Thomas Heams-Ogus
116 Chinesen oder so
Roman
Aus dem Französischen von Marlene Frucht
FISCHER E-Books
Thomas Heams-Ogus, geboren 1976, ist Molekularbiologe und forscht an der Pariser Universität AgroParisTech. »116 Chinesen oder so« ist sein erster Roman. Er wurde mit dem Preis der Bourse de la découverte Prince Pierre de Monaco ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Prix Goncourt du Premier Roman und des Prix Emmanuel-Roblès. Auf die Geschichte der 116 Chinesen stieß er in der Fußnote eines Geschichtsbuchs. Thomas Heams-Ogus lebt in Paris.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Cent seize Chinois et quelques« bei Éditions du Seuil, Paris
© Éditions du Seuil, 2010
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Coverabbildung: buxdesign, München
Covergestaltung: plainpicture / Anja Weber-Decker
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402862-0
Man müsste sich eine Kugel vorstellen, aus Blei und tiefschwarz, das Tageslicht vollständig absorbierend und dicht vor der eigenen Schwere und Wärme, die sich mischen, ineinanderfließen. Die Kugel rührte sich nicht. Ihr Sockel wäre ein Berg. Ein Berg in der Mitte Italiens, fast der höchste, nicht der eindrucksvollste, der aber vor dem, der sich von der nahen Küste her nähern würde, aufragte als natürliches Hindernis. Man näherte sich ihm wie einem Tabu, durch lichte Täler. Lange würden die Kuppen der Hügel seine Schroffheit verbergen. Dann würde er sich zeigen, schon stünde man direkt davor, eine klare Grenze, und wer stur weiter Richtung Westen gehen wollte, wüsste, dass er zuvor Rast machen muss. Aber um das zu sagen, müsste man schon am Fuß des Berges stehen. Es ist noch zu früh, im Augenblick liegt die Kugel auf dem Gipfel, und niemand könnte sie dort sehen. Da wäre Wind, Vögel kreisten umher. Der Berg wäre durch die bleierne Kugel vorübergehend um ein winziges Stückchen höher. Sie läge dort, es wäre heller Tag. Plötzlich verändert sich alles. Ein Hauch, eine Bewegung, ein Stoß. Vielleicht sogar etwas Dumpfes, im Erdinnern, tellurisch. Eine Störung des Gleichgewichts, eine Kraft. Und die Kugel rollt, zuerst ganz langsam von ihrer kleinen Anhöhe herab, um sanft Fahrt aufzunehmen, und hört dann nicht mehr auf, sich zu bewegen, fast bleibt sie an einer flacheren Stelle liegen, aber nein, es geht weiter, die Leere zieht sie an, das Nichts lockt sie, und sie wird schneller, ist ein glühend heißer, isolierter Fleck in der kühlen Höhenluft. Hinab. Schnell hat sie die Grenze erreicht zwischen dem felsigen, jäh abfallenden Gipfel und der breiten bewaldeten Basis, die den Berg abzustützen scheint, fast eine Höhenlinie. Dafür hat sie nicht lange gebraucht, und auf dem Weg dahin ist sie gegen eine bestimmte Anzahl von Steinen gestoßen, nur flüchtige Berührungen, und von dort gleich weiter zu anderen Felsbrocken, die auf ihrem Weg liegen, weil ihre je eigene Geschichte sie dort hat liegen lassen. Vielleicht wird die Kugel im Wald langsamer, wo das Gefälle geringer und die Luft feuchter ist, aber kaum merklich, denn noch ist sie berauscht von der Geschwindigkeit, mit der sie durch die Weißtannen schießt. Jeder Punkt auf ihrer winzigen Oberfläche ist dem abrupten, unregelmäßigen Wechsel von Schatten und Licht ausgesetzt, aber diese Unregelmäßigkeit wäre, hätte jemand dieser Kugel aus Blei Beachtung geschenkt, nicht zu erkennen gewesen, aber das täte niemand, und außerdem gibt es die Kugel gar nicht. Durch ihre Aufschläge kaum gebremst, würde sie vielleicht an einer Schutzhütte vorbeirollen, vielleicht an einem Menschen, der zu dieser Schutzhütte läuft, erschöpft, mit offenem Mund, pochenden Schläfen, Schweißperlen auf der Stirn, ein saurer Schweiß, der in den Augen brennt, aber sieht jemand diese Gefahren, sieht jemand diese Bedrohungen, existiert dieser Mensch überhaupt? Ihre Trägheit wäre ihr alleiniger Herr, also würde sie ihren Weg fortsetzen und diese Erscheinung hinter sich lassen. Immer wieder setzte sie ganz kurz auf der lockeren Erde auf, die ihre Sprünge viel stärker abfedern würde als der steinige Untergrund auf dem Gipfel, der schon weit zurückläge, schon Geschichte und somit schon Vergessen wäre. Sie wäre immer noch weit von den Menschen entfernt, käme ihnen aber immer näher, und bald würde die Geschichte beginnen, Anfang und Ende zufällig gewählt, ein Schleier über dem Davor, das Danach sich entziehend. Im Schatten, wo die Aufsetzer nur unmerklich länger dauerten, würde sie darin die Herzschläge der Menschen von weither spüren, die erst den Brustkorb zum Schwingen bringen, sich dann auf den ganzen Körper übertragen, bevor sie ihn verlassen und sich im schweigenden Wald verlieren.
