Wie weit muss man gehen, um neu beginnen zu können?
Greta will nur Liebe, Glück, Mittag essen mit Margaret Atwood und endlich einen echten Orgasmus. Aber vor allem möchte sie ihren Vater zurück, mit dem Trinken aufhören und einmal mit der gutaussehenden Frau mithalten, die immer neben ihr auf dem Laufband läuft und T-Shirts trägt mit Schriftzügen wie »Gut ist das Gegenteil von Großartig«. Sie wünscht sich ein normales Verhältnis zu ihrer Mutter und dass ihre Schwester aufhört zu versuchen, sich umzubringen. Sie würde am liebsten nie mehr Kleidung tragen, nie wieder Fleisch essen oder Milch trinken und für radikale politische Ideen kämpfen. Sie würde gern mehr sie selbst sein. Sie würde gern weniger wollen. Denn immer wenn sie etwas erreicht, wird ihr etwas anderes genommen.
Eines der traurigsten und tröstlichsten Bücher, die ich seit Ewigkeiten gelesen habe. Ich musste weinen. Mackintosh ist ein unglaubliches Talent, und So bin ich nicht ist ein großartiges Debüt. Doug Johnstone, The Independent
So bin ich nicht
(Gretas Storys)
Aus dem Englischen
von Gesine Schröder
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Nachrichten an mein zukünftiges Ich
Was passiert, wenn jemand zweimal stirbt
Gier
Daddy raucht
Die Geschichte von jemand anderem
Wenn ich einmal tot bin
Unsere kleinen Rituale
Auberginen und Nietzsche
Wie Feuerbohnen, wie Elektrizität
Einer keiner alles
Dein Alter Ego gibt es nicht
Sprint
Doktor
Schmetterlinge
Eine meiner leichtesten Übungen
Trauern für Anfänger
Wärst du ein Kaffeetrinker
Kaufen wir einen Schlüsselanhänger, damit wir uns immer dran erinnern
Borderline
Für alle, die meine Freunde werden wollen
Stell dir vor, so schnell könntest du rennen
Die Schneekrake, die Angst im Dunkeln hatte
Ich verdanke Google Maps mein Leben
Mögliches Thema für einen zukünftigen Roman
Begrenzte Träumer
Wie werde ich alkoholkranker Schriftsteller
Wie jeder andere
Wie (wenn) du
Du bist schön
Das alles könnte uns passieren
Danksagungen
Über Anneliese Mackintosh
Impressum
1. 68% sind wirklich passiert.
2. 32% sind es nicht.
3. Ich werde es nie verraten.
Schwester, Mum, Dad, Familie: Ich liebe euch.
Mit acht schrieb ich Nachrichten an mein zukünftiges Ich. Ich stopfte sie unter die Kaminvertäfelung, schob sie hinter Fußleisten, zwängte sie zwischen die Ziegel in der Kellerwand. Ich wurde gut darin, Orte zu finden, die niemand sah.
Der Plan war, dass ich Jahre später die Nachrichten finden und mich daran erinnern sollte, was im Leben wirklich wichtig ist. Zum Beispiel:
Wenn du Müll siehst, heb ihn auf und wirf ihn weg.
Schrei Kinder nicht an, weil sie laut sind.
Steh für dich selbst gerade.
Hab immer ein Notizbuch dabei, für Ideen, Erfindungen usw.
Hab nie mehr als einen Freund.
Besorg dir ein Kätzchen.
* * *
»Arbeite nicht so viel, Gretchen«, sagte Mum. »Das macht dich noch krank.«
In Wirklichkeit trank ich einfach zu viel und kriegte deshalb Ekzeme im Gesicht.
Mum schlug vor, ich solle von meinem Bürojob freinehmen und eine Weile bei ihr wohnen. Ich packte Klamotten, Zahnbürste, eine Flasche Whisky und ein Buch über den Existenzialismus ein und fuhr zu ihr raus aufs Land.
Am ersten Tag, ich war mit dem Existenzialismus-Buch zu einem Drittel durch, bat mich Mum, ihr beim Brotbacken zu helfen.
Wir kippten 500 Gramm helles Mehl in eine Schüssel, und Mum fragte, ob ich Depressionen hätte. »Wie kommst du klar seit der Trennung von Simon?«, fragte sie.
Ich beschloss, ihr nicht zu erzählen, dass ich bei sieben verschiedenen Dating-Websites angemeldet war, dass ich nachts im Wald Lachgas ausprobiert und eine 60 Pfund teure Ladung Koks weggeputzt hatte, dass ich mit zwei Lesben und mit einem Schwulen im Bett gewesen war und mich jede Nacht in den Schlaf weinte. »Gut«, sagte ich schulterzuckend und gab 40 Gramm Butter in die Schüssel.
»Na, ein Glück«, sagte sie und tat Salz dazu.
Ich riss die Hefetüte auf.
»Tu sie da an den Rand«, sagte Mum. »Vom Salz stirbt sie.«
Am nächsten Morgen las ich auf dem Dachboden alte Schulhefte durch. Ich staunte über die Geschichten, die ich als Kind geschrieben hatte. Zwerge, die Teddys aus brennenden Fabriken retteten. Leuchtende Freundschaftsarmbänder, die an Bäumen wuchsen. Flöte spielende Marienkäfer. Geflügelte Hexen.
Wo war der ganze Zauber hin?
