Philip Roth

Das sterbende Tier

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Dirk van Gunsteren

Carl Hanser Verlag

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2001

unter dem Titel The Dying Animal

bei Houghton Mifflin in New York.

ISBN 978-3-446-25128-1

© Philip Roth 2001

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München Wien 2003/2015

Umschlag: © Peter-Andreas Hassiepen

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

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Für N.M.

Die Geschichte eines Lebens ist im

Körper ebenso enthalten wie im Gehirn.

Edna O’Brien

Ich lernte sie vor acht Jahren kennen. Sie war in meinem Seminar. Ich habe keine Vollzeit-Professur mehr – genaugenommen unterrichte ich nicht einmal mehr Literatur. Seit Jahren veranstalte ich nur noch dieses eine Seminar, ein großes Oberseminar über Literaturkritik mit dem Titel »Praktische Kritik«. Es kommen viele Studentinnen. Aus zwei Gründen. Zum einen bietet dieses Thema eine verführerische Kombination aus intellektuellem Glamour und journalistischem Glamour, zum anderen haben sie mich und meine Buchrezensionen auf NPR gehört oder mich auf Channel Thirteen gesehen, wo ich über Kultur spreche. In den vergangenen fünfzehn Jahren habe ich in dieser Region durch meine Fernsehauftritte als Kulturkritiker einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht, und deswegen kommen sie in mein Seminar. Anfangs war mir nicht bewußt, daß wöchentliche Zehn-Minuten-Auftritte im Fernsehen so beeindruckend sein könnten, wie sie es für diese Studentinnen offenbar sind. Doch diese jungen Frauen fühlen sich hoffnungslos zu Berühmtheiten hingezogen, so unerheblich meine auch sein mag.

Nun, wie Sie wissen, bin ich für weibliche Schönheit sehr empfänglich. Jeder hat seine verwundbare Stelle, und das ist eben meine. Ich sehe weibliche Schönheit und bin so geblendet, daß ich nichts anderes mehr wahrnehme. Sie kommen zur ersten Seminarsitzung, und ich weiß beinahe sofort, welche für mich bestimmt ist. Es gibt eine Geschichte von Mark Twain, in der er beschreibt, wie er vor einem Stier davonrennt, und der Stier sieht hinauf zu der Baumkrone, in der Twain sich versteckt, und denkt: »Sie, Sir, sind genau mein Fall.« Tja, wenn ich sie in meinem Seminar sehe, wird aus dem »Sir« eine »junge Dame«. Es ist jetzt acht Jahre her – ich war damals bereits zweiundsechzig, und Consuela Castillo war vierundzwanzig. Sie ist nicht wie die anderen Studentinnen. Sie sieht nicht aus wie eine Studentin, jedenfalls nicht wie eine gewöhnliche Studentin. Sie ist kein spätpubertäres, ungepflegtes Mädchen mit schlechter Haltung, das ständig »irgendwie« sagt. Sie drückt sich gut aus, sie ist sachlich, ihre Haltung ist perfekt – sie scheint etwas über das Erwachsenenleben zu wissen, unter anderem darüber, wie man sitzt, steht und geht. Sobald man den Seminarraum betritt, sieht man, daß diese Frau entweder mehr weiß oder mehr wissen will. Wie sie sich kleidet. Sie hat nicht direkt das, was man Chic nennen würde, sie ist jedenfalls nicht extravagant, aber immerhin trägt sie nie Jeans, seien es nun gebügelte oder ungebügelte. Sie wählt ihre Garderobe sorgfältig, mit dezentem Geschmack: Röcke, Kleider, gutsitzende Hosen. Nicht um ihre Vorzüge zu verbergen, sondern vielmehr, wie es scheint, um einen professionelleren Eindruck zu machen, kleidet sie sich wie eine attraktive Sekretärin in einer angesehenen Anwaltskanzlei. Wie die Sekretärin des Vorstandsvorsitzenden einer Bank. Eine cremefarbene Seidenbluse unter einem maßgeschneiderten blauen Blazer mit Goldknöpfen, eine braune Handtasche mit der Patina teuren Leders, dazu passende, knöchelhohe Stiefel und einen grauen, engen Strickrock, der ihre Konturen so subtil betont, wie ein solcher Rock das nur kann. Ihre Frisur ist unaufwendig, ihr Haar gepflegt. Sie hat eine blasse Haut, ihre Lippen sind geschwungen, aber voll, und ihre Stirn ist gewölbt und faltenlos und von der glatten Eleganz einer Brancusi-Skulptur. Sie ist Kubanerin. Ihre Angehörigen sind wohlhabende Kubaner, die in Jersey leben, jenseits des Flusses, in Bergen County. Sie hat tiefschwarzes, glänzendes Haar, das aber auch ein kleines bißchen grob ist. Und sie ist eine große Frau mit einem großen Busen. Die oberen beiden Knöpfe der Seidenbluse sind geöffnet, so daß man sehen kann, daß sie ausladende, wunderschöne Brüste hat. Man sieht sofort auf ihr Dekolleté. Und man sieht, daß sie das weiß. Man sieht, daß sie sich trotz aller Zurückhaltung, trotz aller Gewissenhaftigkeit, trotz aller sorgsamen Gepflegtheit – oder vielleicht gerade deswegen – ihrer selbst bewußt ist. Sie erscheint zur ersten Seminarsitzung, und das Jackett über der Bluse ist zugeknöpft, doch bereits nach fünf Minuten hat sie es ausgezogen. Als ich das nächstemal zu ihr hinsehe, hat sie das Jackett wieder angezogen. Man erkennt also, daß sie sich ihrer Macht bewußt ist, aber noch nicht genau weiß, wie sie sie einsetzen soll, was sie damit anfangen soll und ob sie diese Macht überhaupt haben will. Dieser Körper ist für sie noch neu, sie probiert ihn noch aus, sie denkt darüber nach – sie ist ein bißchen wie ein Jugendlicher, der mit einer geladenen Pistole durch die Straßen geht und noch nicht weiß, ob er die Waffe zur Selbstverteidigung eingesteckt hat oder dabei ist, eine Verbrecherlaufbahn einzuschlagen.

