Michel Bussi, geb. 1965, Politologe und Geograph, lehrt an der Universität in Rouen. Seine Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und haben sich als internationale Bestseller durchgesetzt. Bussi ist der meistprämierte französische Autor des Jahres 2011 gewesen.
Und plötzlich bist du allein …
Eine glückliche Familie inmitten der heilen Welt einer paradiesischen Insel. Türkisblaues Wasser, Sonne, Palmen – ein Traum, der plötzlich zu einem Alptraum wird, als Liane verschwindet und ihren Mann Martial mit ihrer kleinen Tochter Josapha verzweifelt zurücklässt. Alles deutet auf ein brutales Verbrechen hin, und schon bald weiß Josapha nicht mehr, wem sie überhaupt noch trauen kann.
»Ein außerordentliches Lese-Vergnügen!« Le Figaro Magazine
Das junge Ehepaar Bellion macht mit seiner sechsjährigen Tochter Josapha Urlaub auf der paradiesischen Insel La Réunion. Eines Nachmittags lässt Liane ihre Tochter und ihren Mann Martial am Pool zurück, um sich hinzulegen. Als Martial kurze Zeit später nach ihr sucht, ist sie verschwunden, das Hotelzimmer verwüstet und voller Blut. Die Polizei nimmt ihre Ermittlungen auf, und schnell steht Martial unter Verdacht, etwas mit dem Verschwinden seiner Frau zu tun zu haben. Doch bevor er festgenommen werden kann, gelingt es Martial mit Josepha zu fliehen. Eine Hetzjagd beginnt, denn niemand weiß: Ist seine Tochter bei ihm überhaupt noch sicher?
»Eine atemlose Flucht unter tropischer Sonne.« Libération
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Beim Leben meiner Tochter
Roman
Aus dem Französischen von
Eliane Hagedorn und Barbara Reitz
Inhaltsübersicht
Über Michel Bussi
Informationen zum Buch
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1 Die Spur von nassen Füßen
2 Gefährliche Wellen
3 Ein leeres Zimmer
4 Zurück im Alamanda
5 Der Ball der Mücken
6 Außergewöhnliche Ostern
7 Fünf gegen einen
8 Das Phantom der Lagune
9 Festessen
10 ITC Tropicar
11 Gesetzeshüter
12 Sopha im Paradies
13 Ein Anwalt am Tisch
14 Von privat
15 Am Friedhof
16 Das Haus der alten Dame
17 Stolz und Faulheit
18 Josapha
19 Die Grotte
20 Großer Bruder
21 Mildernde Umstände
22 Fangen spielen
23 Cap Champagne
24 Das Garagentor
25 Honig für den Kommissar
26 Auf dem Beifahrersitz
27 Goldlöckchen
28 Der Traum vom Feuerwehrmann
29 Imelda im Kühlschrank
30 Offenes Grab
31 Grüße von Mauritius
32 Plaine des Sables
33 Im Glutofen
34 Über den Wolken
35 Beschattung
36 Thermische Inversion
37 In der Hütte des Malbar
38 Unter der Wolke
39 Ein Eiswürfel, ein Mädchen
40 Die Parabel der Dodos
41 Die Dame mit dem Regenschirm
42 Fé lève lo mort
43 Gemeinsames Sorgerecht
44 Ligne Paradis
45 Glück auf Raten
46 Kadaver-Schlucht
47 Ein Leben gegen das andere
48 Sternenstaub
49 Unsichtbare Lavaschlacke
50 Zoreilles Schnörkel
51 Bunte Engel
52 Wasserfall
53 Die letzte Zigarette
Glossar
Impressum
Für Chloé,
die schon 18 Jahre alt ist …
Fé lève lo mort …
»Es ist gefährlich, die Vergangenheit
wieder aufleben zu lassen …«
SPRICHWORT AUF LA RÉUNION
Saint-Gilles-les-Bains
auf der Insel La Réunion
Freitag, 29. März 2013
»Ich gehe mal kurz rauf aufs Zimmer.«
Ohne auf eine Antwort von ihrer Tochter oder ihrem Ehemann zu warten, entfernt sich Liane mit strahlendem Gesicht vom Pool.
Gabin, hinter der Bar, folgt ihr unauffällig mit dem Blick. Diese Woche ist Liane die schönste Frau im Hotel Alamanda. Mit Abstand … Dabei ist sie eigentlich nicht sein Typ. Sie ist klein, sehr zart, kaum Busen, aber sie hat das gewisse Etwas. Vielleicht liegt es an ihrer weißen Haut mit den Sommersprossen, die auf ihrem Rücken, genau über dem Rand des grün-goldenen Bikinihöschens, hervorblitzen. Oder ihrem kleinen Hintern, der sich gerade mit sanft wiegenden Bewegungen entfernt. Sie ist barfuß und scheint beinah über den Rasen zu schweben. Gabin schaut ihr hinterher, während sie in den Innenhof tritt, in dem, halb verborgen durch eine Palme, weiße Liegestühle stehen. Später wird er Capitaine Purvi berichten, dass das Letzte, was er von ihr sah, der flüchtige Anblick ihres nackten Rückens war, ihrer weißen Brust, einer Brustwarze, nachdem sie diskret ihr Bikinioberteil fallen ließ, um dann mit einer geschickten Handbewegung ihr großes Badetuch mit dem Sonnenuntergangsmotiv um sich zu schlingen.
Naivo, der hinter dem Empfangstresen aus Mahagoni steht, erwidert strahlend Lianes Lächeln.
»Guten Tag, Mademoiselle …«
Die junge Frau durchquert die mit einem Postkarten-Ständer und einem Gestell voller Pareos und geblümter Hemden vollgestellte Lobby. Aus ihrem blonden Haar tropft Wasser auf das Badetuch und in ihr Dekolleté. Naivo gefallen ihre Schultern; sie sind makellos und ohne die weißen Streifen eines Bikiniabdrucks. Liane geht vorsichtig, um nicht auszurutschen, sie ist barfuß. Das Wasser rinnt an ihren Beinen entlang, und im nächsten Moment ist sie in Richtung Aufzug verschwunden. Nur ein paar kleine Pfützen bleiben von ihr zurück. Wie bei Amélie Poulain aus Die fabelhafte Welt der Amélie, wenn sie in Tränen ausbricht, hat Naivo in diesem Moment gedacht. Ein Bild, das ihm in den folgenden Tagen immer wieder kommen wird. Während der Stunden und Nächte, in denen er sich den Kopf darüber zermartert, dass sie sich im wahrsten Sinne des Wortes in Luft aufgelöst hat.
Liane wird vom Aufzug verschlungen. Im zweiten Stock öffnen sich die Türen und geben den paradiesischen Blick auf den Pool und den Strand von L’Ermitage frei. Halb hinter hohen Nadelbäumen versteckt, scheint sich der goldene Bogen der Sandbucht ins Unendliche zu erstrecken, zaghaft ausgehöhlt von den sanften Wellen der Lagune, die durch das ferne Korallenriff gezähmt werden.
