Ian Caldwell wurde 1976 in Washington, D.C., geboren. Sein Geschichtsstudium schloss er 1998 in Princeton ab. Er lebt mit seiner Ehefrau und seinem Sohn in Newport News, Virginia. Mit »Das letzte Geheimnis« hat er bereits einen internationalen Bestseller verfasst.
Wolfgang Thon lebt als freier Übersetzer in Hamburg. Er hat viele Thriller, u. a. von Brad Meltzer, Joseph Finder und Paul Grossman ins Deutsche übertragen.
»Meisterhaft … Das geheime Evangelium ist eine besondere Story – klug und dennoch ein Pageturner.« David Baldacci
Der griechisch-orthodoxe Priester Simon will sich in den Gärten von Castel Gandolfo heimlich mit dem Kurator einer Ausstellung treffen, die die Geschichte der Kirche verändern soll. Doch vor Ort findet er dessen Leiche. Schnell stellt sich heraus: Es war Mord – und Simon wird verdächtigt. Gleichzeitig wird in die Wohnung seines Bruders Alex eingebrochen. Alex versucht, einen Zusammenhang zwischen den Verbrechen herzustellen. Ist das geheime Evangelium, das ausgestellt werden sollte, der Grund? Alex ahnt, dass er der Wahrheit immer näherkommt, denn plötzlich wird er selbst gejagt.
Ein Vatikanthriller von einem internationalen Bestsellerautor.
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Das geheime
Evangelium
Thriller
Aus dem Amerikanischen
von Wolfgang Thon
Inhaltsübersicht
Über Ian Caldwell
Informationen zum Buch
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Historische Anmerkung
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
Danksagungen
Impressum
FÜR MEREDITH —
ENDLICH.
Vor zweitausend Jahren machten sich zwei Brüder aus dem Heiligen Land auf den Weg, um die christlichen Evangelien zu verkünden. Sankt Petrus zog nach Rom und wurde der geistliche Stammvater der westlichen Christenheit. Sein Bruder Sankt Andreas reiste nach Konstantinopel und begründete das östliche Christentum. Die Kirche, die sie zu errichten halfen, blieb jahrhundertelang eine Einheit. Vor eintausend Jahren aber trennten sich Westen und Osten. Die Christen des Westens wurden Katholiken, angeführt vom Papst, dem Nachfolger des heiligen Petrus. Ostchristen wurden zu Orthodoxen, geführt von Nachfolgern des heiligen Andreas und anderen Aposteln, die man die Patriarchen nennt. Heutzutage bilden diese Konfessionen die beiden größten Kirchengemeinschaften der Welt. Zwischen ihnen existiert die kleine Gemeinschaft der katholischen Ostkirche, die sich den üblichen Einordnungen entzieht, indem sie den Traditionen der Ostkirche folgt, sich aber dem Papst unterstellt.
Dieser Roman spielt im Jahr 2004, als die Wiedervereinigung des Katholizismus und der Orthodoxie zum letzten Wunsch des sterbenden Papstes Johannes Paul II. wird.
Dies ist die Geschichte zweier Brüder. Beide sind katholisch: Priester der Westkirche der eine, der andere Priester der Ostkirche.
Mein Sohn ist noch zu jung, um zu begreifen, was Vergebung ist. Weil er in Rom aufwächst, kommt es ihm vor, als wäre sie nicht schwierig: Fremde reihen sich in die Schlangen vor den Beichtstühlen im Petersdom ein, bis sie an der Reihe sind, um ihre Beichte abzulegen, und die roten Lämpchen oben an den Kabinen werden ein- und wieder ausgeschaltet, was signalisiert, dass der Priester im Innern mit einem Sünder fertig und für den nächsten bereit ist. Das Gewissen braucht gar nicht erst so beschmutzt zu werden wie lange benutztes Bettzeug oder dreckiges Geschirr, findet mein Sohn, denn schließlich kann man es viel schneller reinigen. Wenn er das Badewasser zu lange laufen lässt, sein Spielzeug herumliegt und zum Stolpern einlädt oder er mit verdreckter Hose aus der Schule nach Hause kommt, bittet Peter um Vergebung. Er verteilt seine Entschuldigungen wie ein Papst seinen Segen. Bis zur ersten eigenen Beichte meines Sohnes sind es noch zwei Jahre. Und das aus gutem Grund.
Kleine Kinder verstehen noch nicht, was Sünde ist. Schuld. Absolution. Priester vergeben Fremden so rasch, dass sich ein Junge nicht vorzustellen vermag, wie schwer es ihm eines Tages fallen wird, seinen Feinden zu vergeben. Er ahnt noch nicht, dass gewissenhafte Menschen manchmal außerstande sind, sich selbst zu verzeihen. Die schlimmsten Vergehen können vergeben werden – aber man kann sie nicht wieder ungeschehen machen. Ich hoffe, solche Sünden werden meinem Sohn für immer fremd bleiben – was meinem Bruder und mir selbst nicht gelang.
Schon bei meiner Geburt stand fest, dass ich Priester werden würde. Mein Onkel ist Priester, mein älterer Bruder Simon ist Priester, und ich hoffe, dass auch Peter eines Tages Priester sein wird. Ich habe niemals außerhalb des Vatikans gelebt, und Peter hat ihn ebenfalls noch kein einziges Mal verlassen.
Es gibt zwei Bilder, die sich die Welt vom Vatikan macht: Für die einen ist es der schönste Ort auf Erden: ein Tempel der Kunst und ein Museum des Glaubens. Für die anderen ist er die Brutstätte des Katholizismus, ein Staat von Priestern, die andauernd den Zeigefinger erheben. Unvorstellbar, dass ein Junge an diesem Ort hat aufwachsen können. Trotzdem war unser kleines Land schon immer voller Kinder. Alle haben Kinder: die apostolischen Gärtner, die apostolischen Arbeiter, die Schweizergarde. Als ich selbst noch ein Kind war, beschloss Papst Johannes Paul, dass die Gehälter der Familien mitwachsen sollten. Deshalb wurde der Lohn mit jedem Zuwachs, den es zu ernähren galt, erhöht. Wir spielten Verstecken in seinen Gärten, Fußball mit seinen Messdienern, und wir flipperten im Raum über der Sakristei seiner Basilika. Wir ließen uns zuerst von unseren Müttern in den vatikanischen Supermarkt und ins vatikanische Kaufhaus schleifen und begleiteten dann unsere Väter zur Tankstelle des Vatikans oder zur Bank. Unser Land war zwar kaum größer als ein Golfplatz, aber trotzdem taten wir dasselbe wie die meisten anderen Kinder. Simon und ich waren glücklich. Normal. Und auch sonst wie alle anderen Jungs im Vatikan. Außer in einem einzigen Punkt: Unser Vater war ein Priester.