Und sie ist sich noch einer anderen Sache bewußt, und das ist etwas, was ich nach dieser ersten Seminarsitzung noch nicht wissen konnte: Sie findet Kultur wichtig, auf eine ehrerbietige, altmodische Weise. Nicht daß Kultur etwas ist, nach dem sie ihr Leben ausrichten möchte. Das tut sie nicht, und das will sie auch gar nicht – dazu ist sie zu sehr Produkt einer traditionellen Erziehung –, aber Kultur ist wichtiger und wunderbarer als alles andere, das sie kennt. Sie ist eine von denen, die impressionistische Kunst überwältigend finden, doch einen kubistischen Picasso muß sie lange und eingehend – und stets mit einem Gefühl qualvoller Verwirrung – betrachten und sich die allergrößte Mühe geben, ihn zu verstehen. Sie wartet auf die überraschende neue Empfindung, den neuen Gedanken, das neue Gefühl, und wenn diese sich nicht einstellen, verurteilt sie sich dafür, daß sie unfähig ist, daß es ihr mangelt… mangelt an was? Sie verurteilt sich dafür, daß sie nicht einmal weiß, woran es ihr mangelt. Beim Anblick eines auch nur entfernt modernen Kunstwerks ist sie nicht nur verwirrt, sondern auch enttäuscht von sich selbst. Sie hätte so gern, daß Picasso für sie bedeutsamer wäre, daß er vielleicht ihr Leben verändern würde, doch vor dem Proszenium des Genies hängt ein Schleier, der ihr die Sicht nimmt und ihre Verehrung ein bißchen auf Distanz hält. Sie gibt der Kunst in all ihren Erscheinungsformen weit mehr, als sie zurückbekommt – eine Ernsthaftigkeit, die nicht ohne einen gewissen ergreifenden Reiz ist. Ein großes Herz, ein hübsches Gesicht, ein einladender und zugleich zurückhaltender Blick, herrliche Brüste – eine Frau, die erst vor so kurzer Zeit geschlüpft war, daß ich nicht überrascht gewesen wäre, wenn an ihrer glatten, eiförmig gekrümmten Stirn noch Schalenstückchen geklebt hätten. Ich sah sofort, daß sie genau mein Fall war.