Die Kugel würde in diese Pracht aus Grüntönen hineinschießen, zartes Grün junger Blätter, durch die die Sonne hindurchleuchtet und Aderung und Poren sichtbar macht, schwarzes, undurchdringliches Grün der dickeren Blätter da, wo das Licht die Waffen streckt und im blendenden Gegenlicht nur die Umrisse nachzeichnet, tausend verschiedene Grüntöne, vom Rauschen der Bäche ganz zu schweigen und von der staubigen Erde, den Gräsern, die sie streift, vorüberziehende Details, die aber von der Geschwindigkeit absorbiert würden, und dann die helle Schneise, die schon ein Hinweis auf den Waldrand wäre, wo der Wald sich zum Dorf hin öffnet, zu den Menschen, ihren Körpern, ihren Zweifeln. Schon hätte sie das Dorf erreicht, das sich rund am Zusammenfluss zweier Flüsse duckt, die ebenfalls das Rätsel ihres Fallens mit sich führen. Das geringere Gefälle, das Moos und das Prallen gegen Bäume hätten ihre Geschwindigkeit gedrosselt, so dass sich schon bald ein Ende ihres Weges abzeichnen würde, ein paar hundert Meter noch, aber es würde näher rücken, es wäre nicht mehr nur Spekulation. Die Kugel würde Langsamkeit aufsaugen, sobald sie in dem winzigen Tal, unter den Menschen angekommen wäre, noch mehr Menschen, überall wären auf einmal Menschen, Menschen unter der Sonne, Menschen am Fuß des Berges, auf dem Weg ins Dorf, Menschen auf Brücken, Menschen, die am Leben sind, so wie die Kugel in Bewegung ist, aber alles hat ein Ende, und die mannshohe Kugel würde also langsamer werden, so dass ihr baldiges Anhalten, bevor diese Welt explodiert, nicht mehr abzuwenden wäre. Die nur imaginierte Kugel, erfunden, um sich allmählich anzunähern, diese mit Schrittgeschwindigkeit rollende Kugel würde ihre Reise am Ende jener Straße zwischen den Olivenhainen beenden, an der Stelle, wo die Kirche Santuario di San Gabriele steht, ein imposanter, unerwartet auftauchender, im ganzen Land berühmter Pilgerort. Hier würde die staubüberzogene Kugel liegen bleiben.
In dieser Welt am Rande der Welt wäre es kurz nach achtzehn Uhr. Es wäre der 16. Mai 1942 in den Abruzzen, das Dorf hieße Isola del Gran Sasso, ein paar Kilometer südlich von Teramo, es wären zwanzig Grad. Diese Kugel wäre aufgetaucht, um sanft gegen den Entwurf einer Welt zu stoßen und gegen deren zurückgehaltene Wut, denn in dieser isoliert gelegenen, ländlichen Gegend kleidet sich die Wut oft in Schweigen. Die Unschärfe wäre einer Umgebung voller präziser Eindrücke gewichen: die zitternden Blätter, die Falten eines Mannes mit leerem Blick, der abblätternde Anstrich einer Parkbank, der Duft der trockenen Erde und viele weitere, die zu dieser scheinbaren Ruhe beitrügen, und somit zu der verborgenen Wut. Die Kugel würde sich jetzt nicht mehr bewegen.
