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Über das Buch

Die Weite der sibirischen Wälder, die Wildnis Kamchatkas, das pulsierende Leben in Europas größter Metropole – weithin bekannt ist, was das vielseitige Russland dem neugierigen Reisenden zu bieten hat.

Was aber verbirgt sich hinter dem – mittlerweile offiziell ja nicht mehr eisernen – Vorhang? Von horrenden Umweltskandalen, der Liebe zum Alkohol und charismatischen Führungspersönlichkeiten hat man ja sicher schon einiges gehört. War Ihnen aber bewusst, dass in Russland eine kreative Auslegung der Realität zum guten Ton gehört, dass ein Riesenkrake namens Geheimdienst das Leben Stück für Stück weiter an sich reißt – und dass Russland seinem strengen Klima zum Trotz eigentlich eine ziemliche Bananenrepublik ist?

In 55 erhellenden und erheiternden Kapiteln werden wir Sie gründlich darüber aufklären, was oft im Verborgenen bleibt. Und wir werden Ihnen endlich erzählen, warum Russen im Urlaub so anstrengend sind, tatsächlich dem Wodka nicht abschwören können und leider eine reichlich verzerrte Vorstellung davon haben, was im Rest der Welt so vor sich geht.

Ein humorvolles Porträt und ein ernster Blick auf das Riesenreich, hilfreich sowohl für Reisende als auch für Daheimgebliebene – schließlich kann man sich nicht sicher sein, dass nicht auch der eigene Lieblingsverein bald einem fußballbegeisterten Oligarchen gehört ...

Inhalt

1 - Auch aller russischer Anfang ist schwer (Einleitung)

2 - Erich von Däniken wäre in Russland bestens aufgehoben (Aberglaube)

3- Über russischen Wolken muss das Chaos wohl grenzenlos sein (Airlines)

4 - Ganz Russland sieht alles doppelt. Ganz Russland sieht alles doppelt. (Alkohol)

5 - Der Russe an sich ist ein Naturbursche (Ausflüge)

6 - Russische Mobilität versprüht keine Freude am Fahren (Autos)

7 - In Russland gilt: Was nicht passt, wird trotzdem verbaut (Baustellen)

8 - Wissen ist Macht, und Russen stehen auf Macht (Bildung)

9 - In Russland stehen Entwurf und Auswurf nahe beieinander (Design)

10 - In Russland wird’s spannend, wenn es einem die Sprache verschlägt (Dolmetscher)

11 - Der Stoff, aus dem russische Albträume sind (Drogen)

12 - Russland, deine k(l)einen (K)östlichkeiten (Essen)

13 - Die Russen sind mehr Bundy als Cosby (Familie)

14 - Von Flughäfen versteht man in Russland nur Bahnhof (Flughäfen)

15 - Die bessere Hälfte Russlands (Frauen)

16 - In Russland bewegt man sich stets zwischen Orwell und Kafka (Geheimdienste)

17 - Mit Russen lässt es sich schöner hocken (Haltung)

18 - Statt der Liebe … hat der Russe Moskau (Hauptstadt)

19 - In Russland kann man sich entscheiden zwischen Plattenbauten und platten Bauten (Häuser)

20 - Russland mag sich selbst leider am meisten (Image)

21 - Die Schneekugel muss in Russland erfunden worden sein (Klima)

22 - Der reiche Russe kauft sich einen Richter (Korruption)

23 - Die russische Seele singt “Always look on the dark side of life” (Leben)

24 - In Russland ist oben noch oben und unten noch unten (Management)

25 - Die harte Schale wurde von russischen Männern erfunden (Männer)

26 - Alle russischen Medien sind gleichgeschaltet – aber manche sind gleichgeschalteter als andere (Medien)

27 - Russland ist kein guter Ort, um krank zu werden (Medizin)

28 - Für die russische Truppe ist Russland der größte Feind (Militär)

29 - In Russland muss das Pokern erfunden worden sein (Mimik und Gestik)

30 - In Russland stehen Randgruppen noch am Rand (Minderheiten)

31 - In Russland steht die Bühne hinter einem eisernen Vorhang (Musik)

32 - Russische Naturschauspiele entpuppen sich gerne als Dramen (Naturgewalten)

33 - In Russland ist der rechte Rand keine Randerscheinung (Neonazis)

34 - In Russland sprudelt das Geld aus dem Boden (Öl und Gas)

35 - Dabeisein wird in Russland zum teuren Unterfangen (Olympiade)

36 - Das russische Parlament ist voll mit Putins Pudeln (Politik)

37 - Die russische Polizei – kein Freund und Helfer (Polizei)