Nun, ich habe seit fünfzehn Jahren eine eiserne Regel, die ich nie breche: Keine privaten Kontakte, bis sie ihre Prüfung abgelegt und ihre Note erhalten haben und ich nicht mehr offiziell in loco parentis bin. Trotz aller Versuchungen – oder auch deutlichen Signale, einen Flirt zu beginnen und mich ihnen zu nähern – habe ich mich an diese Regel gehalten, seit ich Mitte der achtziger Jahre die Notrufnummer für Opfer sexueller Belästigung an der Tür meines Büros fand. Während des Semesters mache ich mich nicht an sie heran, denn ich will denen, die mir, wenn sie nur könnten, die Lebensfreude ernsthaft vergällen würden, keinen Vorwand liefern.

Jedes Jahr unterrichte ich vierzehn Wochen lang, und während dieser Zeit habe ich keine Affären mit Studentinnen. Ich greife lieber zu einem Trick. Es ist ein einwandfreier Trick, ein offener und ehrlicher Trick, aber eben trotzdem ein Trick. Nach der Prüfung, wenn die Noten verteilt sind, veranstalte ich in meiner Wohnung eine Party. Sie ist immer ein Erfolg, und sie läuft immer gleich ab. Ich lade alle Seminarteilnehmer für sechs Uhr zu einem Drink ein. Ich sage ihnen, daß wir von sechs bis acht etwas trinken werden, und sie bleiben immer bis zwei Uhr morgens. Nach zehn drehen die Mutigsten auf und erzählen mir von ihren eigentlichen Interessen. Das Seminar »Praktische Kritik« hat etwa zwanzig, manchmal auch fünfundzwanzig Teilnehmer, und das heißt, es sind fünfzehn, sechzehn Frauen und fünf oder sechs Männer, von denen zwei oder drei nicht schwul sind. Bis um zehn hat sich die Hälfte verabschiedet. Danach sind meist ein nichtschwuler und vielleicht ein schwuler Mann und etwa neun Frauen übrig. Es sind immer die kultiviertesten, intelligentesten und lebhaftesten. Sie sprechen darüber, welche Bücher sie lesen, welche Musik sie hören, welche Ausstellungen sie sich angesehen haben – Leidenschaften, über die sie normalerweise nicht mit ihren Eltern und auch nicht unbedingt mit ihren Freunden reden. In meinem Seminar finden sie einander. Und sie finden mich. Während dieser Party stellen sie auf einmal fest, daß ich ein menschliches Wesen bin. Ich bin nicht mehr ihr Lehrer, ich bin nicht mehr meine Reputation, ich bin nicht mehr ihr Vater. Ich habe eine hübsche, aufgeräumte Maisonettewohnung, und sie sehen meine große Bibliothek, die vielen beidseitig zugänglichen Bücherregale, die die Lektüre eines ganzen Lebens enthalten und beinahe das gesamte untere Zimmer einnehmen, sie sehen meinen Flügel, sie sehen meine Hingabe an das, was ich tue, und sie bleiben.

