Über dieses Buch

Cover

Die Aufklärung kämpft im 18. Jahrhundert gegen die die finsteren Mächte des untergehenden Ancien Régime. Voltaire und sein Kaligraph Dalessius decken einen ungeheuren Coup des Klerus auf, aber können sie ihn auch verhindern? Pablo De Santis erzählt uns die Zeit vor der Französischen Revolution so, wie wir sie garantiert noch nie gesehen haben.

Pablo De Santis

Pablo De Santis (*1963) wurde in seiner Heimat Argentinien mit Jugendbüchern bekannt. Den internationalen Durchbruch schaffte er mit den Romanen Die Fakultät und Die Übersetzung.

Claudia Wuttke

Claudia Wuttke (*1966) studierte Soziologie, Philosophie und Komparatistik in Hamburg, Madrid und Berlin. Nach vielen Jahren als Lektorin ist sie als freiberufliche Literaturagentin und Übersetzerin tätig.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Pablo De Santis

Voltaires Kalligraph

Roman

Aus dem Spanischen von Claudia Wuttke

E-Book-Ausgabe

Mit einem Bonus-Dokument im Anhang

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel El calígrafo de Voltaire bei Ediciones Destino, Barcelona.

Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde unterstützt durch litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. in Zusammenarbeit mit der Kulturstiftung Pro Helvetia.

Originaltitel: El calígrafo de Voltaire (2001)

© by Pablo De Santis 2001

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30616-5

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 30.11.2021, 22:40h

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Erster Teil

Der Gehängte

Die Reliquie

Ich erreichte diesen Hafen mit wenig Gepäck: vier Hemden, mein Schreibwerkzeug und ein Herz in einem Glasbehälter. Die Hemden waren fleckig und mit Tintenklecksen übersät, und die Meerluft hatte meine Federn ruiniert. Das Herz hingegen hatte die Reise – den Unwettern und der Feuchtigkeit in meiner Koje zum Trotz – gänzlich unbeschadet überstanden. Herzen verausgaben sich im Leben. Danach kann ihnen nichts mehr Schaden zufügen.

Heutzutage kursieren unzählige philosophische Reliquien in Europa, die meisten von ihnen sind allerdings so falsch wie die Gebeine der Heiligen in den Kirchen. Früher waren sie die großen Helden dieses Aberglaubens. Doch wer risse sich heute noch um eine Rippe, einen Finger oder um das Herz eines Heiligen? Die Knochen und Schädel von Philosophen hingegen sind ein Vermögen wert.

Sobald irgendein Sammler in Paris einem Antiquar gegenüber vertrauensselig den Namen Voltaire fallen lässt, wird er sofort in ein Hinterzimmer geführt, wo man ihm unter dem Mantel der Verschwiegenheit ein Herz zeigt, das eher einem Stein gleicht und in einem goldenen Kasten oder einer Urne aus Marmor ruht. Die Summe, die sie dafür im Namen der Philosophie fordern, ist horrend. Ein düsterer, trügerischer Glanz umgibt diese falschen Herzen, während das echte hier bei mir liegt, auf dem Tisch, an dem ich schreibe. Der einzige Reichtum, den ich ihm anbieten kann, ist das Licht des Nachmittags.

Ich lebe in einem winzigen Zimmer, dessen Wände von Tag zu Tag brüchiger werden. Die Holzbretter auf dem Fußboden sind lose, und einige von ihnen kann man mühelos herausnehmen. Bevor ich morgens zur Arbeit gehe, deponiere ich das in ein abgeschabtes rotes Samttuch eingewickelte Gefäß in dem Hohlraum darunter.

Auf der Flucht aus all den Häfen, in denen man unsere Zunft als das letzte verbliebene Übel der alten Regierung betrachtete, gelangte ich schließlich zu diesem.

Im Nationalkonvent konnte man sich nur mit lauter Stimme durchsetzen, wir aber, die Kalligraphen, hatten lediglich gelernt, uns schreibend zu verteidigen. Und obwohl es sogar jemanden gab, der vorschlug, uns bloß die rechte Hand abzuschlagen, siegte am Ende die einmütige Überzeugung, es solle doch besser gleich der Kopf sein.

Meine Kollegen hoben weder den Blick von ihren Schreibtischen, noch machten sie sich die Mühe zu verstehen, was diese Rufe eigentlich besagten, die sie von Ferne hörten. Geduldig transkribierten sie weiter die Texte, die ihnen längst enthauptete Funktionäre zur Abschrift gegeben hatten. Manchmal, sei es als Warnung oder als Drohung gemeint, schob man ihnen eine verschmierte Liste der Verurteilten unter der Tür durch, und meine Kollegen übertrugen sie, ohne zu bemerken, dass ihr eigener, verlorener Name darauf stand.

Ich konnte entkommen, weil man mich vor Jahren gelehrt hatte, meine Augen vom Papier zu lösen. Ich hatte mir einen neuen Namen und einen weniger gefährlichen Beruf gegeben, hatte die Dokumente gefälscht, mit denen es mir gelang, die Wachposten zwischen dem einen und dem anderen Bezirk, zwischen der einen und der anderen Stadt zu passieren. Ich floh nach Spanien, aber mein Drang, möglichst weit weg zu kommen, hielt mich dort nicht lange. Ich heuerte auf dem einzigen Schiff an, das mich zerlumpt und mit dem wenigen Geld, das ich bei mir hatte, überhaupt aufnahm. Noch nie zuvor hatte ich – vielleicht in Erinnerung an meine Eltern, die bei einem Schiffbruch ums Leben gekommen waren meinen Fuß auf eine Planke gesetzt. In der Kajüte des Kapitäns wurden mir die zusätzlichen Leistungen diktiert, die ich für meine Überfahrt zu erbringen hatte, und ich bereitete mich auf eine gehörige Portion Korrespondenz mit Gläubigern und der Damenwelt vor. Im Nachhinein kann ich dankbar sein, dass meine Briefe noch einmal durchgesehen und die Fehler korrigiert wurden, denn so beherrschte ich bald die spanische Sprache.