Ihr Ende wäre ein Beginn, vor der Kirche San Gabriele, auf deren Schwelle drei Priester stünden, die mit zusammengepressten Kiefern, starr und aufrecht vor Angst, darauf warteten, dass etwas zum Stehen kommt. Das, was da angehalten hätte, wäre allerdings nicht so sehr die imaginäre Kugel aus Blei, sondern vielmehr ein Konvoi von Lastwagen, dem ein imposantes Fahrzeug vorausfährt. Auf der von Tossicia herführenden Straße hätte man ihn näher kommen gehört. Das bloße Quietschen der Reifen auf der Straße hätte genügt, um daraus ableiten zu können, dass sich gleich etwas Ungewöhnliches ereignen würde. Es kamen zwar hin und wieder Autos über diese Straße zum Dorf, aber ein Ohr, das an dieses kleine Land und sein Gleichgewicht der Klänge gewöhnt war, hätte rasch gewusst, dass da etwas nie Dagewesenes näher kam, was sich dann sehr schnell auch bestätigt hätte. Der Konvoi, seine Langsamkeit und die von ihm ausgehende Nervosität hätten vor der Kirche einen weiten Kreis beschrieben. Als Erstes wären Carabinieri ausgestiegen, und hätten, ohne den drei Priestern Beachtung zu schenken, mechanisch die Heckklappen der Lastwagen geöffnet und dem, was sich Lebendiges darin befand, mit nervösen Gesten bedeutet auszusteigen, und daraufhin hätte man beobachten können, wie hundertsechzehn Chinesen herauskletterten. Und schon ist die kleine Kugel aus Metall vergessen.
Italien rüstete sich seit Jahren mit unzähligen Lagern aus. Seit den späten zwanziger und die ganzen dreißiger Jahre hindurch war nach und nach jede Insel des Landes, jedes einsam gelegene Dorf, jeder abgeschiedene, durch jahrzehntelange Auswanderung entvölkerte Landstrich in einen Internierungsort verwandelt worden. Der Krieg war ausgebrochen und hatte, während die Zeiten immer finsterer wurden, seine Kategorien abgesondert, eine nach der anderen: Politische Gefangene waren die Ersten gewesen, mit denen man in dieser Hinsicht Versuche unternommen hatte, später kamen dann Juden und Zigeuner hinzu. Eine bürokratische Maschinerie hatte diese abgelegenen Zonen langsam wiedergekäut und dann verdaut, um dort ihre Stützpunkte der Verbannung einzurichten.
Die Abruzzen gehörten auch dazu. Die Region war zwar so gut wie ausgeblutet und hatte den Großteil ihrer Arbeitskräfte eingebüßt, aber dafür war sie von den heftigsten Kampfhandlungen des Krieges verschont geblieben. Die Machthaber hatten verfügt, dass dort dutzende Lager einzurichten waren, die jedoch ganz verschiedene Formen annahmen. Das reichte von einzelnen Oppositionellen, die in entlegenen Dörfern gefangen gehalten wurden, bis zu unterschiedlich großen Gruppen, die unter mehr oder weniger harten Bedingungen interniert waren. In dieser Region hatten die Machthaber weniger eigens Lager errichtet als vielmehr Gebäude beschlagnahmt, deren Eigentümer dafür zum Teil Miete erhielten. So fügte sich die geruhsame Barbarei des Einsperrens in die Ordnung der Dinge ein, Mietverträge zum Beweis, und machte hier einen Hoteleigentümer reich, dort den Besitzer einer nicht ausgelasteten Fabrik. So war nach 1940 sehr schnell ein bunter Strauß von privaten, ordnungsgemäß ausgehandelten Verträgen geschlossen worden, um in den Abruzzen ein Netz von Lagern einzurichten.