Es gab ein Jahr, da war meine komischste Studentin wie das Geißlein im Märchen, das sich in der Uhr versteckte. Ich warf die letzten Gäste um zwei Uhr morgens hinaus, und während sie sich verabschiedeten, bemerkte ich, daß eine Studentin fehlte. »Wo ist unser Clown, wo ist Prosperos Tochter?« sagte ich. »Ach, ich glaube, Miranda ist schon gegangen«, antwortete jemand. Ich ging wieder hinein und begann aufzuräumen, als ich hörte, daß oben eine Tür geschlossen wurde. Die Tür zum Badezimmer. Und Miranda kam die Treppe hinunter, lachend, strahlend, mit einer Art naiver Ausgelassenheit – bis zu diesem Augenblick war mir nicht aufgefallen, wie hübsch sie war –, und sagte: »Hab ich das nicht schlau angestellt? Ich hab mich da oben auf der Toilette versteckt, und jetzt werde ich mit dir schlafen.«

Sie war ein kleines Persönchen, nicht größer als eins fünfundfünfzig, und sie zog den Pullover aus und zeigte mir ihre Brüste, sie enthüllte den jungen Körper einer Balthus-Jungfrau, die im Begriff ist zu sündigen, und selbstverständlich schliefen wir miteinander. Wie ein junges Mädchen, das dem gefährlichen Melodram eines Balthus-Gemäldes entkommen ist und Zuflucht gefunden hat in der Unbeschwertheit der Seminarparty, hatte Miranda den ganzen Abend auf allen vieren, den Hintern hochgereckt, auf dem Boden gehockt oder hingestreckt in einer Haltung der Hilflosigkeit auf meinem Sofa gelegen oder sich, die Beine über die Lehne gelegt, fröhlich auf einem Sessel drapiert, scheinbar ohne zu merken, daß sie, weil ihr Rock hochgerutscht war und sie die Oberschenkel schamlos gespreizt hatte, etwas von einem Balthusschen Mädchen umgab: vollständig bekleidet und doch halbnackt. Alles verhüllt und nichts verborgen. Viele dieser Frauen haben bereits mit Vierzehn sexuelle Erfahrungen gemacht, und nun, in den Zwanzigern, gibt es immer ein oder zwei, die neugierig sind, wie es wohl mit einem Mann meines Alters sein mag – und sei es nur ein einziges Mal –, und die darauf brennen, es am nächsten Tag all ihren Freundinnen zu erzählen, die dann das Gesicht verziehen und fragen: »Aber seine Haut? Hat er nicht komisch gerochen? Und seine langen weißen Haare? Seine Wamme? Sein Schmerbauch? Ist dir nicht schlecht geworden?«

Danach sagte Miranda: »Du hast bestimmt mit Hunderten von Frauen geschlafen. Ich wollte wissen, wie das ist.« »Und?« Und dann sagte sie Dinge, die ich nicht ganz glauben konnte, aber das machte nichts. Sie war kühn gewesen – sie hatte gesehen, daß sie es schaffen würde, so abenteuerlustig und aufgeregt sie auch gewesen sein mochte, als sie sich im Badezimmer versteckt hatte. Sie hatte entdeckt, wie mutig sie war, als sie sich dieser ungewohnten Situation gestellt hatte, und daß sie ihre anfänglichen Ängste und ihre etwaige anfängliche Abscheu überwinden konnte, und ich erlebte – was diese Situation betrifft – eine ganz wunderbare Nacht. Eine sich rekelnde, kaspernde, spielerische Miranda, die, ihre Unterwäsche zu ihren Füßen, posierte. Schon das Vergnügen, sie anzusehen, war herrlich. Auch wenn das keineswegs das einzige Vergnügen war. In den Jahrzehnten seit den Sechzigern hat eine bemerkenswerte Vollendung der sexuellen Revolution stattgefunden. Diese neue Generation hat erstaunliche Fellatorinnen hervorgebracht. Etwas wie sie hat es unter jungen Frauen ihrer Klasse nie zuvor gegeben.