Allerdings kein römisch-katholischer, sondern ein griechisch-katholischer Priester. Das heißt, er hatte einen langen Bart und trug ein anderes Priestergewand; statt einer Messe zelebrierte er die Göttliche Liturgie, und er hatte vor der Priesterweihe heiraten dürfen. Er sagte immer, dass wir Ostkatholiken Sendboten Gottes seien, Mittelsmänner, die dabei helfen könnten, Katholiken und Orthodoxe wieder zu vereinen. In Wahrheit kann man sich als Ostkatholik aber so vorkommen wie ein Flüchtling an der Grenze zwischen zwei feindseligen Großmächten. Vater versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn das belastete. Zur römisch-katholischen Kirche zählen weltweit eine Milliarde Menschen, zu unserer griechisch-katholischen Richtung nur ein paar Tausend Gläubige. So kam es, dass er der einzige verheiratete Priester in einem Land war, das von zölibatär lebenden Männern beherrscht wurde. Dreißig Jahre lang schauten die anderen Priester im Vatikan auf ihn herab, wenn er ihnen Dokumente den Berg hochbrachte. Erst ganz am Ende seiner Berufslaufbahn wurde er befördert, allerdings mit Engelsflügeln und Harfe.
Bald darauf verstarb meine Mutter. Krebs, sagten die Ärzte. Sie wussten es nicht besser. Meine Eltern waren einander in den sechziger Jahren begegnet, in jener kurzen Zeitspanne, als alles möglich schien. Sie haben immer in unserer Wohnung miteinander getanzt. Die Familie meiner Mutter war römisch-katholisch, seit über hundert Jahren schon brachte sie Priester hervor, die im Vatikan Karriere machten. Deshalb wurde meine Mutter enterbt, als sie einen bärtigen Griechen ehelichte. Nach Vaters Tod erzählte sie mir, wie seltsam es für sie sei, noch Hände zu haben, obwohl sie doch niemand mehr halten würde. Simon und ich bestatteten sie neben meinem Vater in einer Grabstelle hinter der vatikanischen Gemeindekirche. Ich habe so gut wie keine Erinnerungen an jene Zeit, ich weiß nur noch, dass ich Tag für Tag die Schule schwänzte, auf dem Friedhof saß und weinte. Die Arme hatte ich um meine Beine geschlungen. Irgendwann kam dann mein Bruder und brachte mich heim.
Wir waren noch Teenager, deshalb gab man uns in die Obhut unseres Onkels, eines vatikanischen Kardinals. Am besten beschreibt man ihn als jemanden, der das Herz eines kleinen Jungen hatte und es zusammen mit seinem künstlichen Gebiss in einem Glas verwahrte. Kardinal Lucio hatte als Präsident der apostolischen Verwaltung der Vatikanstadt die besten Jahre seines Lebens damit verbracht, den Staatshaushalt auszugleichen und die Angestellten des Vatikans an der Gründung einer Gewerkschaft zu hindern. Aus rein ökonomischen Gründen lehnte er den Gedanken, Familienzuwachs mit Gehaltserhöhungen zu vergelten, ab. Selbst wenn er genügend Zeit gehabt hätte, die verwaisten Kinder seiner Schwester großzuziehen, wäre er wahrscheinlich schon aus Prinzip dagegen gewesen. Deshalb hatte er nichts einzuwenden, als Simon und ich wieder in die Wohnung unserer Eltern zogen, um selbst für uns zu sorgen.
Ich war zu jung zum Arbeiten, deshalb verließ Simon für ein Jahr die Uni und suchte sich einen Job. Keiner von uns konnte kochen, nähen oder eine Toilette reparieren, also brachte Simon es sich selbst bei. Er war es, der mich morgens rechtzeitig für die Schule weckte und mir Geld für ein Mittagessen aushändigte. Er sorgte dafür, dass ich etwas zum Anziehen und etwas Warmes zu essen hatte. Ein guter Messdiener zu sein habe ich nur von ihm gelernt. In den finstersten Nächten seines Lebens geht jeder katholische Junge mit der Frage zu Bett, ob Geschöpfe wie wir wirklich den Lehm wert sind, aus dem Gott uns geformt hat. Aber er schickte Simon in mein Leben und in meine Dunkelheit. Es ist nicht so, dass wir gemeinsam unsere Kindheit bewältigt hätten: Er war es, der sie meisterte und mich dabei auf seinem Rücken trug. Ich konnte mich nie von dem Gefühl befreien, dass ich ihm mehr schuldete, als ich ihm in meinem ganzen Leben zurückgeben könnte. Mir blieb nur die Hoffnung auf Absolution. Wenn ich irgendetwas für ihn hätte tun können, hätte ich es getan.
Alles.
»Verspätet Onkel Simon sich?«, fragt Peter.
Unsere Haushälterin, Schwester Helena, fragt sich wahrscheinlich das Gleiche, während sie zusieht, wie der Seehecht in der Pfanne zerkocht. Mein Bruder wollte schon vor zehn Minuten da sein.
»Kein Problem«, sage ich. »Hilf mir einfach beim Tischdecken.«
Peter ignoriert mich. Er klettert auf seinem Stuhl herum, bis er schließlich auf ihm kniet, und verkündet: »Simon und ich gehen ins Kino, dann werde ich ihm den Elefanten im Bioparco zeigen und danach will er mir beibringen, wie die Marseille-Drehung geht.«
Schwester Helena legt vor dem Herd ein Tänzchen hin. Sie hält die Marseille-Drehung für einen Tanzschritt. Peter ist entsetzt. Er streckt einen Arm in die Luft wie ein Zauberer beim Hexen und sagt: »Nein! Das ist ein Dribbeltrick. Wie Ronaldo.«
Simon fliegt für eine Ausstellung aus der Türkei nach Rom, die von Ugo Nogara, einem gemeinsamen Freund, kuratiert wird. Die Vernissage in knapp einer Woche ist eine förmliche Angelegenheit, zu der ich normalerweise keine Einladung erhalten hätte, wenn ich nicht einmal mit Ugo zusammengearbeitet hätte. Aber unter diesem Dach leben wir in der Vorstellungswelt eines Fünfjährigen. Onkel Simon ist nach Hause gekommen, um Fußballunterricht zu geben.
»Das Leben besteht aus mehr«, sagt Schwester Helena, »als gegen einen Ball zu treten.«
Sie hat die Rolle der weiblichen Stimme der Vernunft übernommen. Als Peter elf Monate alt war, hat uns meine Frau Mona verlassen. Seitdem sichert diese wundervolle alte Nonne mein Überleben als Vater. Onkel Lucio hat sie mir ausgeborgt, ihm stehen ganze Heerscharen von ihnen zur Verfügung. Ich kann mir nur schwer vorstellen, was ich ohne sie machen würde, weil ich noch nicht einmal zahlen könnte, was eine aufgeweckte Jugendliche als Lohn erwartet. Glücklicherweise würde Schwester Helena Peter und mich um nichts auf der Welt im Stich lassen.