»Vorsicht, nass!«, ruft Eve-Marie Richtung Aufzug und verzieht das Gesicht, als sie erkennt, wer auf den Flur tritt. Die Blonde aus Zimmer 38! Barfuß, natürlich. Die junge Frau in ihrem Badetuch gibt sich betont rücksichtsvoll und geht auf Zehenspitzen an der Seite entlang, gut einen Meter von Putzeimer und Scheuertuch entfernt, während sie sich in einem fort entschuldigt.
»Ist nicht schlimm«, brummt Eve-Marie, auf ihren Schrubber gestützt. »Gehen Sie nur weiter, ich wische hinter Ihnen dann noch einmal auf.«
»Tut mir leid, wirklich …«
Dass ich nicht lache, denkt Eve-Marie.
Die Blonde wackelt mit dem Hintern und tippelt wie eine Ballerina, hat wohl aus Angst, auf den nassen Fliesen auszurutschen. Vor ihrem Appartement angekommen, schiebt sie den Schlüssel ins Schloss, tritt ein und verschwindet.
Das Einzige, was von ihr bleibt, sind ein paar nasse Fußspuren auf den blitzblanken Fliesen. Eve-Marie ist jetzt wieder allein auf dem riesigen verglasten Korridor. Sie seufzt, die Bilder an den Wänden müssen noch abgestaubt werden, Aquarelle vom Hochland der Insel, von den kleinen Plateaus, die als Îlets bezeichnet werden, vom Primärwald, von den schönsten Winkeln auf La Réunion, in die kein Tourist je den Fuß setzt. Zusammen mit Flur- und Fensterputzen dauert das bestimmt den ganzen Nachmittag. Normalerweise ist es nach der Siesta auf ihrer Etage sehr ruhig. Niemand kommt herauf, alle sind am Pool oder in der Lagune. Außer der hübschen Kleinen …
Eve-Marie zögert: Soll sie sich jetzt schon die Mühe machen, hinter ihr herzuwischen? Bestimmt kommt sie in zwei Sekunden mit einem neuen Bikinioberteil wieder raus, weil sie mit dem anderen nicht braun genug wird.
Die Wellen zu zähmen ist Rodins große Leidenschaft.
Er benutzt dazu nur seine Augen.
Im Gegensatz zu dem, was die Trinker im Hafen von Saint-Gilles denken, ist das alles andere als einfach. Es erfordert Zeit. Geduld. Schläue. Man darf sich nicht ablenken lassen, wie etwa durch dieses Geräusch einer zuklappenden Autotür hinter ihm. Darf nie nach unten blicken, immer nur zum Horizont.
Das Meer ist eine verrückte Sache. Einmal, als Rodin noch jung war, ist er in ein Museum gegangen. In so eine Art Museum. Das war in Nordfrankreich, in der Nähe von Paris, das Haus eines Alten, der den lieben langen Tag den Widerschein der Sonne auf einem Teich betrachtet hat, nicht einmal Wellen gab es, nur Seerosen. Und das in einem Land, wo es immer kalt ist, wo der Himmel so tief hängt, dass man meint, ihn zu berühren, sobald man aufsteht. Das war das einzige Mal, dass er die Insel verlassen hat! Er würde das freiwillig nie noch mal machen. In dem Museum neben dem Haus gab es einen Haufen Gemälde: Landschaften, Sonnenuntergänge, graue Himmel, manchmal das Meer. Die, die ihn am meisten beeindruckt haben, waren gut zwei mal drei Meter groß. Es waren eine Menge Leute da, vor allem Frauen, alte, die anscheinend stundenlang diese Gemälde anstarren konnten.
Wirklich seltsam.
Wieder das Klappen einer Autotür in seinem Rücken. Nur mit dem Ohr schätzt er ab, woher es kommt. Der Wagen muss auf dem Hafenparkplatz stehen, gut dreißig Meter vom Ende der Mole entfernt, auf deren Felsen er gerade sitzt. Sicher ein Tourist, der glaubt, die Wellen mit einem Fotoapparat festhalten zu können, wie ein Angler, der hofft, einen Fisch zu fangen, indem er seine Angel einfach ein paar Sekunden ins Wasser hält. Diese Idioten …
Er muss wieder an diesen bärtigen Künstler denken. Im Grunde sind Maler wie er, sie versuchen, etwas einzufangen, das Licht, die Wellen, die Bewegung. Aber warum sich mit Leinwand und Pinseln abmühen? Es genügt doch, sich ans Meer zu setzen und einfach nur zu schauen. Er weiß sehr wohl, dass die Leute von der Insel ihn für einen Irren halten, weil er den ganzen Tag nur dahockt und auf den Horizont starrt. Aber er ist nicht verrückter als diese alten Weiber, die auf die Leinwand stieren. Sogar weniger verrückt. Denn dieses Schauspiel ist kostenlos. Wie ein Geschenk des genialen und großzügigen Malers da oben.
Ein erstickter Schrei hinter ihm unterbricht die Stille. Eine Art Stöhnen. Dem Touristen scheint es wirklich nicht gutzugehen …
Rodin, dreh dich nicht um! Um das Meer zu verstehen, um dessen Rhythmus einzufangen, muss man stillsitzen, kaum atmen. Die Wellen sind wie ängstliche Eichhörnchen, wenn man sich bewegt, laufen sie davon …
Das Mädchen vom Sozialamt hat ihn damals gefragt, welche Art von Arbeit er denn suche, hat sich nach seinen Fähigkeiten und seinen Eingliederungsplänen, einer Art Bilanz seiner Kompetenzen, erkundigt. Er hat ihr erklärt, dass er mit den Wellen sprechen, sie unterscheiden, sie sozusagen zähmen könne. Er hat es ganz ernst gemeint, als er sie fragte, welchen Beruf er damit wohl ausüben könne. Etwas in der Forschung vielleicht? Oder im kulturellen Bereich? Die Leute interessieren sich schließlich für die seltsamsten Dinge. Während er sprach, hatte sie ihn mit großen Augen angeschaut, als glaube sie, dass er sich über sie lustig mache. Sie war ziemlich hübsch, er hätte sie gern einmal mit auf den Damm genommen, um ihr die Wellen vorzustellen. Das machte er oft mit seinen Großneffen. Sie verstehen es. Ein wenig. Immer weniger.
Ein Schrei explodiert in seinem Rücken. Dieses Mal ist es nicht bloß ein Stöhnen, sondern ein deutlicher Hilferuf.
Reflexartig wendet Rodin den Kopf. Nun ist der Zauber dahin, und er wird Stunden brauchen, um den Einklang mit dem Meer wiederzufinden.
Aus dem Augenwinkel nimmt er ein Auto wahr, einen schwarzen Geländewagen. Und einen gedrungenen Schatten, fast so breit wie hoch, bekleidet mit einer Kurta, das Gesicht unter einer merkwürdigen khakifarbenen Schirmmütze verborgen. Zweifellos ein Malbar, ein nicht muslimischer Reunionese indischer Herkunft.
