Willkommen!
Blogger schreiben für Flüchtlinge
Herausgegeben von Katharina Gerhardt, Caterina Kirsten, Ariane Novel, Nikola Richter, Frank O. Rudkoffsky, Eva Siegmund
#bloggerfuerfluechtlinge
ein mikrotext
ePub erstellt mit Booktype
Coverdesign: Andrea Nienhaus
Covermotiv: Tollabea
Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel
www.mikrotext.de – info@mikrotext.de
ISBN 978-3-944543-28-4
Alle Rechte vorbehalten.
© mikrotext 2015, Berlin / AutorInnen
Herausgegeben von Katharina Gerhardt, Caterina Kirsten, Ariane Novel, Nikola Richter, Frank O. Rudkoffsky, Eva Siegmund
Willkommen!
Blogger schreiben für Flüchtlinge
#bloggerfuerfluechtlinge
„Es scheint also, als stünde die eigentliche Völkerwanderung noch bevor“, so Hans-Magnus-Enzensberger 1992 in seinem Suhrkamp-Essay Die große Wanderung. Und 2015 sind wir mittendrin: Der Krieg in Syrien, der Nicht-Frieden in Afghanistan, die Armut in vielen Ländern des afrikanischen Kontinents sowie in Albanien und in den Staaten des ehemaligen Jugoslawien lassen Menschen zu Tausenden ins sichere und reiche Westeuropa fliehen. 23 Jahre nach Enzensbergers weitsichtigem Text sind wir als Mitmenschen gefordert. Der Staat allein kann es nicht richten.
Seit Enzensbergers Essay sind Nachrichten, Geschichten und Bilder mobiler und tausendfach schneller geworden. Die Grenzen im Publishing haben sich verändert: Der Krieg in Syrien ist via Mikroblogging über Twitter und Facebook in Echtzeit und ungefiltert bei uns; als Kommunikationsmittel für Geflüchtete sind diese Medien ohnehin unverzichtbar. Und die Flüchtlingshilfe ist mittels sozialer Netzwerke so schnell und effizient organisiert wie nie zuvor.
Die Blogger Paul Huizing, Nico Lumma, Karla Paul und Stevan Paul haben Ende August 2015 die Crowdfunding-Aktion „Blogger für Flüchtlinge“ ins Leben gerufen, um Spendengelder zu sammeln und Aufmerksamkeit zu generieren. Seitdem haben sich zahlreiche Menschen für diese Aktion engagiert, über sie berichtet, das Thema Flucht reflektiert und den Hashtag #bloggerfuerfluechtlinge viral verbreitet. Gestartet mit einem Spendenziel von 5.000 Euro, sind inzwischen weit über 130.000 Euro für die Flüchtlingshilfe zusammengekommen.
Die Idee, ein E-Book zur Aktion zu veröffentlichen, lag nahe. Nikola Richter von mikrotext war sofort bereit, die Infrastruktur ihres Berliner Verlags zur Verfügung zu stellen. Ebenso schnell fand sich via Aufruf im Netz ein ambulant-digitales Herausgeberteam, das seit September 2015 Geschichten von Geflüchteten und Helfern gesammelt, gesichtet und gebündelt hat. Die HerausgeberInnen haben übrigens amerikanische, brasilianische, deutsche, schwedische und schweizerische Pässe; unsere Vorfahren kamen aus Böhmen, Lettland, Norddeutschland, Nordhessen, Österreich, Ostpreußen, Sachsen, den Savoyer Alpen und Thüringen.
Dieses E-Book will die Solidarität, die so viele mit den Geflüchteten üben, sichtbar machen. Es will ein deutliches Zeichen setzen, dass die Hetzer nicht die Mehrheit sind. Wir verfügen über die digitalen Produktionsmittel, um uns diesen Menschen entgegenzustellen und einander unsere Geschichten zu erzählen. Nutzen wir sie.
November 2015
Katharina Gerhardt, Hamburg
Caterina Kirsten, Frankfurt
Ariane Novel, München
Nikola Richter, Berlin
Frank O. Rudkoffsky, Stuttgart
Eva Siegmund, Barcelona
Alle Autorinnen und Autoren haben ihre Texte kostenfrei zur Verfügung gestellt. Herausgeberteam und Verlegerin arbeiten ehrenamtlich. Der gesamte Erlös dieses E-Books kommt der Flüchtlingshilfe von Blogger für Flüchtlinge zugute. Die Texte haben wir weitestgehend chronologisch nach Erscheinungstermin (wenn vorhanden) geordnet.
TIPP: Wenn Sie sich für einen bestimmten Autor oder eine bestimmte Autorin, einen Ort, ein Thema, ein Motiv interessieren, nutzen Sie doch das Suchfeld Ihres Lesegeräts.
Sehr geehrte Beamtinnen, sehr geehrte Beamten,
ich, österreichische Staatsbürgerin, möchte mich mit diesem Schreiben an Sie wenden, da Sie uns ÖsterreicherInnen am 17. August 2015 um Hilfe gebeten haben. Sie haben an unsere konstruktiven Kräfte appelliert, von einem seriösen und sachlichen Dialog gesprochen. Sie sprachen von Zusammenarbeit.
Ich heiße Madeleine Alizadeh, bin 26 Jahre alt und seit einigen Wochen fahre ich fast täglich von Wien nach Traiskirchen. Ich kenne die Menschen dort beim Vornamen, weiß, welches Kind welche Süßigkeiten gerne isst. Ich habe syrische Freunde gefunden, mit denen ich am Sonntag essen gehe, während sie mir Schnitzel kauend arabische Wörter beibringen und ich ihnen versuche zu erklären, wieso ich kein Fleisch esse. Ich whatsappe täglich mit Menschen, die in Zelten schlafen, ich schicke ihnen Fotos vom Sofa zu Hause, sie schicken mir Selfies aus dem Zelt. Sobald es zu regnen anfängt, wird mir übel, weil das bedeutet, dass meine Freunde jetzt frieren. Am Telefon erkenne ich die Diakonie-Wohnservice-Mitarbeiter schon an der Stimme, oft schmunzeln wir, wenn wir zum vierten Mal in Folge an einem Tag telefonieren, und ich „kenne“ diese Menschen schon so gut, dass ich mich nicht mal mehr schäme, wenn ich vor lauter Verzweiflung ins Telefon schluchze.
Ich übersetze Arabisch mit Google Translate und ärgere mich einmal mehr, dass mein iranischer Vater nie Farsi mit mir gesprochen hat, weil ich meine afghanischen Freunde nicht verstehe. Meine Wohnung ist ein Lager aus Männerschuhen in Größe 40 bis 43 (ja, Syrer haben kleinere Füße als Österreicher), Schlafsäcken, Trolleys (Flüchtlinge brauchen auch Gepäck) und Dingen, die ich vorher nicht kannte (Milchpulver für Babys? Was ist das?). Ich habe meinen Job liegen gelassen, beantworte seit mehreren Wochen fast keine Mails mehr und widme mich nur mehr der Flüchtlingsthematik, weil meine Eltern mir beigebracht haben, nicht wegzuschauen, wenn jemand in Not ist.