Mein Sohn verschwindet in seinem Zimmer und kehrt mit seinem Digitalwecker zurück. Mit der Direktheit, die ihm seine Mutter vererbt hat, stellt er ihn vor mir auf den Tisch und zeigt darauf.
»Liebling«, beruhigt ihn Helena, »bestimmt hat nur der Zug von Pater Simon Verspätung.«
Der Zug. Nicht der Onkel. Weil Peter nur schwer verstehen könnte, dass Simon manchmal das Fahrgeld vergisst oder sich von Gesprächen mit Fremden fesseln lässt. Mona war nicht einmal damit einverstanden, unser Kind nach ihm zu nennen, weil sie ihn so unberechenbar fand. Und das, obwohl mein Bruder die angesehenste Arbeit hat, auf die ein junger Priester hoffen kann – er ist Diplomat beim Staatssekretariat des Heiligen Stuhls, der Elite unserer katholischen Bürokratie. In Wahrheit braucht er so viel zermürbende Arbeit, wie er nur kriegen kann. Wie alle Männer des mütterlichen Zweigs meiner Familie ist Simon ein römisch-katholischer Priester, was bedeutet, dass er nie heiraten oder Kinder haben wird. Im Gegensatz zu anderen Priestern im Vatikan, die geradezu für die Kanzel und einen ausladenden Bauch geboren sind, hat er jedoch eine rastlose Seele. Gesegnet sei Mona, die dafür sorgte, dass unser Sohn mehr nach seinem zuverlässigen, gelassenen und zufriedenen Vater schlägt. Deshalb einigten wir uns bei der Namensgebung auf einen Kompromiss: In den Evangelien trifft Jesus auf einen Fischer namens Simon und gibt ihm den Namen Peter.
Ich zücke mein Handy und schicke Simon eine SMS: Bist Du in der Nähe? Währenddessen inspiziert Peter, was Schwester Helena in der Pfanne brät.
»Seehecht ist Fisch«, verkündet er aus heiterem Himmel. Er ist gerade in der Phase, in der er alles klassifizieren möchte. Außerdem hasst er Fisch.
»Simon liebt dieses Essen«, sage ich ihm. »Das haben wir immer gegessen, als wir noch Kinder waren.«
Eigentlich hatten Simon und ich dieses Gericht damals mit Dorsch und nicht mit Seehecht zubereitet. Aber das Gehalt eines alleinstehenden Priesters erlaubt keine großen Sprünge auf dem Fischmarkt. Außerdem erinnerte mich Mona bei den Einkäufen für Mahlzeiten wie dieser immer wieder daran, dass mein Bruder – der alle anderen Priester innerhalb dieser Mauern um Haupteslänge überragt – doppelt so viel isst wie ein gewöhnlicher Mann.
Ich muss jetzt oft an Mona denken; öfter als sonst. Die Ankunft meines Bruders scheint jedes Mal einen Schatten der Erinnerung daran mitzubringen, wie meine Frau von uns ging. Die beiden sind die Pole meines Lebens, und im Schatten des einen scheint sich immer auch der andere zu verbergen. Mona und ich kannten einander bereits in unserer Kindheit hinter den Mauern des Vatikans, und als wir uns später in Rom wiederbegegneten, erschien uns das wie der Wille Gottes. Aber wir mussten den zweiten Schritt vor dem ersten tun – Priester der Ostkirchen müssen noch vor ihrer Ordination heiraten oder ganz darauf verzichten. Rückblickend betrachtet hätte Mona vielleicht noch mehr Zeit benötigt, um sich darauf einzustellen. Als Frau im Vatikan zu leben ist nicht leicht. Ein Leben als Frau eines Priesters ist sogar noch schwerer. Mona arbeitete weiterhin in Vollzeit, fast bis zum Tag ihrer Niederkunft mit unserem blauäugigen Baby, das einen Bärenhunger hatte und niemals schlafen wollte. Mona gab ihm so häufig die Brust, dass ich oft einen leeren Kühlschrank vorfand, den Mona vermutlich leer gegessen hatte, um wieder zu Kräften zu kommen.
Erst später wurde mir klar, dass der Kühlschrank leer war, weil sie nicht mehr einkaufen ging. Das war mir nicht aufgefallen, weil sie auch aufgehört hatte, regelmäßig zu essen. Sie betete weniger, sang seltener mit Peter. Schließlich verschwand sie drei Wochen vor dem ersten Geburtstag unseres Sohnes. Ich entdeckte ein Pillenfläschchen, das hinten in einem Schrank unter einem Becher versteckt war. Ein Arzt des medizinischen Dienstes des Vatikans erklärte mir, dass sie wohl versucht hatte, mit einem Neuanfang aus ihrer Depression herauszufinden. Er meinte, wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben. Also warteten Peter und ich auf ihre Rückkehr. Warteten und warteten.
Heute behauptet er, sich an sie erinnern zu können. Diese Erinnerungen sind jedoch nur Details von Fotos, die in der Wohnung verteilt sind. Er koloriert sie mit den Erkenntnissen, die er aus Fernsehshows und Zeitschriftenanzeigen gewonnen hat. Ihm ist noch nicht aufgefallen, dass die Frauen in unserer griechischen Kirche keinen Lippenstift und kein Parfum benutzen. Bedauerlicherweise scheint seine Wahrnehmung der Kirche römisch-katholisch geprägt zu sein: Wenn er mich anschaut, sieht er einen einsamen Priester, alleinstehend und zölibatär. Die Widersprüchlichkeit seiner eigenen Identität wird ihm erst noch bewusst werden. Aber er erwähnt seine Mutter immer wieder in seinen Gebeten. Man hat mir berichtet, dass sich Johannes Paul genauso verhielt, als er in jungen Jahren seine Mutter verlor. Diese Vorstellung beruhigt mich.
Endlich klingelt das Telefon. Schwester Helena lächelt, als ich eilig das Gespräch annehme.
»Hallo?«
Peter beobachtet mich mit gespannter Aufmerksamkeit.
Ich bin darauf gefasst, den Lärm einer U-Bahn-Station, oder schlimmer noch, eines Flughafens zu hören. Aber nichts dergleichen. Die Stimme am anderen Ende klingt schwach und wie aus weiter Ferne.
»Simon?«, frage ich. »Bist du es?«
Er scheint mich nicht zu hören. Der Empfang ist schlecht. Für mich ist das ein Zeichen dafür, dass er dem Zuhause näher ist, als ich vermutet hatte. Auf dem Terrain des Vatikans kommt es oft zu Verbindungsabbrüchen.
»Alex?«, höre ich ihn fragen.