Rodin will etwas sagen, aber ihm gelingt nur ein Stottern. Wenn er zu viel Zeit mit den Wellen verbringt, kommen die Worte nicht gleich heraus, dann braucht er einen Moment, um wieder sprechen zu können.
»Entschul… Ich woll…«
Die Worte bleiben in der Luft hängen, er ist wie versteinert und kann den Blick nicht von dem Messer in der Hand des Mannes abwenden, von der roten Klinge.
Das Einzige, wofür er gerne noch Zeit gehabt hätte, wäre, sich umzudrehen und noch einmal auf das Meer zu blicken, um den Wellen, dem Licht, dem Horizont adieu zu sagen. Alles andere ist ihm egal. Doch sogar dafür ist es zu spät. Das Letzte, was Rodin sieht, ist der offene Kofferraum des Geländewagens. Ein Laken. Einen Arm, der herausragt. Eine …
Dann gerät alles aus den Fugen. Mit einer schnellen Bewegung packt ihn eine Hand bei der Schulter, während eine andere ihm das Messer ins Herz stößt.
Die Sonne hängt über dem Pool wie eine riesige, runde Halogenlampe. Der wohlgeordnete Dschungel aus Palmen und Samtblattbäumen, der von drei hohen Wänden aus Teakholz abgetrennt wird, hält jeglichen Windhauch fern. Nur die vorbeifliegenden Weißschwanz-Tropikvögel und das Rauschen des Passatwindes in der Ferne lassen das Meer erahnen. Im Garten des Hotels Alamanda steht die Hitze auf dem Rasenstück, und die wenigen Touristen flüchten sich ins gechlorte Wasser und anschließend auf die im Schatten stehenden Liegestühle.
»Ich gehe mal nachsehen, wo Liane bleibt.«
Martial stemmt sich aus dem Pool. Gabin sieht ihn auf sich zukommen. Auch nicht übel, der Ehemann von Liane – muskulöse Beine, gutdefinierte Bauchmuskeln und breite Schultern. Sportlehrer oder Feuerwehrmann oder Mitglied einer Polizei-Spezialeinheit, auf jeden Fall hat er einen Beruf, bei dem man dafür bezahlt wird, sich fit zu halten. Im Gegensatz zur milchweißen Haut seiner Frau ist er makellos gebräunt. Noch keine Woche sind sie da, und er hat bereits die Haut eines Cafre, eines Reunionesen afrikanischer Herkunft. Bei dem schönen Martial muss zweifellos ein Tropfen schwarzes Blut erhalten geblieben sein, ein schlafendes Pigment, das nur auf ein wenig Sonne wartet, um sich auszubreiten – so wie ein Tropfen Curaçao ausreicht, um einen Cocktail blau zu färben.
Während Martial auf die Bar zukommt, sieht Gabin Wassertropfen über seinen unbehaarten Rumpf rinnen. Martial und Liane Bellion, ein bildschönes Paar, das sich in den Tropen dem Nichtstun hingibt. Sexy und reich. Umso besser, denkt Gabin. Eine Win-win-Situation. Das Glück, das die verliebten und wohlhabenden weißen Paare auf der vermeintlich paradiesischen Insel zu finden glauben, ist die Grundlage seiner Geschäfte.
Jetzt bleibt Martial unmittelbar vor ihm stehen.
»Gabin, ist meine Frau wieder heruntergekommen?«
»Nein, tut mir leid, habe sie nicht gesehen …«
Gabin schaut auf die Uhr, die hinter ihm an der Wand hängt. Es ist gut eine Stunde her, seit Liane hinaufgegangen ist. Sicher hätte er sich daran erinnert, wenn ihr kleiner Hintern sein Blickfeld wieder gekreuzt hätte. Martial dreht sich um, geht einen Schritt auf die Leute zu, die im Pool planschen.
»Margaux, kannst du kurz auf Sopha aufpassen? Ich gehe mal nachsehen, was Liane macht.«
Gabin registriert die Szene, jedes ihrer Details, mit einer Präzision, die ihm in diesem Augenblick nicht bewusst ist. Die Uhrzeit, auf die Minute genau. Die Position der Gäste im Wasser oder auf den Liegestühlen. Die Polizei wird ihn alles mehrmals wiederholen lassen und sich dabei auf ihre Skizzen berufen. Doch er wird sich kein einziges Mal widersprechen.
Margaux macht sich nicht die Mühe, sich zu Martial umzudrehen, sondern zieht ungerührt weiter ihre Bahnen im Pool. Sie ist die Frau von Jacques, einem Anwalt, der auf einem Liegestuhl liegt und liest. Oder schläft. Sie sind zusammen mit ihren Freunden auf die Insel gekommen.
Margaux und Jacques Jourdain sind ein weniger glamouröses Paar, mindestens zehn Jahre älter. Und auch nerviger. Wenn er nicht Zeitung liest, sitzt er am Computer in der Lobby, während sie im Pool ihre Bahnen schwimmt. Da dieser nur zwölf Meter lang ist, muss sie dauernd wenden. Sie erinnert dabei an die hektischen kleinen Igel, die manchmal die Kinder im Hochland fangen und in eine Schachtel sperren. Die Jourdains langweilen sich sogar in den Tropen. Wie das in Paris erst sein mag, wagt Gabin sich gar nicht vorzustellen …
Sopha ist die Tochter von Liane und Martial. Das heißt, Sopha ist ihr Spitzname, eigentlich heißt sie Josapha. Gerade tollt sie im Wasser herum und kokettiert damit, trotz der kleinen Schwimmflügel, die sie trägt, unterzugehen. Inzwischen hat Martial das Hotel betreten.
Naivo wird sich nur daran erinnern, dass Martial Bellion mit dem Rücken zu ihm vor dem Aufzug stand. Er muss sich wohl gerade umgedreht haben oder war in seine Abrechnungen vertieft, als Bellion durch die Lobby ging. Aber es besteht kein Zweifel, dass er es war. Dieselbe Badehose, derselbe muskulöse Körper, dieselben Haare. Es wird nicht einfach sein, das den Ermittlern zu erklären, aber natürlich kann man einen Mann mit Sicherheit von hinten erkennen.
»Ist schon gut, gehen Sie nur weiter!«, ruft Eve-Marie Martial zu, der angesichts der makellos geputzten Fliesen zögert. »Ist schon trocken!«
Durch die blitzblanken Scheiben der zweiten Etage wirft Martial einen Blick in den Hotelgarten. Sopha sitzt allein am Rand des Pools. Margaux begnügt sich damit, ihr bei jedem dritten Schwimmstoß einen Blick zuzuwerfen. Martial seufzt, dann geht er weiter.
Vor Zimmer 38 bleibt er stehen und klopft leise an die dunkle Holztür. Wartet und klopft erneut. Nach ein paar Sekunden dreht er sich zu Eve-Marie um und erklärt:
»Meine Frau hat den Schlüssel … Sie scheint mich nicht zu hören. Ich werde an der Rezeption fragen, ob man mir aufmachen kann …«
Eve-Marie zuckt die Achseln. Es interessiert sie nicht. Hauptsache, der Boden ist trocken.