38 - In Russland steht noch ein echter Mann an der Spitze (Präsident)

39 - Russland stellt sich selbst die Gretchenfrage (Religion)

40 - Die größte Servicewüste liegt in Russland (Restaurants)

41 - In Russland ist jeder Tag ein Sabotag (Sabotage)

42 - In Russland sind manche anderer als andere (Schwule und Lesben)

43 - Nur Abtreibungen sind in Russland populärer als Scheidungen (Sex)

44 - Sicherheit gibt’s in Russland mit Sicherheit nicht (Sicherheit)

45 - Russische Sprache schwere Sprache (Sprache)

46 - In Russland führen alle Wege nach Moskau (Straßen)

47 - Die Russen konsumieren wie die Amis und schimpfen dann über den Kulturimperialismus (Supermärkte)

48 - Russische Technologie ist der Hammer und die Sichel (Technik)

49 - In Russland ist die Welt zu Gast bei Feinden (Tourismus)

50 - Der Russe hat an jeder Poolbar einen Deckel (Russische Touristen)

51 - Die russische Natur ist vom Aussterben bedroht (Umwelt)

52 - Der Russe hat mehr Geduld als Sie und ich zusammen (Öffentlicher Personennahverkehr)

53 - Russland pflegt ein taktisches Verhältnis zu Tatsachen (Wahrheit)

54 - Der Kälte zum Trotz: Seit zwei Jahrzehnten läuft die russische Wirtschaft heiß (Wirtschaft)

55 - Und zum Schluss die Vorhersage für 17 Millionen russische Quadratkilometer (Zukunft)

Autor Alex Albrecht

Impressum

1 - Auch aller russischer Anfang ist schwer (Einleitung)

Oft werde ich gefragt, ob meine Zeit in Russland mein Leben nicht ungemein bereichert habe. Die Antwort lautet »Nein«, denn gelegentlich kommen die Erinnerungen hoch.

Das mag zunächst harsch klingen, aber lassen Sie es mich erläutern. Als ich nach meinem Studium mit der Chance konfrontiert wurde, regelmäßig aus Russland zu berichten (»Willste Geld verdienen?« – »Joa, schon ...«), musste ich nicht lange nachdenken, denn diese Möglichkeit brachte mich nicht nur in Lohn und Brot, sondern in einen sehr großzügigen Lohn und sehr nahrhaftes Brot. Insofern habe ich dem Land viel zu verdanken; als Sprungbrett für die Karriere war es ideal.

Die rasche Zusage zu diesem Angebot war zum Teil meiner Naivität geschuldet. Für mich war Russland – wie wohl für viele Menschen – das große Land im Osten, über das man wenig weiß und über das man sich noch weniger Gedanken gemacht hat. Eben keine Destination, zu der man seinen nächsten Urlaub plant. Nicht die USA. Klar, die Klischees vom Alkohol und dem Bären auf dem Einrad waren auch mir bekannt, aber das sind eben nur Klischees – wie der Alltag im Riesenreich aussah, davon hatte ich keinen blassen Schimmer.

Daher kann ich auch guten Gewissens behaupten, der Nation eine faire Chance gegeben zu haben. Ohne große Erwartungen bin ich nach Russland gereist – einmal, zweimal, irgendwann x-mal –, aber dennoch bin ich mit dem Land nicht so recht warm geworden. Sowohl in Sotschi, wo ich die meiste Zeit verbracht habe, als auch in den zahlreichen anderen Städten quer durchs Land: Schon bald habe ich bemerkt, wie mich bei jeder Heimreise ein wohliger Schauer der Vorfreude überkam und wie mir die vergleichsweise dröge Welt des Ruhrgebiets nach langen Russlandaufenthalten plötzlich so bunt und lebensbejahend vorkam.

Wobei diese Gefühlslage nicht repräsentativ sein muss: Während meiner Zeit vor Ort habe ich zahlreiche Leute kennengelernt, denen es ganz anders ging – und die sogar mit dem Gedanken gespielt haben, sich in Russland niederzulassen.

Das ist, in Essenz, auch die erste der 55 Erkenntnisse dieses Buches. Irgendetwas stimmt nicht so ganz mit dem großen Nachbarn – und: 55 Kapitel reichen streng genommen nicht aus, um diese Merkwürdigkeiten zu dokumentieren.

Vieles, so habe ich den Eindruck, muss einfach einmal gesagt werden – so groß und wichtig Russland sein mag, darf es gegen Kritik nicht immun sein.