Er sagt wieder etwas, aber ich höre nur ein Rauschen in der Leitung. Mir dämmert, dass er einen Abstecher zu den Vatikanischen Museen gemacht haben könnte, um Ugo Nogara zu besuchen, der mit Hochdruck an den Vorbereitungen für seine große Ausstellung arbeitet. Ich würde es Peter niemals ins Gesicht sagen, aber es sähe ihm ähnlich, sich auf dem Weg zu uns noch um einen anderen Menschen zu kümmern.
»Sim«, frage ich, »bist du im Museum?«
Hinten am Esstisch vergeht Peter vor Ungewissheit. »Ist er bei Herrn Nogara?«, flüstert er Helena zu.
Am anderen Ende der Leitung geschieht etwas. Plötzlich beginnt es zu rascheln, woraus ich schließe, dass es windig ist. Er ist im Freien. Hier in Rom stürmt es ebenfalls.
Einen Moment lang ist er wieder klar zu verstehen.
»Alex, du musst mich abholen kommen.«
Beim Klang seiner Stimme läuft es mir kalt den Rücken hinunter.
»Was ist los?«, frage ich.
»Ich bin in Castel Gandolfo. In den Gärten.«
»Das verstehe ich nicht«, erwidere ich. »Was machst du da?«
Es fängt wieder an zu rascheln, und ich höre ein eigenartiges Geräusch aus dem Hörer. Es klingt, als würde mein Bruder stöhnen.
»Bitte, Alex«, sagt er, »komm sofort. Ich bin jetzt … in der Nähe des Osttores, hinter der Villa. Du musst noch vor der Polizei hier eintreffen.«
Mein Sohn ist wie erstarrt und schaut mich an. Ich sehe, wie ihm die Papierserviette vom Schoß rutscht und durch die Luft segelt wie die weiße Papstkappe. Auch Schwester Helena schaut dabei zu.
»Bleib, wo du bist!«, bitte ich Simon und drehe mich von Peter weg, damit er den Ausdruck in meinen Augen nicht sehen kann. In der Stimme meines Bruders höre ich etwas, das ich, soweit ich mich erinnere, noch nie an ihm wahrgenommen habe: Furcht.
Gegen den nordwärts ziehenden Sturm fahre ich nach Castel Gandolfo. Wütend prasseln die Regentropfen herab und hüpfen auf dem Kopfsteinpflaster wie Flöhe. Als ich die Autobahn erreiche, wird die Windschutzscheibe zur Trommel, auf die der Himmel eindrischt. In beide Fahrtrichtungen verlangsamen die Autos ihr Tempo und fahren auf die Seitenstreifen. Als sich das Ensemble roter Rücklichter vor mir wieder lichtet, schweifen meine Gedanken zurück zu meinem Bruder.
Als Kind gehörte Simon zu der Sorte Jungs, die sogar noch im Gewitter auf einen Baum kletterten, um eine entlaufene Katze einzufangen. An einem Strand in Kampanien sah ich ihn eines Nachts einmal mitten in einen Schwarm fluoreszierender Quallen schwimmen, um ein Mädchen zu retten, das von einer starken Strömung erfasst worden war. Eines Winters, er war fünfzehn und ich elf, ging ich zu ihm in die Sakristei im Petersdom, wo er Messdiener war. Er wollte mit mir zu einem Friseur in der Stadt, aber als wir gerade im Begriff waren, den Dom zu verlassen, sahen wir einen Vogel durch ein Fenster in den Dom hineinfliegen und dann ganz hoch hinauf, bis er in sechzig Metern Höhe hörbar auf einem Balkon landete. Irgendetwas trieb Simon dazu, nachzuschauen, also rannten wir die unzähligen Stufen hinauf, bis wir schließlich oben eine schmale Marmorbrüstung erreichten. Sie führte einmal um den Hochaltar herum und nur das Geländer trennte uns vom Abgrund. Auf der Brüstung saß die Taube. Sie flatterte und spuckte kleine Tröpfchen roten Blutes. Simon ging hinüber und fing sie ein. In dem Moment schrie jemand: »Stopp! Nicht näher kommen!«
Auf der anderen Seite der Kuppel beugte sich ein Mann übers Geländer. Er starrte mit geröteten Augen zu uns herüber. Plötzlich rannte Simon los, in seine Richtung.
»Nein, signore!«, schrie er. »Tun Sie das nicht!«
Dann hob der Mann sein Bein über das Geländer.
»Signore!«
Doch selbst wenn Gott Simon Flügel gegeben hätte, wäre er nicht mehr rechtzeitig gekommen. Der Mann beugte sich vor und ließ los. Wir sahen ihn wie einen Stein durch den Petersdom fallen. Ich hörte, wie unten ein Fremdenführer sagte: »… Bronze aus dem Pantheon entwendet …«, während der Mann noch fiel. Inzwischen sah er nicht mehr größer aus als eine Wimper. Schließlich hörte man einen Schrei und konnte sehen, wie das Blut in alle Richtungen spritzte. Ich setzte mich, weil meine Beine nachgaben.
Mein Leben lang habe ich mich gefragt, warum Gott jenen Vogel durch das Fenster schickte. Vielleicht sollte es Simon lehren, was für ein Gefühl das ist, wenn man machtlos ist. Unser Vater starb im darauffolgenden Jahr, deshalb war es vielleicht eine Lehre, die keinen Aufschub duldete. Aber das Letzte, was mir von diesem Tag in Erinnerung blieb, bevor die Bediensteten alle Besucher aus der Kirche scheuchten, ist das Bild von Simon auf der Brüstung, mit ausgestreckten Armen, erstarrt, als wollte er den Vogel wieder in die Luft heben. Als wäre es nichts anderes, als eine Vase zurück ins Regal zu stellen. Am Nachmittag weihten die Priester den Petersdom wieder, so wie sie es jedes Mal tun, wenn ein Pilger gesprungen ist. Aber niemand kann ein Kind wieder in den alten Zustand zurückversetzen. Als zwei Wochen später unser Chorleiter einen Knaben ohrfeigte, weil er den richtigen Ton nicht getroffen hatte, sprang Simon aus unseren Reihen hervor und schlug zurück. Die Proben wurden für drei Tage unterbrochen. In dieser Zeit versuchten meine Eltern mit aller Macht, Simon zu einer Entschuldigung zu bewegen. Er hatte sein ganzes Leben lang mustergültigen Gehorsam gezeigt, aber jetzt erklärte er, er würde eher aus dem Chor austreten, als sich zu entschuldigen. Hier erkenne ich den Ursprung der Verhaltensmuster, die uns zu den Männern machten, die wir sind. Alles, was ich über meinen Bruder weiß, lässt sich aus diesem Ereignis ableiten.