Einen Moment später kommt Martial wieder herauf, begleitet von Naivo, der mit einem riesigen klimpernden Schlüsselbund spielt. Eve-Marie blickt resigniert gen Himmel. Heute Nachmittag herrscht auf ihrem Flur wirklich Hochbetrieb!
Naivo findet sofort den richtigen Schlüssel, lässt Martial eintreten und bleibt einen Meter hinter ihm auf der Schwelle stehen. Dennoch sieht er es sofort: Das Zimmer ist leer.
Verwirrt geht Martial einen Schritt weiter.
»Das verstehe ich nicht. Liane müsste doch hier sein …«
Naivo stützt sich am Türrahmen ab. Ein Schauder durchfährt ihn. Irgendetwas stimmt nicht, das hat er sofort gespürt. Während Martial mit den Augen die wenigen Winkel des Zimmers absucht, konzentriert sich Naivo auf jedes Detail. Das Doppelbett, dessen fuchsiarote Steppdecke zu einer Kugel zusammengerollt ist. Die verstreut herumliegenden Kleidungsstücke. Die Kissen und die Fernbedienung auf dem Teppichboden. Die weiße Glasvase, die umgekippt auf dem Schrank aus Ipe-Holz liegt. Alles Anzeichen für einen heftigen Ehestreit.
Oder für das Schäferstündchen eines Liebespaars, Naivo zwingt sich, positiv zu denken.
Hektisch öffnet Martial die Tür zum Bad.
Aber auch dort ist niemand.
Weder im Zimmer noch sonst wo. Es gibt keinen Platz unter dem Bett, wo man sich verstecken könnte, keinen Balkon, keinen geschlossenen Schrank, nur Holzregale.
Martial hat sich aufs Bett gesetzt. Er wirkt verstört, verloren. Eigenartigerweise nimmt Naivo ihm das jedoch nicht ab. Irgendetwas an der Reaktion von Bellion erscheint ihm unnatürlich, aber das kann er ja der Polizei schlecht sagen. Also wird er sich damit begnügen, Capitaine Purvi die Szene zu beschreiben, diesen Familienvater um die vierzig, verführerisch, selbstsicher, der zusammenbricht wie ein kleiner Junge, als er das leere Zimmer entdeckt. Diesen vor Schreck erstarrten Playboy, der in seiner noch nassen Badehose auf dem Bett sitzt. Vielleicht ist es das, was ihm sofort so surreal erschien. Der Gegensatz …
Der Gegensatz … und die roten Flecken …
Auf Naivos Schläfen perlt der Schweiß.
Die roten Flecken auf dem Bettlaken.
Er reißt die Augen auf, als er sieht, dass ein Dutzend weiterer roter Flecken den beigefarbenen Teppichboden sprenkeln, rund um das Bett, beim Fenster, andere auf den Vorhängen. Und schweigt. Er sieht nur noch ein mit Blut bespritztes Zimmer.
Was soll er jetzt tun?
Mittlerweile hat sich Martial schweigend erhoben, irrt umher, wirft die Klamotten aufs Bett, als suche er nach einer Erklärung, einem Wort, irgendeinem Hinweis. Mit einem Mal spürt Naivo den Blick von Eve-Marie hinter seiner Schulter. Sie hat sich genähert, einen Putzlappen in der Hand, wohl um einen Vorwand zu haben.
Martial bleibt stehen, stellt die Vase wieder auf das Holzregal und beginnt endlich, mit tonloser Stimme zu sprechen.
»Ich verstehe das nicht. Liane müsste doch hier sein …«
Naivos Blick wandert zu den Kleidungsstücken, die am Fußende des Bettes auf einen Haufen geworfen worden sind. T-Shirts, Bermudas, Hemden.
Nur Herrenklamotten!
Plötzlich sind all seine morbiden Vermutungen weggefegt.
Die Schöne ist auf und davon … Im gesamten Appartement gibt es nicht die geringste Spur von einem Spitzenhöschen, einem Rüschenrock, einem Pareo, einem hautengen Top oder einer ausgeschnittenen Bluse – kein weibliches Kleidungsstück.
Mit einem Mal kann Naivo wieder besser atmen. Das Blut ist vergessen.
»Es ist einfach nicht möglich …«, flüstert Martial, während er erneut das winzige Badezimmer inspiziert.
»Monsieur Bellion«, unterbricht Naivo ihn, »kann ich irgendetwas für Sie tun?«
Mit einem Ruck dreht sich Martial um und beginnt hastig zu sprechen, so als habe er seine Antwort vorbereitet und auswendig gelernt.
»Rufen Sie die Polizei! Meine Frau müsste in diesem Zimmer sein. Sie ist vor einer Stunde hinaufgegangen. Sie ist nicht wieder heruntergekommen.«
Er schlägt die Badtür zu und fixiert Naivo mit seinem Blick.
»Ja, Sie können etwas tun. Holen Sie die Polizei. Machen Sie schon!«
Nur mit Mühe kann sich Naivo eine entsetzte Grimasse verkneifen. Die Gendarmen ins Hotel holen … Da wird der Chef mit Sicherheit nicht begeistert sein. Das Chikungunya-Fieber und die Tatsache, dass der Flug von Paris nach Saint-Denis mittlerweile über tausend Euro kostet, sind dem Tourismus auf La Réunion nicht eben zuträglich. Und dann soll auch noch den wenigen Urlaubern die Anwesenheit von Uniformierten am Pool zugemutet werden! Die Befragung jedes einzelnen Hotelgastes … Nein, der Chef wird das nicht schätzen. Doch er hat keine andere Wahl.
»Natürlich, Monsieur«, hört Naivo sich sagen. »Ich gehe hinunter, ich gebe Ihnen die Telefonnummer.«
Beim Hinausgehen trifft sein Blick den von Eve-Marie, sie verstehen sich, ohne ein Wort zu wechseln, dann mustert er Martial ein letztes Mal. Ein Raubtier, das im Käfig seine Runden dreht.
Capitaine Aja Purvi flucht und tritt das Bremspedal des Peugeot 206 durch. Direkt vor dem Tunnel des Cap de la Marianne ist eine der beiden Spuren der Küstenstraße von einer endlosen Reihe orangefarbener Warnkegel gesäumt – Baustelle!
Die Tunneleinfahrt gleicht einem riesigen schwarzen Maul, das mit nervenaufreibender Langsamkeit eine Schlange bunter Blechkarossen verschlingt. Der Peugeot rollt noch ein paar Meter im Schritttempo und bleibt dann auf der Höhe eines roten Pick-ups hinter einem Geländewagen stehen.
Aja blickt entnervt auf die Uhr.
Wie lange wird sie jetzt wohl für die acht Kilometer bis zum Hotel Alamanda brauchen? Dreißig Minuten? Eine Stunde? Oder sogar noch länger?