Kaum begann ich mit dem Sammeln von Ideen und der ernsthaften Recherche zu diesem Text, zeigte sich, dass es weitaus mehr solcher Themen und weitaus mehr Material gibt, als ich mir jemals hätte träumen lassen. Das erstaunte mich – denn Bücher zu Russland gibt es reichlich, doch die meisten fokussieren sich auf die Geschichte und die Politik.

Sicher kommt kein Werk über Russland ohne diese Themen aus, doch fehlte es bislang an einem Buch, dass die Nation in ihrer (wortwörtlichen) Breite präsentiert, inklusive all der gesellschaftlichen Fragen, die relevant und vor allem interessant sind.

Das will dieses Buch ändern – mit 55 kuriosen, unterhaltsamen, schrägen, teils sarkastischen, aber auch ernüchternden Einblicken in eine Gesellschaft, die uns auch Jahrzehnte nach dem kalten Krieg immer noch fremd ist. Dabei bietet Russland dem interessierten Reisenden eine ganze Menge – nur setzt es ein entsprechendes Interesse, Engagement und Geduld voraus.

Am besten ist daher: Lassen Sie sich von diesem Buch nicht abschrecken. Lassen Sie sich lieber inspirieren, informieren und unterhalten – und bilden Sie sich Ihre eigene Meinung über den großen Nachbarn!

2 - Erich von Däniken wäre in Russland bestens aufgehoben (Aberglaube)

Stellen Sie sich vor, Sie sind bei einer russischen Familie eingeladen. Nett, wie Sie natürlich sind, entscheiden Sie sich, eine Aufmerksamkeit für die Dame des Hauses mitzubringen. Wenn Sie dann klingeln, der Person, die Ihnen die Tür öffnet, zur Begrüßung die Hand reichen und der Gastgeberin einen Strauß womöglich gelber Blumen in womöglich ungerader Anzahl überreichen, ist das Fiasko schon perfekt. Was ist schiefgelaufen?

Ganz einfach: Der Russe an sich ist abergläubisch. Sehr sogar. Es bringt Pech, jemandem über die Türschwelle die Hand zu reichen. Gleiches gilt für eine ungerade Anzahl an Blumen, gelbe gehen darüber hinaus schon gar nicht. Und überhaupt: Frauen kann man doch nicht die Hand geben!

Sollte das zunächst ein wenig verwirrend klingen, darf ich Sie beruhigen – jedes Land dieser Welt hat seine kuriosen Eigenarten. Aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Russen eine ausgeprägte Tendenz haben, auch jedem Aberglauben aufzusitzen. Ist es mal still am Esstisch? Dann wurde gerade ein Polizist geboren. Sie laufen pfeifend umher? Das ist schlecht für den Wohlstand. Und Sie tun dies auch noch zwischen dem 1. und 31.8.? Komplett verloren, denn alles Schlechte passiert im August.

Für Wahrsager, Astrologen und Wunderheiler kann es kaum eine dankenswertere Kundschaft geben.

***

Ich selbst hatte das Vergnügen, Ende 2011 durch den Kaukasus zu reisen. Der eine oder andere mag sich noch schwach erinnern, dass am 21.12.2011 wieder einmal die Welt untergehen sollte – zumindest wenn man ein paar Wahnsinnigen geglaubt hätte, die mit dem Ende eines Maya-Kalenders zugleich das Ende der Zivilisation kommen sahen. Berichtet wurde darüber in vielen Ländern, meist in spöttischem Ton, doch zumindest im Kaukasus bereiteten sich viele Menschen ernsthaft auf das nahende Ende vor. Unser Übersetzer bestätigte, dass sich selbst hochrangige Politiker (oder Warlords, das weiß man da unten nie so genau) mit Kerzen und Konserven eingedeckt oder viel Geld in das zweifelhafte Privileg investiert hatten, ein paar Nächte in einem Bunker ausharren zu dürfen.

Überzeugt Sie noch nicht? Dann lauschen Sie den Verschwörungstheoretikern im Lande. Im Februar 2013 stürzte ein großer Meteorit vom Himmel herab und explodierte unweit der Stadt Chelyabinsk; eine Handvoll spektakulärer Videos, aufgenommen zumeist von russischen Dashcams, ist überliefert. Dass Russland als flächenmäßig größter der Staat der Welt natürlich auch das größte Risiko hat, aus dem All getroffen zu werden, war aber selbst prominenten Politikern als Erklärung unzureichend. Der damalige Vorsitzende der Liberaldemokraten verkündete schon am nächsten Tag, es seien die Amerikaner gewesen, die eine neue Waffe getestet hätten, um Russland zu provozieren.