Beim Aufstehen stieß ich mit dem Kopf gegen die Decke und hielt mich an einem Dachbalken fest. Ein Zettel flatterte zu Boden.
Deo schadet der Ozonschicht. Nimm Seife.
Selbst wenn ich nicht soeben die Geschichten von früher gelesen hätte – meine Handschrift hätte ich sofort erkannt. Sie war ein bisschen anders als die meiner Schwester. Rundlicher vielleicht. Oder die Buchstaben waren nicht so klar konturiert. Das entsprach ziemlich genau den Unterschieden zwischen Lotties und meinem Aussehen. Sie hatte höhere Wangenknochen, ein spitzeres Kinn, ein richtiges Elfengesicht. Wie ich, nur fotogener. Mit unserer Handschrift war es dasselbe.
Ich warf mein Deo in den Müll.
Ich joggte im Wollkleid einmal um die Weiden. Machte zwanzig Hampelmänner. Versuchte zehn Liegestütze. Bis ich richtig durchgeschwitzt war. Dann setzte ich mich unter den Apfelbaum und redete mit der Asche meines Vaters. Ich erzählte ihr, was ich, wenn ich ganz ehrlich war, vom Sterben hielt.
Der Geruch meiner Achseln stieg mir in die Nase.
Am nächsten Tag besuchte Mum ihren Kurs Entdecke deine Farben, und ich durchkämmte das Haus. Irgendwann fand ich hinter dem AGA-Ofen diesen Zettel:
Lass dich nicht mit jemandem ein, den du nicht liebst.
Als Mum nach Hause kam, erzählte sie: »Heute war der Spätsommer dran.«
Ich sah sie fragend an.
»Das ist ein Farbtyp. Leute, deren Hautton zu den Spätsommerfarben passt.«
»Verstehe«, sagte ich und steckte den Zettel in die Hosentasche.
Oben in meinem Zimmer schrieb ich eine SMS an den Mann, mit dem ich dreimal ausgegangen war, um zu sagen, dass ich ihn nicht liebte. Das Zimmer roch so nach Schweiß, dass ich das Fenster öffnen musste.
Der Mann, mit dem ich dreimal ausgegangen war, schrieb zurück, er liebte mich auch nicht, und ob ich am Wochenende mit ihm bowlen wollte.
Ich ging raus und las dem Apfelbaum aus dem Existenzialismus-Buch vor. Ich fragte Dad, was er davon hielt, und der Apfelbaum antwortete nicht.
Mum rief mich zum Essen und fragte, ob sie etwas an mir ausprobieren dürfe.
»Ich muss üben, bevor ich echte Kundinnen berate«, sagte sie. »Darf ich deinen Farbtyp ermitteln?«
Eine halbe Stunde lang saß ich auf einem Stuhl, und Mum hielt bunte Pappscheiben neben mein Gesicht. »Du bist zwischen Winter und Frühling«, sagte sie schließlich. »Ein Vorfrühling, würde ich sagen.«
Ich ging auf mein Zimmer und heulte erst mal, dann stocherte ich mit einer Sicherheitsnadel hinter der Fußleiste entlang.
Trink nie mehr als zwei Gläser Wein am Tag.
Ich holte den Whisky unter dem Kopfkissen hervor und stellte mir vor, ihn nicht zu trinken. Dann stellte ich mir vor, ihn zu trinken. Dann trank ich ihn.
Ich las das Existenzialismus-Buch zu Ende und hörte zu, wie meine Mutter beim Abwasch traurige Lieder summte, wie sie dem Haus, den Wänden Dire Straits vorsang.
* * *
Ich schreibe auch heute noch Nachrichten. Nur schreibe ich sie jetzt an mein früheres Ich, an das Selbst, das ich nicht mehr bin und nie mehr sein werde. Aber ich verstecke sie nicht hinter der Fußleiste.
Ich verstecke sie in der Art, wie ich zum Kiosk laufe. Wie ich den Kopf schieflege, wenn mich jemand fotografiert. Wie ich in dem Moment vor einem Kuss die Augen aufreiße. Ich verstecke sie in meinem Lachen. In dem, was ich esse. In den Worten, die ich wähle. In meinem Körper.
Glück ist Schönheit.
Du wirst von zwei verschiedenen Männern hören, dass sie ein Schwein vögeln würden, wenn es einverstanden wäre. Vergiss das nicht.
Bloß weil deine Eltern das Mantra KEINE GEHEIMNISSE runterbeten, heißt das nicht, dass es keine Geheimnisse gibt. Und nicht, dass sie dich nicht lieben.
Du wirst immer ein Vorfrühling sein, das ist nichts, wofür man sich schämen muss.
Der Zauber ist immer noch da. Merke dir, wo du ihn versteckst.
* * *
Meine Trauer ist größer als deine Trauer.
Meine Trauer ist so groß, die spannt meine Haut. Meine Trauer ist so stark, die bricht mir die Knochen. So hart, dass sie mir Veilchen schlägt. So kalt, dass ich Eiszapfen weine. Und meine Trauer ist so lang, die baumelt überm Teller, wenn ich essen will, dass ich auf den Teller und auf die Trauer kotzen muss.
Als sie zum ersten Mal auftauchte, hängte ich gerade die Wäsche raus. Erstaunlich, was dir durch den Kopf schießen kann, wenn du nasse Kleider auf die Leine pinnst. Bei mir war es: Fuck, mein Dad ist tot. Für immer. Ich ließ die Klammern fallen, hockte mich ins Gras und heulte.