Wütend beobachtet Aja die Wellen des Indischen Ozeans, die an den Felsen schlagen, dessen Spitze angeblich aussehen soll wie das Profil der französischen Marianne. Na ja … sie hat nie die republikanische Nationalfigur in diesem Basaltblock erkennen können, den man besser in die Luft gesprengt hätte, anstatt Milliarden für die Route des Tamarins auszugeben, die ein paar hundert Meter höher verläuft, die Landschaft verschandelt und noch dazu für den Verkehr auf der Insel überhaupt nichts bringt. Resigniert stellt Aja den Motor ab. Der Typ neben ihr in seinem Pick-up beäugt sie penetrant, von oben. Ein Cafre, der lässig seinen Arm aus dem Fenster baumeln lässt. Auch das nervt Aja. Wenn sie den Jumper der Gendarmerie genommen oder wenigstens ein Blaulicht hätte, würde sie die Strecke auf der Küstenstraße in wenigen Minuten zurückgelegt haben. Man hätte ihr Respekt gezollt, einschließlich dieses Kerls, der sich den Hals verrenkt, um einen besseren Blick auf ihre Brüste zu erhaschen … Unwillkürlich knöpft Aja ihre Bluse weiter zu. Manchmal bekommt sie bei solchen Typen Lust, einen Schleier zu tragen. Einfach nur, um sie zu ärgern.
Aber der Direktor des Alamanda, Armand Zuttor, hatte darauf bestanden, dass sie mit ihrem eigenen Auto fährt … Nachdrücklich!
»Einen diskreten Einsatz bitte, Aja. Erschreck mir bloß die Touristen nicht!«
Dieser Gros Blanc* duzt sie unter dem Vorwand, sie schon als kleines Mädchen gekannt zu haben, als sie mit ihren Eltern ins Alamanda kam. Die Grenze zwischen Zuneigung und Demütigung ist oft hauchdünn. Da lässt sich Aja nicht täuschen.
»Das ist eine private Angelegenheit, verstehst du, Aja, und keine offizielle Ermittlung. Martial Bellion will keine Anzeige erstatten. Du kommst vorbei und beruhigst ihn bezüglich seiner Frau, den Gefallen musst du mir tun.«
Ein Gefallen? Inkognito? Na, mal sehen … Wie hätte sie sich weigern können? Der Tourismus sorgt für achtzig Prozent der Arbeitsplätze in Saint-Gilles. Armand Zuttor zufolge gibt es keinen Grund zur Panik. Es handele sich um eine ganz alltägliche Sache, ein Paar aus Paris, bei dem die Frau ihren Koffer gepackt hat und abgehauen ist und ihren Mann zusammen mit ihrer sechsjährigen Tochter allein am Pool zurückgelassen hat.
»Eigentlich doch alles eher komisch, oder? Wäre das irgendeinem Kreolen passiert, hätte man einfach nur gelacht. Selbst bei einem Zoreille*. Aber bei einem Touristen … Und der Ehemann weigert sich, das Offensichtliche zu sehen – dass der kleine Vogel entflogen ist. Er hat darauf bestanden, die Polizei anzurufen … Verstehst du?«
Aja versteht. Sie ist sofort losgefahren. Hat sich in den spätnachmittäglichen Verkehr gestürzt, wo sie jetzt immer noch feststeckt. Seufzend öffnet sie das Fenster auf der Fahrerseite. Die Luft ist schwer, es geht kein Windhauch. Ein Wetter, das die Reifen zum Schmelzen bringen kann. Kreolische Musik berieselt die stehende Fahrzeugschlange, ausgespuckt vom Autoradio des Pick-up. Der Fahrer klopft mit seinen beringten Fingern den Rhythmus.
Aja lehnt sich zurück. Hat Lust, die Karre einfach stehenzulassen und zu Fuß weiterzugehen. Ihren Nachbarn hingegen scheint der Stau nicht zu stören, im Gegenteil. Es gibt Musik, Sonne, das Meer … ein Mädchen, das er anglotzen kann.
Martial Bellion steht Aja Purvi gegenüber. Unter seiner gebräunten Haut ist er sehr blass, stellt die Ermittlerin fest. Sie hat über eine Stunde in der sengenden Sonne gestanden, und ihr Hintern ist auf dem Kunstledersitz des Peugeot fast festgeklebt. Als sie endlich das Hotel betrat, war er sofort von seinem Stuhl aus Rattanimitat aufgesprungen.
»Capitaine Purvi?«
Er steht mit offenem Mund da, genau wie die exotischen Fische im Aquarium hinter ihm.
»Entschuldigen Sie … es tut mir leid, dass ich Sie gestört habe, Capitaine. Vermutlich ist ein solches Verschwinden für die Gendarmerie sehr … sehr banal … Aber … aber, wie soll ich sagen … Entschuldigen Sie, Capitaine, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber … hinter dem Anschein … gibt es …«
Aja setzt eine teilnahmsvolle Miene auf, während Martial die Schweißperlen auf seiner Stirn mit einem Zipfel seines offenen Hemdes abtupft. In einem einzigen Satz hat Bellion sich bereits zweimal entschuldigt. Sie findet dieses Schuldgefühl merkwürdig, umso mehr, weil er äußerlich eher selbstbewusst wirkt. Woher rührt dieses schlechte Gewissen?
Bellion atmet tief ein und platzt dann unvermittelt heraus: »Capitaine, ich versuch es mal anders, vielleicht ist das einfacher. Ich bin ja nicht blöd, alle denken bestimmt, dass meine Frau mich verlassen hat. Aber das stimmt nicht, Capitaine, … Sie wäre niemals einfach so abgehauen. Nicht ohne ihre Tochter … Nicht ohne …«
»Monsieur Bellion, Sie müssen mich nicht überzeugen, wir werden alles Menschenmögliche tun, um ihre Frau zu finden. Sie haben Glück, Armand Zuttor kümmert sich rührend um seine Gäste. Er hat mir die wesentlichen Ereignisse bereits geschildert …«, unterbricht Aja ihn.
»Möchten Sie, dass …«
Der Schweiß lässt das Leinenhemd auf Martials Haut kleben. Aja lächelt, während sie nachdenklich zu den Südseefischen im Aquarium blickt. Irgendetwas am Verhalten dieses panischen Touristen macht sie immer noch stutzig.
»Hören Sie, Monsieur Bellion, heute ist es zu spät, aber Sie müssen gleich morgen früh zur Gendarmerie in Saint-Gilles gehen, um Ihre Frau offiziell als vermisst zu melden. Man wird Ausweispapiere von Ihnen verlangen und bestimmte administrative Auskünfte. Inzwischen werde ich sehen, was ich tun kann. Haben Sie ein Foto von Ihrer Frau für mich?«
»Selbstverständlich.«
Aja nimmt das Foto entgegen und betrachtet das makellose Oval von Liane Bellions Gesicht, das lange blonde Haar, die strahlend weißen Zähne. Wunderschön! Sie versteht, dass eine derart hübsche Frau viele Begehrlichkeiten weckt. Aja setzt einen verständnisvollen Blick auf und nagt an der Oberlippe.