Diese Erde gehörte einem Volk von Bauern, das der vorangegangene Krieg zugrunde gerichtet hatte, das aber später eines der ersten sein sollte, das sich erhob, sobald Mussolini ins Wanken geriete. Wenn später der gewaltsame Krieg wieder einsetzen würde, würde dieses Volk Blut auf seine Erde fließen sehen, dieses Volk, dessen Schweigen die Machthaber in Rom mit Fügsamkeit verwechselten, hatte direkt vor Ort einen heftigen Schlag versetzt bekommen, indem sein Lebensraum mit Lagern übersät wurde, die wie Stichwunden waren. Während das Land wieder und wieder aufgeritzt wurde, hatten Worte von Dorf zu Dorf die Runde gemacht, und jedes neue Lager ließ die bereits existierenden ein wenig alltäglicher erscheinen. Es war in anderer Form die Fortsetzung einer um sich greifenden Entwicklung, in deren Zuge auch schon andere Schandflecken entstanden waren, nämlich die lokalen faschistischen Zellen. Aber dieser Landstrich bot für so etwas keinen guten Nährboden. Die Leute hatten erlebt, wie Menschen massenweise auswanderten, wie die Industrialisierung chaotisch voranschritt. Die landwirtschaftlich geprägte Gegend erfuhr, wie es ist, wenn es nicht mehr genug Hände für die Arbeit auf den Feldern gibt. In den Mauern dieser Dörfer lebten Frauen, die sich seit über zwanzig Jahren fragten, wie sich der Schmerz angefühlt hatte, als ihr Mann oder ihr Sohn nahe Triest von einer Granate zerfetzt worden war, in konfusen Schlachten, die in der offiziellen Geschichtsschreibung unter den Teppich gekehrt worden waren, aber die aufdringlichen Tiraden der Faschisten konnten sie nicht vollständig überdecken. Es brauchte mehr, um das Volk der Abruzzen zu beeindrucken, ein Volk, das sich in sein Schweigen zurückzog gleichsam als Hommage an seine Verstorbenen, die Abwesenden, und das sich nun auf einmal mit der Anwesenheit all jener konfrontiert sah, denen Rom misstraute, also gewissermaßen mit neuen Schatten.
Man näherte sich ihnen selten, es war nicht einfach, aber jeder wusste um ihre Anwesenheit. Von Lager zu Lager waren die Bedingungen der Gefangenschaft mal streng, mal weniger streng, und es wurde unterschiedlich sorgfältig auf die Abschottung der dort Internierten von der Außenwelt geachtet. Nur wenige Kontaktpersonen hatten die Erlaubnis, diese Lager zu betreten, Ärzte, Händler und Beamte aus der näheren Umgebung, und diese berichteten draußen von diesen Leben im Verborgenen. Anschließend wanderten die Details von Mund zu Mund, veränderten sich und trafen in jedem Einzelnen auf die Gesichter der für immer Abwesenden.
Politische Gefangene, Juden und Zigeuner also. Doch eines Tages keimte die simple und möglicherweise berauschende Idee auf, alle Chinesen Italiens, mehrere Dutzend Personen, an einem Ort zu versammeln. Sie bedrohten niemanden, aber sie waren Staatsangehörige einer feindlichen Macht, einer von so vielen. Das war ihr einziges Verbrechen, und sie wurden zu Zielscheiben. Man begann, Jagd auf sie zu machen, aber ohne besondere Überzeugung, es war nur so, dass man von einem Tag auf den anderen beschlossen hatte, dass man sie nicht unbehelligt lassen konnte. Sie waren zerstreute Punkte auf Italiens Landkarte, die bald zu einem Punkt zusammengeführt werden sollten, als würde sich eine Faust um sie schließen. Manche lebten in Genua oder in Bologna, als eigenartige, verwirrende Individuen, aber sie waren frei, frei, zu sein, zu kommen und zu gehen, unbedeutende Textilhändler, die auf der Straße Lederwaren, Krawatten oder Gürtel verkauften. Sie waren noch im Besitz ihrer Menschenwürde, jeder von ihnen trug eine Geschichte und Pläne für die Zukunft in sich, auch wenn diese in der Schockstarre ihres neuen Lebens, in der Unwirklichkeit des kalten Turiner Regens, des Ockers von Siena, verloren gegangen waren. Sie waren also bereits von ihrem Weg abgekommen, aber sie waren am Leben, und sie hatten eine Zukunft vor sich. Im Italien der Zwischenkriegszeit waren sie eine Seltenheit, schwache Repräsentanten ihrer fernen Heimat, als unwahrscheinliche Abenteurer würden sie die Erinnerungen der Kinder bevölkern, die dann später als Erwachsene von diesen seltsamen Chinesen mit ihrem lustigen Akzent erzählen würden, die laut rufend durch die Straßen liefen, um ihre »Kla-watten« zu verkaufen, mit dieser ganz besonderen Betonung, die ihnen eigen war, ein Klischee, ein verallgemeinertes Erkennungszeichen, das ihnen verpasst wurde und sie gleichmachte, und das schon damals unterschlug, was jeder von ihnen Eigenes an sich hatte. Die unterirdischen Bewegungen hatten begonnen.