Damit war die Bühne für die Aluhutträger errichtet, und obwohl Stücke des Meteoriten mittlerweile über alle Welt verteilt sind – sie wurden in einige Medaillen der Winterolympiade in Sotschi eingearbeitet –, sind noch nicht alle skeptischen Stimmen verstummt. Die USA müssen doch dahinter stecken ...

So manche absurde Idee wird direkt von staatlicher Seite verbreitet – üblicherweise dann, wenn man den bösen Vereinigten Staaten etwas anhängen kann. Manchmal ist das kalkulierte Propaganda, gelegentlich bloß einfache Blödheit. So erzählte George W. Bush von den schwierigen Begegnungen mit seinem Pendant Putin, der auf Basis absurder Fiktionen diskutieren wollte: Putin sei sicher gewesen, in Amerika existierten zwei Sorten von Fleischfabriken – die guten und die schlechten, wobei letztere nur an Russland lieferten. Der Importstopp für US-amerikanische Hähnchenschenkel ließ nicht lange auf sich warten.

Weitere Beispiele gefällig? Die amerikanische Notenbank, das ist klar, druckt nur massenweise Dollar, um russische Unternehmen aufzukaufen. Und: Die CIA sammelt genetisches Material von Russen, um daraus biologische Waffen zu entwickeln – natürlich gegen Russen. Die Reihe der illustren Theorien ließe sich noch endlos weiterführen.

***

Viele Russlandkenner argumentieren, der Hang zum Aberglauben sei überhaupt nicht verwunderlich – nach jahrzehntelanger Unterdrückung jeglicher Glaubensform seien Russen eben besonders empfänglich. Und offiziellen Informationen kann man ohnehin nicht trauen. Ob man sich dann in der Kirche trifft oder gleich einer Endzeitsekte anschließt – wo ist der Unterschied?

Sekten sind übrigens in Russland alles andere als unpopulär; eine knappe Million, so wird geschätzt, gehören den verschiedensten religiösen Splittergruppen an. Bemerkenswert ist hier vor allem der Vissarion, eine selbsterkorene Reinkarnation von Jesus Christus – nur dass er sich dieses Mal gegen den Nahen Osten und für Sibirien entschieden hat. Mehrere Zehntausend Menschen hängen an seinen Lippen, wenn er kryptisch-mystische Botschaften über die Liebe und das Leben aushaucht. Ihre Freizeit verbringen seine Anhänger in Modelldörfern, die den klangvollen Namen Ökopolis Tiberkul tragen, mit Glücklichsein. Wie diese Geschichte ausgeht, werden wir in ein paar Jahren in der Zeitung lesen.


Aber ...

Die Verschwörungstheorien kommen übrigens nicht nur aus Russland – die Nation ist auch beliebtes Ziel ausländischer, äh, Skeptiker. Als 2014 Berichte über ein kasachisches Dorf auftauchten, in dem jeder zehnte Bewohner unter spontaner Schlafsucht litt, bei der die Betroffenen bis zu einer Woche am Stück ausschliefen, dauerte es nicht lange, bis die Schuldigen identifiziert waren. Es waren, natürlich, die Russen – die zu Sowjetzeiten in einer nahegelegenen Mine merkwürdige Dinge veranstaltet hatten, die nun dafür sorgten, dass sich alle so erschöpft fühlten.

Selbst wenn die Regierung ihre Hände nicht im Spiel hat, so ist die Weite Russlands trotzdem prädestiniert für merkwürdige Theorien – oder wo sonst sollten Aliens ihre radioaktiven Metalldome vergraben, wenn nicht in der sibirischen Taiga?

3- Über russischen Wolken muss das Chaos wohl grenzenlos sein (Airlines)

Wir schreiben den 23. März 1994. Aeroflot-Flug 593 ist mit 63 Passagieren unterwegs auf einem ruhigen Flug von Moskau nach Hongkong. Irgendwo über dem Nirgendwo Sibiriens überkommt einen der Piloten die Spitzenidee, seine Kinder für eine Weile ans Steuer der Maschine zu lassen. Es kommt, wie es kommen muss – drei Minuten später liegt das Flugzeug in Einzelteilen in der Taiga. Alle Passagiere und Besatzungsmitglieder kommen ums Leben.

Sicherlich – das ist nur ein einzelner kurioser Unfall, von dem alleine man nicht auf den Stand der russischen Luftfahrt schließen sollte. Und doch kann er als exemplarisch gelten.