»Danke, Monsieur Bellion. Bitte gehen Sie noch nicht in Ihr Zimmer. Fassen Sie nichts an, ich bin bald zurück. Vielleicht trinken Sie einen Rum oder ein Bier, das wird Ihnen guttun.«
Gabin beobachtet Aja, die um den Pool herumgeht und sich seiner Bar nähert.
»Ein derart hübsches Mädchen ist dir doch sicher aufgefallen, was, Gabin?«, fragt sie und legt das Foto vor ihn hin.
Der Barkeeper lässt sich Zeit, bevor er antwortet. Normalerweise wandert der Blick der Gäste, die vor seiner Theke stehen, recht schnell zu den farbenfrohen Flaschen seiner eindrucksvollen Rum-Sammlung, die drei Etagen im Regal einnimmt. Aja hingegen blickt ihm direkt in die Augen. Für den Rum interessiert sie sich nicht. Wie die meisten Reunionesen muslimischen Ursprungs trinkt sie keinen Alkohol. Dabei hat man ihr, als sie ein Teenager war und stundenlang am Rand des Pools auf ihren Vater und ihre Mutter wartete, oft genug ein Glas zum Probieren angeboten. Aber das war vor dem Unglück gewesen.
Gabin hält Ajas durchdringendem Blick stand. Ajas Vater ist Zarabe, ihre Mutter Kreolin. Kann man sie als hübsch bezeichnen?, fragt sich Gabin. Gar nicht so einfach zu entscheiden. Sie ist eine seltene Kombination aus langen schwarzen Haaren, mandelförmigen blauen Augen unter schwarzen, dichten Brauen, die sich über der Nase beinahe berühren. Kein schlechtes Potenzial, denkt Gabin, doch um wirklich hübsch zu sein, müsste sie ab und zu auch einmal lächeln. Oder sich im Badeanzug zeigen. Aber keine Chance. Aja stammt aus dem Hochland von Saint-Paul, aus einem der ärmlichen Hochhäuser auf dem Plateau Caillou. Er kennt sie, seit sie die weiterführende Schule besucht hat. Schon damals verhielt sie sich wie ein Salamander unter lauter Chamäleons. Eine, die nie braun war und niemals den Fuß ins Wasser der Lagune gesetzt, sondern immer nur gepaukt, gepaukt, gepaukt hat, mehr als jeder ihrer Mitschüler. Wie viele andere auch ist Aja zum Studieren ins Mutterland gegangen. Jurastudium an der Pariser Uni Panthéon-Assas, anschließend Polizeischule bei den Bretonen in Châteaulin. Abschluss als Jahrgangsbeste. Im Gegensatz zu den anderen Hochbegabten der Insel ist sie jedoch zurückgekommen. Vielleicht bereut sie das inzwischen. Man hat sie in der autonomen regionalen Brigade von Saint-Gilles-les-Bains eingebunkert. Aber sie ist agil, ehrgeizig und eine Kämpfernatur. Gabin hat sie schon mehrfach bei der Arbeit erlebt, ein kleiner Feuersalamander, der in der Lage ist, hoch hinaufzuklettern. Rachedurst als zusätzliche Motivation. Ihren Vorgesetzten wird es wohl nicht lange gelingen, ihr einen Maulkorb zu verpassen …
Ungeduldig wedelt Aja mit dem Foto vor seiner Nase.
»Nun, Gabin?«
»Nun was? Hast du nicht eigentlich schon Feierabend?«
»Offensichtlich … Du kennst doch die Bullen. Für eine Kreolin, die sich von ihrem Mann hat verprügeln lassen, rühren sie keinen Finger. Aber für eine Touristin, die sich absetzt …«
Gabin lächelt und entblößt dabei seine weißen Zähne.
»Du musst endlich mal lernen, diplomatisch zu sein, Aja …«
Aja antwortet nicht, als müsse sie nachdenken, dann hakt sie erneut nach.
»Also, was weißt du über die Kleine?«
»So gut wie nichts, meine Schöne. Du weißt ja. Ich bin hinter meiner Theke fest verwurzelt. Ich habe das Mädchen lediglich vor den Liegestühlen vorbeigehen sehen, sie hat ihr Bikinioberteil fallen lassen, sich in ein Badetuch gewickelt, und weg war sie. Frag Naivo an der Rezeption. Er hat Bellion die Zimmertür aufgesperrt …«
Aja betritt die Lobby. Keine Spur von Martial Bellion. Er ist wohl ihrem Rat gefolgt, sich unauffällig zu verhalten und sich zu entfernen, um sie in Ruhe ermitteln zu lassen. Plötzlich zeichnet sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ab: Naivo sitzt hinter seinem Schreibtisch, braune kugelrunde Augen, das gesamte Gesicht hell behaart, einen Kranz grauer, glatter Haare von einem Ohr zum anderen … ein Mann wie ein großes Plüschtier, und sicherlich empfänglich für den Reiz von Blondinen. Als sie mit Lianes Foto vor seinen hervorstehenden Augen wedelt, wird er redselig.
»Ja, Capitaine Purvi, ich habe Liane Bellion heute Nachmittag in ihr Zimmer hinaufgehen sehen. Ja, ihr Mann kam zu mir in die Lobby, damit ich ihm Zimmer 38 aufschließe. Wie lange danach? Ich würde sagen, eine Stunde. Der arme Kerl sah wirklich sehr besorgt aus, beinahe panisch. Ich habe ihm dann das Zimmer 38 geöffnet, Capitaine … Dort herrschte, wie soll ich sagen? Chaos. Spuren eines Kampfes. Oder eines lebhaften Mittagsschläfchens, wenn Sie wissen, was ich meine, Capitaine …«
Er zwinkert, Aja zeigt jedoch keine Reaktion.
»Auffällig ist nur …«, fährt Naivo fort, »dass alle Klamotten der Frau verschwunden sind. Sie können mir glauben, ich habe einen Blick für so was. Liane Bellion hat all ihre Sachen eingepackt.«
Erneutes Zwinkern, wieder keine Reaktion.
»Aber das ist nicht das Wichtigste, Capitaine. Das Wichtigste ist, dass es Spuren gab von … wie soll ich sagen?«
Aja kneift die Augen zusammen. Instinktiv spürt sie, dass ihr die Fortsetzung nicht gefallen würde. Der Concierge richtet sich auf.
»Flecken, die verdammt nach Blutspuren aussahen.«
Ohne die Miene zu verziehen, nimmt Aja die Information auf. Dann räuspert sie sich und tritt einen Schritt zur Seite. »Gehen wir nach oben, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Sie können mir aufschließen …«
Sie fahren in den zweiten Stock. Aja lässt den Blick kurz zu den bodentiefen Fenstern schweifen und beobachtet die Gäste, die, einen Cocktail in der Hand, im Sonnenuntergang am Pool sitzen und sich unterhalten; die nackten Rücken der Frauen, die Rauchschwaden, die von den Fackeln emporsteigen, die Kinder, die im fluoreszierenden Wasser planschen, das von Unterwasserlampen nacheinander blau, rot und grün gefärbt wird. Es ist absolut windstill, eine paradiesische Ruhe.