Es gab kein Begräbnis, denn Das-Hätte-Er-Nicht-Gewollt. Er wollte ohne Publikum ins Krematorium gefahren werden. Er wollte den billigsten Sarg und kein Kreuz an der Wand, und er wollte den Mittelgang runtergleiten, ohne dass es einer sah, und allein in die Flammen kippen.
Das Problem damit war nur, dass die Trauer nirgends hinkonnte. Sie schwoll und schwoll, und während sein Sarg hinter den Vorhang sank, tanzten wir in der Küche zu den Rolling Stones. Wir lachten, und wie wir lachten, und die Trauer, die tauchte ab. Sie brodelte und brodelte, und sie brodelte weiter, bis Tage vergangen waren, und dann Wochen.
Irgendwann, als ich es am wenigsten erwartete, da sickerte die Trauer durch. Sie sickerte zuerst in meine Unterhose, und ich musste Ersatzhosen mit zur Arbeit nehmen. Dann wurde das Sickern schlimmer. Ich hätte nie gedacht, dass Trauer einen zu so was bringen könnte, aber eines Tages saß ich auf dem Sofa und versuchte eine Mail zu schreiben, und da wusste ich, die Trauer machte ernst.
Ich ging zu Beratern und in Kurse. Ich machte therapeutisches Schreiben und Scrapbooking. Ich hörte sogar auf, mich vollzupissen und einzuscheißen, aber die Trauer war immer noch da, sicker, sicker, sicker, und manchmal wachten wir morgens auf – du und ich –, und du sahst die Trauer über meinem Kopf hängen, und es war schwer, sich zu lieben, wenn etwas so Schreckliches so nah war. Nach einer Weile verlegten wir uns lieber aufs Kuscheln. Das ist es nämlich, was passiert, wenn jemand zweimal stirbt.
Tja, inzwischen kuscheln wir seit sieben Wochen, und ich glaube, du hast langsam ein Problem damit, das Bett mit meiner Trauer zu teilen. Ich glaube, du glaubst, dass sie mich anfasst, nachts, dass sie die Finger hinsteckt, wo deine nicht mehr sind, dass ich zittere, stöhne und die Lust erlebe, die ich mit dir nicht mehr haben kann.
Aber ich sag dir, Liebster, so ist es nicht. Ich meine, na klar, meine Trauer und ich, wir haben rumprobiert. Ich hab sie mit ihren eiskalten Fingern meine Brust berühren lassen, hab sie ihre frostigen Hände tief in meine Pyjamahose schieben lassen und ja, okay, sie hat mich gefickt und gefickt, bis ich gründlich durchgefickt war und nicht mehr weiter konnte. Aber das war höchstens ein-, zweimal, und jetzt bin ich drüber weg.
Der wahre Grund, dass ich mich wegdrehe, nachts, und meinen Rücken an deinen schmiege – dass ich wachliege und mir das Gefühl vorstelle, wenn ich meiner Trauer Rasierklingen geben würde –, der wahre Grund für das alles, das begreife ich jetzt, ist der: Meine Trauer ist größer als deine Trauer.
Ich weiß, dass du auf deiner Betthälfte auch welche versteckst. Das weiß ich genau. Ich habe gesehen, wie sie dich gelutscht hat, spät abends, als du dachtest, ich schliefe schon, und ich sehe, wie sie dir jeden Morgen in die Dusche folgt – so klein und gebrechlich und grau –, und dass sie ein bisschen deiner toten Oma ähnelt.
Aber verglichen mit meiner Trauer, mein Herz, ist deine Trauer ein Scheiß. Sie humpelt wie eine tattrige alte Dame, eine tattrige alte Dame, die acht Jahrzehnte auf dem Buckel hat und friedlich im Schlaf verschieden ist. Sie bringt dich nicht zum Heulen, zum Keuchen und Kreischen wie meine.
Und ich werde den Gedanken nicht los, wenn ich deine Trauer ein bisschen mästen könnte, wenn ich sie füttern und aufpäppeln könnte, bis sie mindestens fünfmal größer ist, dass du und ich uns dann endlich wieder lieben könnten.
Das hat mich auf die Idee gebracht, ich könnte deine Eltern vergiften.
Wir könnten sie gleich nächste Woche zum Essen einladen, und ich serviere ihnen Die-Ganz-Speziellen-Zwei-Stück-Kuchen. Irgendwann beim Trivial Pursuit würden sie sich aneinanderklammern. Sie würden krampfen und bluten, ihre Wissenschaft-und-Technik-Fragen komplett unbeantwortet lassen, und das Spiel wäre unwiderruflich aus.
An deine Schwester habe ich auch gedacht. Sie ist gerade schwanger; der Fötus ist zarte sechs Monate alt. Ihr Tod wäre doppelt tragisch. Und an deine Tante habe ich gedacht, deinen Onkel, deinen Paten, deinen Klavierlehrer, deinen besten Freund.
Wow.
Wenn ich es geschickt anstelle, kann deine Trauer gewaltig werden. Irgendwann kann sie vielleicht mal meiner Trauer zeigen, wo der Hammer hängt.