***

Zu kommunistischen Hochzeiten galt die staatliche Fluglinie Aeroflot als – mit deutlichem Abstand – größte Fluglinie der Welt. Doch kaum ein Monat verging ohne Zwischenfall: Russen, die mit hochsubventionierten Tickets auf obskuren Routen durch die Sowjetunion düsten, gingen mitunter ein Risiko ein, dessen sie sich selten bewusst gewesen sein dürften. Alleine in den Krisenjahren 1990 bis 1994 musste Aeroflot über siebzig Flugzeuge abschreiben; bei zahlreichen der Unfälle waren Todesopfer zu beklagen.

Nach dem Fall der Sowjetunion änderte sich auch vieles in der Luftfahrt – wenn auch langsam und nicht umfassend. Ohne die Bezuschussung waren Flugreisen plötzlich wieder nur für die Elite erschwinglich. Der Markt kollabierte und die einst riesige Aeroflot wurde in zahlreiche kleinere Gesellschaften zerschlagen. Unter gleichem Namen ist bis heute die staatliche Fluglinie unterwegs – immerhin seit fast zwei Jahrzehnten ohne schwerere Zwischenfälle. Aber ist das die Regel?

Mobilität in Russland erfordert einen hohen Blutzoll – das gilt auch für die Luftfahrt. Heute gilt die Nation als eine der rückständigsten Weltregionen, was die Flugsicherheit anbelangt. Einige Experten sehen das einstige Riesenreich im Ranking sogar hinter den größten Problemzonen Zentralafrikas. Das ist insofern tragisch, als dass die allermeisten Unfälle russischer Fluglinien völlig vermeidbar wären – sind sie doch meist auf einen von zwei Faktoren zurückzuführen: veraltete Technik oder menschliche Selbstüberschätzung.

Während die meisten respektablen Airlines in Russland nur noch mit westlichem Fluggerät (oder den neuesten russischen Modellen) unterwegs sind, gibt es noch zahlreiche Regionalfluggesellschaften, die mit antiquiertem Gerät operieren.

Hätte ich Probleme damit, in ein solches Flugzeug zu steigen? Nein, zumindest nicht, solange es nicht losfliegt. Denn dann wird es zu einer (unkomfortablen) Runde Russisch Roulette. Viele Maschinen haben über dreißig oder vierzig Dienstjahre auf dem Buckel, sind lauter als mancher Düsenjäger und technisch restlos überholt. Man muss nicht einmal davon ausgehen, dass russische Technik per se der westlichen unterlegen sei – aber für viele der alten Typen werden gar keine Ersatzteile mehr produziert (oder die Airline kann sich diese nicht leisten). Es ist in Russland völlig normal, einen Fuhrpark von einem Dutzend Maschinen zu halten – als Ersatzteillager für eine kleine, gerade noch so flugtüchtige Flotte. Wer nach Moskau einfliegt, wird aus diesem Grund zunächst große Flugzeugfriedhöfe bestaunen dürfen. Dutzende ausgemusterte Maschinen warten hier auf eine bessere Zukunft, die niemals kommen wird. Viele von ihnen gehören zu Gesellschaften, die schon längst pleite sind – und deren Geschichte immer die gleiche ist. Eine todesmutige Crew fliegt eine letzte Rotation mit einer Maschine, die nicht mehr zu gebrauchen ist, und schleicht sich nach der Ankunft unschuldig pfeifend davon. Die Fluggesellschaft geht derweil bankrott, während der Flughafen – einer kuriosen Rechtsprechung sei Dank – auf der Altlast sitzen bleibt.

Wie angedeutet, ist westliches Fluggerät in Russland mittlerweile die Norm. Flugzeuge, die anderswo aus Altersgründen ausgemustert werden, finden bestenfalls in Sibirien ein neues Zuhause. Die neuesten Flugzeugmodelle sind bei den großen Airlines Standard, offiziell besitzen tut sie aber kaum eine: Da die russische Regierung es viel lieber sieht, wenn heimisches Fluggerät eingesetzt wird, existieren absurd hohe Importzölle, weshalb die meisten neuen Maschinen offiziell in Irland registriert sind – ein bisschen so wie bei all den Schiffen, die in Panama oder Liberia beheimatet sind.

In Russland schafft man es allerdings auch ohne Probleme, modernste Flugzeuge in den sprichwörtlichen Sand zu setzen. Oft liegt das Problem dabei zwischen Sitz und Steuer, oder, wie die Einheimischen es mit unverhohlenem Stolz vorbringen: »Russische Piloten sind die besten Piloten«, obwohl es »mutig« heißen müsste – eine Eigenschaft, die bei Linienpiloten kontraproduktiv ist. Hilfreich wäre dagegen gutes Englisch ...