Ein Tropenabend, wie er perfekter nicht sein könnte. Armand Zuttor hatte recht, das Blaulicht hätte nur für Unruhe gesorgt.
Naivo spielt mit den Schlüsseln in seiner Hand und geht den Gang entlang auf Zimmer 38 zu.
»Capitaine, kann ich Sie kurz sprechen?«
Die Stimme scheint aus einem unsichtbaren Lautsprecher zu kommen. Aja dreht sich um und entdeckt einige Meter hinter sich eine alte Frau, die sich auf einen Schrubber stützt. »Du bist doch Capitaine Purvi, oder? Die kleine Aja. Die Tochter von Laila und Rahim?«
Aja weiß nicht, was sie am meisten nervt. Die Anspielung auf ihre Kindheit seitens einer Frau, die sie nicht wiedererkennt, oder der träge Tonfall der Putzfrau. Sie nickt vage.
»Weißt du, ich sehe deine Mutter oft, meine kleine Aja«, fährt die Kreolin fort. »In der Markthalle von Saint-Paul, beinahe jeden zweiten Vormittag. Wir sprechen über die Vergangenheit, wie zwei Alte das halt so machen.«
Aja ringt sich widerwillig zu einem Lächeln durch.
»Ich höre …«
Naivo rührt sich nicht. Die Kreolin verstummt und starrt ihn an. »Allein«, sagt sie schließlich.
»Einverstanden«, antwortet Aja und wendet sich Naivo zu.
Der Concierge reißt entrüstet die Augen auf und entfernt sich dann schließlich widerwillig. Die Kreolin mit dem Schrubber scheint nach Worten zu suchen, Aja wartet einige Sekunden, bevor sie sich zu ihr umdreht. Der Vorname der Putzfrau ist auf ihre Bluse gestickt.
»Seit wann sind Sie hier, Eve-Marie?«
»Dreißig Jahre und sechs Monate, meine kleine Aja …«
Aja seufzt.
»Ich spreche von heute Nachmittag, Madame. Ich wollte sagen, hier auf dem Gang.«
Eve-Marie lächelt und wirft einen langen Blick auf ihre Armbanduhr, bevor sie antwortet.
»Vier Stunden und dreißig Minuten.«
»Das ist lang, oder?«
»Sagen wir mal so, für gewöhnlich ist es ruhiger auf meinem Stock …«
Aja betrachtet den Boden, die Wände, die Bilder, die Fensterscheiben, alles kommt ihr so sauber vor wie auf einem Krankenhausflur.
»Eve-Marie, Sie wirken auf mich sehr gut organisiert und gründlich. Erzählen Sie mir genau, wen Sie heute Nachmittag hier oben auf dem Gang gesehen haben.«
Die alte Kreolin lässt sich unendlich viel Zeit, ihren Schrubber an die Wand zu lehnen. Dann holt sie tief Luft. »Also, Naivo und der Ehemann sind gegen sechzehn Uhr heraufgekommen, um die Tür zum Zimmer 38 zu öffnen. Es war leer und …«
Eve-Marie richtet sorgfältig ihr krauses Haar, das mit einem Schal zusammengehalten wird. Strähne für Strähne. Ungeduldig nimmt Aja das Gespräch wieder auf.
»Eve-Marie, wir wissen, dass Martial Bellion um sechzehn Uhr heraufgekommen ist. Liane Bellion war eine Stunde früher hier, gegen fünfzehn Uhr. Was mich interessiert, ist, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Wenn Sie den Flur nicht verlassen haben, müssen Sie Madame Bellion zwangsläufig aus ihrem Zimmer haben kommen sehen.«
Eve-Marie hat jetzt auf der nächstgelegenen Scheibe eine unsichtbare Spur entdeckt, die sie mit dem Zipfel ihres türkisfarbenen Tuchs abwischt. Eine Ewigkeit später blickt sie auf. »Zwischen fünfzehn und sechzehn Uhr hab ich schon Leute über den Flur gehen sehen … Aber nicht die Blonde …«
Aja ist wie vor den Kopf gestoßen.
»Wie das? Liane Bellion ist nicht aus ihrem Zimmer gekommen?«
Betont langsam faltet Eve-Marie das Tuch zusammen, bevor sie antwortet. »Ich habe nur den Ehemann heraufkommen sehen.«
»Eine Stunde später, darüber bin ich im Bilde.«
»Nein, nicht eine Stunde später, sehr viel früher. Ich würde sagen, eine Viertelstunde nach seiner Frau.«
Aja schnappt nach Luft.
»Sind Sie sich da ganz sicher?«
»Aber ja, meine kleine Aja, du kannst mir vertrauen. Niemand kann über meinen Flur gehen, ohne dass ich es bemerke.«
»Sprechen Sie weiter …«
Eve-Marie wirft Naivo, der vor dem Lift auf und ab läuft, einen misstrauischen Blick zu. Dann senkt sie die Stimme.
»Er ist in das Zimmer gegangen. Ich dachte sofort, dass er sich mit seiner Frau ein nettes Stündchen machen will. Es war Zeit für die Siesta, du weißt, was ich damit sagen will, meine kleine Aja? Das Töchterchen war unten mit ihren Freunden. Der Mann ist ein paar Minuten später wieder aus dem Zimmer gekommen, höchstens zehn Minuten später. Er kam auf mich zu und bat mich um einen Gefallen.«
Aja betrachtet ihr Spiegelbild im Fenster. Das Blau ihrer Augen verschwimmt im fluoreszierenden Licht des Pools.
»Einen Gefallen?«
Eve-Marie lässt sich wieder reichlich Zeit, um sich zu dem Wagen umzudrehen, auf dem ihr Abfalleimer, die Putzutensilien und Bürsten verstaut sind.
»Ja, einen Gefallen. Er hat mich gefragt, ob ich ihm meinen Wagen ausleihen könnte. Nicht diesen hier, sondern den großen, in den ich die Bettwäsche und die Handtücher packe. Leer. Damit ist er wieder ins Zimmer gegangen, und zwei Minuten später hat er den Lift genommen … und war dann, hops, verschwunden. Ich habe meinen Wagen im Erdgeschoss am Ausgang zum Parkplatz wiedergefunden. Das mag dir seltsam erscheinen, meine kleine Aja … Aber hier schlägt man einem Gast nichts ab.«
Ajas leicht zitternde Hand stützt sich auf das Fensterbrett.
»Den Wäschewagen? Hat er Ihnen gesagt, wozu zum Teufel er den brauchte?«
»Weißt du, meine Kleine, man stellt den Gästen auch niemals Fragen.«
Aja beißt sich auf die Lippen.
»Ist sonst noch jemand gekommen? Oder gegangen? Heute Nachmittag hier auf dem Flur?«
»Niemand! Das kannst du mir glauben, Aja. Die Madame von Appartement 38 ist aus ihrem Zimmer nicht hinausgegangen.«
Und warum sollte sie Eve-Marie nicht glauben?
»Ihr Wäschewagen. Wie … wie groß ist der?«
Eve-Marie scheint nachzudenken.
