1 - Holländer haben Bauchschmerzen mit ihrer Nationalhymne
Das Wilhelmus ist seit 1932 die niederländische Nationalhymne. Von 1817 bis 1932 hatten die Niederländer Wien Neêrlands bloed im Dienst. Dieses Werk hatte seinerseits den Wilhelmus abgelöst, denn nach der napoleonischen Besatzung war man der Meinung, es sei Zeit für eine neue Hymne. Und für die kurze Zeit, in der Belgien und die Niederlande ein Königreich bildeten (1815–1830), kam Wilhelmus sowieso nicht infrage, da die mehrheitlich katholischen Belgier sich durch die calvinistische Kampfeshymne eher beleidigt als repräsentiert fühlten.
Die erste Zeile des Liedes »Wem niederländisches Blut durch die Adern fließt« hingegen war durchaus mehrheitsfähig. Wien Neêrlands bloed hatte acht Strophen, was für niederländische Nationalhymnenverhältnisse noch eher wortkarg ist. Ähnlich wie in Werken aus der Zeit der deutschen Befreiungskriege schimmert im Text eine gewisse Abneigung gegen alles welsche und fremdländische durch, aber das war nicht der Grund, weshalb Wien Neêrlands bloed als Nationalhymne nie so richtig angenommen wurde. Nun begibt man sich ja meist auf ein Minenfeld, wenn die musikalische Qualität von Hymnen bewertet, aber Wilhelmus schlägt seinen Vorgänger/Nachfolger in dieser Beziehung um Längen. Wien Neêrlands bloed hingegen würde von der Melodie her auch ganz gut in den Musikantenstadl passen.
Und so wurde das Wilhelmus nach seiner Auszeit am 10. Mai 1932 wieder in Amt und Würden gesetzt. Das Wilhelmus gilt als älteste Nationalhymne der Welt. Der Text stammt von einem Autor aus dem 16. Jahrhundert, einem Mitarbeiter Wilhelm von Oraniens, weshalb es durchaus möglich ist, dass der König das tatsächlich selbst gesungen hat. Gesichert ist das aber nicht.
Inhaltlich beschreibt die niederländische Nationalhymne einen Loyalitätskonflikt von Hamlet’scher Dimension. Der Blaublüter steckt in einer Zwickmühle. Was soll der Fürst tun? Den Spaniern dienen, was sein Job als ihnen untergeordnetes Oberhaupt der niederländischen Provinzen wäre? Oder dem Ruf seiner Landsleute folgen, die ihn als Anführer im Kampf gegen die Spanier sehen wollen.
Und: Um es einmal ganz deutlich zu sagen, die Herausforderung, der sich der Landesvater damals stellte, ist gigantisch. Die Habsburger mit ihren Kernbesitzungen in Österreich und Spanien waren die Herren der Welt. Der Spruch von dem Reich, in dem die Sonne nie untergeht, machte die Runde und die rebellischen Provinzen der Niederlande waren nicht mehr als ein Nasenpopel, den die Herrscher der Welt mit einer lässigen Geste wegwischen konnten. Doch die Niederlande hielten stand, was letztlich nicht nur eine Frage des Mutes, sondern auch der Klugheit war. Sie verstanden es, gegen die Spanier kunstvolle Allianzen zu schmieden, welche schließlich sogar das Osmanische Reich mit einschlossen, und so siegten und überlebten sie. Während die deutschen Lande in einem Strudel aus Religionskriegen versanken, begann für die Niederlande ein goldenes Zeitalter.
Das Lied hat fünfzehn (!) Strophen, allerdings werden heute nur noch die erste und die sechste gesungen. Die ersten Buchstaben der fünfzehn Strophen bilden in der Originalversion den Namen Willem van Nassov (In alten Texten wurde oft ein V für ein U gesetzt), in der neuen niederländischen Rechtschreibung funktioniert dieser Effekt aber nicht mehr so gut.
Die ursprüngliche Melodie wurde einem französischen Spottlied entlehnt, weshalb das Wilhelmus anfangs viel fröhlicher gesungen wurde. Es gab auch einige Parodien, von denen nicht alle jugendfrei waren.