Consuela Castillo. Ich sah sie und war ungeheuer beeindruckt von ihrer Haltung. Sie wußte, was ihr Körper wert war. Sie wußte, was sie war. Sie wußte auch, daß sie niemals in die Welt der Kultur passen würde, in der ich lebte: Kultur war etwas, was sie blendete, nicht aber etwas, mit dem sie leben konnte. Sie kam also zu meiner Party – ich hatte befürchtet, sie werde vielleicht nicht kommen – und war mir gegenüber zum erstenmal aufgeschlossen. Da ich unsicher gewesen war, wie weit ihre Sachlichkeit und Zurückhaltung ging, hatte ich es während der Seminarsitzungen und bei ihren zwei Besuchen in meinem Büro, wo wir über ihre schriftliche Arbeit sprachen, sorgfältig vermieden, irgendein besonderes Interesse an ihr zu offenbaren. Auch sie war bei diesen Gesprächen stets sehr respektvoll und verhalten gewesen und hatte jedes meiner Worte mitgeschrieben, ganz gleich, wie unbedeutend es war. Jedesmal, wenn sie mein Büro betrat oder es verließ, trug sie das maßgeschneiderte Jackett über der Bluse. Als sie mich das erstemal aufsuchte und wir nebeneinander an meinem Schreibtisch saßen, die Tür zum Korridor, der Anweisung entsprechend, weit offen, so daß alle acht Gliedmaßen und unsere so unterschiedlichen Rümpfe für jeden vorbeigehenden Big Brother deutlich zu sehen waren (auch das Fenster war weit offen – ich hatte es aufgerissen, denn ich fürchtete ihr Parfüm), bei diesem ersten Mal also trug sie eine elegante graue Flanellhose mit Aufschlägen und beim zweitenmal einen schwarzen Jerseyrock und eine schwarze Strumpfhose, doch zu unseren Seminarsitzungen erschien sie immer in einer Bluse: über der schneeweißen Haut diese Seidenblusen in irgendeinem Cremeton, die obersten zwei Knöpfe geöffnet. Auf der Party jedoch zog sie das Jackett bereits nach dem ersten Glas Wein aus und strahlte mich kühn und jackettlos an, mit einem offenen, verführerischen Lächeln. Wir standen dicht nebeneinander in meinem Arbeitszimmer, wo ich ihr ein Kafka-Manuskript gezeigt hatte, drei handschriftliche Seiten, eine Rede, die er als Versicherungsangestellter anläßlich der Feier zur Pensionierung des Direktors gehalten hatte; dieses Manuskript aus dem Jahr 1910 war ein Geschenk einer dreißigjährigen, reichen, verheirateten Frau, die einige Jahre zuvor meine Studentin und Geliebte gewesen war.

Consuela sprach aufgeregt über alles mögliche. Es hatte sie fasziniert, das Kafka-Manuskript in Händen zu halten, und nun sprudelten all die Fragen hervor, die sie ein ganzes Semester lang bewegt hatten – während mich mein Begehren bewegt hatte. »Welche Musik hören Sie am liebsten? Können Sie wirklich Klavier spielen? Lesen Sie den ganzen Tag? Kennen Sie alle Gedichte in diesen Büchern da auswendig?« Aus jeder dieser Fragen ging hervor, wie sehr sie mein Leben, mein in sich geschlossenes, gesetztes kulturelles Leben bewunderte – das war das Wort, das sie benutzte. Ich fragte sie, was sie so tue, wie ihr Leben aussehe, und sie sagte, sie sei nach der Highschool nicht gleich aufs College gegangen, sondern habe beschlossen, als Privatsekretärin zu arbeiten. Und das war es ja auch gewesen, was ich von Anfang an in ihr gesehen hatte: die züchtige, loyale Privatsekretärin, das Kleinod im Vorzimmer eines mächtigen Mannes, des Vorstandsvorsitzenden einer Bank, des Chefs einer Anwaltskanzlei. Sie gehörte wirklich zu einer vergangenen Epoche, sie war eine Erinnerung an eine gesittetere Zeit, und ich nahm an, ihre Selbsteinschätzung hatte ebenso wie ihre Haltung viel damit zu tun, daß sie die Tochter wohlhabender kubanischer Emigranten war, reicher Menschen, die vor der Revolution geflohen waren.