»Damit du dir eine Vorstellung davon machen kannst: Auf dem Wagen ist angegeben, dass er achtzig Kilo Wäsche fassen kann. Ich weiß schon, worauf du hinauswillst. Unter uns gesagt, die kleine Blonde im Bikini wiegt sicher gerade mal die Hälfte.«
Während Eve-Marie ihren Blick prüfend über die staubfreien Möbel gleiten lässt, starrt Aja in den Hotelgarten. Dort sind noch höchstens zwanzig Personen um den Pool versammelt. Aja bemerkt Martial Bellion unter einer Laterne, auf einem Hocker. Auf seinen Knien sitzt ein kleines Mädchen.
Seine Frau ist nie aus dem Zimmer hinausgegangen …
Naivo hat von Spuren eines Kampfes in dem Appartement gesprochen. Und von Blutflecken.
Naivo scheint bemerkt zu haben, dass das Gespräch beendet ist, er nähert sich auf dem Flur, den Schlüsselbund in der Hand. Man wird ihm, genau wie dem Hoteldirektor, erklären müssen, dass es eine Programmänderung gibt. Das wird Armand Zuttor gar nicht gefallen … Aber nach dem, was Aja gerade gehört hat, kann man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass die Sachen, die in Zimmer 38 verstreut herumliegen, Beweisstücke am Tatort eines Verbrechens sind. Aja sieht auf ihre Armbanduhr. Im Idealfall müssten Fingerabdrücke genommen, Blutspuren gesichert, DNA bestimmt und alles Weitere erledigt werden. Heute Abend noch.
Ihr bleibt nichts anderes übrig, als Christos davon zu überzeugen, sich hierherzubemühen.
Sopha hat weder ihr gegrilltes Hähnchen noch ihren Reis angerührt. Sie schmollt, steckt die Nase in ihr Bilderbuch. Martial Bellion hat sich gezwungen, sein Rougail boucané, ein typisches Schmorgericht der Insel, aufzuessen. Um einen guten Eindruck zu machen. Jacques und Margaux Jourdain wiederum scheint Lianes Verschwinden nicht den Appetit verdorben zu haben.
Die Mahlzeit ist schweigend verlaufen. Vor dem Pool plärrt ein Typ mit geblümtem Hemd Hits aus den Achtzigern in ein Mikro. Eine Frau in hautengem Kleid, eine leuchtend rote Blumenkette um den faltigen Hals, bewegt sich hinter ihm im Takt, klatscht hin und wieder in die Hände oder fällt in den Refrain ein. Alles in allem nicht gerade eine überzeugende Vorstellung.
Von den etwa zwanzig Gästen des Grain de Sable, dem Restaurant des Hotels Alamanda, applaudiert niemand. Es spricht auch niemand.
»Voyage, voyaaage. Plus loin que la nuit et le jour.«*
Das Sängerpaar wird wohl nicht bezahlt, um Stimmung zu machen, sondern eher, um das Schweigen der älteren Paare zu überspielen. Jacques Jourdain schenkt Martial ein weiteres Glas von dem Cilaos ein. Seine Hand zittert ein wenig, er zögert, beugt sich dann zu ihm vor.
»Sie kommt zurück, Martial. Keine Sorge, sie kommt bestimmt zurück.«
Martial antwortet nicht. Die teilnahmsvolle Miene von Jacques wirkt gekünstelt. Ist der Pariser Anwalt ernsthaft von dem Unglück eines Mannes betroffen, den er fünf Tage zuvor noch gar nicht kannte? Martial hat seine Zweifel. Jacques und Margaux erwecken eher den Eindruck eines Paars, das beruhigt ist, jemanden gefunden zu haben, der noch unglücklicher ist als sie selbst. Ein Schwanken zwischen Mitleid und Gleichgültigkeit.
»Ne la laisse pas tomber, elle est si fragile.«*
Stimmung …
Martial hält sich zurück. Am liebsten würde er Sopha nehmen und gehen und die Jourdains einfach dort sitzen lassen, stattdessen schluckt er widerwillig einen Bissen von dem kalten Rougail hinunter. Es geht nicht anders, er muss sich in Geduld üben, sich unauffällig verhalten, muss die Rolle des Ehemanns spielen, dessen Frau plötzlich und völlig unerwartet verschwunden ist. Keine einfache Aufgabe, alles hängt davon ab, wie geschickt er sich anstellt. Dennoch werden sich die Verdachtsmomente wie eine Schlinge um seinen Hals legen, stichhaltige Beweise werden sie zwar nicht finden, aber Zweifel werden bleiben … Wenn es schiefläuft, könnte er die Jourdains gebrauchen. Vor allem Jacques. Nach den ganzen E-Mails zu urteilen, die er täglich erhält, scheint er in Paris ein vielgefragter Anwalt zu sein.
Das Schweigen wird unerträglich. Das Geplärre des Duos wird langsam lästig. Jedoch hat noch keines der Paare im Restaurant seinen Tisch verlassen. Unerklärlich.
»Ne plus pleurer, rester là, à se demander pourquoi …«*
Morgen wird hier alles ganz anders sein. Die Bullen, die Verhöre, die Touristen, eingesperrt im Hotel. Die Jourdains, von der Polizei vorgeladen. Wenigstens hat er dazu beigetragen, diesen Heuchlern den Urlaub zu verderben! Das ist ja schon mal was.
»Komm, wir gehen, Sopha.«
Das Portemonnaie in der Hand, tritt Martial an die Bar. Gabin stellt ihm einen Rum-Cocktail hin. Er berührt leicht seine Hand, als Martial ihm den Geldschein reicht.
»Rhum Bibasse, Monsieur. Spitzenjahrgang. Ihre Frau kommt zurück, keine Sorge.«
Der Typ scheint es wenigstens ernst zu meinen. Martial schenkt ihm ein trauriges Lächeln.
»Sie müssen verstehen«, fährt Gabin fort. »Ihre Frau ist ein Mädchen mit Geschmack. Wer hätte Lust, heute Abend solche Musik zu hören? Morgen haben wir eine gute Gruppe, dann ist sie wieder da.«
»Viiiivre, sous les sunlights des tropiiiiiques.«*
Im Lichtkreis der gelben Neonlampen über dem Pool tanzen nur die Mücken.
Martial entfernt sich vom Fenster des Zimmers Nummer 17 im ersten Stock. Er tritt ans Kinderbett, das Naivo nur mit Mühe zwischen Doppelbett und Wand hat schieben können. Sopha ist schließlich eingeschlafen. Eine Stunde lang hat sie nach ihrer Mutter gerufen. Martial hat ihr unbeholfen, so gut er konnte, alles erklärt.
»Sie kommt zurück, Sopha. Sie ist bloß spazieren gegangen. Gleich ist sie wieder da.«
Vergebene Liebesmüh. Es folgte eine Flut von Fragen.
Warum ruft Maman nicht an?
Warum hat sie mir keinen Gutenachtkuss gegeben?
Warum hat sie mich nicht mitgenommen?
Wo ist sie? WO IST SIE?
Warum schlafen wir nicht im selben Zimmer wie gestern?