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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2008
ISBN 978-3-8270-7725-7
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel
Partir
bei Éditions Gallimard, Paris
© 2006 Tahar Ben Jelloun und Éditions Gallimard
© 2006 Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg,
unter Verwendung einer Fotografie von
© Justin Pumfrey/Getty Images
Datenkonvertierung: psb, Berlin
Inhalt
1. |
Toutia |
2. |
Al Afia |
3. |
Azel und Al Afia |
4. |
Noureddine |
5. |
El Hadj |
6. |
Miguel |
7. |
Lalla Zohra |
8. |
Heimat |
9. |
Siham |
10. |
Siham und Azel |
11. |
Mohamed-Larbi |
12. |
Malika |
13. |
Soumaya |
14. |
Azel |
15. |
Malika |
16. |
Mounir |
17. |
Abdeslam |
18. |
Siham |
19. |
Kenza |
20. |
Moha |
21. |
Azel |
22. |
Abbas |
23. |
Nazim |
24. |
Kenza und Nazim |
25. |
Azel |
26. |
Malika |
27. |
Kenza |
28. |
Azel |
29. |
Nazim |
30. |
Miguel |
31. |
Azel |
32. |
Gabriel |
33. |
Flaubert |
34. |
Kenza |
35. |
Nazim |
36. |
Azel |
37. |
Kenza |
38. |
Azel |
39. |
Kenza |
40. |
Rückkehr |
Mein Freund Flaubert aus Kamerun sagt: »Ich komme«, wenn er geht, und: »Wir sind zusammen«, wenn er von jemandem Abschied nimmt. Es ist ein Versuch, das Schicksal zu beschwören.
In diesem Roman denken diejenigen, die gehen, nicht an Wiederkehr und wenn sie von jemandem Abschied nehmen, ist es für immer. Flaubert hatte in der Schule einige Seiten aus »Madame Bovary« durchgenommen. Er hat mir versprochen, den ganzen Roman in den großen Ferien zu lesen, falls er jemals solche Ferien haben sollte.
1
Toutia
In Tanger verwandelt sich das Café Hafa im Winter in ein Observatorium der Träume und ihrer Folgen. Die Katzen, die normalerweise auf den Terrassen, auf dem Friedhof und um den wichtigsten Brotofen von Marshan herumlungern, treffen sich dort, als wollten sie dem Schauspiel beiwohnen, das stumm aufgeführt wird und von dem sich niemand täuschen lässt. Die langstieligen Haschischpfeifen kreisen von einem Tisch zum anderen, der Minztee wird in den Gläsern kalt, umschwirrt von Bienen, die schließlich in ihn hineinfallen, ohne bei den seit langem im Nebel und in billige Träumereien versunkenen Gästen irgendeine Reaktion auszulösen. In einem Hinterraum bereiten zwei Männer sorgfältig das Zaubermittel zu, das die Tore zur Reise öffnet. Der eine wählt die Blätter aus und hackt sie schnell und effizient klein. Keiner von beiden hebt den Kopf. Manche Gäste sitzen auf Matten mit dem Rücken an der Wand und stieren auf den Horizont, als befragten sie ihn zu ihrer Zukunft. Sie blicken auf das Meer, auf die mit den Bergen verschmelzenden Wolken, sie warten auf das Aufblinken der ersten Lichter Spaniens. Sie verfolgen diese Lichter mit Blicken, ohne sie wirklich zu sehen, und manchmal erkennen sie diese Lichter, obwohl sie vom Nebel und dem schlechten Wetter eingehüllt sind.
Alle schweigen. Alle horchen auf. Vielleicht wird sie heute Abend erscheinen, zu ihnen sprechen, ihnen das Lied des Ertrunkenen, der zum Seestern über der Meerenge wurde, vorsingen. Es herrscht Einverständnis, sie nie mit einem Namen zu benennen. Wer sie beim Namen nennt, zerstört sie und löst eine Welle von Unheil aus. Deshalb beobachten sie sich gegenseitig und schweigen. Jeder versinkt in seinen Traum und ballt die Fäuste. Allein der Teemeister, der Besitzer des Cafés, und seine Kellner halten sich da heraus: Diskret bereiten sie Getränke zu und servieren sie, sie gehen von einer Terrasse zur anderen und stören keinen der Träumer.
Die Männer dort kennen sich, doch sie reden nicht miteinander. Sie kommen zumeist aus dem gleichen Viertel und haben gerade genug Geld, um sich den Tee und ein paar Pfeifen Haschisch leisten zu können. Manche haben einen Zettel, auf dem sie ihre Schulden eintragen. Sie sagen keinen Ton, als hätten sie das verabredet. Besonders nicht zu dieser Stunde des Tages, in diesem heiklen Augenblick, in dem sie mit ihrem ganzen Wesen auf die Ferne konzentriert sind, um das geringste Säuseln der Wellen oder das Geräusch eines alten, in den Hafen einfahrenden Kahns zu erhaschen. Manchmal hören sie einen Hilferuf wie eine Art Echo. Sie sehen sich an, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Bedingungen sind erfüllt, damit sie erscheinen und einige ihrer Geheimnisse preisgeben kann. Ein heller, fast weißer Himmel spiegelt sich im klaren Meer, das zur Lichtquelle geworden ist. Stille im Café, Stille auf den Gesichtern. Vielleicht ist der kostbare Augenblick gekommen: Sie wird sprechen!
Manchmal tauschen sie Hinweise dazu aus, besonders wenn das Meer die Leichen einiger Ertrunkener zurückwirft. Sie sagen dann: »Sie hat sich wieder bereichert und schuldet uns nun doch eine Geste!« Sie haben ihr den Spitznamen »Toutia« gegeben. Dieses Wort hat keine Bedeutung, doch sie alle wissen, dass es die Spinne ist, die mal Menschenfleisch verspeist und mal Wohltäterin ist, wenn sie ihnen als Stimme zuflüstert, dass diese Nacht nicht die richtige ist und sie die Reise auf ein anderes Mal verschieben müssen.