Wir könnten in den Urlaub fahren, ich und du und unsere jeweilige Trauer, und wir könnten Sangria trinkend am Strand rumhängen, vielleicht sogar ein neues Ding probieren wie Surfen oder Schach oder Kamasutra.
Und abends, nach einem langen Tag voller Sex, könnten wir im Mondlicht auf dem Balkon sitzen und weinen. Und im Weinen könnten wir durch das Salz der Tränen über das Meer in die Dunkelheit blicken, und wir bräuchten keine Worte mehr, denn die Schatten an unserer Seite wären uns genug, und wir wären uns genug, und die ganze Welt wäre uns genug, wie sie ist.
* * *
Du bist tot für mich.
So fängt es an. Sarah Kanes Worte, nicht meine.
Und diese Geschichte hat auch nicht wirklich damit angefangen. Sie endet damit. Der Anfang ging eher so:
Nottingham University. Die beliebteste Englisch-Fakultät des Landes. Im Times-Ranking unter den Top Ten. Auf jeden männlichen Studenten zwei Frauen.
Frances war eine Tänzerin. Sie war groß und schlank, hatte einen blassen Teint und kastanienbraunes Haar. Sie trug enge Klamotten, die ich mir nie erlauben konnte, und bewegte sich mit einer Anmut, die mir fehlte.
Ich spielte in einem Theaterstück, bei dem Frances die Produzentin war. Warum sie die Produktion übernommen hatte, statt selbst auf der Bühne zu stehen, war ein Rätsel. Ich sah sie oft tanzen, und es war wundervoll. Wenn sie auf den Bus wartete, tanzte sie. Wenn sie in der Schlange vor der Kasse stand, tanzte sie. Wenn sie im Bett lag, tanzte sie auch. Trotzdem belegte sie aus unerfindlichen Gründen nie einen Kurs oder bewarb sich bei der Musical-Gruppe. Frances war eine heimliche Tänzerin, und nur ich und die Leute, die mit uns an der Bushaltestelle oder in der Mensa warteten, wussten davon.
Wir waren in der Uni-Theatergruppe. Tagsüber waren wir Ingenieure, Philosophen und Biochemiker, aber nachts eroberten wir die leeren Hörsäle und erwachten zu neuem Leben. Wir verwandelten uns in Macbeths und Goldbergs, Nells und Miss Prisms. Wir kletterten aus Mülltonnen und in Puppenhäuser. Wir humpelten und lispelten und tranken dekanterweise Apfelsaft. Wir verwandelten uns in unsere Hoffnungen, unsere Wünsche und Alpträume. In alles andere außer uns selbst.
Vor der Uni hatte ich noch nie Theater gespielt. Ich war übervoll mit Kafka, Eugenides und Hesse dort angekommen, aber die Welt, in der ich mich wiederfand, drehte sich um Austen, Caedmon und Pope. Deshalb sagte ich Ja, als eine Wohnheimfreundin fragte, ob ich die Beowulf-Vorlesung schwänzen würde, um sie zum Vorsprechen zu begleiten. Vor lauter Freude, dass ich eine Stunde angelsächsische Heldenepen verpasste, sprach ich sogar selbst vor.
Und so wurde ich die Ophelia im Hamlet. Glückstreffer. Keine Ahnung, wie das kam. Anscheinend sahen sie irgendwas in mir. Diese Kaputtheit, die ihnen sagte, dass ich Ophelia nicht nur spielen, sondern Ophelia sein konnte.
Ja, mir war es nicht fremd, in Zungen zu reden, mich auf Partys komplett zu entwürdigen, von einem Geliebten verschmäht zu werden und vor Kummer den Verstand zu verlieren. Und weil es ein moderner Hamlet war, durfte ich sogar meine eigenen Sachen tragen, meine Piercings zeigen und mein Tattoo. Es war das Beste, das Furchteinflößendste und Aufregendste, das ich je getan hatte.
Nach der Pause musste Lottie im Auto bleiben, wegen der Selbstverletzungen. Ich hatte vergessen, meinen Eltern davon zu erzählen, bis wir am selben Tag beim Mittagessen saßen. »Das sollte sie besser nicht angucken«, sagten sie, und meine Schwester weinte.
Aber hey, Hauptsache, ich war jetzt Schauspielerin. Ein Typ ging nach dem letzten Auftritt vor mir in die Knie. Ich zog nachts durch die Clubs und melkte Jungs auf den Klos ab, weil sie mich erkannten. Und kaum war ich fertig, kam der nächste Mann mit diesem gewissen Blick auf mich zu: »Du bist es. Du bist Ophelia.« Und ich lächelte und knickste und melkte ihn ebenfalls ab, wenn er mochte. Ich war eine Berühmtheit, Leute. Ich konnte alles tun. Alles, was du willst.
Bis zum zweiten Unijahr hatte ich mir richtig einen Namen gemacht: die Gestörte. Deshalb wurde ich auch C in Gier. C war noch kaputter als Ophelia. Beim Vorsprechen hatte ich meine Seele rausgelassen. Ich hatte mit den Zähnen geknirscht, mir an den Haaren gerissen, und wäre es nicht dermaßen schrecklich gewesen, hätte man meinen Auftritt als Orgasmus missverstehen können. Aber wie der sich anfühlte, sollte ich erst Jahre später erfahren, und bis dahin zeigte ich diesen Theaterfuzzis mal, wie abgefuckt ich sein konnte. Was es hieß, am Arsch der Welt aufzuwachsen, mit unglücklichen Eltern, einer psychotischen Schwester und mit dieser Sache, die mir widerfahren war, diesem Etwas, an das ich mich nicht richtig erinnerte, aber es hatte ein schwarzes Loch in mir aufgetan, mich leer zurückgelassen: eine Häutung, eine Hülse, ein Nichts.