Sie, das Bundesministerium für Inneres, haben sich an mich gewendet. Ich nehme Ihre Worte ernst, so wie es sich für eine devote und obrigkeitshörige Bürgerin gehört. Und weil ich Ihr Schreiben vom 17. August 2015 so ernst genommen habe, habe ich eine Unterkunft organisiert. Für eine irakische Familie. Eine Familie, deren Haus und Garten im Irak zerbombt wurde. Eine Familie, die einen Fußmarsch durch sämtliche osteuropäischen Länder hinter sich hat. Ein Vater, dessen Bruder erschossen wurde. Eine Mutter, die bereits zwei Fehlgeburten hinter sich hat. Ein Sohn, dem ein besseres Leben ermöglicht werden soll. Eine Familie, die in Traiskirchen nach dem Aufnahmestopp angekommen ist und drei Tage in einem Bus festgehalten wurde. Eine Familie, die täglich von der Polizei vor Ort beschimpft und bedroht wird. Eine Familie, für die ich eine Lösung finden wollte. Weil Sie uns BürgerInnen um Lösungen gebeten haben.
Diese Familie hat ein Zuhause, das sie nicht beziehen kann. Ein warmes Bett im Haus einer österreichischen Familie, die sie aufnehmen würde. Seit Tagen telefoniere ich mehrmals täglich, schreibe E-Mails, fülle Anträge aus, weine, schreie, fühle mich gelähmt und innerlich zerstört. Weil ich helfen möchte und nicht kann. Ich bin der deutschen Sprache mächtig, habe einen Hochschulabschluss, kenne mich als Selbstständige mit dem österreichischen Bürokratiedschungel ganz gut aus und bin sehr belastbar. Und trotzdem wird es mir unmöglich gemacht, zu helfen. Wie Sie bereits geschrieben haben: Pro Woche suchen 1.600 Menschen Schutz in Österreich. Sie schreiben: „In den nächsten Monaten – vor allem vor Einbruch des Winters – muss alles unternommen werden, um Obdachlosigkeit zu vermeiden.“ Sie schreiben auch, dass konstruktive Bemühungen, Quartiere zu realisieren und damit Menschen ein festes Dach über den Kopf zu geben, teils auf unterschiedlichen Ebenen auf Widerstand stoßen.
Den einzigen Widerstand, auf den ich stoße, sind Sie, liebes Bundesministerium für Inneres. Als österreichische Staatsbürgerin hatte ich bisher eine ganz gute Beziehung zu meinem Heimatland. Doch wir stecken in einer nachhaltigen Beziehungskrise. Es liegt nicht an mir, es liegt an Ihnen. Ich habe in dieser Beziehung mein Bestes gegeben: kommuniziert, respektiert, vertraut. Alles, was man in einer gut funktionierenden Beziehung halt so berücksichtigt. Ich versuche, mit allen Mitteln Ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen, doch Sie ignorieren mich und die Hilfe, die ich anbiete. Familie K. aus dem Irak schläft, während ich diese Zeilen schreibe, in einem komplett durchnässten Zelt in der Akademiestraße in Traiskirchen. 60 Kilometer entfernt steht Frau V. in dem Haus, das ich vermittelt habe, vor einem leeren Zimmer. Die Betten sind frisch bezogen, drei Handtücher liegen drauf: eines für die Mutter, eines für den Vater und eines für den Sohn. Jeden Tag schreibe ich Herrn K.: „Bitte lassen Sie den Kopf nicht hängen. Ich finde eine Lösung.“
Ich bin an dem Punkt angelangt, wo ich nicht mehr weiß, ob diese Lösung tatsächlich existiert. Ich bin an dem Punkt angelangt, wo ich nicht mehr weiß, ob Souveränität real oder nur ein abstrakter Begriff ist, den ich mal im Gymnasium aufgeschnappt habe. Ich bin an dem Punkt angelangt, wo ich nicht mehr weiß, was ich tun soll.
Denn ich bin verzweifelt. Weil ich helfen möchte und Sie mich nicht lassen.
Hochachtungsvoll,
Madeleine Alizadeh.
Erschienen am 20. August 2015 auf www.dariadaria.com.
In einem kleinen schwäbischen Dorf ohne Lebensmittelgeschäft und ohne Gastwirtschaft werden sechs schwarze Flüchtlinge einquartiert. Es gibt Vorbehalte. Und doch finden sich Menschen, die nicht nur helfen, sondern ihre Freundschaft anbieten.
In den ersten Wochen sitzt Mustapha in seinem Zimmer und schaut in den Fernseher wie eine Wüste. Er fürchtet sich. Vor der Vergangenheit, vor der Zukunft und vor der Lage in seinem Land. Ein paar Häuser weiter sitzt Brigitte an ihrem Küchentisch, lernt einen Theatertext und fragt sich, wie sie Mustapha die Furcht nehmen kann. Für die 76-Jährige sind er und die fünf anderen Flüchtlinge aus Gambia vom ersten Tag an Schützlinge. Seit einem halben Jahr leben sie jetzt hier im Dorf.
Die Männer kennen sich nicht, bis sie an einem Julitag in zwei Taxis sitzen, auf dem Weg zu ihrem gemeinsamen Haus, und die Landschaft an ihnen vorbeizieht. Wald und Hügel, Obstwiesen, Feldwege. Ackerland. Ein Steinbruch. Sie sprechen verschiedene Sprachen ihres Landes. Alle bis auf einen sprechen auch Englisch, Gambias Amtssprache. Der jüngste ist Mitte 20, der älteste 54.
Ihr neues Dorf hat einen Sportplatz, ein Feuerwehrhaus, eine Mehrzweckhalle, einen Schützenverein, eine Narrenzunft und keinen Supermarkt. 1.200 Einwohner leben in Familienhäusern mit gepflegten Gärten. Viele alte Höfe und Scheunen stehen leer. Hühner gackern. Das örtliche Gasthaus wurde im Dezember geschlossen – aus Altersgründen. Der Handyempfang ist schlecht. Der letzte Bus in die Stadt fährt wochentags um 19 Uhr.
Am Tag ihrer Ankunft ist Brigitte nicht da. In Empfang genommen werden die Männer von der Zuständigen des Landratsamts und von Brigittes Nachbarin. Monika wohnt auf der anderen Straßenseite und kannte das Haus schon, als darin noch eine alte Frau lebte. Seit sie starb, hat sich scheinbar nichts verändert. Vergilbte Blümchentapete, Linoleumboden, karger Flur. Eine knarrende Treppe führt zur Küche. Auf dem Tisch stehen eine Obstschale und Brot von Brigitte. Die Zimmer zweckmäßig: sechs Betten, ein paar Tische und Stühle. Im Treppenhaus ein Notfallknopf zur Polizei. Daneben eine laminierte Liste mit Notfallnummern. Wenn es ein Problem gibt, klingeln die Männer oft an Brigittes oder Monikas Tür.