Bald würden sie also aus einem Lastwagen steigen, am Dorfausgang von Isola, gegenüber der Kirche des Heiligtums Santuario di San Gabriele, einem Kloster des Passionisten-Ordens. Das Dorf Isola del Gran Sasso trug seinen Namen zu Recht: Es war wirklich eine Insel in den Abruzzen. Das Heiligtum von San Gabriele, das Lager, war der Vorposten, es kündigte das Dorf an. Direkt daneben stand eine Herberge, die denselben Namen trug. San Gabriele gehörte fast zum Dorf, aber der Fußweg zur eigentlichen Siedlung war lang genug, dass auf dem Weg dahin beim Rhythmus der eigenen Schritte Traurigkeit in einem aufsteigen konnte, also zwischen einem und zwei Kilometern, zuerst geht es nur leicht bergab, die Entfernung zu den Gebäuden des Klosters und der Herberge wächst, bald hat man sie im Rücken, dann auf Höhe des Kopfes hinter sich, man geht weiter abwärts und kommt an vereinzelten Häusern vorbei, und manchmal sieht man an einem Fenster einen alten Menschen, man hat genügend Zeit, um mit sich allein zu sein, und dann, in dem Augenblick, wenn man es wirklich ist, kommt eine Biegung und der Weg steigt leicht an, und gleich darauf stößt man auf das Dorf. Man überquert die Brücke, man hört den Fluss rauschen, und schon ist man da. Isola ist ein kleines Labyrinth aus Straßen, man spielt, man würde sich darin verlaufen, wenn man zum ersten Mal dahin kommt. Nachdem man durch die Felder gegangen ist und sich mit Landschaft und wolkenlosen Horizonten aufgeladen hat, ist der Kontrast, wenn man das Dorf betritt, überdeutlich: Man hat sofort einen Eindruck von Enge. Gleich nachdem man die Brücke überquert hat, kann man zum Beispiel durch die Porta del Torrione gehen und gelangt direkt auf die Piazza Codacchio, dort bleibt man einige Augenblicke lang stehen, man staunt und lässt sich von der Höhe der Mauern beeindrucken, das hätte man von außen nicht vermutet, dann verlässt man den Platz wieder, geht durch eine Gasse, dann durch noch eine, und schon steht man auf der Piazza San Giuseppe, und wieder sind da Straßen, und sie erinnern einen an die ersten, es hört gar nicht wieder auf, einmal kann man noch abbiegen und gelangt so auf einen dritten Platz, aber man spürt bereits, dass die Enge wieder nachlässt, dass der Wald nicht mehr weit weg ist, also macht man kehrt, geht ein paar Schritte nach links, eine neue Straße, und wieder die Illusion eines Labyrinths, aber wenn man am Ende rechts abbiegt und an der Kirche San Massimo vorbeigeht, stellt man fest, dass man diese Straße schon gesehen hat, und wirklich, schon steht man wieder vor der Porta del Torrione. In dem Augenblick streckt das Dorf, das sich alle Mühe gegeben hat, das nicht nachgegeben hat, das ein paar Minuten lang riesig gewesen ist, die Waffen und wird endgültig klein.