Der Grund für ein mögliches Unwohlsein bei holländischen Interpreten dieser Tage liegt allerdings allein in der ersten Zeile, die übersetzt lautet: »Wilhelm von Nassau bin ich, von deutschem Blut, und dem Vaterland bleibe ich treu bis in den Tod«. Dass in der vierten Strophe ein Graf vorkommt, der ausgerechnet Adolf heißt, kann die Sache nicht wirklich schlimmer machen. Diese Strophe wird sowieso so gut wie nie gesungen.
Nun wissen Menschen, die sich mit Sprachgeschichte auskennen, dass deutsch ursprünglich nur jemanden beschrieb, der Teil des einfachen Volkes war – also nicht von Adel. Der König wollte seinen Landsleuten mit diesen Zeilen schon gleich zu Beginn signalisieren, dass er – wenn es drauf ankommt – trotz seiner blaublütigen Abkunft weiß, wo sein Platz ist.
Zu meiner Überraschung habe ich erfahren, dass das Wilhelmus nicht auf dem Lehrplan der niederländischen Grundschulen steht. Das könnte ein weiterer Grund dafür sein, dass bei festlichen Anlässen auch gern ein anderes Lied interpretiert wird.
Oranje boven ist so etwas wie die Alltagsvariante einer Nationalhymne, wenn man es ein bisschen festlich haben will, aber auch der Spaß nicht zu kurz kommen soll. Das Lied hat nur zwei Strophen, in denen im Wesentlichen berichtet wird, dass die Niederlande klein sind, das Herz des Niederländers rein ist und er immer zu seinem Königshaus stehen wird.
Aber ich denke, man kann mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass die Mehrheit der Nachbarsleute vor allem den Refrain kennt, der von einem Kinderlied ausgeborgt wurde, welches die Frage aller Fragen von Kindern unterwegs beantwortet: Sind wir schon da? – »We zijn er bijna« (Wir sind gleich da).
Oranje Boven ist auch gut als Eselsbrücke geeignet, wenn man sich merken will, welche Farbe in der niederländischen Trikolore oben steht: Rot (ehemals Oranje), dann folgen Weiß und Blau. Oder, wenn man es ganz korrekt machen will: Zinnober, Weiß und Kobaltblau.
Dank einer langen Reihe von Regentinnen hatte es sich eingebürgert, im Refrain »Leve de koningin« zu singen, was aber seit Máxima und Willem Alexander nicht mehr ganz passt. Zwar hätte man weiter »Lang liebe die Königin« singen können, aber das hätten einige möglicherweise als Affront gegen den König und als Kompliment für seine wesentlich flamboyantere Gattin verstanden. Während der Karnevalssaison 2013 bot der Entertainer André van Duin – ein holländischer Mix aus Weird Al Yankovic und Gottlieb Wendehals – als modernisierte Zeile »Leve de koning en Máxima« an, aber auch das setzte sich nicht durch. Am meisten verbreitet ist derzeit die Variante »Leve het koningspaar«.
Zu dem Kanon der offiziellen Songs gehört auch das Koningslied, welches anlässlich des Amtsantritts von Willem Alexander am 30. April 2013 aufgeführt wurde. Bei den Leuten war das Werk schnell beliebt, aber von Sprach- und Musikexperten wurde es vielerorts mit Häme überschüttet. Mittlerweile haben die Wogen sich geglättet, aber im Vergleich zu den anderen nationalen Kompositionen fehlt dem Koningslied vor allem eines: Patina.
Aber ...
Auch wenn deutsche Ohren im Wilhelmus vielleicht nur »von deutschem Blut« hören und die Chance sehen, ein bisschen zu lästern, sollte man dieser Versuchung widerstehen. Nicht nur – aber auch – aus Respekt, sondern ebenso weil unsere eigene Nationalhymnengeschichte auch nicht frei von Makeln ist. Dabei muss man gar nicht auf die drei Strophen und ihre unterschiedliche Wertigkeit eingehen. Es reicht, daran zu erinnern, dass die Melodie unserer Hymne von dem Österreicher Franz Joseph Haydn stammt. Und Heil dir im Siegerkranz, was bis zum Ersten Weltkrieg als deutsche Hymne galt, war nichts anderes als die deutsche Version des englischen God Save King.