Tja, und so kriegte ich die Rolle.
Das Stück war von Sarah Kane. Ich hatte noch nie von ihr gehört, aber beim Vorsprechen wusste ich gleich, dass sie wie ich war. Ich bekam nur wenige Zeilen von dem Stück zu sehen (von denen viele aus anderen Texten recycelt waren, zum Beispiel aus Wasteland von T.S. Eliot, den ich hätte kennen sollen, aber die Vorlesung hatte ich verschlafen), aber das bisschen reichte mir. Ich wusste es einfach. Kane hasste. Sie liebte. Sie fühlte. Aber vor allem hasste sie.
Als ich hörte, dass ich engagiert war, ging ich feiern. Trank fünf Pints Snakebite. Knutschte mit meiner Gothfreundin Fi, fingerte meinen Gothfreund Phil, und alle freuten sich so sehr für mich. Ich wünschte mir mein Lieblingslied von Sepultura, und der DJ spielte es nicht, und ich trank Reef statt Snakebite, 3 für 2, im Studentencafé. Mit Strohhalm. Mir wurde schlecht.
Die erste Probe machte uns Angst. Vier Schauspieler, und wir sollten alle die gesamte Dreiviertelstunde auf der Bühne sein. Der Text musste wie aus der Maschinenpistole geschossen kommen. Es gab kein Bühnenbild und keinen Plot.
Wir saßen im Schneidersitz in einem Philosophie-Seminarraum im Portland Building und stellten uns einander vor: A, B, M und C. Unsere Stimmen zitterten beim Lesen.
Der Regisseur, ein junger Soziologie-Student namens Michael, trug Hosen, die ein bisschen zu kurz für ihn waren, und sein Bart war ein bisschen zu lang. Immer wenn es im Text um Vergewaltigungen ging, rückte er sich den Schritt zurecht, und ich hatte manchmal Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit.
In der zweiten Probenwoche stellte er uns Frances vor.
»Frances ist unsere Produzentin. Sie organisiert uns Kostüme, Make-up und Probenräume und so.«
»Hi«, sagte Frances und wickelte sich eine Locke um den Zeigefinger. Sie studierte Kriminologie, sagte sie, und mochte Hiphop und Ballett. Sie hatte eine Gänsehaut und ein ehrliches Lächeln.
Jetzt, wo Frances da war, hatten wir jemanden Neues zum Eindruckschinden. Ein Publikum. Wir standen da in unserem Probenraum, tagsüber der Geographie-Seminarraum E42, aber jetzt kam er uns wie The Globe vor oder wie das Old Vic. Die Veränderung erfasste uns alle. A war launischer; ein aggressiverer Sextäter als je zuvor. B war kälter, seine Worte schneidend wie Scherben aus Eis. Und M – tja, M war mütterlicher. Als würde sie jeden Moment ihr Top abwerfen und unsere hungrigen Mäuler auf ihre Brüste pressen.
Danach gingen wir in Hockley in einen Pub. Hohe Ledersitze, Jazz, billiger Alkohol. Wir unterhielten uns über Sarah Kane. »Sie ist tot«, sagte A. »Sie war irre«, sagte B. »Eine Lesbe«, sagte M.
Michael, der Regisseur, sagte nichts. Er nippte an seinem Bacardi-Cola und beobachtete uns, seine Schauspieler, und ich hatte irgendwie das Gefühl, dass er sich unter dem Tisch befingerte.
Als alle anderen an der Bar standen, schob sich Frances hinter den Sitzen zu mir durch. »Lass uns ficken!«, rief sie. So verstand ich es jedenfalls. Ein Saxofon plärrte direkt in mein Ohr.
»Was?«, schrie ich zurück.
»Du sollst mich ficken!«, rief sie.
Wir sahen einander an – ein schwieriger Blick, als müssten unsere Augen erst an all dem Lärm vorbei. Ich nahm ihre Hand. Jetzt war ich die mit der Gänsehaut.
Wir fuhren im Taxi zu mir. Ich zeigte ihr mein Zimmer, und sie sagte, wir hätten diegleichen Bettbezüge. Wir legten uns hin und betrachteten den Mond durch das Oberlicht, und sie gestand mir, dass sie noch Jungfrau war.
Das überraschte mich nicht mal wegen ihrer einundzwanzig Jahre, sondern weil sie so selbstbewusst wirkte. So wie sie sich bewegte und verhielt, hätte ich sie für einen Profi im Bett gehalten. Ich meine, sie war schließlich eine Tänzerin. Ich war bloß die Bekloppte mit der Literatur.
Wir zogen unsere Kleider aus und lachten. »Bist du lesbisch?«, fragte ich.
»Nein«, sagte sie. »Ich bin hetero.«
Ich stützte mich auf den Ellbogen und sah sie an.
»Ich will so gern Sex mit dir«, seufzte sie.
Also legte ich einen Arm um sie, öffnete ihren BH und begann sie behutsam zu streicheln, wanderte mit den Fingern über ihre zarte Haut, berührte sie ganz, ganz sacht, und dann packte ich sie, griff nach ihr mit vollen Händen und stürzte mich in sie rein, dass sie schrie.