Sie sagte: »Ich war nicht gern Sekretärin. Ich hab’s ein paar Jahre lang versucht, aber es ist ein langweiliges Leben, und meine Eltern haben immer von mir erwartet, daß ich aufs College gehe. Also habe ich schließlich beschlossen zu studieren. Wahrscheinlich wollte ich bloß rebellieren, aber das war kindisch, und so hab ich mich also hier eingeschrieben. Ich bewundere Kunst.« Wieder das Wort »bewundern« – sie gebrauchte es freimütig und aufrichtig. »Welche Kunstform gefällt Ihnen am besten?« fragte ich sie. »Das Theater. Alle Arten von Theater. Ich gehe in die Oper. Mein Vater liebt Opern, und wir gehen gemeinsam in die Met. Puccini ist sein Lieblingskomponist. Ich gehe immer sehr gern mit ihm in die Oper.« »Sie lieben Ihre Eltern.« »Ja, sehr«, sagte sie. »Erzählen Sie mir von ihnen.« »Sie sind Kubaner. Sehr stolz. Und sie sind hier sehr erfolgreich gewesen. Die Kubaner, die nach der Revolution hierhergekommen sind, hatten ein bestimmtes Weltbild, das es ihnen ermöglicht hat, extrem erfolgreich zu sein. Diese ersten Emigranten, zu denen auch meine Familie gehört hat, haben hart gearbeitet und getan, was nötig war, und sie waren so erfolgreich, daß, wie mein Großvater uns erzählt hat, einige von ihnen, die bei ihrer Ankunft eine staatliche Unterstützung erhalten hatten, weil sie nichts mehr besaßen… tja, von einigen bekam die Regierung nach ein paar Jahren Schecks. Mein Großvater sagt, die wußten gar nicht, was sie damit machen sollten. Das erste Mal in der Geschichte, daß jemand Geld an das amerikanische Finanzministerium zurückgezahlt hat.« »Sie lieben auch Ihren Großvater. Was für ein Mensch ist er?« »Wie mein Vater: ausgeglichen, extrem traditionell eingestellt, mit europäischen Ansichten. Das Wichtigste ist harte Arbeit und eine gute Ausbildung. Das vor allem. Und wie mein Vater stellt er die Familie über alles. Sehr religiös. Auch wenn er nicht so oft in die Kirche geht. Das tut mein Vater auch nicht. Aber meine Mutter. Und meine Großmutter. Meine Großmutter betet jeden Abend den Rosenkranz. Die Leute schenken ihr Rosenkränze. Sie hat ihre Lieblingsrosenkränze. Sie liebt ihren Rosenkranz.« »Gehen Sie in die Kirche?« »Als ich noch klein war. Jetzt nicht mehr. Meine Eltern sind anpassungsfähig. Kubaner ihrer Generation mußten zu einem gewissen Grad anpassungsfähig sein. Meine Familie würde es gern sehen, wenn wir in die Kirche gehen würden, mein Bruder und ich, aber nein, ich gehe nicht.« »Welchen Beschränkungen war ein kubanisches Mädchen, das in Amerika aufgewachsen ist, ausgesetzt, die nicht auch typisch für eine amerikanische Erziehung wären?« »Ach, ich mußte viel früher zu Hause sein. Wenn alle meine Freundinnen sich an Sommerabenden trafen. Mit Vierzehn oder Fünfzehn mußte ich im Sommer um acht Uhr zu Hause sein. Dabei ist mein Vater kein schrecklicher, furchteinflößender Kerl. Er ist einfach ein durchschnittlicher, netter Vater. Nur daß kein Junge mein Zimmer betreten durfte. Niemals. Andererseits – mit Sechzehn galten für mich, was das Nachhausekommen und so betrifft, dieselben Regeln wie für meine Freundinnen.« »Und wann sind Ihre Mutter und Ihr Vater hierhergekommen?« »1960. Damals ließ Fidel die Leute noch ausreisen. Sie haben in Kuba geheiratet. Zunächst sind sie nach Mexiko gegangen. Dann hierher. Ich bin natürlich hier geboren.« »Fühlen Sie sich als Amerikanerin?« »Ich bin zwar hier geboren, aber ich bin Kubanerin. Ganz eindeutig.« »Ich bin überrascht, Consuela. Ihre Stimme, Ihr Verhalten, die Art, wie Sie ›Kerl‹ und ›und so‹ sagen… Für mich sind Sie ganz und gar amerikanisch. Warum fühlen Sie sich als Kubanerin?« »Weil ich aus einer kubanischen Familie stamme. Das ist alles. Das ist der ganze Grund. Meine Eltern und Großeltern haben einen ungeheuren Stolz. Sie lieben ihr Land. Es ist in ihren Herzen. Es ist in ihrem Blut. Sie waren schon in Kuba so.« »Was lieben sie so sehr an Kuba?« »Ach, das Leben dort hat so viel Spaß gemacht. Es war eine Gesellschaft von Menschen, die das Beste aus der ganzen Welt genießen konnten. Absolut kosmopolitisch, besonders, wenn man in Havanna lebte. Und es war schön. Und es gab diese herrlichen Feste. Es war ein wirklich schönes Leben.« »Feste? Erzählen Sie mir davon.« »Ich habe Fotos von meiner Mutter auf einem Kostümball. Als sie Debütantin war. Fotos von ihrem Debütantinnenball.« »Aus was für einer Familie stammt sie?« »Ach, das ist eine lange Geschichte.« »Erzählen Sie sie mir.« »Also, der erste Spanier in der Familie meiner Großmutter, der nach Kuba kam, wurde als General dorthin gesandt. Es gab eine Menge altes spanisches Geld in der Familie. Meine Großmutter hatte Hauslehrer, und mit Achtzehn fuhr sie nach Paris, um Kleider zu kaufen. In meiner Familie gibt es auf beiden Seiten spanische Adelstitel. Manche davon sind sehr, sehr alt. Meine Großmutter zum Beispiel ist eine Herzogin in Spanien.« »Dann sind Sie also auch eine Herzogin, Consuela?« »Nein«, sagte sie lächelnd. »Nur ein kubanisches Mädchen, das Glück gehabt hat.« »Man könnte Sie aber für eine Herzogin halten. Irgendwo im Prado hängt sicher das Bild einer Herzogin, die wie Sie aussieht. Kennen Sie das berühmte Gemälde Las Meninas von Velázquez? Dort hat die kleine Prinzessin allerdings helles Haar, blondes Haar.« »Nein, ich glaube, das kenne ich nicht.« »Es hängt im Prado, in Madrid. Ich werde es Ihnen zeigen.«