Wie Kinder glauben sie an diese Geschichte, über die sie einschlafen, den Rücken gegen die rohe Wand gelehnt. In den großen Gläsern ist die erkaltete grüne Minze schwarz geworden. Die Bienen liegen ertrunken auf dem Grund der Flüssigkeit. Die Gäste trinken den bitter gewordenen Tee nicht mehr. Mit dem Löffel holen sie die Bienen eine nach der anderen hoch, legen sie auf den Tisch und sagen sich: »Arme kleine ertrunkene Tierchen, die zum Opfer der eigenen Gefräßigkeit wurden!«
Wie in einem absurden, immer wiederkehrenden Traum sieht Azel seinen nackten Körper zwischen anderen vom Meerwasser aufgeschwemmten Körpern. Sein Gesicht ist von Erwartung und Salz entstellt, die Haut von der Sonne rot verbrannt, an den Armen aufgerissen, als habe vor dem Kentern eine Schlägerei stattgefunden. Er sieht ihn immer deutlicher, wie er in einem weiß und blau gestrichenen Kahn, einem Fischerkahn, mit aufreizender Langsamkeit aufs Meer hinaustreibt. Azel hat entschieden, dass das Meer vor ihm einen Mittelpunkt hat, und dass dieser Mittelpunkt ein grüner Kreis ist, ein Friedhof, in dem die Strömung die Leichen erfasst und in die Tiefe zieht und auf einem Algenbett ablegt. Er weiß, dort, genau in diesem Kreis, liegt eine mobile Grenze, eine Art Trennungslinie zwischen zwei Gewässern, dem ruhigen und flachen Mittelmeer und dem heftigen und starken Atlantik. Er hält sich die Nase zu, denn je länger er auf diese Bilder stiert, desto stärker riecht er den Geruch des Todes, einen erstickenden herumwabernden Geruch, der ihm Übelkeit verursacht. Wenn er die Augen schließt, fängt der Tod an, um den Tisch zu tanzen, an dem er gewohnheitsgemäß jeden Tag Platz nimmt, um den Sonnenuntergang zu beobachten und die ersten Lichter gegenüber an der spanischen Küste aufflackern zu sehen. Seine Freunde setzen sich zum Kartenspielen dazu und sagen kein einziges Wort. Auch wenn manche genau wie er von dem Gedanken besessen sind, die Heimat zu verlassen, so wissen sie doch, weil »Toutia« es ihnen eines Nachts zugeflüstert hat, dass sie sich nicht in leidvollen Bildern verlieren dürfen.
Er sagt kein Wort zu seinem Vorhaben oder zu seinem Traum. Die anderen finden ihn gestresst, unglücklich. Das Gerücht geht, eine verheiratete Frau habe ihn in Liebe verhext. Man sagt ihm Abenteuer mit Ausländerinnen nach, vermutet, er lasse sich mit ihnen ein in der Hoffnung, dass sie ihm den Absprung aus Marokko ermöglichen. Natürlich streitet er alles ab und lacht lieber darüber. Doch stets begleitet ihn der Gedanke, in die Ferne zu ziehen, sich auf ein grün gestrichenes Pferd zu schwingen, die Meerenge zu überspringen, der Gedanke, zu einem durchsichtigen Schatten zu werden, den man nur tagsüber sehen kann, zu einem schnell auf den Wellen dahin ziehenden Bild. Er behält ihn für sich, redet nicht mit seiner Schwester Kenza und noch weniger mit seiner Mutter darüber, die sich wegen seines Gewichtsverlustes und seiner ewigen Raucherei sorgt.
Auch er hat schließlich an die Geschichte von der Gestalt geglaubt, die in Erscheinung treten und sie einen nach dem anderen hinüberführen muss über die Distanz, die sie vom Leben, dem prallen Leben, oder eben vom Tod trennt.
2
Al Afia
Jedes Mal, wenn Azel diese Stille hinter sich lässt, in der sich ihm keinerlei Anwesenheit aufdrängt, friert er. Zu welcher Jahreszeit auch immer, sein Körper wird von einem leichten Zittern erschüttert. Er spürt das Bedürfnis, sich von der Nacht zu entfernen, er weigert sich, in sie einzutreten. Dann zieht er durch die Stadt, redet mit niemandem, sieht sich als Schneider, als Couturier der besonderen Art, der mit weißem Faden die engen Gassen mit den breiten Boulevards verbindet, wie in jener Geschichte, die ihm seine Mutter zum Einschlafen erzählte. Eigentlich wollte er feststellen, ob Tanger eine Männerdjellaba oder ein Brautkaftan ist, doch die Stadt war derart angeschwollen, dass er auf seine Idee hatte verzichten müssen.
In jener Nacht im Februar 1995 beschloss er, das Nähen aufzugeben, denn er war überzeugt, Tanger sei nun kein Gewand mehr, sondern eine jener synthetischen Wolldecken, die die Emigranten aus Belgien mitbrachten. Die Stadt war verborgen unter jenem Stoff, der die Hitze speichert, ohne die Feuchtigkeit zu vertreiben. Sie hatte keine Form, kein Zentrum mehr, nur noch Plätze, die nicht ganz kreisförmig waren und an denen die Autos die Bäuerinnen aus dem Fahs vertrieben haben, die dort ihr selbst angebautes Obst und Gemüse verkauften.
Die Stadt veränderte sich und die Mauern bekamen Risse.