Harte Fakten

Und das passiert in der Folge: Piloten glauben, sie können ohne Schlaf, aber mit Restalkohol navigieren (2008, Aeroflot Nord 821, 88 Tote). Piloten glauben, Enteisung sei etwas für Weicheier und sie würden den Schnee und das Wetter besser kennen (2012 UtAir 120, 31 Tote). Oder Piloten glauben, sie würden die Technik beherrschen, obwohl ihnen die notwendige Erfahrung fehlt (2013, Tatarstan 363, 50 Tote).


Fairerweise muss man aber sagen, dass die Veränderungen der Zeit auch in der russischen Luftfahrt ansetzen – langsam, aber beständig. Heute in Russland zu fliegen, ist ein großer Fortschritt gegenüber den Zeiten, als Ausländer nur nachts reisen und nicht am Fenster sitzen durften – aus Sorge, sie könnten spionieren.

4 - Ganz Russland sieht alles doppelt. Ganz Russland sieht alles doppelt. (Alkohol)

An Schlaf ist nicht zu denken – nicht bei diesen Geräuschen. Aus dem Nachbarzimmer dringen Klagelaute, die ich nicht zuordnen kann. Mal ein Wimmern, mal ein Jaulen, mal ein Stöhnen – könnte ein Hund, ein Affe oder ein räudiger Kater sein. Oder Dr. Moreau, der ein paar spannende wie unnötige Operationen durchführt.

In unregelmäßigen Abständen werde ich so unsanft aus meinem Halbschlaf gerissen. Wesentlich furchteinflößender war es aber, nach dem Aufstehen zu realisieren, dass im Zimmer nebenan keine Orgie stattgefunden, sondern bloß ein Pilot seinen Rausch ausgeschlafen hat – um nun in seiner verknitterten Uniform erneut den Dienst anzutreten (womit auch ein schöner Bogen zum vorigen Kapitel geschlagen wäre!).

***

Seien wir ehrlich – das Erste, was man intuitiv mit Russland in Verbindung bringt, ist Wodka. Und wenn wir ganz ehrlich sind, ist das auch angemessen. Gerne und viel getrunken wird in den meisten Ländern dieser Erde, doch so destruktiv wie in Russland ist es nirgendwo.

An vielen Flughäfen des Landes ist es üblich, dass die Angestellten vor Dienstbeginn beim Arzt vorstellig werden müssen – um ihre Tauglichkeit zu überprüfen. Dass jemand »krank« nach Hause geschickt wird, geschieht häufig. Wenn eine solche ärztliche Kontrolle nicht stattfindet, schläft so mancher Russe seinen Rausch einfach bei der Arbeit aus. Selbst dann, wenn er Taxifahrer ist.


Harte Fakten

Alkoholmissbrauch ist in Russland so etwas wie eine »natürliche Todesursache«. Inoffiziell gelten rund 10 % der Bevölkerung als alkoholkrank (in Deutschland sind es etwa 2 %). Das mag zunächst übertrieben klingen, aber Langzeitstudien bestätigen, dass der gute russische Wodka so manches Leben zerstört. Rund ein Viertel aller Männer erreicht nicht das fünfzigste Lebensjahr – und meist spielt der Alkohol beim verfrühten Ableben eine Schlüsselrolle. Der Konsum von drei oder vier Flaschen Wodka pro Woche gilt dabei nicht als auffällig.


Wie sehr Russland vom Alkohol abhängig ist, zeigt sich deutlich in den Statistiken der vergangenen Jahrzehnte. Gorbatschow machte sich 1985 beim Volk reichlich unbeliebt, als er seine »Anti-Alkohol-Politik« einführte. Durch höhere Preise und Restriktionen beim Verkauf wurde der Konsum von Alkohol um ein Viertel gedrückt. Obwohl der Schwarzmarkt vorhersehbar anschwoll, sanken die Todesraten deutlich. Mit dem Zusammenfall des Kommunismus stieg der Konsum – zusammen mit den Todesraten – zurück auf das altbekannte Niveau.

2006 folgte dann die nächste Welle an Restriktionen; der Verkauf fiel um ein Drittel und der gewiefte Leser ahnt bereits, dass es bei den Sterbefällen ähnlich verlief. Wie in nordischen Ländern ist es in Russland nun mitunter schwierig, abends Alkohol zu erwerben. Und – heuer wird sogar akzeptiert, dass Bier ein alkoholisches Getränk ist.