In den zehn Jahren zwischen Simons Studienbeginn und dem Anfang seiner Ausbildung im diplomatischen Dienst herrschten in Italien schwere Zeiten. Die Bombenattentate und die Morde, wie wir sie in unserer Kindheit erlebten, hatten zwar fast gänzlich aufgehört, aber es gab in Rom hitzige Proteste gegen eine abgewirtschaftete Regierung, die unter der Last ihrer eigenen Korruption zusammenbrach. Auf der Uni protestierte Simon zusammen mit den Studenten. Im Seminar demonstrierte er aus Solidarität mit den Arbeitern. Als er schließlich in den diplomatischen Dienst aufgenommen wurde, ging ich davon aus, dass diese Zeiten vorbei waren. Doch dann beschloss Johannes Paul vor drei Jahren, im Mai 2001, nach Griechenland zu reisen.
Es war das erste Mal seit dreizehn Jahrhunderten, dass ein Papst in unsere Heimat reiste, und unsere Landsleute waren über sein Erscheinen nicht erfreut. Fast alle Griechen sind orthodox, und Johannes Paul wollte das Schisma zwischen unseren Kirchen beenden. Simon fuhr hin, um es mit eigenen Augen zu sehen. Hassgefühle sind etwas, das mein Bruder nie verstehen konnte. Von unserem Vater hatte er eine Gleichgültigkeit gegenüber historischen Schuldzuweisungen geerbt, die für mich protestantisch wirkt. Die Orthodoxen werfen den Katholiken vor, ihnen in jedem Krieg von den Kreuzzügen bis hin zum Zweiten Weltkrieg geschadet zu haben. Sie beschuldigen die Katholiken, Orthodoxe aus ihrer angestammten Kirche in eine neue Hybridform des Katholizismus zu locken. Die bloße Existenz des Ostkatholizismus gilt manchen Orthodoxen als Provokation – aber trotzdem begriff Simon nicht, warum sein eigener Bruder, ein griechisch-katholischer Priester, ihn bei seiner Reise nach Athen nicht begleitete.
Der Ärger fing bereits vor Simons Ankunft in Griechenland an. Als sich herumgesprochen hatte, dass Johannes Paul seinen Fuß auf griechischen Boden setzen würde, läuteten griechisch-orthodoxe Klöster die Totenglocken. Zu Hunderten trieb es protestierende Orthodoxe mit Bannern auf die Straßen hinaus, auf denen Erzhäretiker oder Gehörnter Römischer Dämon geschrieben stand. Die Zeitungen brachten Storys von heiligen Ikonen, die zu bluten begonnen hatten. Sogar ein nationaler Trauertag wurde ausgerufen. Simon hatte es arrangiert, in der alten griechisch-katholischen Pfarrei meines Vaters schlafen zu können. Als er dort eintraf, stellte er fest, dass orthodoxe Reaktionäre die Türen mit Farbe besprüht hatten. Er erzählte, dass die Polizei ihm keine große Hilfe war. Endlich hatte mein Bruder den Underdog gefunden, dessen Verteidigung seine Lebensaufgabe werden sollte.
In jener Nacht stürmte eine kleine Gruppe orthodoxer Hardliner in die Kirche und unterbrach die Liturgie. Sie begingen den großen Fehler, dem Gemeindepfarrer seinen Talar auszuziehen und auf dem Antimensium herumzutrampeln, jenem geweihten Tuch, mit dem ein Tisch zum Altar wird.
Mein Bruder ist fast zwei Meter groß. Sein Verantwortungsgefühl gegenüber den Schwachen und Hilflosen wird von dem Bewusstsein, größer und stärker als alle anderen zu sein, noch gefördert. Simon erinnert sich vage daran, einen Orthodoxen aus dem Kirchenraum gestoßen zu haben, um den griechisch-katholischen Priester zu schützen. Der Orthodoxe behauptete, Simon habe ihn auf den Boden geschleudert. Die griechische Polizei sagte, er hätte dem Mann den Arm gebrochen. Simon wurde verhaftet. Sein neuer Arbeitgeber – das Staatssekretariat des Heiligen Stuhls – musste sich einschalten, um seine sofortige Rückkehr nach Rom auszuhandeln. Deshalb konnte Simon auch nicht mit eigenen Augen sehen, wie Johannes Paul denselben Feindseligkeiten mit viel größerem Erfolg begegnete.
Die griechisch-orthodoxen Bischöfe ließen es sich nicht nehmen, Johannes Paul vor den Kopf zu stoßen. Er beklagte sich nicht. Sie beleidigten ihn. Er verteidigte sich nicht. Sie forderten, dass er sich für Verfehlungen der Katholiken entschuldigte, die Jahrhunderte zurücklagen. Und Johannes Paul entschuldigte sich im Namen von einer Milliarde lebender und ungezählter verstorbener Katholiken. Die Orthodoxen waren davon so angetan, dass sie sogar einverstanden waren, zu tun, was sie bisher verweigert hatten: im Gebet neben ihm zu stehen.
Ich hatte immer gehofft, dass sich Johannes Pauls Verhalten in Athen positiv auf Simon ausgewirkt hatte. Eine weitere Lektion, die ihm der Himmel geschickt hatte. Damals war Simon ein anderer Mensch geworden. Das rede ich mir jedenfalls ein, während ich von Rom aus nach Süden fahre – ins Auge des Sturms.
* * *
In der Ferne taucht Castel Gandolfo auf: eine langgezogene Anhöhe, über die sich die eigentümliche Steppe aus zahllosen Golfplätzen und Gebrauchtwagenläden an den südlichen Ausläufern Roms ausbreitet. Vor zweitausend Jahren war dies der Spielplatz der Imperatoren. Die Päpste haben hier zwar erst seit wenigen Jahrhunderten ihre Sommerresidenz, aber immerhin schon lange genug, um das Gebiet als offizielle Erweiterung unseres Landes zu bezeichnen.
Beim Umfahren des Hügels sehe ich einen Mannschaftswagen der Carabinieri am Fuße des Abhangs stehen. Es sind italienische Polizisten von der Grenzwache, die eine Zigarette rauchen, solange der Sturm wütet. Aber da, wo ich hinwill, gelten keine italienischen Gesetze. Von der Gendarmerie des Vatikans ist im prasselnden Regen nichts zu sehen, und ihre Abwesenheit sorgt dafür, dass sich das beklemmende Gefühl in meiner Brust zu lösen beginnt.
Ich parke meinen Fiat dort, wo der Hügel in Richtung Albaner See ausläuft. Bevor ich aussteige und in den Regen hinausgehe, wähle ich eine Telefonnummer. Nach dem fünften Klingeln meldet sich barsch eine Stimme.
»Sie wünschen?«
»Kleiner Guido?«, frage ich.
Er schnaubt. »Und Sie sind …?«
»Alex Andreou.«
Guido Canali ist eine alte Sandkastenbekanntschaft – der Sohn eines vatikanischen Turbinenmechanikers. Eine bessere Arbeit, als im päpstlichen Milchbetrieb auf dem Hügel Mist zu schaufeln, hatte Guido in diesem Land nicht gefunden, in dem man sich für die meisten Jobs ausschließlich durch Blutsverwandtschaft mit jemandem qualifiziert, der bereits in dem Beruf arbeitet. Er ist immer auf der Suche nach einer Zuwendung. Und obwohl es kein Zufall ist, dass sich unsere Wege getrennt haben, könnte ich jetzt Unterstützung gebrauchen.