Er blieb vor dem Whisky à Gogo stehen, einem von zwei Deutschen geführten Pub in der Rue du Prince-Héritier. Er zögerte einen Augenblick und trat dann ein. Er gehörte zu den Menschen, die davon überzeugt sind, dass alles, was ihnen geschieht, vorbestimmt ist, vielleicht nicht eingeschrieben in das große Himmelsbuch, doch auf jeden Fall irgendwo festgeschrieben. Was geschehen muss, geschieht. Seine Freiheit war äußerst eingeschränkt. Trotz der Ermahnungen seiner Mutter bekämpfte er das Vorbestimmte manchmal aktiv. Er veränderte ab und zu den Weg, den er normalerweise einschlug, nur um dem Festgeschriebenen in die Quere zu kommen. In jener Nacht, als er kurz vor der Tür der Kneipe innehielt, hatte er eine Vorahnung, eine Art verrückten Drang, seinem Schicksal zuvorzukommen.
In der Kneipe war es merkwürdig ruhig. An der Bar saßen einige Männer. Eine Wasserstoffblondine bediente sie. An der Kasse war einer der beiden Deutschen. Er lächelte nie.
Im schummrigen Saal hockten Männer allein vor ihren Whiskyflaschen. Alles wirkte finster und trostlos. Azel blieb stehen, als er an der Bar einen vierschrötigen Mann sah, der eine Limonade trank. Er wandte Azel den Rücken zu, einen viereckigen, breiten Rücken, gekrönt von einem Stiernacken. Azel erkannte den Mann und sagte sich: Mala pata! Es war der Oberboss, ein furchterregender, mächtiger, schweigsamer und herzloser Mensch. Sein Spitzname war Al Afia (das Feuer). Er war bekannt als Schlepper, der Kähne vollstopfte mit Illegalen, die den Sprung über den Ozean machen wollten. Sie steckten ihre Ausweise in Brand, um im Fall einer Verhaftung nicht nach Hause geschickt zu werden.
Al Afia hielt sich nicht mit Gefühlen auf. Er stammte aus den Bergen, aus dem Rif, und hatte schon immer Schmuggel betrieben. Als Kind hatte er nachts seinen Onkel begleitet, wenn Kähne in Al-Hoceina anlegten, um Ware zu holen. Er hatte die Aufgabe, Wache zu halten. Er war stolz auf sein Fernglas, das er wie ein Oberkommandierender gewandt handhabte, um den Horizont zu überprüfen. Sein Vater war bei einem Lastwagenunfall ums Leben gekommen. Er hatte ihn kaum gekannt. Der Onkel hatte ihn unter seine Fittiche genommen und aus ihm einen seiner Vertrauten gemacht. Als sein Beschützer starb, hatte er also ganz selbstverständlich die Nachfolge angetreten. Er kannte als Einziger alle Schliche, die bei Schwierigkeiten aufzusuchenden Personen, die Kontakte in Europa, deren Telefonnummern er auswendig wusste, die Familien, um die man sich kümmern musste, weil der Vater, der Onkel oder der Bruder im Gefängnis saßen. Er fürchtete sich vor niemandem und interessierte sich nur für seine Geschäfte. Die Leute erzählten sich, seine vielen Geheimnisse machten ihn zum wandelnden Tresor. Nachdem er einige Biere getrunken hatte, schrie Azel ihn vor allen an: »Seht euch diesen fetten Bauch an, das korrupte Schwein. Schaut seinen Nacken an, wie bösartig er ist. Er kauft alle. Und das ist normal. Dieses Land ist ein Marktplatz, der vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet ist. Alle verkaufen sich. Man braucht nur ein ganz klein wenig Macht und kann daraus Gewinn schlagen. Es ist nicht teuer: ein paar Flaschen Whisky, ein Abend mit einer Nutte … Doch die großen Dinger haben ein anderes Kaliber. Geld geht von Hand zu Hand. Wenn du willst, dass ich die Augen zudrücke, sag mir den Tag und die Stunde, und es gibt kein Problem, Junge. Brauchst du eine kleine Unterschrift, einen Krakel unten auf einem Blatt, kein Problem, schau bei mir vorbei, oder wenn du Wichtigeres zu tun hast, schick deinen Fahrer, den Einäugigen, der wird schon nichts durchschauen. Tja Freunde, das ist Marokko! Manche ackern wie die Blöden, sie arbeiten, denn sie wollen ehrlich und unbestechlich bleiben. Die schuften im Schatten, keiner sieht sie, keiner redet von ihnen, dabei müsste man ihnen doch Orden verleihen, denn das Land funktioniert dank ihrer Unbestechlichkeit. Und dann gibt es die anderen, die sind sehr zahlreich, sie sind überall, in allen Ministerien, denn in unserem geliebten Land ist die Korruption die Luft, die wir atmen, ja wir stinken nach Korruption, sie nistet sich ein in unseren Gesichtern, in unseren Köpfen, sie hat sich in unsere Herzen gebohrt, jedenfalls in eure Herzen. Wenn ihr mir nicht glaubt, fragt doch das korrupte Schwein da, den Glatzkopf, den Panzerschrank, den Geheimnistresor, den Limonadetrinker, denn Monsieur ist ein guter Muslim und nimmt keinen Alkohol zu sich, er fährt oft nach Mekka, ja er ist Hadj und ich bin Kosmonaut, ich fliege in den Raketen, flüchte ins All, hab keine Lust mehr, auf dieser Erde zu leben, in diesem Land, wo alles unecht ist, wo alle sich arrangieren, doch ich weigere mich. Ich habe Jura studiert in einem Staat, der das Recht mit Füßen tritt und so tut, als bestehe er auf Einhaltung der Gesetze. Denkste … Hier muss man sich dem Willen der Mächtigen fügen, das ist alles, ansonsten heißt es sich durchmogeln … Doch du, Mohamed Oughali, bist ein gemeiner Dieb, ein Zamel, ein Attaye …«
Azel schrie immer lauter. Einer der stark angetrunkenen Polizisten an der Bar näherte sich Al Afia und flüsterte ihm ins Ohr:
»Überlass ihn mir … Wir verknacken ihn wegen Gefährdung der Staatssicherheit …eit …eit …«
Al Afia musste den hysterischen Pinscher zum Schweigen bringen. Seine Gorillas reagierten auf die leichteste Kopfbewegung. Er blickte auf Azel. Zwei Männer griffen ihn sich, prügelten ihn durch und warfen ihn vor die Tür. Einer der beiden sagte:
»Du tust aber auch alles, um den Boss zu reizen, fast als wolltest du dahin, wo dein Kumpel schon ist!«
Azels Kumpel war sein Vetter Noureddine. Er hatte in ihm einen Bruder gesehen und ihn mit seiner Schwester Kenza verheiraten wollen. Noureddine war bei einer nächtlichen Überfahrt ertrunken, weil Al Afias Männer das alte Boot überladen hatten. In jener Oktobernacht ertranken vierundzwanzig Menschen und der Sturm lieferte der Guardia Civil aus Almeria den Vorwand, nicht auszurücken.