Wir gingen die stählerne Wendeltreppe hinunter zu meinen Bücherregalen. Ich nahm einen großformatigen Bildband über Velázquez, und wir setzten uns nebeneinander an einen Tisch und blätterten fünfzehn Minuten lang darin. Es war eine bewegende Viertelstunde, in der wir beide etwas lernten: Sie erfuhr zum erstenmal etwas über Velázquez, und ich erfuhr zum wiederholten Male etwas über die herrliche Verrücktheit der Lust. All dieses Reden! Ich zeige ihr Kafka, Velázquez… Warum tut man das? Nun ja, irgend etwas muß man schließlich tun. Das sind die Schleier des Tanzes. Man darf das nicht mit Verführung verwechseln. Es ist nicht Verführung. Was man verbirgt, ist das, was einen dorthin gebracht hat: die pure Lust. Die Schleier verhüllen den blinden Trieb. Man redet und hat – wie sie – das irrige Gefühl, man wüßte, womit man es zu tun hat. Aber es ist nicht so, als würde man sich mit einem Anwalt beraten oder mit einem Arzt sprechen, als würde irgend etwas, was da gesagt wird, am weiteren Verlauf etwas ändern. Man weiß, daß man es will, und man weiß, daß man es tun wird, und es gibt nichts, was einen aufhalten könnte. Es wird nichts gesagt werden, das irgend etwas ändern könnte.