»Den kleinen Guido gibt’s nicht mehr«, sagt er. »Mein alter Herr ist letztes Jahr gestorben.«
»Das tut mir leid.«
»Dann sind wir jetzt schon zu zweit. Welchem Umstand verdanke ich deinen Anruf?«
»Ich bin vor Ort und du könntest mir einen Gefallen tun. Kannst du das Tor für mich öffnen?«
Er klingt so überrascht, dass ich vermutete, er hat keine Ahnung von Simon. Das ist schon mal ein gutes Zeichen. Wir handeln einen Deal aus: zwei Eintrittskarten für die kommende Ausstellung. Guido weiß nämlich, dass ich über meinen Onkel Lucio an Karten herankomme. Sogar der selbstgenügsamste Faulpelz unseres Landes will sehen, was mein Freund Ugo erarbeitet hat. Nachdem ich das Telefonat beendet habe, folge ich einem dunklen Pfad den Hügel hinauf bis zu unserem Treffpunkt, wo sich das Heulen des Windes zu jenem schrillen Pfeifen steigert, das ich beim Telefonieren mit Simon im Hintergrund gehört hatte.
Zunächst bin ich überrascht und dann erleichtert, nicht durch Anzeichen von Ärger begrüßt zu werden. Wenn ich früher meinen Bruder von der Polizei abholen musste, war er immer in irgendwelche Unruhen verwickelt gewesen. Aber hier waren keine Dörfler als Streikposten zu entdecken, ebenso wenig wie Angestellte des Vatikans, die für höhere Gehälter demonstrierten. Der päpstliche Sommerpalast am nördlichen Ende des Dorfes sieht verlassen aus. Die beiden Kuppeln des vatikanischen Observatoriums ragen von seinem Dach empor wie die Beulen am Kopf der Zeichentrickfiguren, die Peter sich im Fernsehen anschaut. Hier scheint alles in Ordnung zu sein. Genau genommen rührt sich gar nichts.
Ein Privatweg führt vom Palast zu den päpstlichen Gärten. Am Gartentor sehe ich die Glut einer Zigarette wie ein Irrlicht vor einer schwarzen Faust schweben.
»Guido?«
»Verdammt schlechter Zeitpunkt für einen Besuch«, sagt die Zigarette. Dann fällt sie in eine Pfütze und erlischt. »Komm mit.«
Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, sehe ich, dass er genauso aussieht wie der verstorbene große Guido: ein platt gedrücktes Boxergesicht, dazu ein breiter, krummer Rücken. Die körperliche Arbeit hat einen Mann aus ihm gemacht. Die Verwaltung des Vatikans wimmelt von Mitarbeitern, die Simon und ich schon als Kinder gekannt haben, aber mein Bruder und ich sind fast die einzigen Priester. Wir leben in einem Kastensystem, in dem die Männer voller Stolz an die Stelle ihrer Väter und Großväter treten, die vor ihnen die Böden gewienert oder die Möbel repariert haben. Trotzdem kann es hart sein, ehemalige Spielkameraden in höhere Positionen aufsteigen zu sehen. Ich kenne den Tonfall in seiner Stimme, als Guido das Metallschloss öffnet, auf seinen Lieferwagen zeigt und sagt: »Einsteigen, Pater.«
Die Tore sollen das Gesindel draußen halten und die Hecken vor neugierigen Blicken schützen. An die Seiten unseres Territoriums grenzen italienische Dörfer, aber man kann sie nicht sehen. Der Hügelkamm mit einer Länge von fast achthundert Metern ist der private Vergnügungspark des Papstes. Sein Anwesen in Castel Gandolfo ist größer als der gesamte Vatikan, aber hier lebt fast niemand – nur ein paar Gärtner, Arbeiter und der alte jesuitische Astronom, der tagsüber schläft. Die wahren Einwohner sind eingetopfte Fruchtbäume und Pinienalleen, hektargroße Blumenbeete und Marmorstatuen, die von heidnischen Herrschern zurückgelassen wurden und jetzt in den Gärten aufgestellt sind, um Johannes Paul bei seinen sommerlichen Spaziergängen zu erfreuen. Von hier oben überblickt man den See und kann sogar das Meer sehen. Bei unserer Fahrt über den unbefestigten Pfad ist weit und breit keine andere Menschenseele zu sehen.
»Wohin wolltest du?«, fragt Guido.
»Setz mich einfach bei den Gärten ab.«
Er zieht eine Augenbraue hoch. »Bei diesem Wetter?«
Der Sturm wütet. Mein seltsames Anliegen hat Guido hellhörig gemacht. Er schaltet das Funkgerät an, um zu hören, ob irgendwas geredet wird. Aber da ist auch nichts.
»Mein Mädel arbeitet da hinten«, sagt er und löst einen Finger vom Lenkrad, um in die Richtung zu zeigen. »In den Olivenhainen.«
Ich erwidere nichts. Ich führe ab und zu Neuankömmlinge meines alten Seminars hier herum, deshalb würde ich mich bei Tageslicht ganz gut in der Gegend zurechtfinden. Aber in der Dunkelheit und bei diesem strömenden Regen kann ich nur noch das kleine Stückchen Straße vor uns im Scheinwerferlicht erkennen. Als wir den Gärten näherkommen, sind weder Transporter, noch Polizeiwagen, und auch keine Gärtner mit Taschenlampen zu sehen, die durch den Regen stapfen.
»Sie treibt mich in den Wahnsinn«, sagt Guido und schüttelt den Kopf. »Aber Alex, einen Hintern hat das Mädchen!« Er pfeift.
Je weiter wir in diese Schatten hineinfahren, desto mehr dämmert mir, dass irgendetwas richtig schiefgelaufen ist. Simon muss allein im Regen unterwegs sein. Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, er könnte einen Unfall gehabt und sich verletzt haben. Allerdings sprach er am Telefon von der Polizei und nicht von der Ambulanz. Ich lasse in meiner Erinnerung noch einmal unser Gespräch ablaufen und suche nach etwas, das ich falsch verstanden haben könnte.
Guidos Transporter biegt in eine Straße ein, die durch die Gärten führt, und erreicht schließlich den Rand einer Lichtung.
»Das ist weit genug«, sage ich. »Ich steige hier aus.«
Guido schaut sich um. »Hier?«
Ich habe die Tür schon geöffnet.
»Vergiss unsere Abmachung nicht, Alex!«, ruft er. »Zwei Karten für die Eröffnung.«
Aber ich bin zu sehr abgelenkt, um zu antworten. Als Guido weg ist, hole ich mein Handy heraus und rufe Simon an. Die Netzabdeckung hier ist so lückenhaft, dass es keine zuverlässigen Verbindungen gibt. Trotzdem kommt es mir einen Moment lang vor, als hörte ich ein anderes Handy klingeln.