Al Afia hatte einfach geleugnet, Geld erhalten zu haben, doch Azel war dabei gewesen, als ihm Noureddine die zwanzigtausend Dirham übergab. Der Mann hatte viele Tote auf dem Gewissen, doch besaß er überhaupt ein Gewissen? Seine Geschäfte florierten auf mehreren Gebieten. Er lebte in einem Riesenhaus in Ksar es-Seghir an der Mittelmeerküste, in einer Art Bunker, wo er mit Devisen prall gefüllte Jutesäcke aufstapelte. Die Leute erzählten, er habe zwei Frauen, eine Spanierin und eine Marokkanerin. Sie lebten im selben Haus. Niemand hatte sie jemals gesehen. Der Drogenhandel reichte ihm nicht, er stopfte alle vierzehn Tage alte Schiffswracks voll mit armen Teufeln, die ihr ganzes Hab und Gut für eine Überfahrt nach Spanien blechten. In den Nächten, an denen Überfahrten stattfanden, ließ er sich jedoch nie blicken. Einer seiner Kerle, Leibwächter, Schläger und Fahrer, überwachte das Laden der Schiffe. Es war jedes Mal ein anderer. Er hatte seine Anwerber, seine Spitzel und auch seine Bullen. Er nannte sie »meine Männer«. Von Zeit zu Zeit schickte die Regierung aus Rabat eine Patrouille der Armee, die die Schiffe beschlagnahmen und die Schlepper festnehmen sollte. Die Polizei in Tanger wurde nie benachrichtigt. So wurden einige Handlanger Al Afias verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Solange sie in Tanger einsaßen, kümmerte er sich um sie wie um seine eigenen Kinder, organisierte eine warme Mahlzeit am Tag und unterstützte ihre Familien. Im Gefängnis von Tanger hatte er seine Kontakte, kannte den Leiter und vor allem die Wächter, die er bestach, auch wenn mal keiner seiner Leute einsaß.
Er war ein Meister der Korruption, hatte die Eigenheiten des einen und des anderen studiert, kannte ihre Schwächen und Bedürfnisse, zog das ganze Register und übersah kein Persönlichkeitsmerkmal. Es war, als besitze er ein Doktorat in einer ganz ungewöhnlichen Wissenschaft. Al Afia konnte nur Zahlen lesen. Für den Rest hatte er kompetente, sehr loyale Sekretärinnen, mit denen er im Dialekt des Rif, durchmischt mit etwas Spanisch, sprach. Alle hielten ihn für einen großzügigen Mann, mit einem »großen Herzen«, einem »offenen Haus«, »dem Hort der Güte« usw. Dem einen spendierte er eine Reise nach Mekka, dem anderen ein Grundstück oder ein ausländisches Auto (selbstverständlich gestohlen), wieder ein anderer bekam eine goldene Uhr mit den Worten: »Ein kleines Geschenk für deine Frau.« Er bezahlte die Klinikaufenthalte seiner Männer und ihrer Familien und gab jeden Abend Lokalrunden in der Kneipe aus, die zu seinem Hauptquartier geworden war.
3
Azel und Al Afia
Zwischen Azel und Al Afia herrschte schon seit langem offener Krieg. Bereits lange vor Noureddines Tod hatte Azel sich entschieden, eines Nachts die Reise anzutreten, und er hatte den Schlepper bereits bezahlt. Doch in letzter Minute war die Überfahrt annulliert worden. Azel hatte sein Geld nie zurückbekommen. Er wusste, alleine konnte er gegen dieses Ungeheuer nichts ausrichten. Vor dem Mann hatten alle Angst. Und alle diejenigen, die von seiner Großherzigkeit profitierten, liebten oder vielmehr schützten ihn. Von Zeit zu Zeit, besonders nach dem Genuss einiger Glas Bier, ließ Azel sich gehen, beschimpfte und verhöhnte ihn. Al Afia tat so, als höre er nicht, bis zu dieser Nacht. Als Azel ihn bei seinem richtigen Namen nannte und ihn als Zamel bezeichnete, als passiven Homosexuellen. Das war die größte Schande! Als würde dieser mächtige, gutherzige Mann sich auf den Bauch legen und von hinten besteigen lassen! Das war zu viel, der Wicht hatte eine Grenze überschritten. Dafür musste er bestraft werden:
»Du Pseudogelehrter, hier, steck ein. Du hast Glück, dass wir es hier nicht mit den Kerlen haben, sonst hätten wir dich schon längst in den Arsch gefickt! Du besudelst dein Land, redest schlecht über Marokko. Warte nur, die Polizei wird dich in Säure auflösen.«
Azel hatte Jura studiert. Er hatte vom Staat ein Stipendium bekommen, weil er sein Abitur mit einer hervorragenden Note bestanden hatte. Seine Eltern hätten ihm das Studium nicht bezahlen können.