Die Proben am nächsten Tag waren seltsam.
Ohne den Alkohol waren die Hemmungen wieder da. Frances sagte, sie müsse nebenan telefonieren. Sie versuchte für uns alle diegleichen schwarzen T-Shirts zu bekommen, und das sei schwieriger als gedacht, sagte sie. Ich bemerkte schlechte Vibes zwischen A und M und fragte mich, ob sie es auch getan hatten gestern. Der arme B schien ein bisschen verschnupft zu sein – er stand schon seit ihrem letzten gemeinsamen Auftritt in Habeas Corpus auf M, seit Dr. Wicksteed ein Auge auf die mannbare Felicity Rumpers geworfen hatte, aber er hatte sie nicht gekriegt in dem Stück, und ich ahnte, dass er sie auch in diesem nicht kriegen würde.
»Okay, Gang«, sagte Michael. So nannte er uns, seine Gang. »Wir machen heute erst mal Vertrauensübungen.«
»Mit Fallenlassen?«, fragte A.
»Vergesst es«, sagte M und warf ihm finstere Blicke zu.
»Also ich wär dabei«, piepste B.
Eine Viertelstunde lang fielen und fingen wir, fielen, fingen auf. Das Fallen machte mir nichts. Mit Fallen hatte ich nie ein Problem. Das kann ich auf Zuruf, jederzeit. Selbst wenn keiner da ist, der mich auffangen könnte.
Das Auffangen war die Hölle. Was, wenn ich es vergeigte? Was, wenn ich das Gewicht eines anderen Menschen auf mir spürte und einfach zusammenbrach? Ich hasste Vertrauensübungen, weil ich mir selbst nicht traute.
Danach machten wir einen kompletten Durchgang durch das Stück. Ohne Bewegungen, nur im Stehen an den Dialogen feilen.
Nein.
Ja.
Nein.
Ja.
Nein.
Nein.
Ja.
Die Betonung, die Wiederholungen, der Rhythmus. Die Stelle, wo jeder von uns [einen kurzen einsilbigen Schrei] ausstößt. Die Stelle, wo ich [einen formlosen Schrei der Verzweiflung] ausstoße.
»Wie klingt denn ein formloser Schrei der Verzweiflung überhaupt?«, fragte ich Michael.
»Na … formlos halt«, sagte er.
Die Stelle hatte ich noch nicht geprobt. Wir hatten bisher einfach die Regieanweisung vorgelesen, wenn wir so weit kamen.
»Mach ein Geräusch«, sagte Michael. »Keine Scheu. Ich sage dir hinterher, ob’s passt.«
Ich atmete also tief ein, machte den Mund auf und ließ den Ton einfach kommen, sich aus den Tiefen der Lunge nach oben winden, sich krümmen, bis ein Heulen daraus wurde, ein tiefes Wummern, ein Muhen. Ja genau, ich war eine Kuh, als ich meinen formlosen Schrei der Verzweiflung von mir gab, eine Kuh im Schlachthaus in dem Moment vor dem Kehlenschnitt.
»War das okay?«, fragte ich.
Sie guckten alle und nickten.
Nach der Probe kam Frances zu mir. Ich starrte auf mein Handy und tat, als schriebe ich eine SMS, dabei drückte ich nur auf die Drei.
»Ich glaube, ich bin in dich verliebt«, sagte sie.
Ich tippte weiter die Dreiertaste. »Du bist was?«
»Ich bin verliebt.«
Das hatte mir noch nie jemand gesagt. Ich wurde rot. »Kommst du mit zu mir?«, fragte ich.
Diesmal ließen wir uns Zeit. Ich zeigte ihr ganz genau, wo ich berührt werden wollte. Wie genau, an welcher Stelle. Wie oft ihre Zunge kreisen musste. Wo ich am liebsten den pulsierenden Druck einer Fingerkuppe spürte, und wann sie in mich eindringen sollte, mich festhalten, schreien lassen.
Dann machte ich dasselbe auch mit ihr, erklärte es alles noch mal von vorn, lehrte sie den Sex mit mir, lehrte sie meine Version von Sex.
Und genau deshalb konnte, obwohl wir es die ganze Nacht versuchten, obwohl unser Schweiß schon die Laken tränkte, auch keine von uns kommen.
Wenn ich frei sein könnte von dir, ohne dich verlieren zu müssen.
Ich übte meinen Text im Bett, unter der Dusche, tonlos, laut. Ich musste ihn perfekt beherrschen. Es war nicht Michael, der uns so unter Druck setzte. »Jeder macht mal Fehler«, sagte er. »Vergiss es und mach weiter. Vergiss es und mach weiter.« Aber ich wollte keine Fehler machen. Ich wollte nichts vergessen. Ich wollte weitermachen, weiter, weiter, weiter.
Du kriegst gemischte Botschaften, weil ich gemischte Gefühle habe.
Ich aß nichts mehr, weil ich spürte, dass auch C nichts essen würde. C hungerte. C gierte. C stieß formlose Schreie der Verzweiflung aus. Ich fühlte mich mehr wie ich selbst als je zuvor. Wenn es hochkam, aß ich eine Dose Mais am Tag.
Stirb nicht.
Ich brauche ein Wunder, das mich rettet.