Die Nachbarinnen kennen sich seit 30 Jahren, flüchtig. Erst ihr gemeinsames Engagement hat sie verbunden. Monika ist 62 und kommt von hier. Kurzhaarfrisur, fester Händedruck, ruhige Stimme. Brigitte, Jahrgang 1938, weißes Haar, war ihr Leben lang Schauspielerin. Mit ihrem Lebensgefährten Manfred wohnt sie in einem alten Bauernhaus. Obwohl sie schon lange Zeit hier leben, sind sie keine alteingesessenen Dorfbewohner, nehmen zum Beispiel nicht am Vereinsleben teil. Die Frage, wie man sich in einer Notsituation verhalten würde, „wenn es drauf ankäme“, beschäftigt das Paar schon lange.
Viele ältere Leute im Dorf wunderten sich anfangs darüber, dass die Männer immer ihre Handys am Ohr haben. Oder mit dem Handy draußen an der Grillstelle hinter dem Sportplatz sitzen. Weil der Empfang dort besser ist. „Das Handy ist ihre wichtigste Verbindung zu Freunden und Familie“, sagt Brigitte. „Mama Bibi“ sagen die Männer zu ihr. „Weil Bibi leichter auszusprechen ist.“ Sie hat zwei Söhne.
Vor einem halben Jahr schrieb Brigitte einen Leserbrief. Sie war erschrocken über die Reaktion mancher Leute am Informationsabend des Bürgermeisters, fühlte sich an die 1990er Jahre erinnert, als Fremdenfeindlichkeit weit verbreitet war. Monika saß im Publikum. „Es wurden skeptische Stimmen laut“, erzählt sie. „Das Dorf eigne sich nicht als Flüchtlingsunterkunft. Vorgeschobene Gründe wie die schlechte Verkehrsanbindung wurden genannt und dass es keine Geschäfte gibt.“ Am Ende der Veranstaltung sei sie aufgestanden: „Ich möchte, dass die Menschen willkommen geheißen werden. Wir müssen warten, wer kommt, und dann auf sie eingehen.“ Dann wünschte sie den Leuten eine gute Nacht und ging. Ein paar Tage später lud der Bürgermeister die beiden Frauen, eine Gemeinderätin und einen Pädagogen ins Rathaus, um zu überlegen, wie man die Flüchtlinge begrüßen könnte. „Ich war sehr erleichtert, dass es Gleichgesinnte im Dorf gibt“, sagt Brigitte rückblickend. Seit diesem Gespräch spüre sie dort einen Zusammenhalt, von dem sie ohne die Ankunft der Flüchtlinge nie erfahren hätte.
Viele Dorfbewohner unterstützen sie. Beim Deutschlernen, beim Einkaufen, im Alltag. Nachbarn brachten ihnen Fahrräder. Andere luden sie zum Fußballtraining ein. „Die Hilfe findet intuitiv statt, wir sprechen uns nicht ab“, sagt Brigitte. Sie nimmt die Männer mit ins Kino oder ins Café. „Wir geben ihnen jetzt, was wir können“, sagt Monika.
Sie und Brigitte vermitteln auch bei Missverständnissen. Weil die Männer sich gegenseitig nicht auf dem Laufenden halten, platzen schon mal Arzttermine oder Verabredungen. „Sie sind nicht unzuverlässig“, betont Brigitte. Meistens gäbe es einfache Erklärungen für ihr Verhalten, zum Beispiel fehlendes Guthaben auf dem Handy. Es gibt auch Situationen, in denen die Männer sich unwissentlich falsch verhalten. Neulich habe sie mit der Deutschen Bahn telefoniert. Die Männer hatten sich im Zug in die erste Klasse gesetzt. Sie sollten 80 Euro Strafe zahlen. „Sie haben sich halt die schönsten Plätze ausgesucht“, sagte Brigitte der Frau am Telefon. Am Ende war die Strafe nur halb so hoch.
„Stress“, nennt Mustapha die Kopfschmerzen, die ihn nachts nicht schlafen lassen. Vor drei Jahren hat der 36-Jährige sein Land verlassen. Er hatte Todesangst. Sein Fluchtweg führte ihn über den Senegal nach Spanien, wo er zwei Jahre lebte, teilweise auf der Straße. Bevor er ins Dorf kam, war er in Berlin, Karlsruhe, Mannheim. Er erzählt vom jüngsten Putschversuch in Gambias Hauptstadt Banjul. Vom Leiden der Bürger unter dem diktatorischen Stil des seit 20 Jahren regierenden Präsidenten Yahya Jammeh. Mustapha erzählt auch von seinen Schwestern, seinen Eltern, von – „Forget about that!“. Er bricht ab, seine Lippen beben. Dann möchte er lieber Deutsch üben.
Wenn er die Aufgaben wiederholt, kann er sich besser auf das Jetzt konzentrieren. Er hält die Blätter auf dem kleinen Tisch fest, als ob ein Wind sie davonwehen könnte. Seit Mustapha viermal in der Woche den Bus zum Deutschkurs in die Stadt nimmt, geht es ihm besser als in der Anfangszeit. Er würde gerne arbeiten. Am liebsten als Bäcker. Es ist bis dahin ein weiter Weg. Während der ersten 15 Monate haben geduldete Flüchtlinge kaum Chancen, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten, wenn es gleichqualifizierte deutsche Bewerber um eine konkrete Stelle gibt. Erst nach dem 15. Monat endet die sogenannte „Vorrangprüfung“.
Hinzu kommt, dass den sechs Männern aus Gambia jederzeit die Abschiebung droht. Das Land steht nicht auf der Liste der anerkannten Flüchtlingsländer. Eine allgemein unsichere Lage reicht für ihre Anerkennung nicht aus. 110.734 Menschen lebten Ende 2014 in Deutschland mit dem Status einer Duldung. Das heißt für Mustapha, dass er keine Aufenthaltserlaubnis hat und grundsätzlich ausreisepflichtig ist. Abgeschoben werden bedeutet, in Handschellen auf den Flughafen abgeführt und in ein Flugzeug gesetzt zu werden. Zurück in die Unsicherheit.
Aus Furcht, dass seine Adresse bekannt wird, möchte Mustapha nicht, dass der Name seines Dorfes genannt wird. Ob diese Furcht gefühlt oder real ist, macht keinen Unterschied. Furcht ist Furcht. Wenn man sie fühlt, dann wird sie zur Realität. Man muss aufpassen, dass sie einen nicht verschluckt. „Ich darf mir nicht vorstellen, wie es ist, wenn sie gehen müssen“, sagt Monika, „ich schiebe die Gedanken beiseite.“ „Immer wenn ich mit den Männern über die Zukunft spreche, bereue ich es hinterher“, sagt Brigitte. Wenn eine der Frauen länger wegfährt, sprechen sie sich vorher ab.