Er zählte auf eine Einstellung bei seinem Onkel, der in Larache eine Anwaltskanzlei betrieb. Doch nach einem komplizierten Fall hatte der Onkel seine Klienten verloren und die Kanzlei wurde geschlossen. In Wahrheit war es dessen Weigerung, es wie alle zu machen, die dem Onkel einen schlechten Ruf und den Verlust seiner Klienten einbrachte: »Geh nicht zu Maître El Ouali, er ist unbestechlich, mit ihm gibt es keine Arrangements und deshalb verliert er alle Prozesse!« Azel begriff, dass seine Zukunft unsicher war und er ohne spezielle Beziehungen keine Arbeit finden würde. Da war er bei weitem nicht der Einzige. Deshalb beteiligte er sich am Sit-in der arbeitslosen Akademiker vor dem Parlament in Rabat. Nach einem Monat, als sich nichts änderte, nahm er den Bus zurück nach Tanger und entschloss sich, das Land zu verlassen. Er stellte sich sogar einen Busunfall vor, bei dem er umkäme und so dem Schlamassel ein Ende bereiten könnte. Er sah sich als Toten, beweint von Mutter und Schwester, hörte, wie die Freunde ihn vermissten: ein Opfer der Arbeitslosigkeit, des verrotteten Systems, ein so kluger Junge, gut erzogen, feinsinnig, großherzig. Warum ist er auch in den verdammten Bus mit den abgefahrenen Reifen gestiegen, der Fahrer ein Diabetiker, der in einer Kurve ohnmächtig wurde … Der arme Azel hat nicht gelebt, er hat alles getan, um weiterzukommen. Wenn er es doch nur geschafft hätte, sich nach Spanien einzuschiffen, er wäre heute ein großer Rechtsanwalt oder Professor an der Universität!
Azel rieb sich die Augen, stand auf und fragte den Fahrer, ob er Diabetiker sei.
»Gott behüte! Allah sei Dank, ich bin kerngesund und mein Leben liegt in Gottes Hand. Warum fragst du?«
»Nur so. Ich habe in der Zeitung gelesen, einer von sieben Marokkanern sei Diabetiker …«
»Beruhige dich. Man soll nicht alles glauben, was die Zeitungen schreiben.«
Das Land verlassen. Es wurde zu einer Obsession, einer Art Wahn, der ihn Tag und Nacht beschäftigte. Wie sollte er es schaffen, wie der Demütigung entkommen? Weggehen, diese Erde verlassen, die ihre Kinder verstößt, diesem schönen Land den Rücken zukehren und eines Tages stolz und vielleicht reich zurückkommen, wegziehen, um seine Haut zu retten, selbst wenn man sie dabei zu Markte trug … Er dachte daran und verstand nicht, wie es so weit hatte kommen können. Die Obsession wurde bald zum Fluch. Er fühlte sich verfolgt, verdammt und zum Überleben verurteilt: Er ließ einen Tunnel hinter sich und landete in einer Sackgasse. Seine Energie, seine physische Kraft, sein gut proportionierter Körper bauten jeden Tag mehr ab. Manche seiner Leidensgenossen behandelten ihre Verzweiflung, indem sie sich der Religion hingaben und bald zu Pfeilern der Moschee wurden. Doch das hatte ihn nie gereizt. Dafür liebte er die Frauen und den Alkohol zu sehr. Man hatte ihn angesprochen und ihm sogar Arbeit und Reisen angeboten. Der Kontaktmann trug keinen Bart, sprach mit ihm in brüchigem Französisch über die Zukunft Marokkos, genau genommen eines Marokkos »im Schoße des Islam, eines Marokkos der Ehrsamkeit, Unbestechlichkeit und Gerechtigkeit«.
Der Mann hatte einen Tick, er zwinkerte nervös mit den Augen und biss sich dabei auf die Unterlippe. Azel unterdrückte ein Lachen und tat so, als höre er ihm zu. Er stellte ihn sich nackt durch eine Wüste laufend vor. Dieses Bild beherrschte ihn. Der Mann war lächerlich. Azel achtete nicht mehr auf seine Worte. Er hatte mit dieser Moral nichts am Hut, auch weil er sein Vergnügen zumeist in von der Religion Verbotenem suchte. Er lehnte das Angebot deutlich und entschieden ab, wohl in dem Wissen, dass sein Gesprächspartner ein Anwerber und Rattenfänger für zweifelhafte Machenschaften war. Er hätte nachgeben und ein wenig Geld verdienen können, doch Angst, eine Art Vorahnung, überfiel ihn. Ihm fiel die Geschichte eines Nachbarn ein, der zu einer militanten religiösen Gruppe gegangen und verschwunden war, ohne jemals wieder ein Lebenszeichen von sich zu geben. Das war zu der Zeit, als man nach Libyen und dann nach Afghanistan ging, um gegen den Atheismus der russischen Kommunisten zu kämpfen.