Draußen schrie ein Mann. Keine Worte, soweit ich es hören konnte, nur Laute. Schrie er vor Schmerz? Vor Wut? Ich lag im Bett und mochte nicht aufstehen und zum Fenster gehen, um es herauszufinden.
Frances schlief noch, ihre Brust hob und senkte sich mit den tiefen Atemzügen. Als ich ihr über den Arm strich, über die feinen, roten Härchen, begriff ich, dass sie mir Angst zu machen begann.
Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass sie mich zu sehr an das erinnerte, was ich nicht war: elegant, unschuldig. Vielleicht fürchtete ich, dass sie mich bald überholen würde. Alles, was ich ihr beibrachte, lernte sie wie ihre Tanzbewegungen. Sie wollte jede neue Abfolge wieder und wieder üben: kreisen, pulsieren, noch mal, kreisen, pulsieren, noch mal, bis ihre Hände sie verinnerlicht hatten. Wenn sie mich jetzt berührte, musste sie an nichts mehr denken. Sie überließ sich ihrem Instinkt, ließ die Choreographie sich selbst entfalten und flüsterte mir seltsame, erotische, beängstigende Dinge ins Ohr.
Oder vielleicht war das der eigentliche Grund: Frances war inzwischen die größte Expertin in meiner Version von Sex. War besser als ich darin, ich zu sein.
Ich schaue auf das große beige Jutekissen, versuche einen Zusammenhang herzustellen, versuche mich selbst zu entziffern, verwoben in den sauberen leeren Stoff.
Immer suchte ich Ausreden, sie nicht treffen zu müssen, und fand keine.
Und dann auf das grüne Paisley-Kissen, ein durch und durch ungeeignetes Kissen, um irgendeinen Teil von mir zu verkörpern, besonders die Teile, die ich ihr zeige.
»Ich liebe dich«, sagte sie zu mir. »Ich bin verliebt in dich.«
Du hast dich in jemanden verliebt, der nicht existiert, murmelte ich. Nein, das stimmt so nicht.
Ich ging abends nicht mehr aus. Nach den Proben ging der Rest der Truppe ins Kino oder in eine Bar, Schlittschuhlaufen oder zum Jazzkonzert, und ich schüttelte den Kopf, sagte, ich wollte mich ausruhen, und schlich schweigend nach Hause. Frances kam um zwei oder drei Uhr morgens betrunken zu mir, strich mir übers Haar und küsste mich.
Diesmal nicht.
Die formlosen Schreie setzten mir zu. Sie stiegen jetzt aus solchen Tiefen auf, dass mir einer pro Tag schon zu viel war. Wir mussten das Stück oft vier-, fünfmal wiederholen. Fünf Schreie der Verzweiflung. Ich dachte, ich müsste sterben.
Noch nicht.
Aber nach jedem Durchgang war mein T-Shirt mit Tränen und Rotz getränkt.
Ich bin ein Gefühlsplagiator.
»M steht auf A«, sagte B eines Abends während der Pause zu mir.
»Na klar«, sagte ich. »Sieht man doch.«
»Tja«, seufzte er, und dann sah er mich an wie noch nie zuvor. »Und du? Bist du …«
»Nein«, sagte ich. »Ich bin vergeben.«
Eine Woche vor der Aufführung hatten wir es drauf. Wir stellten uns Hand in Hand in einen Kreis und sagten wieder und wieder unsere Texte auf. B, M, C, A, B, A, B, C. Keine Zeit für Pausen: Wenn eine Zeile zu Ende war, nahm der nächste sie auf. Immer werfen und fangen, werfen und fangen, werfen und auffangen, fehlerfrei. Und trotzdem fiel ich. Fiel und fiel.
[Stößt einen kurzen einsilbigen Schrei aus]
Jede Nacht nahm ich Frances’ Hand, küsste ihre Fingerkuppen, ließ meine Tränen auf ihre Brüste fallen und schob sie in mich rein, vier Finger auf einmal. Ich sagte, dass ich sie liebe, sagte, ich hasse mich selbst, ich könne nicht mit ihr zusammen sein, ich brauche sie.
[Formloser Schrei der Verzweiflung]
Sie flüsterte mir zu, ich sei perfekt. Brillant. Erstklassig. Die Beste. Aber sie und Michael seien jetzt zusammen. Sie habe ihm beigebracht, wie er sie berühren solle, wo genau und wie lange, kreisen, pulsieren, noch mal. Sie schob ihre Finger rein und raus, rein und raus, und ich konnte noch immer nicht kommen, und sie sagte, es sei Zeit, dass sie ginge. Sie werde mich niemals vergessen. Vielen Dank für alles. Eine letzte Pirouette, und dann –
Du bist tot für mich.
Ich brach auf der Bühne vor fünfzig Fremden in Tränen aus. Ich knirschte mit den Zähnen und riss an meinen Haaren. Ich spüre nichts, nichts. Ich spüre nichts.
Und da war Frances, saß in der ersten Reihe neben Michael und drückte pulsierend, pulsierend seine Hand.
In the mountains, there you feel free.
Ich sah Michael, wie er sich zu unseren Texten befingerte, die straff gespannte Hose in seinem Schritt.
In freiem Fall.
Ins Licht.
Der Anlauf zu unserem letzten Crescendo.
Ganz und gar nicht endend, wo wir begonnen hatten.