Mustapha zieht seine Jacke an, nimmt eine Mandarine und schließt die Haustüre hinter sich. Sechs provisorische Namensschilder kleben darauf. Im Türrahmen die Segensbitte der Sternsinger: C+M+B 2015. Er geht spazieren, Richtung Sportplatz. Ein Hochhaus ragt aus der flachen Landschaft. Es sollte mal ein Hotel werden. Heute befinden sich darin Sozialwohnungen. Es sei für ihn schwer, auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Zu Hause in Gambia hatte er ein eigenes Leben, Arbeit. Im Großhandel. Mit dem Verlassen seines Landes hat er auch ein Stück seiner Identität verloren.
„I like it here“, sagt Mustapha. Ihm gefallen die Häuser und Vorgärten mit Schaukeln und Rutschen. Es ist ein kalter Januartag. Wüsste man es nicht besser, könnte man denken, es seien Musterhäuser, ohne Bewohner. An einer Kreuzung weiß er nicht, ob er weitergehen oder umkehren soll. Wenn er den gleichen Weg durch die Siedlung zurückginge, stünden manchmal Leute im Fenster. „Sie kennen mich nicht.“ Einige hätten vielleicht noch nie einen Schwarzen gesehen. Er wolle sie nicht erschrecken. Und so geht er die große Runde. Ein Stück am Wald entlang.
Im Haus ärgert sich Alex, dass Mustapha ihn nicht geweckt hat. Der schmale Mann im Kapuzenpullover ist 28. Er wirkt jugendlicher, offener. Auf die Frage, wie es für ihn sei, mit den anderen im Haus zu leben, antwortet er mit einem Bild: „Nur weil die Zunge manchmal an die Zähne stößt, bedeutet es nicht, dass sie nicht zusammenleben können.“ Eigentlich seien nur drei von ihnen regelmäßig hier. Der Älteste, Saja, verstehe kaum Englisch und sei immer besorgt. Er wolle zurück in die Heimat, seine Familie komme nicht ohne ihn zurecht, es sei jedoch sehr schwer. Die zwei anderen, Lamin und Yaya, wohnten meistens bei Freunden in der Stadt.
Für Alex dagegen ist es wichtig, Zeit mit den Dorfbewohnern zu verbringen. „Bibi is like my mom.“ Er sagt, dass er jetzt hier lebe und sich über die Offenheit der Leute freue. Auf dem Fußballplatz spielt er mit Männern, die so alt wie sein Vater sind. „Es macht mir Spaß. Sie wissen, wer ich bin.“ Oben liest Ibrahim in seinen Büchern. Mit verschränkten Beinen und ernstem Gesicht sitzt er auf der Bettkante. Er hält sich an einem weißen Rosenkranz fest, sagt, dass er heute beschäftigt sei. „I read in my books.“ Es klingt so, als seien die Bücher Romane, die ihm wichtig sind. Dabei sind es die Deutschbücher, die Monika und Brigitte mit ihnen kauften.
Zwei Wochen später findet bei Brigitte und Manfred ein afrikanisches Essen statt. Brigitte steht vor dem Kühlschrank und findet keinen Quark. Manfred knackt im Wohnzimmer Nüsse.
Mustapha steht am Herd und rührt in drei Töpfen. Brigitte hat die hintere Platte vorsichtshalber runtergedreht. Aber das Gericht muss auf hoher Temperatur einkochen. Sie fürchtet, dass es anbrennt, aber will Mustapha machen lassen. Er ist der einzige der sechs Männer, der kochen kann. In Gambia kochen ausschließlich die Frauen. Auf offenem Holzfeuer. Mustapha tut sich schwer mit Brigittes Elektroherd. Er ist unzufrieden mit der Soße. Erdnussbutter ist bereits im Topf, Tomaten, Knoblauch und Fisch. Alex hat Okraschoten in Stücke geschnitten. Im Topf daneben kocht ein Gericht aus Palmöl und Cassava, einer kartoffelähnlichen Knolle. Die anderen Männer halten sich zurück, lehnen an Schränken und Stühlen und begrüßen neue Gäste. Lamin hat zum ersten Mal seine Freundin mitgebracht: eine amerikanische Literaturstudentin.
Es klingelt an der Tür, dann ein „Hallo“ und „Wie geht’s?“. Monika kommt rein, Brigitte umarmt sie, freut sich über den Kirschkuchen, den sie mitbringt. „Gott sei Dank sind wir alt“, sagt Brigitte. Die Befangenheit, falsche Hoffnungen bei den Männern zu wecken, falle dadurch weg. „Wir führen unser normales Leben weiter, aber sie haben etwas in Bewegung gebracht, unser Leben verändert“, sagt Monika. Heute also essen sie gemeinsam. Freunde von Brigitte, ein paar Leute aus dem Dorf, Marita, mit der sie oft Deutsch lernen, Waltraud, die neulich Ibrahim zu einem Fasnetumzug mitgenommen hat, und Peter, der mit ihnen die Zimmer im Haus streichen will. Brigitte klingelt mit der Gabel an ihrem Glas. „Dass wir heute hier zusammensitzen, haben wir vor einem Jahr noch nicht gewusst. Ich find’s wunderschön, dass ihr da seid.“
Mustapha verteilt Reis, erklärt, dass das Cassava-Gericht ein warmes Gefühl im Hals auslöse. Ibrahim ist der Einzige, der mit den Händen isst. Er nimmt den Reis hinein, die Soße. Monika schaut kritisch, dann lächelt sie ihn an. Über den Tisch hinweg ist ein großes Verstehen zwischen den beiden spürbar. Ibrahim hat sich ihr eng angeschlossen. „Er ist für mich fast wie ein Sohn“, sagt sie.
Manfred sitzt mit verschränkten Armen am anderen Ende des Tisches. Nicht verschlossen, zugewandt. Mit einem kleinen Lächeln. Der große breite Mann mit den buschigen Brauen und den kräftigen Händen ist der Ruhepol hier. Die Männer mögen ihn. Vielleicht, weil sie mit ihm einfach da sein können, ohne zu reden. Er spricht kein Englisch. Lamin ruft laut in einen stillen Moment hinein „Manfred“. Englisch ausgesprochen klingt es fast wie „My friend“.
Erschienen am 4. März 2015 in der Stuttgarter Zeitung.
Nachtrag: Inzwischen haben Alex und Mustapha einen Ausbildungsvertrag in einer KFZ-Werkstatt unterschrieben.