Sechs Monate später meldete sich der Anwerber wieder. Er lud ihn zum Essen ein, »um miteinander zu reden«. Azel konnte diesen Mann einfach nicht ernst nehmen. Doch trotz dessen Nervosität schien es ihm zu gelingen, »verirrte Schafe« zur Religion zu treiben. Azel war jedoch interessiert an der Methode des Mannes, an der Logik seines Geredes. Er versuchte auch herauszubekommen, wer hinter jener Bewegung steckte. Doch der Anwerber fiel nicht darauf herein. Er sah die Fragen kommen und beantwortete sie nicht ohne List. Er vertraute sich Azel an, als sei dieser ein alter Freund:
»Ich habe Literaturwissenschaften studiert, habe sogar eine Doktorarbeit an der Sorbonne vorgelegt. Nach meiner Rückkehr nach Marokko habe ich französische Literatur unterrichtet und wurde dann Inspektor. Ich fuhr durch das ganze Land und sah, was Leute wie du nicht sehen. Ich habe das eigentliche, das tiefe Marokko kennengelernt. Niemand hat mich einer Gehirnwäsche unterzogen, ich bin kein Verirrter, nein, ich weiß, was ich tue und was ich will. Die politischen Parteien haben jämmerlich versagt, sie haben nicht auf das gehört, was ihnen das Volk sagte. Sie liegen voll daneben. Besonders sauer bin ich auf die Sozialisten, die haben an die Wende geglaubt, sich auf das Spiel mit der Macht eingelassen und nichts getan, um die Dinge wirklich zu verändern. Der König hat sie benutzt und sie haben es zugelassen.«
Er hielt inne, sah Azel in die Augen, legte ihm die Hand auf die Schulter, biss sich auf die Unterlippe, diesmal ohne zu zwinkern, und fuhr fort:
»Keiner der führenden Politiker respektiert die Botschaft des Islam. Sie nutzen sie, aber wenden sie nicht an. Unser Projekt will nun etwas anderes bewirken. Wir wissen, was die Bevölkerung wünscht: in Würde zu leben.«
Er verstummte, schnäuzte sich laut, als wolle er seine Ticks verbergen. Da blickte Azel ihn an und sah ihn wieder splitternackt in einer Scheune, verfolgt von einem schwarzen Riesen. Er rannte und schrie um Hilfe. Der Riese holte ihn ein, verpasste ihm ein paar Ohrfeigen und lachte schallend.
Der Anwerber führte weiter seine abgedroschenen Thesen aus, während sich Azel in Gedanken flüchtete. Jetzt sah er sich auf der Terrasse eines großen Cafés auf der Plaza Mayor in Madrid sitzen. Die Sonne schien, die Leute lächelten, eine junge deutsche Touristin fragte ihn nach dem Weg, er lud sie auf ein Getränk ein … Plötzlich wurde die Stimme des Anwerbers lauter, drängender und holte ihn nach Tanger zurück:
»Es ist unzumutbar, dass ein Kranker von den staatlichen Krankenhäusern abgewiesen wird, weil sie keine Mittel haben. Deshalb arbeiten wir genau dort, wo der Staat seine Pflicht nicht tut. Unsere Solidarität gilt allen. Dieses Land muss gerettet werden: zu viele Kompromisse, zu viel Korruption, zu viel Unrecht und Ungleichheit. Ich behaupte nicht, alle Probleme lösen zu können, aber wir legen nicht die Hände in den Schoß und warten darauf, dass sich die Regierung endlich in den Dienst der Bürger stellt. Ich bin geprägt von der französischen Kultur, der Kultur von Recht und Gesetz, der Kultur von Gerechtigkeit und Respekt des anderen. Im Islam, in den Heiligen Schriften und auch in den Schriften der arabischen Hochkultur der Blütezeit finde ich Erleuchtetes, das in die gleiche Richtung weist. Ich möchte, dass du die Augen öffnest und deinem Leben einen Sinn gibst.«
Er wiederholte diesen letzten Satz mehrmals, er merkte wohl, dass Azel seiner Rede kaum folgte.
»Ich weiß, wie viele deiner Kameraden bist du besessen von dem Gedanken, wegzugehen, das Land zu verlassen. Es ist der scheinbar leichteste Weg und doch das Riskanteste überhaupt. Europa will uns nicht. Der Islam jagt ihnen Angst ein. Der Rassismus durchdringt alles. Als Auswanderer glaubst du dein Problem gelöst zu haben, doch falls du dort überhaupt je ankommen solltest, werden dir dein Land, seine Kultur und seine Religion fehlen. Wir sind gegen die Auswanderung, ob legal oder illegal, denn wir müssen hier und heute Lösungen für unsere Probleme finden. Wir zählen nicht darauf, dass die anderen sie für uns lösen. Nochmals, ich behaupte nicht, dass die Religion alles regeln wird. Nein, die Religion ist eine Zuversicht, ein Vertrauen, das man lernt, ein Selbstvertrauen, das die Türen öffnet.«
Der Mann hatte seinen Tick abgelegt und Azel hörte ihm etwas aufmerksamer zu. Er konnte sich aber dennoch nicht verkneifen, an das Leben zu denken, das er weit von hier führen könnte. Dann schob sich plötzlich das Bild seines verschollenen Freundes Mohamed-Larbi vor alles andere. Es würde zu nichts führen, mit dem Anwerber das Schicksal jenes Mannes anzusprechen, der wahrscheinlich in eine islamistische Organisation rekrutiert worden war. Azel hatte Lust auf ein Glas Wein, aber dieses Restaurant schenkte keinen Alkohol an Marokkaner aus. Sowieso hätte der Anwerber ihm das sehr übel genommen. Azel wollte ihn provozieren, ihm sagen, dass sich die Religion nicht in die Politik einmischen dürfe, dass man die Lebensbedingungen der Menschen verbessern müsse, ohne sie in die Moscheen zu zwingen. Dann schlug ihm der Anwerber vor, an einer Privatschule, deren Direktor er war, Unterricht im Rechtswesen zu geben. Er war versucht anzunehmen trotz des mageren Gehalts. Doch er besann sich, als ihm der Anwerber zu verstehen gab, dass dies auch von Zeit zu Zeit mit Reisen in Länder ohne Visumzwang für Marokkaner verbunden sei. Sein Drang auszuwandern war stärker als alles andere. Beim Abschied versprachen sie sich, in Kontakt zu bleiben, und der Anwerber fügte hinzu:
»Falls du es schaffen solltest, die wachsamen Spanier zu überlisten, gib Bescheid. Ich stelle den Kontakt zu sicheren Freunden dort her.«
Erneut sah ihn Azel nackt im Hamam unter den Händen eines Masseurs.