Glücklich.
Verzweifelt.
Glücklich und frei.
* * *
Wannabe von den Spice Girls tönt aus dem Kassettenrekorder.
Ich musste betteln, damit Dad die Sendung Rund um den Garten unterbricht und dieses Lied anmachte, und nun staune ich, dass wir es zum zehnten Mal hören und es noch keiner über hat. Ganz im Gegenteil sogar. Posh, Ginger, Baby, Sporty und Scary bringen, ohne es zu ahnen, meinen Dad, meine Schwester und mich einander näher. Irgendetwas an ihrem Lied gibt uns mit jedem Refrain immer mehr das Gefühl, so eng zusammenzugehören wie noch nie.
Um den Moment voll auszukosten, wollen meine Schwester und ich den Text mitschreiben. Lottie dreht sich zum Kofferraum um und durchwühlt auf der Suche nach einem Stift Dads Reisetasche. Im nächsten Moment zuckt sie zurück.
»In der Tasche sind Zigarren«, flüstert sie.
Ich sehe nach vorn zu Dad, grauhaarig und im Kuschelpulli, der uns durch die Straßen von Skegness kutschiert, und will Lottie sagen, dass sie sich irrt. Da können gar keine Zigarren in der Tasche sein. Daddy raucht doch nicht. Bei uns zu Haus gibt es keine Geheimnisse, schon vergessen? Keine Geheimnisse, Lottie.
Und dann sage ich gar nichts zu ihr. Ich sage Dad, dass er die Musik lauter drehen soll.
Jetzt bin ich vierzehn. Während meine Freundinnen Jungs nachjagen, sich schminken üben, vielleicht sogar schon vögeln, sitze ich zu Hause auf dem Treppenabsatz mit einem Notizblock in der Hand. Ich habe drei Spalten eingezeichnet.
Raus / Rein / Details
In die erste Spalte trage ich ein, wann Dad durch die Hintertür das Haus verlässt. Ich sehe ihm nach, wie er über den Rasen geht, bis er aus dem Blickfeld verschwindet.
In die zweite Spalte schreibe ich, um welche Zeit er wiederkommt.
Die dritte Spalte ist für auffällige Verhaltensweisen: Hantiert mit irgendwas in der Jackentasche. Sieht sich nervös um. Mantel riecht bei der Rückkehr nach Rauch. Das muss allerdings nichts heißen, weil Dad ziemlich oft nach Rauch riecht. Alle paar Tage macht er hinter dem Wohnwagen am Ende des Gartens Feuer. Stundenlang sieht er zu, wie der Müll in Flammen aufgeht.
Jetzt will ich die letzten beiden Spalten füllen. Dad ist schon über eine halbe Stunde draußen. Während ich eine Ecke des Papiers mit Sternen und Spiralen fülle, beschließe ich, dass ich mit meinem Block voller Beweise langsam der Wahrheit ins Gesicht sehen muss.
Inzwischen habe ich auch gevögelt.
Ziemlich oft, mit ziemlich vielen Jungs. Sam, mit dem ich seit Neuestem zusammen bin, hat sich gerade Knallbrause auf die Zunge gestreut und mich geleckt, während ich knallte.
Jetzt sind wir draußen, um noch mal zu vögeln. Freiluftsex haben wir beide noch nie probiert, und weil wir da anscheinend die Einzigen sind, suchen wir im Garten nach einer geeigneten Stelle: nach einer, wo Mum uns nicht erwischt.
Plötzlich fällt mir der Wohnwagen ein.
Genau genommen darf ich da nicht reingehen. Er stand bei unserem Einzug schon hier, und er ist alt und morsch – Dad sagt, es ist gefährlich.
Ein rostiges Rohr ist gegen die Tür gestemmt. Ich ruckle es aus dem Boden, und Moder und Staub wehen uns entgegen. Als ich eintrete, biegt sich der Boden unter meinen Füßen, und gibt noch mehr nach, als Sam mir folgt. Ein paar Augenblicke stehen wir nur da und hören unsere Herzen schlagen. Dann grinst Sam und winkt mich nach hinten. Ich bleibe, wo ich bin, weil ich meinen Blick nicht von der Küchenecke losreißen kann: gelbes Resopal, das sich von dem modrigen, wurmstichigen Holz abschält, und die Spüle … die Spüle ist voll mit grauem Pulver. Ich erkenne den Geruch. Zigarrenasche.
»Heilige Scheiße, Greta, guck mal hier!«, ruft Sam.
Ich schlucke das Brennen in meiner Kehle runter und gehe zu ihm. Sam wedelt mit irgendetwas durch die Luft.
»Pornohefte!«, jubelt er.
Er hält ein Heft in der Hand, auf dem eine Brünette mit Riesenbrüsten eine Lederpeitsche schwingt, und zeigt auf eine offene Schranktür. Ich stakse um Scherben und Splitter herum und sehe hinein.
Das müssen an die hundert Hefte sein da drin. Ich hebe welche an, um die Titel sehen zu können, und Worte springen mich an. Lesben. Lehrerinnen. Sekretärinnen. Fünfzig plus. Schulmädchen. Keins der Hefte ist älter als ein Jahr.
»Alter Schwede!«, lacht Sam hinter mir und klappt eine Matratze von der Wand. Sie ist alt, aber viel sauberer als alles andere hier. »Ein richtiges verdammtes Bett!«