Meine Oma ist mir als hutzelige, kleine, etwas verplante Person in Erinnerung. Mit grauem Haar, in dem immer ein Rest Dauerwelle versuchte, Locken vorzutäuschen. Im höheren Alter hat Oma die Dauerwelle nur noch selten beim Friseur machen lassen. „Ach, Jung, dat ischa immer auch so düer.“
Sie sprach einen ganz eigenen Dialekt, der sich aus dem für Schleswig-Holsteiner typischen nordischen Slang, Plattdeutsch und Grammatikfehlern zusammensetzte. „Düer“, also teuer, ist ein Wort, das man oft von ihr hörte. Dies ist düer, das ist düer, fast alles war düer. Aber manches war ihr nie zu teuer. Dazu gehörte auch ihr einziger Enkel, also ich.
Was mich anging, war sie immer sehr großzügig. Besonders zu Weihnachten und an Geburtstagen. Ich hatte, wie so viele, irgendwann im jugendlichen Alter begonnen, mir von ihr Geld anstelle von Geschenken zu wünschen. Dies wurde dringend notwendig, als ich feststellte, dass sie beim besten Willen nicht lernen wollte, dass ich einen eigenen Kleidungsgeschmack entwickelt hatte und schon mit 15 Jahren als Mofarocker keine Pullunder mehr tragen wollte. Nein, Oma, weder einfarbig noch mit Karomuster. Nein, Oma, wirklich nicht, vielen Dank. Um diesen regelmäßigen Diskussionen und den Pullundern zu entgehen, besprach ich mich mit meinen Eltern, und wir sagten Oma gemeinsam, dass es besser wäre, dem Jungen lieber das Geld zu schenken, das der Pullunder gekostet hätte.
Tja, da begannen goldene Zeiten für mich, denn Oma legte auf das Geld, das der Pullunder gekostet hätte, immer eine ordentliche Schippe obendrauf. Und dazu gab es dann auch immer noch etwas zum Naschen, meist etwas aus ihrer Naschwerksammelschublade. Da kamen immer Pralinengeschenke anderer alter Leute hinein, die diese Pralinen wiederum aus ihrer Schublade hatten, in der sie Pralinengeschenke anderer alter Leute sammelten, und so weiter. Manchmal hatte ich aber auch Glück und Oma hat extra was für mich gekauft, von dem sie glaubte, ich mochte es, was auch manchmal stimmte. Solche Sachen kaufte sie auf Vorrat, wenn sie im Sonderangebot waren. So erhielt ich bereits zu einer Zeit lagerungsbedingt weißlich verfärbte Schokolade, als es noch gar keine weiße Schokolade im Handel gab.
Aber zurück zum Geld. Das Besondere an Omas großzügigen Geldgeschenken war, dass Oma eigentlich gar nicht viel Geld hatte. Sie hatte eine gewisse Summe auf der Bank, die von ihr über viele Jahre harten Arbeitslebens zusammengespart wurde und durch einen kleinen Teil Lebensversicherungsauszahlung ergänzt worden war, aber dieses Geld wurde viele Jahrzehnte nicht angerührt. Notgroschen eben. So lebte sie von einer äußerst mickrigen Rente, denn sie hatte Zeit ihres Lebens als „Zugehfrau“ und Putzfrau gearbeitet, was ihr nicht viel Geld eingebracht hatte. Zumal vieles von dem Geld von ihrem Mann, meinem Opa, in Alkohol investiert wurde.
Er kam als Kriegsheimkehrer sein Leben lang mit seinen Erinnerungen an die russische Gefangenschaft nicht zurecht und betäubte sich mit Schnaps. Er starb früh und hinterließ kaum gute Erinnerungen an ihn in uns allen. Und meiner Oma nur eine kleine Witwenrente, da er früh schon seine Jobs verlor und nicht mehr arbeiten konnte.
Oma hatte auch böse Erinnerungen an den Krieg, aber sie hatte keine Zeit für Alkohol, sie musste arbeiten. Harte Arbeit auf dem Land. Den Bauern, die sie bezahlten, die Wäsche waschen, Essen kochen, putzen, auf dem Feld helfen, eben die Arbeit einer Haushaltshilfe und Landarbeiterin. Um genug Geld zu haben, hatte sie mehrere Arbeitsstellen, das hielt sie fast bis zu ihrem Tod so. Ja, und dann hatte sie auch noch zwei Töchter großzuziehen. Sie zog diese Töchter mit harter Hand groß, streng und mit Schlägen, wenn es ihrer Meinung nach sein musste. Das war damals leider noch üblich; auch in der dörflichen Volksschule, auf die meine Mutter und Tante gingen, wurden Schüler noch vom Lehrer gezüchtigt, wenn sie nicht spurten.
Ich habe die harte Hand meiner Oma in meinem ganzen Leben nie zu spüren bekommen. Ich hatte alle erdenklichen Enkelprivilegien. Ich durfte auch mal frech sein. Dann gab es von ihr ein strenges „Na, na, na! Nu is abba gut, Jung!“ und das reichte auch. Ich wollte Oma ja nicht allzu sehr verärgern.
Ich erinnere mich an viele gute Tage mit Oma. Wie wir in ihrem kleinen Garten rohe Erbsen naschten. Wie ich ihr begeistert eine bestimmt fünf Kilo schwere Kröte (na gut, ich war noch klein, sie war vielleicht etwas leichter in Wirklichkeit, vier Kilo oder so) unter die Nase hielt und sie sehr tapfer ihren Ekel hinunterschluckte und sagte: „Och, die ischa man groooß, Jung. Nu musstu die abba fix torückbringen, von wo du die herhast, da ist irgendwo ihre Familie. Sonz wird die gaaanz unglücklich.“ Immerhin, solche Aussagen, in Angst getroffen, lehrten mich Respekt vor Tieren und den Gefühlen, die sie ja ganz offenbar haben mussten. Wenn Oma das schon sagt.
Egal, was ich für Probleme hatte, zu Oma konnte ich immer kommen. Pubertätsprobleme mit den Eltern? Oma hatte Verständnis. Die Eltern wollen mir den Motorradführerschein nicht zahlen? „Oha, du willz Motorrad fahren? Dat is doch gefääährlich! Na sowat. Hier hast du 200 Mark, die gebich dir zum Führerschein druffzu. Aber du daafs nich rasen mit dem Motorrad, ne?“
Einige Jahre vor ihrem Tod, als sie immer mehr Probleme mit ihren Knochen bekam („Oma, du hast Osteoporose, damit musst du zum Arzt.“ – „Achwat, son Tüdelkram, Ossoporohse. Ich tu hier son Pferdefett auf die Knie, reib das orntlich ein, denn geiht dat uck wedder.“), chauffierte ich sie manchmal umher oder kaufte für sie ein. Bescheidene Essensvorräte, großzügige Toilettenpapiervorräte, mehr wollte und brauchte sie nicht mehr. Manchmal Medikamente. Und „son Pferdefett“.