Im Vergleich dazu versuchte das Kloster von San Gabriele groß und mächtig zu wirken. Es thronte regelrecht über dem Tal, und wenn die Menschen, welche das Leben und die Predigten von der Kanzel herab gelehrt hatten, dass sie klein und unbedeutend waren, von weitem darauf blickten, forderte es ihnen Respekt ab. Wenn diese Menschen dann aber den Blick über die Umgebung schweifen ließen, sahen sie daneben auch den Sasso in seiner erdrückenden Massigkeit und mit seinem gezackten Gipfel. Unter diesem riesigen Gebiss büßte San Gabriele seine Überlegenheit ein. Es gab in der Gegend niemanden, der nicht um diese erlittene Niederlage im Wettstreit um Größe wusste, und dieses Wissen war niemals weit weg, wenn es galt, den Predigten von der Kanzel herab zu lauschen. Und sie über sich ergehen zu lassen. Man könnte sagen, dass San Gabriele nur so tat, als ob, und alle spielten das Spiel mit. Seine Kirche war nicht uralt: Ihre jetzige Form hatte sie erst wenige Jahre zuvor im Zuge ihrer Vergrößerung erhalten, weil im vorangegangenen Jahrhundert ein Kind an dieser Stelle die Spuren von Stigmata und Heilung, seinen Namen und seinen vorzeitigen Tod hinterlassen hatte. Sobald diese Wunder von der Kirche anerkannt worden waren, waren aus ganz Italien die Massen herbeigeströmt. Derartige Geschehnisse wühlen die Menschen auf, berühren sie, manche knien nieder oder weinen, andere fangen an, die Nachricht laut zu verkünden, eine Energie wird frei, überträgt sich, strahlt in alle Richtungen, gibt so manchem Leben einen Sinn, wächst, und dann erscheint eines Tages plötzlich ein mysteriöses Prisma, und diese Energie wird darin gebündelt und wieder zurückgeworfen, die gesamte Energie sammelt sich in diesem Prisma, wird zu einem Projekt, wird eine Herausforderung, und eine Kirche wird gebaut. Daneben setzt man eine Herberge. Anschließend wird rasch vergessen, was vorher an der Stelle war, eine Wiese, eine leere Fläche, und die Menschen setzen sich mit vereinten Kräften dafür ein, dem Ort einen Status von Selbstverständlichkeit und von Ewigkeit zu verleihen. Die Steine von San Gabriele waren ein Fortbestehen, ein Fossil gewordenes Strahlen.
Direkt daneben hatte man einen großen Schlafsaal gebaut, den Camerone, um den stetig wachsenden Strom der Pilger darin unterzubringen. Er war noch nicht sehr alt, und Rom hatte es nicht versäumt, ihm seinen Stempel aufzudrücken, sofern man der Inschrift auf dem Grundstein Glauben schenkte: »Duce Benito Mussolini Generale Passionisti, 2 guigno 1938«. Diese Inschrift erinnerte in ihrer grandiosen Knappheit daran, dass der Faschismus allumfassend war und bis in die Steine der Gebäude in den Abruzzen hineinreichte. Mussolini, Oberbefehlshaber des Passionisten-Ordens, sprach durch diese Steine zu den Menschen, das war mineralischer Faschismus, bis diese Steine eines Tages zu Ruinen würden. Und dann war da noch die ausgehöhlte und deformierte »Passion«, die in dieser Inschrift begraben war, dieses glühende Wort, das die Zufälle der Geschichte herunterdekliniert hatten, bis es sich in dem schlummernden, verkümmerten Namen einer unbedeutenden religiösen Bruderschaft wiederfand, ein Wort, das in einen steinernen Kiefer hineingeraten war. Die Passion, von Mussolini gefangen gesetzt, sie saß in der Falle, war zertrümmert, der letzte Überrest eines toten Wortes, das nicht mehr verbreitet werden und auch nicht mehr jene Substanz sein konnte, der es freistand, die Zeit und den Raum zu bestimmen, in dem sie sich entfalten wollte. Sie war hier in eine Inschrift eingefügt, in einen von all den anderen Steinen erdrückten Stein, in einen schweren, behäbigen, bedrückenden Camerone.