Ich bewege mich auf den Klang zu und wedele mit dem Strahl meiner Taschenlampe in die Dunkelheit. Am Abhang wurden ausgedehnte Stufen angelegt, drei monolithische Terrassen, die hintereinander in die Richtung des fernliegenden Meeres hinabsteigen. Jeder Zentimeter ist mit Blumen bepflanzt, zu Kreisen in Oktagonen angeordnet, die wiederum von Quadraten eingefasst werden. Kein Blütenblatt, wo es nicht hingehört. Hier oben dehnt sich der Raum grenzenlos. Was mich schrecklich beunruhigt.
Ich bin drauf und dran, Simons Namen in den Wind hinauszurufen, als etwas in mein Blickfeld kommt. Von hier, der obersten Terrasse aus, erkenne ich einen Zaun. Es ist die östliche Grenze des päpstlichen Anwesens. Kurz vor dem Tor streift der Strahl meiner Taschenlampe etwas Dunkles. Es ist eine vollständig in Schwarz gekleidete Gestalt. Der Wind greift nach den Schößen meiner Soutane, als ich darauf zulaufe. Der Boden ist uneben, die Erde umgegraben und die Graswurzeln strecken sich aus wie Spinnenbeine.
»Simon«, rufe ich zu ihm hinüber. »Bist du okay?«
Er antwortet nicht, bewegt sich nicht einmal.
Ich stolpere auf ihn zu und versuche, in den Schlammpfützen nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Der Abstand zwischen uns verringert sich. Noch hat er kein Wort gesagt.
Schließlich stehe ich vor ihm, fasse ihn, frage: »Bist du okay? Sag schon – ist alles in Ordnung?«
Er ist durchnässt und blass. Das nasse Haar klebt an seiner Stirn, wie einer Puppe aufgemalt. Seine schwarze Soutane spannt sich über seinen straffen Muskeln wie das Fell eines Rennpferds. Soutanen sind die altmodischen Gewänder, die früher einmal von allen römisch-katholischen Priestern getragen wurden, bevor schwarze Hosen und Jacketts in Mode kamen. In der Dunkelheit wirkt die aufragende Gestalt meines Bruders nahezu gespenstisch. »Was ist los?«, frage ich wieder, weil er mir noch immer nicht geantwortet hat.
Er blickt abwesend und mit schmalen Augen zu Boden.
Ein langer, schwarzer Mantel liegt im Schlamm. Der Übermantel eines römisch-katholischen Priesters. Eine Greca, die ihren Namen ihrer Ähnlichkeit mit der Soutane griechischer Priester verdankt. Sie verdeckt etwas Klobiges darunter.
Ich bin nicht im Mindesten auf den Anblick vorbereitet, der sich mir bietet. Am Ende der Wölbung sind ein Paar Schuhe sichtbar.
»Mein Gott«, flüstere ich. »Wer ist das?«
Simons Stimme ist brüchig.
»Ich hätte ihn retten können«, sagt er.
»Tut mir leid. Ich verstehe überhaupt nichts. Was ist hier los?«
Wieder ziehen diese Schuhe meine Blicke auf sich. In einer der Sohlen ist ein Loch. Mich beschleicht ein eigenartiges Gefühl, das mich zutiefst verstört. Der Wind hat einzelne Papiere gegen den hohen Zaun geblasen, der das päpstliche Anwesen von der Grenzstraße trennt. Der Regen lässt sie wie Pappmaschee am Drahtgitter kleben.
»Er hat mich angerufen«, murmelt Simon. »Ich wusste, dass er in Schwierigkeiten steckte. Ich kam, so schnell ich konnte.«
»Wer hat dich angerufen?«
Aber allmählich begreife ich den Sinn seiner Worte. Ich weiß jetzt, warum ich so ein eigenartiges Gefühl hatte. Das Loch in diesen Schuhsohlen ist mir vertraut.
Ich trete einen Schritt zurück. Mein Magen zieht sich zusammen. Ich balle die Fäuste.
»A… aber wie …?«, stammele ich.
Plötzlich tauchen Lichter auf der Gartenstraße auf und bewegen sich in unsere Richtung. Paarweise. Sie scheinen zu Vehikeln nicht größer als Golfwagen zu gehören. Beim Näherkommen entpuppen sie sich als Polizeifahrzeuge.
Die Gendarmerie des Vatikans.
Ich knie mich auf den Boden. Meine Hände zittern. Auf dem Boden neben dem Körper liegt eine Aktentasche. Der Wind zerrt weiter an den Papieren, die noch darin stecken.
Die Gendarmen fangen an, in unsere Richtung zu laufen und brüllen barsch, wir sollen von der Leiche wegbleiben. Aber ich beuge mich vor und tue, was mir jede Faser meines Körpers befiehlt. Ich muss es mit eigenen Augen sehen.
Als ich Simons Greca beiseiteziehe, schaue ich in die weit aufgerissenen Augen des Toten. Sein Mund ist zusammengezogen und von innen drückt die Zunge gegen seine Wange. Das Gesicht meines Freundes ist zu einer stumpfen Grimasse verzogen. In seiner Schläfe ist ein schwarzes Loch, aus dem ein rosafarbener Fleischfetzen heraushängt.
Über uns ziehen die Wolken vom Meer. Simon legt seine Hand auf mich und zieht mich zurück. »Geh zurück«, sagt er.
Aber ich kann meinen Blick nicht abwenden. Ich sehe, dass die Anzugtaschen nach außen gestülpt sind. Ein Streifen nackter, weißer Haut, wo eine Armbanduhr gewesen sein muss.
»Gehen Sie da weg, Pater«, sagt ein Gendarm. Schließlich drehe ich mich um. Der Gendarm hat ein Gesicht wie ein Lederhandschuh. An seinen kleinen Pupillen und dem Schnee seiner weißen Haare erkenne ich ihn als Inspektor Falcone, den Chef der vatikanischen Gendarmerie. Er ist der Mann, der immer neben dem Wagen von Johannes Paul läuft.
»Wer von Ihnen ist Pater Andreou?«, fragt er.
Simon tritt einen Schritt vor und sagt: »Das sind wir beide. Ich bin es, der sie angerufen hat.«
Ich starre meinen Bruder an und versuche, das alles zu begreifen.
Falcone zeigt auf einen seiner Offiziere. »Gehen Sie mit Spezialagent Bracco. Erzählen Sie ihm alles, was Sie gesehen haben.«
Simon gehorcht. Er greift in der Tasche seiner Greca nach Geldbörse, Telefon und Ausweis, lässt den Mantel aber über der Leiche liegen. Bevor er dem Offizier folgt, sagt er: »Dieser Mann hat keine nahen Verwandten. Ich muss sicherstellen, dass er eine anständige Beerdigung bekommt.«
Falcone runzelt die Stirn. Das ist eine seltsame Aussage. Aber da sie von einem Priester kommt, lässt er sie gelten.