Die letzten Jahre verfiel sie zusehends. Am meisten machte ihr zu schaffen, dass sie nicht mehr gut spazieren gehen konnte. Sie wehrte sich lange gegen einen Rollator. Als er dann doch da war, kam sie noch mal etwas in Schwung. Besonders deshalb, weil sie sich partout weigerte zu lernen, dass das Ding auch Bremsen hatte, die sie hätte benutzen können. „Dat geiht schon, Jung, nu lass mich man“, war ihre Devise. Ich erinnere mich an einen Besuch in einem Geschäft mit einer Rampe. Meine inzwischen osteoporosebedingt o-beinige, kleine Hutzeloma hoppelte diese Rampe mit hoher Geschwindigkeit hinter ihrem Rollator hinunter, während ich panisch auf der Treppe nebenherlief und versuchte, ihrer Raserei Einhalt zu gebieten. Als wir beide unbeschadet unten ankamen, lachte sie und sagte: „Hui, dat gingscha man fix!“
Sie starb im Krankenhaus. Nach einer Knie-OP, die sie so gerne machen lassen wollte, damit sie wieder spazieren gehen könnte. Ihr altes Herz hat die Strapazen nicht mehr mitmachen wollen und blieb einfach stehen.
Als ich sie das letzte Mal sah, hatte ich ihr Einkäufe gebracht, das Geschirr abgewaschen und die Küche gewischt, während sie mir mit ihrem Gehstock vor dem Gesicht herumfuchtelte, um mir zu zeigen, wo genau ich wischen sollte.
Ich bin bis heute dankbar für die Zeit, die ich mit ihr verbringen konnte. Für die Dinge, die sie mich lehrte. Für ihre unendliche Großzügigkeit und ihr Verständnis für all meine verrückten Ideen und Aktionen. Für ihren Humor, den sie bis zum Schluss hatte („Oma, du machst mir die Haustür nur in Unterhemd und Unterhose auf??“ – „Ja, wat denn, Jung, dat ischa man auch waaahm heute, ne?“), und für das dazugehörige Schmunzeln, das sie nur bei mir zeigte.
Meine Oma ist in Pommern groß geworden, sie lebte dort in ärmlichen Verhältnissen. Ihre leibliche Mutter starb früh, so dass Oma schon als Kind im Haushalt helfen musste. Ihr sowieso schon schweres Leben wurde durch den Zweiten Weltkrieg nicht leichter und im Januar 1945 noch viel schwerer, als sie nur mit ihrer Kleidung und einem einzigen Paar Schuhe von russischen Soldaten aus ihrem Heimatort vertrieben wurde. Sie und der Rest der Dorfbewohner mussten flüchten. Alte Menschen und spärliches Hab und Gut wurden auf Pferdewagen geladen, alle anderen mussten neben dem Pferdewagen herlaufen. Es war eisig kalt und der Weg war lang. Sie liefen Tag und Nacht, Menschen starben. Es war eine einzige Tortur. Sie führte nach Schleswig-Holstein, dort erfuhren sie, zu welchen Dörfern sie gehen mussten, um dort unterzukommen. Es gab keine Flüchtlingsunterkunft, sie mussten einfach immer weiterlaufen. Als sie endlich in dem zugewiesenen Dorf ankamen, waren die meisten mehr tot als lebendig. Auch die Pferde vor den Wagen. Sie brachen zusammen und starben an Ort und Stelle aufgrund der Strapazen.
Meine Oma überlebte den Flüchtlingstreck. Sie wurde auf einem Hof untergebracht, auf dem sie arbeiten sollte und dafür Essen bekam, irgendwann auch ein wenig Geld. Auf ihre psychische und physische Verfassung wurde keine Rücksicht genommen, nach Kriegsende hatte man dafür keine Zeit. Sie musste tun, was alle anderen auch taten. Arbeiten. Sie kämpfte sich also durch, wie viele andere auch.
Wenn sie das nicht getan hätte, wenn sie nicht aufgenommen worden wäre, ihr niemand geholfen hätte, dann wäre ich heute nicht hier. Ich würde nicht hier sitzen und über sie schreiben, an sie denken und dabei lächeln.
Meine Oma war ein Flüchtling. Keine Reisende, keine Auswanderin, keine Schmarotzerin.
Die furchtbaren Umstände eines furchtbaren Krieges zwangen sie, zu gehen, ihre einzige Heimat, die sie bis dahin kannte, zu verlassen. Eine Rückkehr war nicht möglich, in ihrem Zuhause hatten nun andere das Sagen.
Sie kam mit nichts als ihrer Kleidung auf dem Leib und ihren Erinnerungen. Ihr wurden Unterkunft und Essen gegeben, nicht mehr, aber auch nicht weniger, dafür arbeitete sie fleißig und hart. Bis zu ihrem 75. Lebensjahr, bis die „Ossoporohse“ es nicht mehr zuließ. Ihre Töchter sind beide wohlgeraten und ebenfalls fleißig.
Und ihr Enkel sitzt hier, versucht, sich die Tränen zu verkneifen, und wünscht sich, dass man bitte anderen Flüchtlingen, die alles verloren haben, auch hilft. Ihnen Unterkunft und Essen bietet und so ihre Leben rettet.
So wie der kleinen, hutzeligen Frau, die in seiner Erinnerung immer noch über all seine verrückten Ideen schmunzelt.
Meine Eltern, meine Frau und ich spenden Geld, was wir erübrigen können, wir geben Kleidung und Gebrauchsgegenstände an entsprechende Einrichtungen in unserer Nähe. Der Vater meiner Frau hat in seinem großen Haus eine geflüchtete Frau und ihr Kind vorübergehend aufgenommen.
Vielleicht können Sie auch irgendetwas für Menschen tun, die ihre Heimat hinter sich lassen mussten. Falls Sie nicht in der Lage sind, zu spenden, so teilen Sie einfach anderen mit, warum Sie für die Aufnahme von Menschen ohne Heimat und Besitz sind, auch das kann eine Hilfe sein. Schweigen Sie nicht. Und bitte werden Sie kein „besorgter Bürger“, bitte zünden Sie keine Unterkünfte für Hilfsbedürftige an. Achten und respektieren Sie Ihre Nächsten.
Erschienen am 6. August 2015 auf www.kurzhaarschnitt.wordpress.com.
Es war am 21. August 1984, als ich wie ein normaler Tourist in eine Lufthansa Maschine von Bukarest nach Frankfurt am Main stieg.
Ich tat wie ein Tourist, hatte scheinbar nur Touristengepäck (jedoch eine Geburtsurkunde in meiner Schuhsohle) und wusste, dass ich mein Land für immer verlassen würde.
Alleine.
Ich war 15 Jahre alt.
