt er.
Álvaro bedenkt ihn mit einem seltsamen Blick. »Es ist Fußball«, sagt er. »Es ist ein Spiel. Man braucht nicht zu bezahlen, um sich ein Spiel anzusehen.«
Der Platz ist bescheidener, als er erwartet hatte. Das Spielfeld ist durch Seile begrenzt; die überdachte Tribüne fasst höchstens tausend Zuschauer. Sie finden ohne Probleme Plätze. Die Spieler sind schon auf dem Rasen, kicken den Ball hin und her, wärmen sich auf.
»Wer spielt?«, fragt er.
»Die in Blau sind Hafen Novia, in Rot Sportverein Nord. Es ist ein Ligaspiel. Meisterschaftsspiele werden sonntagvormittags ausgetragen. Wenn du sonntagvormittags die Tröten hörst, bedeutet das, ein Meisterschaftsspiel ist im Gang.«
»Welche Mannschaft unterstützt du?«
»Natürlich Hafen Novia. Wen sonst?«
Álvaro scheint guter Laune zu sein, begeistert, sogar ausgelassen. Das freut ihn, er ist auch dankbar, dass er ausgewählt wurde, um ihn zu begleiten. Álvaro scheint ihm ein guter Mann zu sein. Eigentlich scheinen ihm alle Schauermann-Kollegen gute Menschen zu sein: hart arbeitend, freundlich, hilfsbereit.
In den allerersten Minuten des Spiels macht die Mannschaft in Rot einen simplen Abwehrfehler und Hafen Novia schießt ein Tor. Álvaro reißt die Arme hoch und lässt einen Triumphschrei hören, dann wendet er sich an den Jungen. »Hast du das gesehen, junger Mann? Hast du das gesehen?«
Der junge Mann hat es nicht gesehen. Da er keine Ahnung vom Fußball hat, kapiert er nicht, dass er auf die Männer achten sollte, die auf dem Spielfeld hin und her laufen, statt auf das Meer an Fremden um sie her.
Er hebt den Jungen auf seinen Schoß. »Schau mal«, sagt er und zeigt hin, »sie versuchen, den Ball ins Netz zu schießen. Und der Mann da drüben mit den Handschuhen ist der Tormann. Er muss den Ball halten. An jedem Spielfeldende ist ein Tormann. Wenn sie den Ball ins Netz schießen, ist das ein Tor. Die Mannschaft in Blau hat gerade ein Tor geschossen.«
Der Junge nickt, doch er wirkt mit den Gedanken abwesend.
Er senkt die Stimme. »Musst du mal auf die Toilette?«
»Ich habe Hunger«, flüstert der Junge als Antwort.
»Ich weiß. Ich habe auch Hunger. Wir müssen uns einfach daran gewöhnen. Ich schau mal, ob ich uns ein paar Kartoffelchips zur Halbzeit besorgen kann, oder Erdnüsse. Möchtest du Erdnüsse?«
Der Junge nickt. »Wann ist Halbzeit?«, fragt er.
»Bald. Erst müssen die Fußballer noch etwas spielen und versuchen, noch mehr Tore zu schießen. Schau zu.«
Als sie an diesem Abend zu ihrem Zimmer zurückkommen, findet er eine unter die Tür geschobene Notiz vor. Sie kommt von Ana: Würden Sie und David gern an einem Picknick für Neuankömmlinge teilnehmen? Wir treffen uns morgen zwölf Uhr im Park, beim Springbrunnen. A.
Um zwölf Uhr sind sie am Springbrunnen. Es ist schon heiß – sogar die Vögel wirken lethargisch. Weg vom Verkehrslärm lassen sie sich unter einem weit ausladenden Baum nieder. Nach einer Weile kommt Ana mit einem Korb. »Entschuldigung«, sagt sie, »es ist etwas dazwischengekommen.«
»Wie viele von uns erwarten Sie?«, fragt er.
»Ich weiß nicht. Vielleicht ein halbes Dutzend. Warten wir es ab.«
Sie warten. Keiner kommt. »Sieht so aus, als bliebe es bei uns«, sagt Ana schließlich. »Wollen wir anfangen?«
Es stellt sich heraus, dass der Korb nichts weiter enthält als ein Paket Kräcker, einen Topf ungesalzener Bohnenpaste und eine Flasche Wasser. Aber das Kind verschlingt seinen Anteil ohne Murren.
Ana gähnt, streckt sich im Gras aus und schließt die Augen.
»Was haben Sie gestern damit gemeint, als Sie den Ausdruck reingewaschen gebraucht haben?«, fragt er sie. »Sie haben gesagt, David und ich sollten uns von alten Beziehungen reinwaschen.«
Träge schüttelt Ana den Kopf. »Ein andermal«, sagt sie. »Nicht jetzt.«