»Pater«, sagt er. »Kannten Sie diesen Mann?«
Simon antwortet mit tonloser Stimme. »Er war mein Freund. Sein Name war Ugolino Nogara.«
Der Polizist führt Simon ein Stück abseits, außer Hörweite, um sich ein paar Fragen beantworten zu lassen, und ich beobachte die anderen Gendarmen dabei, wie sie die Lichtung absperren. Einer untersucht den zweieinhalb Meter hohen Zaun neben der öffentlichen Straße, um herauszufinden, wie jemand von außen in diese Gärten eindringen konnte. Ein anderer blickt zur Überwachungskamera hoch. Die meisten Gendarmen waren vorher bei der Stadtpolizei von Rom tätig. Sie sehen, dass Ugos Uhr gestohlen wurde, dass seine Geldbörse verschwunden ist und dass jemand seine Aktentasche aufgerissen hat. Trotzdem vertiefen sie sich in die Details, als würde irgendetwas nicht zusammenpassen.
Die Bewohner dieser hügeligen Gegend lieben den Heiligen Vater heiß und innig. Anwohner erzählen Geschichten von Päpsten, die an ihre Türen klopften, um sich zu vergewissern, ob auch jede Familie im Dorf ein Huhn im Topf habe. Manche der Alten wurden nach Papst Pius benannt, weil er deren Familien in Kriegszeiten vor allem Unheil behütete. Es sind nicht die Mauern, die diesen Ort beschützen, sondern die Dorfbewohner. Ein Raubüberfall an diesem Ort scheint absolut ausgeschlossen zu sein.
»Waffe!«, höre ich einen der Polizisten rufen.
Er steht am Eingang eines Tunnels, einem gewaltigen Durchgang, der für einen römischen Kaiser gebaut worden war, damit er für seine Verdauungsspaziergänge einen überdachten Pfad hatte. Zwei andere Gendarmen zockeln, von ein paar Gärtnern geführt, auf den Eingang zu. Man hört ein Schnaufen. Etwas Großes stürzt um. Aber was auch immer die Gendarmen finden – es ist nicht die erhoffte Waffe.
»Fehlalarm«, bellt einer von ihnen.
Ich spüre ein Flattern in der Brust und schließe die Augen. Eine Woge von Emotionen überkommt mich. Ich habe schon früher Menschen sterben sehen. In dem Krankenhaus, in dem Mona als Krankenschwester arbeitete, salbte ich die Kranken und betete für die Sterbenden. Trotzdem fällt es mir nicht leicht, dieses Gefühl zu unterdrücken.
Ein Gendarm kommt und macht Fotos von den Fußabdrücken im Schlamm. Der ganze Garten ist jetzt voller Polizisten. Aber ich richte meine Blicke wieder auf Ugo.
Warum hatte er so einen besonderen Platz in meinem Herzen? Seine Ausstellung wird ihn jetzt in Rom posthum zum Stadtgespräch machen, und ich darf behaupten, dazu beigetragen zu haben. Was mich aber am meisten für ihn eingenommen hat, waren seine Unvollkommenheiten. Die Brille, die er nicht reparierte, weil ihm die Zeit dafür fehlte. Die Löcher in seinen Sohlen. Seine Unbeholfenheit, die sich in Nichts auflöste, wenn er über sein großes Projekt zu reden begann. Sogar seine neurotische, unheilbare Trinkerei. Für ihn zählte nichts auf der Welt als seine Ausstellung, und ihr widmete er jeden seiner Gedanken. Er existierte nur für ihre Zukunft. Das war der Grund für meine Zuneigung. Das wird mir jetzt klar. Für seine Ausstellung hegte Ugo echte Vatergefühle.
Simon kommt zurück, gefolgt von dem Gendarmen, der ihn befragt hat. Die Augen meines Bruders glänzen feucht. Ich erwarte, dass er etwas sagt, aber stattdessen ergreift der Gendarm das Wort:
»Sie können jetzt gehen, Hochwürden.«
In diesem Augenblick wird der Leichensack gebracht. Keiner von uns rührt sich. Zwei Gendarmen legen Ugo darauf und ziehen den Sack an den Seiten stramm. Der Reißverschluss macht ein Geräusch wie zerreißende Seide. Als sie ihn gerade wegtragen wollen, ruft Simon: »Halt!«
Die Polizisten wenden sich um.
Simon streckt eine Hand in die Höhe und sagt:
»Wende mir dein Ohr zu, o Herr, und höre!«
Beide Gendarmen senken den Leichensack wieder ab. Jedermann in Hörweite – jeder Polizist, jeder Gärtner, jedermann, gleich welchen Standes – fasst sich an den Kopf, um die Kopfbedeckung abzunehmen.
»Demütig bitte ich Dich«, sagt Simon, »dass Du Gnade erweisest der Seele Deines Dieners Ugolino Nogara, den Du aus dieser Welt abberufen und aufgenommen hast in Dein Reich des Friedens und der Herrlichkeit. Durch Christus, unseren Herrn. Amen.«
Im Stillen ergänze ich jene zwei unentbehrlichen griechischen Wörter – jenes knappste und stärkste aller christlichen Gebete:
Kyrie eleison.
Herr, erbarme dich.
Die Mützen werden wieder aufgesetzt. Von neuem wird der Leichensack angehoben. Alles geht weiter seinen Gang.
In meinem Herzen spüre ich eine schmerzhafte Leere.
Ugo Nogara ist von uns gegangen.
* * *
Als wir beim Fiat angekommen sind, lässt Simon das Handschuhfach aufspringen und tastet darin herum. Mit schwacher Stimme fragt er: »Wo sind meine Zigaretten?«
»Die habe ich weggeworfen.«
Mein Handy zeigt an, dass Schwester Helena zweimal angerufen hat. Peter muss vor Sorge außer sich sein. Aber die Netzabdeckung hier reicht nicht für eine Verbindung.
Simon kratzt sich vor Verlangen am Hals.
»Wir besorgen dir welche, sobald wir zurück sind«, beschwichtige ich ihn. »Was ist da passiert?«
Er stößt Luft aus einem Mundwinkel wie ein Wölkchen unsichtbaren Qualms. Ich bemerke, dass er die rechte Hand gegen seinen rechten Oberschenkel presst.
»Bist du verletzt?«, frage ich.
Er schüttelt den Kopf, wechselt aber mit schmerzverzerrtem Gesicht die Position seiner Beine. Mit der Linken greift er in den rechten Ärmel seiner Soutane und tastet in der Umschlagsmanschette herum, die Priester wie Taschen benutzen. Er sucht schon wieder nach Zigaretten.