Ich war unterwegs zur Familie meiner Halbschwester aus der ersten Ehe meines Vaters. Wir hatten oft telefoniert, ich hatte Fotos von ihr zu Genüge gesehen – aber das Bild, das ich von ihr in Erinnerung hatte, stammt aus der Zeit, als ich circa dreieinhalb Jahre alt war: eine junge, große, wunderschöne Frau mit rot-goldenen langen Haaren. Das war, kurz bevor sie das Land verließ. Sie wurde Anfang der 1970er Jahre von ihrem Bruder, also meinem Halbbruder, den ich nie getroffen hatte, „freigekauft“. Er hatte Jahre zuvor seine große Liebe, eine Deutsche, geheiratet und war nach langem Ringen mit den rumänischen Behörden als Erster aus der Familie nach Deutschland gezogen.
Es fällt mir nicht leicht, dies hier zu erzählen: Ich stieg ins Flugzeug und wusste, dass ich meine Mutter nie wieder sehen würde. Ich ging in vollem Wissen, dass es kein Zurück gab. Sie wollte das und ich genauso, auch wenn es mir das Herz zerbrach.
Drei Jahre vorher war mein Vater gestorben.
Es ist grundsätzlich eine schlimme Sache, mit nur zwölf Jahren seinen Vater zu verlieren, aber er hatte mich darauf gut vorbereitet. Mein Vater war früher der Professor meiner Mutter an der Uni gewesen, er war 27 Jahre älter als sie. Er war 62, als ich auf die Welt kam. Er warnte mich schon, seit ich klein war, dass die Kinder im Kindergarten oder in der Schule ihn für meinen Opa halten würden, und bereitete mich darauf vor, selbstbewusst zu einem alten Vater zu stehen. Er sprach mit mir über den Tod. Er erzählte mir, dass er ein volles Leben gelebt und „so gut wie nichts ausgelassen“ hatte. Er hatte die wilden 1930er in Paris und Rom mitgemacht, eine Niere verloren und sein Herz mit argen Gewichtsschwankungen, Rauchen und sehr, sehr viel Käse und Rotwein zu später Abendstunde arg malträtiert. Als er starb – nach einem zweiten Herzinfarkt –, war ich tapfer. Es war traurig und meine Mutter litt sehr, aber ich war von meinem Vater liebevoll vorbereitet worden und kam besser damit zurecht als andere Halbwaisen.
Was ich nicht kommen gesehen habe, war, dass meine Mutter kurz darauf auch erkranken würde.
Unheilbar. Plasmozytom. Zu gut Deutsch: Krebs. Das hat sie mir so lange verschwiegen, bis ich anfing zu schnüffeln und ein Diagnosepapier zu einem mit ihr befreundeten Arzt trug, es ihm unter die Nase hielt und die Wahrheit verlangte. Da war ich gerade frisch in der 9. Klasse. Also 14 Jahre alt. Es war ein Schock, der mich schlagartig reifen ließ. Sämtliche pubertäre Verhaltensweisen fielen von mir ab. Seit dem Moment redeten meine Ma und ich Tacheles – offen über die traurige Wahrheit. Ihre Diagnose war ein Todesurteil. Das war grausam. Darauf hatte mich niemand vorbereitet. Ich war doch eigentlich dabei, nach geeigneten Männern für meine Mutter im Freundeskreis zu schauen. Dass sie unheilbar krank war, war nicht Teil des Deals. Liebe Freunde versuchten sich um mich zu kümmern. Ich hörte oft die Beatles mit „Let it be“ und weinte viel. Aber es drohte noch ein weiteres gefährliches Problem.
Im Ceausescu-Rumänien gab es ein Gerücht, was mit Vollwaisen gemacht wurde, die fit in der Schule waren. Es war klar bei der Diagnose meiner Mutter: Ich würde in wenigen Monaten Vollwaise sein. Das Gerücht, das man sich untereinander zuflüsterte, war, dass Vollwaisen mit guten Schulleistungen in Spezialanstalten der Securitate landeten und auf die härteste Art zu Spezialisten des brutalen rumänischen Geheimdienstes ausgebildet würden. Ein Vollwaise aus meiner Parallelklasse, dessen Eltern bei einem Autounfall gestorben waren, war ohne Erklärungen verschwunden und hatte sich nie wieder bei uns gemeldet. Das machte meiner Mutter und mir große Angst.
In meiner Familie und in meinem Freundeskreis hasste man die Kommunistische Partei, die Securitate – alles, was mit dem unmenschlichen Regime zu tun hatte, in dem wir lebten ... oder besser gesagt: in dem wir versuchten, zu überleben. Es gab nicht immer genug zu essen, Öl und Zucker waren rationalisiert, für Fleisch und gutes Gemüse musste man sich bereits um zwei oder drei Uhr nachts in Schlangen anstellen, um bei der Öffnung der Geschäfte um sieben etwas zu ergattern. Es gab öfter kein elektrisches Licht (wie oft habe ich im Kerzenlicht Hausaufgaben gemacht) und nicht genug warmes Wasser (einen Tag in der Woche). In Winter saßen wir nur in der Küche, denn Wärme gab es bloß aus dem Gasofen dort. Die anderen Räume wie Schlaf- und Wohnzimmer waren eisig kalt.
Wir mussten als Kinder bei unsinnigen Demonstrationen zu Ehren des Diktators Ceausescu und seiner Frau mitmachen. Dabei mussten wir stundenlang in der Sonne stehen und mit Fähnchen winken – trinken verboten, damit wir nicht aufs Klo mussten. Es gab bei solchen Veranstaltungsorten keine Klos. Wer es nicht aushielt, musste sich in die Hose machen.
Wir besaßen keine Reisepässe und konnten nicht über die Grenzen – nicht einmal kurz nach Bulgarien. Nur mit tausend Genehmigungen und ewiger Wartezeit. Da gab es einen vorläufigen Reisepass gegen Abgabe der Geburtsurkunde, und wenn man zurück war, erfolgte wieder der Tausch. Wir hatten Angst, politische Witze zu erzählen (taten es aber trotzdem), und merkten, dass ab und zu Menschen verschwanden, die sich mit Meinungen oder Aktionen zu sehr aus dem Fenster gelehnt hatten. Wir hörten heimlich im Radio „Free Romania“ und wussten, dass unsere Telefonate abgehört und unsere Briefe an Verwandte im Ausland von der Securitate gelesen wurden.
Meine Mutter beschloss, dass ich das Land verlassen sollte.
Meine Mutter war in großer Angst, was mit mir als 15-Jähriger ohne Eltern in Rumänien geschehen würde. Sie sorgte dafür, dass meine Schwester aus Westdeutschland mich adoptieren würde und ich aus „humanitären Gründen“ das Land verlassen durfte. Mein Schwager, der Mann meiner Schwester, der wie mein Vater ebenfalls Professor für Architektur war, reiste in Dezember 1983 aus Frankfurt zu uns, um die Formalitäten zu erledigen. Der Versuch scheiterte – so nahe Verwandte durften sich nicht gegenseitig adoptieren.