4
Noureddine
In der darauffolgenden Nacht fand Azel keinen Schlaf. Warum war er so besessen davon, Marokko zu verlassen? Woher kam diese Idee? Warum war sie so störrisch, so heftig? Er hatte Angst vor seinen eigenen Gedanken und schwankte zwischen jenem unkontrollierbaren Drang zum Wegziehen und den Vorschlägen des Anwerbers, die er sich nicht endgültig aus dem Kopf schlagen konnte. Durch die Schlaflosigkeit nahmen diese Überlegungen erschreckende Proportionen an. Er erhob sich, ohne die anderen zu wecken, und trat auf den Balkon, der auf den Friedhof von Marshan ging. Ein schönes Silberlicht lag auf dem Meer und verwandelte es in einen weißen Spiegel. Er zählte die Gräber und schaute nach dem von Noureddine aus. Er mochte sich nicht vorstellen, was aus diesem prächtigen Körper geworden war, den das Meer verunstaltet hatte. Er hatte sich selber auf die Suche nach der Leiche seines Vetters und Freundes gemacht. Unter den verstümmelten, zum Teil von Haien angefressenen Kadavern lag Noureddines Leiche, unberührt, aufgeschwemmt. Die Familien, die sich dort eingefunden hatten, weinten, manche hatten nicht einmal etwas von der versuchten Überfahrt gewusst. Azel sah auch zwei in weiße Tücher eingehüllte Frauenleichen und eine Kindsleiche. Dann trat der Gouverneur in die Leichenhalle, erregt und ziemlich betroffen. Er brüllte: »Nie wieder! Kommt her, ihr da, und macht Aufnahmen von diesen Leichen! Ganz Marokko muss diese Tragödie sehen! Es muss in den Abendnachrichten kommen. Soll es den Leuten doch den Appetit verderben! Genug! Basta! Es reicht! Das muss aufhören. Marokko verliert seinen Saft, seine Jugend! Wo ist der Préfet? Er soll sofort herkommen! Wir müssen die Küste dicht machen!«
Azel hatte diese Szene nicht vergessen, auch nicht den fauligen Modergeruch, der den Körpern entströmte, die sich noch einige Tage zuvor vom Traum eines besseren Lebens ernährt hatten. Er würde auch die weißen Augen Noureddines und seine geballte rechte Hand nie vergessen, die einen Schlüssel hielt. Als Kind hatte Azel furchtbare Angst gehabt vor dem Tod und allem, was damit zu tun hatte. Von weitem schon machte er die Leichenwäscher aus und vermied es, ihnen die Hand zu schütteln oder mit ihnen vom selben Teller zu essen. Er hasste den Paradiesweihrauch, der bei den Leichen verbrannt wurde. Er hatte sich sogar immer geweigert, einem Toten ins Antlitz zu blicken. Es war stärker als er, er war erfüllt von einer irrationalen Angst, einer Art Phobie. Am Tag, als sein Großvater begraben wurde – er war damals zehn –, flüchtete er sich zu den Nachbarn, denn er war sicher: Der Tod war ansteckend und die Schattengestalt würde ihn nachts in ihren Mantel gehüllt hinwegtragen. Als er sich um Noureddine kümmerte, vergaß er diese Angst zum ersten Mal. Er machte alle Behördengänge, um die Leiche freizubekommen und nach Hause zu holen. Die Todesnachricht hatte Noureddines Eltern völlig gelähmt: Sie weinten und weigerten sich, das Geschehene zur Kenntnis zu nehmen. Die weiß gekleidete Kenza durfte nicht am Begräbnis teilnehmen. Die Frauen mussten zu Hause bleiben. So verlangte es die Tradition. Sie schrie ihren Schmerz hinaus, weinte um ihren Vetter und Verlobten, trauerte um ihr eigenes Los. Noureddine musste wegen der Zersetzung der Leiche noch am selben Tag beerdigt werden. Azels Geschäftigkeit versetzte alle in Staunen. Im kleinen Wohnzimmer saßen die Tolba, die Koranleser, und lasen schweigend in der Schrift, zusammen leierten sie einige Gebete herunter. Vor dem Friedhof machte der Trauerzug an der Moschee des Viertels halt. Ein Mann mit starker Stimme sagte »Janazatou Rajoul!«, »Begräbnis eines Mannes«. Vor der in ein weißes, mit grüner und schwarzer Stickerei verziertes Leintuch eng eingehüllten Leiche wurden Gebete gesprochen. Einige Minuten später trugen ihn Azel und drei andere Freunde zum Grab. Die Tolba stimmten die Abschiedsgebete an, die Leiche wurde in einem schmalen Loch versenkt und schnell mit Platten, Zement und Erde zugedeckt. Die Familie verteilte Brot und getrocknete Feigen an die Tolba und die Bettler. Azel stellte sich zu den Verwandten, um die Beileidsbekundungen entgegenzunehmen. Er weinte. Einige bedrängten ihn, seinen Zorn aufzugeben und den Weg der Weisheit und der Geduld einzuschlagen. Für ihn war das nur eine leere Formel, wie sie bei solchen Gelegenheiten oft dahergesagt wird. Auf gar keinen Fall wollte er seinen Freund vergessen. Er musste einen Weg finden, ihn auf die eine oder andere Art zu rächen.