Diese durchaus positiven Entwicklungen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Trunksucht ein russisches Alltagsphänomen bleibt. Tagsüber und sturzbesoffen? Danach dreht sich hier keiner um. Und: Das Trinken gehört zum Zusammensein – wie in kaum einem anderen Land ist es ein Affront, beim Miteinander, ob geschäftlich oder privat, nicht vom gemeinsamen Wodka kosten zu wollen. Das sekundäre Problem daran: Menschen, die viel trinken, haben eines gemeinsam. Sie sind sterbenslangweilig, denn ihr einziges Ziel ist der Alkohol und all ihre Anekdoten drehen sich um den Suff.


Praxistipp

Als einzig plausible Ausreden gelten, dass man a) noch fahren muss oder b), noch effektiver, dass man nicht trinken darf. Der Arzt habe es verboten, dazu ein wissendes Nicken – den subtilen Verweis auf ein Alkoholproblem respektiert selbst der Russe.


Diese Ausflüchte zu kennen, ist übrigens lebensnotwendig, denn es kann passieren, dass man – mit durchaus guten Absichten – einen Chateau Methanôl serviert bekommt, der in der heimischen Badewanne zusammengebraut wurde. Noch heute entsinne ich mich an den Geruch eines solchen Gebräus, dass uns ein hochbezahlter Manager als Zeichen seiner Gastfreundschaft überreicht hat – es hätte Chuck Norris zum Weinen gebracht.

Aber der Abfluss unter der Spüle, der war danach endlich frei!

5 - Der Russe an sich ist ein Naturbursche (Ausflüge)

Und was macht der Russe eigentlich mit seiner Freizeit? Wer kann, geht raus. Raus aus der Stadt, rein ins Grüne: Wer immer es sich leisten kann – also auch einfache Familien –, verbringt so viel Zeit des Sommers wie möglich in seiner Datscha. In seiner eigenen Datscha, wohlgemerkt. Bei manchen handelt es sich um einfache Holzverschläge, bei anderen um kleine Paläste. Ihnen gleich ist aber der Grundgedanke, der Stadt zu entfliehen und so oft wie möglich mit der Familie aufs Land zu fahren. In Krisenzeiten hat der kleine Gemüseanbau im Garten übrigens nicht nur zur Entspannung beigetragen, sondern dabei geholfen, die Familie durch den Winter zu bringen.

Das führt dazu, dass zu sonnigen Wochenenden regelrechte Völkerwanderungen stattfinden. Doch selbst die dadurch oft stressige Anreise bringt den Russen nicht von seinem Vergnügen ab, zumindest für ein paar Stunden frische Luft zu bekommen.

Und sonst?

Nach so manchem Wochenende in Russland lautet die nüchterne Erkenntnis – so richtig viel mit Spaß und Unterhaltung hat das Land nicht zu bieten. Moskau und St. Petersburg bieten immerhin viel für die kulturell Interessierten, außerhalb dieser Zentren ist aber die eigene Kreativität gefragt.

Um nur ein Beispiel zu geben: Novosibirsk, drittgrößte Stadt des Landes, kommt fast komplett ohne Sehenswürdigkeiten aus. Eine berühmte Kirche gibt es. Auch eine Kapelle, die das Zentrum des ehemaligen Imperiums markiert. Oder Russlands längste gerade Straße, die hier ihren Ursprung findet. Und ein Mahnmal an den Krieg. Selbst der Bahnhof gilt als Attraktion, die beeindruckende Oper und der Zoo sind die großen Highlights der Stadtrundfahrt. Ach, und dann gibt es noch ein Ampeldenkmal.


Aber ...

Auch wenn Entertainment in Russland nicht großgeschrieben wird, so gibt es einige Überraschungen – allen voran die Begeisterung für die Oper und die klassische Musik. Durch staatliche Subventionen für Kulturbetriebe ist es möglich, dass sich auch kleinere Städte an durchaus hochwertigen Darbietungen erfreuen können. Der Besuch in Oper oder Theater ist dabei keineswegs ein elitäres Unterfangen – die Preise sind bewusst so niedrig gesetzt, dass sich »jeder« Russe seine Dosis Kultur leisten kann.


Was Russland anderswo an Vergnügungen bietet, lässt sich gut am Beispiel von Sotschi zeigen – der ehemalige Bonzenkurort am Schwarzen Meer ist einer der wenigen Städte Russlands, die sich an einem sehr milden Klima erfreuen können. Im Winter bleiben die Temperaturen meist zweistellig und im Sommer wird es heiß – so heiß, dass die Abkühlung im kühlen Meer mehr als gelegen kommt. Seiner göttlichen Lage ist es zu verdanken, dass Sotschi als Vorzeigeort für Events und Erholung gepusht wird.