Dann wurde meine Mutter so krank, dass sie sich nicht mehr darum kümmern konnte. Die Chemotherapie brachte keine guten Ergebnisse. Zusammen mit meiner Schwester in Deutschland, ihrem Mann und ganz vielen Freunden meiner Mutter versuchten wir, mich rüberzuschleusen. Das war ein Kampf gegen die Zeit, denn wäre sie vorher gestorben, hätte ich einen Vormund von der Partei gestellt bekommen – und dann wäre eine Ausreise nicht mehr möglich gewesen.
Wir entschieden uns für eine ganz normale Touristenreise, nur für drei Wochen während der Ferien zwischen der 9. und 10. Klasse. Ich lernte, völlig gelassen Briefumschläge mit Dollars lächelnd über die Theken von Funktionären zu schieben. Jemand aus dem Freundeskreis trug einen noch dickeren Umschlag direkt ins Außenministerium. Ich absolvierte mein Schülerpraktikum während der Ferien (Kartoffelernte), um keine Fragen aufkommen zu lassen. Dann hieß es: Reisepass ist fertig. Wenn ich nachweisen könne, dass ein geeignetes Transportmittel hin und zurück vorhanden war, dürfte ich innerhalb von zwei Tagen das Land verlassen. Mein Schwager kaufte ein Lufthansa-Ticket, und dann ging alles ganz schnell.
Beim Abholen meines Passes beim Passamt wurde ich stundenlang befragt, behielt aber die Nerven. Nur meine Geburtsurkunde musste ich abgeben, ohne die man in Deutschland keine Aufenthaltsgenehmigung bekommt. Mit einem für drei Wochen gepackten kleinen Koffer und einer in letzter Minute mit Bestechungsgeld besorgten Kopie meiner Geburtsurkunde in der Schuhsohle wurde ich zwei Tage später durch die Flughafenkontrollen gelassen und stieg ins Flugzeug. Ich wurde in Frankfurt von der Familie meiner Schwester herzlich empfangen und, so schien es mir, ins Paradies eingeführt.
Ihr glaubt nicht, wie genial es sich anfühlte, einmal aus voller Kehle auf offener Straße zu brüllen: „Ceausescu ist ein Schwein!“ Außer dass man etwas komisch angeguckt wird, passiert nichts. Oder einen Supermarkt betreten zu dürfen, in dem es alles gibt. Nachts auf beleuchteten Straßen zu gehen. Jeden Morgen mit Warmwasser duschen zu können. Von den Kindern meiner Schwester anhand von Steiff-Kuscheltieren (unerschwinglich in Rumänien) die Tiernamen auf Deutsch beigebracht zu bekommen. In eine Schule zu gehen ohne Uniformen und politischen Zwang.
Meine Mutter starb eine Woche später.
Was wäre gewesen, wenn ich in Deutschland keine Familie gehabt hätte, die Geld für dicke Funktionärsumschläge geopfert hätte – der ich für immer dankbar bin, dass sie mich aufgenommen hat? Was wäre gewesen, wenn ich damals illegal mit Gefahr für Leib und Leben hätte flüchten müssen, im Kofferraum eines Busses versteckt oder durch einen Fluss schwimmend? Was wäre gewesen, wenn die einzige Möglichkeit eine Schlepperbande gewesen wäre, um mich vor einem Securitate-Schicksal zu bewahren? Und was wäre gewesen, wenn es Diskussionen gegeben hätte:
War ich ein politischer Flüchtling? Das Gerücht mit der Securitate galt uns als realistische Gefahr.
War ich ein Kriegsflüchtling? Der kalte Krieg galt nicht als Krieg.
War ich ein Wirtschaftsflüchtling? Meine Mutter wollte, dass es mir gut ging, und ich natürlich auch.
Hätte man mich zurückgeschickt?
Ich war ein Kind, das eine bessere und sichere Zukunft suchte.
Ich habe sie gefunden. Ich habe die Sprache gelernt, Abitur gemacht, studiert, geheiratet, ein Kind bekommen, gearbeitet, Schulen gegründet. Was damals ein Traum schien, ist jetzt meine Gegenwart.
Wie viele Kinder, deren Eltern für sie eine bessere Zukunft suchen, sind da draußen in den Flüchtlingslagern? Wenn ihre Eltern noch dabei sind, umso besser für sie.
Flüchtlinge bringen Mut mit, Mut zur Veränderung und Mut zum Lernen. Sie haben sich aus einer Situation befreit, die nicht tragbar war. Sie haben keinen leichten Weg eingeschlagen. Sie haben sich mutig aufgemacht und nehmen es mit einer neuen Kultur und einer neuen Sprache, mit neuen Menschen und einem unbekannten Lebensstil auf. Davon können wir als Gesellschaft lernen – und selbst mutiger sein und auf sie zugehen. Dann entwickeln wir uns gemeinsam weiter. So funktioniert Fortschritt.
Erschienen am 8. August 2015 auf www.tollabea.de.
Ich habe lange überlegt, ob es klug ist, zu diesem Thema die Fresse aufzureißen.
Wahrscheinlich bin ich dafür nicht genug informiert. Sicherlich bin ich zu aufbrausend. Zu drastisch. Möglicherweise zu, ähm, vulgär. Vielleicht habe ich sogar schlichtweg keine Ahnung. Ich habe nämlich nicht Politikwissenschaften studiert. Und auch nicht die FAZ abonniert. Oder die Süddeutsche. Ich klicke mich nicht nach Feierabend stundenlang durch einschlägige politische Onlineartikel oder gucke den 24-Stunden-Tagesschau-Kanal im Pay-TV.
Ich lese jeden Morgen auf der Arbeit die Bild. Und wühle mich durch die Yellow Press. Ich verdiene mein Geld nicht damit, investigativ zu recherchieren, sachlich fundierte Fragen zu unbequemen Themen zu stellen oder in Kriegsgebieten mit einer Lampe auf dem Kopf und schusssicheren Weste am Körper durch dreckige Höhlen zu kriechen. Ich bin nicht Christiane Amanpour. Mein Job ist es, glücklich zu machen. Und ich liebe es.
Ich glaube daran, dass ein Herzenswort, ein positiver Blick auf die Dinge, ein Lächeln von Ohr zu Ohr auch in düstersten Zeiten viel Licht bringen können. Eine liebevolle Erinnerung daran, dass die kleinen Dinge zählen. Ein Sonnenstrahl auf der Nase, Bauchweh vor Lachen, ein glitzernder Fernsehturm. Dafür bin ich hier. Und doch muss ich sagen:
MIR REICHT ES JETZT.
Vor ein paar Wochen sah ich bei Facebook den Kommentar eines Freundes meines Cousins, 16 Jahre alt, unter einem NPD-Post: „Ich habe nichts gegen Ausländer, aber allmählich reicht’s auch mal mit den Flüchtlingen hier.“
FAZ