Er rauchte eine Zigarette und schlich sich zu seinem Bett zurück. Wieder stellte er sich Fragen nach dem plötzlichen Verschwinden Mohamed-Larbis, der wahrscheinlich von den Islamisten rekrutiert worden war. Dessen Vater beteuerte immer wieder, das sei unmöglich. Sein Sohn sei ein Ungläubiger, der den Ramadan nicht einhielt, sich oft betrank. Sein Verhalten hatte für die Familie und die Nachbarn sogar tragische Ausmaße angenommen. Ein Polizeioffizier erklärte ihm, dass die es gerade auf solche Typen abgesehen hätten:
»Die haben ihre Methoden, um ihn zu überzeugen. Sobald er sich ihnen anschließt, schicken sie ihn zu einem Praktikum in ein islamisches Land, nach Pakistan oder Afghanistan, geben ihm einen Pass und Visen, alles natürlich gefälscht, doch das weiß er nicht. Sobald er dort angekommen ist, kümmert sich ein anderes, noch härteres Team um ihn. Die Dinge werden klarer: Es muss eine Revolution geben, um die islamischen Länder von den einheimischen und ausländischen Ungläubigen zu säubern. Das Ganze dauert drei bis sechs Monate, die Gehirnwäsche findet nicht sofort statt. Sie lassen sich Zeit und wenden die raffiniertesten Techniken an. Das sind Spezialisten, sie sind gut organisiert, die überlassen nichts dem Zufall. Das wissen wir durch Leute, die abgesprungen und ihnen entkommen sind, denen plötzlich bewusst wurde, was da läuft. Doch was soll man machen? Wir sind wachsam, aber diese Leute setzen auf den Glauben, das Irrationale und Charakterschwächen. Unser einziger Trumpf ist das Aufspüren der falschen Papiere, doch ihre Rekruten benutzen keine Flughäfen. Sie reisen, wenn es großen Andrang am Hafen gibt, nachts, und in manchen Fällen stecken sie dem diensthabenden Polizisten oder Zöllner einen oder zwei Scheine zu und die Sache ist geritzt. Ich weiß, ich dürfte Ihnen das gar nicht sagen, doch es ist die reine Wahrheit. Die Korruption, die sie zu bekämpfen vorgeben, ist die Hauptverbündete der Islamisten. Nur dank des Bakschisch können sie an den Grenzpolizisten vorbei. Eines Tages wird dein Sohn als Bärtiger wiederkehren. Du wirst ihn nicht wiedererkennen, er wird sich verändert haben … Benachrichtige uns, das schuldest du deinem Land …«
Mohamed-Larbi war ein unruhiger, rebellischer und vor allem verzweifelter Junge. Er war bei den Aufständen von Beni-Makada verhaftet worden und hatte ein paar Tage in einer Polizeizelle verbracht. Er war ein stiller Gymnasiast, der jedoch manchmal wegen der Situation des Landes Wutanfälle bekam, die Regierenden beschimpfte, aber auch die Opposition, die er als unfähig darstellte. Azel war überzeugt, dass er von einer islamistischen Gruppe rekrutiert worden war und sich heute in irgendeiner »Befreiungsarmee« befand. Doch er mochte ihn, nannte ihn oft einen Hitzkopf und bedauerte, ihn in der letzten Zeit vor seinem Verschwinden vernachlässigt zu haben.
Azel war finanziell von seiner Schwester abhängig, die als Krankenpflegerin in einer Klinik arbeitete. Sie machte Überstunden bei Privatpatienten, denn die Klinik zahlte nicht viel. Der Direktor, ein kleingewachsener Chirurg, manisch und mit dem Gehabe des Geizigen, der die ganze Zeit über Geld redet, ob es um den Preis der Tomaten oder eines Scanners geht, zahlte Kenza den Mindestlohn und sagte: »Du lernst ja noch.« Er verdiente an einem einzigen Tag das Jahresgehalt seiner Angestellten. Das hinderte ihn nicht daran, seine fünf Gebete zu verrichten, im Frühjahr den Besuch der Heiligen Stätten und alle zwei Jahre eine Pilgerfahrt einzuplanen. Für jeden chirurgischen Eingriff ließ er sich im Voraus bar bezahlen. Er war genauso bekannt für die Geschicklichkeit seiner Hände wie für seinen Geiz. Man erzählte sich, er habe für Geld sogar seinen besten Freund verraten. Nichtsdestoweniger schlief er mit dem seligen Lächeln des Zufriedenen. Kenza hatte keine andere Wahl. Sie zog dieses ermüdende Leben dem Dahintreiben ihrer Kollegin und Freundin Samira vor, die für einen Prostituiertenring arbeitete, der sich für etwas anderes ausgab. Samira verreiste mit Männern, die sie nicht kannte, nahm Abendeinladungen an, bei denen sie Risiken einging. Zu Anfang war alles wunderbar, glänzend und leicht gewesen. Man hatte sie zum Tanzen aufgefordert, nie zum Geschlechtsverkehr. Das passte ihr. Doch langsam begann alles sich zu verändern. Wie oft flüchtete sie sich geschlagen, vergewaltigt, verängstigt zu Kenza!
Azel hatte die Arbeitssuche aufgegeben, zumindest nach der klassischen Methode mit Bewerbungsschreiben samt Lebenslauf. Das führte zu nichts. Er hatte es überall versucht, in der Verwaltung und bei den Unternehmen, doch er war nicht hart genug, um sich in diesem Milieu der Haie zu behaupten. Alles in allem war Azel sanft, freundlich und nicht gewalttätig. Der Arme! Er wusste nicht, dass er auf dem Holzweg war. Niemand hatte ihn gewarnt: Die Niederträchtigen landen im Paradies, nachdem sie die Hölle geschaffen haben! Seine fixe Idee verfolgte ihn weiterhin: Das Land verlassen! Er hielt daran fest. Unterdessen lebte er von der Hand in den Mund, versuchte sich als Gebrauchtwagenverkäufer, wurde Zutreiber für einen Immobilienhändler, er hatte sogar schon in der Schlange vor dem französischen Konsulat ausgeharrt, im Auftrag eines wohlhabenden Mannes, der ihm zweihundert Dirham für das fünfstündige Warten zahlte. Er verdiente ein wenig Geld und konnte sich geschmuggelte Zigaretten und Markenkleidung auf Pump leisten … Was die Frauen betraf, so kümmerte sich sein Freund El Hadj, ein entfernter Verwandter, darum, ihnen ab und zu je einen Hundert-Dollar-Schein in den Ausschnitt zu stecken.