Zu internationaler Berühmtheit gelangte die Stadt durch die Olympischen Winterspiele 2014 – vorher war sie außerhalb Russlands ein Geheimtipp für Reisende, die das Unentdeckte suchten. Doch die meisten von ihnen werden von Sotschi enttäuscht worden sein – so reizvoll die Natur, die die Stadt umgibt, so banal die Agglomeration.

Sotschi selbst versteht sich als das »Nizza des Ostens«. Auch ohne je in Frankreich gewesen zu sein, darf man das lustig finden, denn das Einzige, worin sich Sotschi mit den internationalen Top-Destinationen messen kann, ist das Preisniveau. Die russische Elite gibt sich hier ein Stelldichein, und im Sommer, wenn die halbe Nation ans Schwarze Meer strömt, explodieren die Preise.

Und was gibt es dafür? Eine mittelprächtige Stadt mit ein paar gelungenen Prunkbauten. Ein paar Clubs für Neureiche. Eine billige Strandpromenade, die jeder billigen Strandpromenade dieser Welt ähnelt. Ein Expat brachte es derbe auf den Punkt: »Der gleiche Scheiß wie überall – nur die Nutten sind teurer.«

Wer einen kleinen Ausflug unternehmen möchte, kann sich den lokalen Zoo ansehen, der allerdings nichts für Tierfreunde ist. Selbst riesige Schlangen und Vögel werden in Käfigen gehalten, in denen ein Hamster Platzangst kriegen würde. Besser ist ein Trip in den nahen Botanischen Garten – rauf geht es mit der altersschwachen Seilbahn (für die man aus unerfindlichen Gründen eine Transportversicherung abschließen muss), bergab geht es zu Fuß, vorbei an Vogelstraußen (hinter Gittern) und Eichhörnchen (freilaufend).

Sotschi, zusammengefasst: ein paar Parks, ein paar Denkmäler, ein paar Museen – fast wie jede andere Stadt dieser Welt.

6 - Russische Mobilität versprüht keine Freude am Fahren (Autos)

Besitzen Sie auch einen Lada? Nein? Oh. Würden Sie denn gerne einen besitzen? Auch nicht? Nicht einmal für einen Vorzugspreis? Jahreswagen? Nein? Wie – nicht einmal geschenkt?

Schon merkwürdig. In anderen Bereichen – allen voran der Luft- und Raumfahrt – konnten die Sowjets mit den westlichen Entwicklungen locker mithalten. Aber beim banalen Kleinwagen, da ist ihnen das nie gelungen. Wie sehr die russischen Modelle auch heute noch den Erwartungen hinterherhinken, zeigt sich daran, dass selbst unter den heißesten Kremlverehrern, Putinverstehern und Salonkommunisten (»Russland ist besser als Amerika!«) es keiner wagt, sein mühsam Erspartes für einen russischen Importwagen auszugeben. Klar – es ist leicht, mit einem Roman von Tolstoi umher zu spazieren; es ist noch leichter, russischen Wodka zu loben oder über Lenins Konzepte zu schwafeln. Aber wenn es ans Eingemachte geht – und, geben wir’s zu, zumindest für Deutsche sind Autos heilig –, dann zeigt sich schnell, wie untief das Vertrauen in die östliche Technologie wirklich ist.

Bloß – woher kommt die pauschale Abneigung gegen die russischen Fahrzeuge? Das populäre Fernsehmagazin Top Gear aus dem Vereinigten Königreich ist bei seinen Berichten über neue wie alte Autos notorisch schamlos – so auch in einer Episode, in der eine Handvoll Wagen sowjetischer Bauart getestet wurden. Das Ergebnis war durch die Bank vernichtend: Die Fahrzeuge erwiesen sich als zu schwer, unkomfortabel, unpraktisch, unzuverlässig, steuerten sich »wie trocknender Beton« und waren bereits seinerzeit technologisch veraltet. Fazit der Sendung: Die Kommunisten haben kein einziges vernünftiges Auto produzieren können.

»Carnappings«

Dass die Dreistigkeit von Autodieben gar keine Grenzen kennt, zeigt stellvertretend die Geschichte eines Alltagshelden aus 2012: Er sah, wie vor ihm ein Auto die Brüstung einer Brücke durchbrach und ins kalte Wasser stürzte. Mutig sprang er hinterher und konnte zumindest der Beifahrerin dabei helfen, ihr Leben zu retten. Zurück an Land musste er feststellen, dass man in der Zwischenzeit seinen Audi (Wert: 92.000 Dollar) samt Wertsachen geklaut hatte.