Die Reise dauerte lange, das Schiff lief Hafen um Hafen an, und doch konnte ich mich nicht dazu entscheiden, in einem von ihnen von Bord zu gehen. Ich studierte die Formationen der Küsten und hoffte auf ein Zeichen, das mir meinen zukünftigen Platz bedeuten würde. Aber es gab nur ein Signal, das ich letztlich verstand, jenes nämlich, das besagte: Die Reise ist zu Ende. Im letzten Hafen vor der Rückkehr ging ich an Land.

Diese Stadt sucht sich niemand freiwillig aus. Wer hier landet, der flieht vor einer Regierung oder einer anderen Gefahr und kehrt schließlich der Welt selbst den Rücken. Als mich die Boote zum Ufer brachten, glaubte ich, dass mein Leben als Kalligraph ein Ende gefunden hatte, dass ich nie wieder einen Tropfen Tinte finden würde. Wer sollte in diesen dunklen, schlammigen Gassen schon nach einem Schreiber verlangen? Doch auch darin habe ich mich geirrt, denn bald schon entdeckte ich, dass das geschriebene Wort an diesem Ort zutiefst verehrt wurde, mehr noch als in den Städten Europas. Die Menschen hier lieben die gestempelten und unterschriebenen Anweisungen, die Papiere, die von Hand zu Hand gereicht werden und nach weiteren Papieren verlangen, die minutiösen Bestellungen, die nach Europa geschickt werden, die Liste mit den auf der Überfahrt beschädigten Waren. Alles hier wird gestempelt und in großen, von Arabesken geschmückten Lettern unterschrieben, bevor es in den ihnen gebührenden Schränken archiviert wird, die in ihrer Unordnung die Dokumente für immer schlucken.

Jeden Morgen setze ich in einem eiskalten Büro des Gemeindehauses offizielle Schreiben oder Gerichtsurteile auf. Die Angestellten erwähnen Voltaires Namen häufig, wenn ich ihnen aber sagen würde, dass ich für ihn gearbeitet habe, würden sie es mir nicht glauben. Für sie steht fest, dass alles, was sich jenseits ihrer Ufer ereignet, nicht wahr ist oder keine Bedeutung hat.

Der Wind dringt in mein Zimmer und fährt durch meine Papiere. Damit sie nicht wegfliegen, stelle ich das Herz darauf.

Erste Buchstaben

Nachdem meine Eltern bei dem Untergang der Retz ums Leben gekommen waren, kam ich zu meinem Onkel, dem Marschall de Dalessius. Er fragte mich nach meinen Fähigkeiten, und ich zeigte ihm ein paar Blätter, auf denen ich so getan hatte, als würde ich ein neues Alphabet erfinden. Auf einer Seite glichen die Buchstaben den Ästen eines Baumes, mit angedeuteten Blättern und zarten Verzweigungen. Eine andere Pappe zeigte orientalische Gebäude und Paläste, und auf der kunstvollsten, der dritten, weigerten sich die Buchstaben, Buchstaben zu sein. Mein Onkel wartete nur auf ein Zeichen, das ihm ermöglichte, mich loszuwerden, und so kamen ihm die Alphabete gerade recht. Er schickte mich in Monsieur de Vidors Schule für Kalligraphie, in der unter anderem schon der sagenumwitterte Silas Darel gelernt hatte.

Es dauerte jedoch nicht lange, und ich bekam Schwierigkeiten mit den Lehrern, weil es mir bald nicht mehr reichte zu schreiben. Ich wollte Federn und Tinte erfinden, wollte unsere Zunft neu begründen. Gestraft durch das Fehlen wahrer Meister, siechte die Kalligraphie dahin, umstellt von den Druckereien, reduziert auf isolierte Grüppchen oder einzelne Schreiber. Ich suchte in den Geschichtsbüchern nach Helden, die ich als Kalligraphen betrachten konnte, aber ich fand nur solche, die nie ein Wort schrieben.

Die Unermüdlichsten von uns, die, die den Weg von Silas Darel zu verfolgen suchten, stöberten nach Spuren, wo immer sie konnten, angefangen bei alten Schulhandbüchern bis hin zu den anonymen Abhandlungen der Kryptographie. So tot war dieser Berufsstand, dass wir uns als Archäologen unserer eigenen Zunft verstanden.

In dem Raum, in dem die Dokumente ausgestellt wurden, herrschte eine Ruhe, die lediglich vom Kratzen der Federn auf dem Papier unterbrochen wurde, und dieses Geräusch war die Metapher der Stille selbst. Der Saal war lang und an beiden Seiten mit Fenstern versehen, die auf Geheiß der Verantwortlichen stets geöffnet sein mussten, sogar im Winter, denn man meinte, dass ein gut gelüfteter Raum die beste Voraussetzung für einen gelungenen Buchstaben war. Durch die Öffnungen drangen Staub, kleine Zweige und Pinienblätter, die meine Kollegen ungehalten zur Seite wischten, die ich aber auf dem Blatt liegen ließ, weil ich der Meinung war, dass man die zufälligen Einflüsse, die den Prozess der Abschrift begleiteten, respektieren müsse. Mit Ausnahme einiger weniger beschieden sich die meisten mit dem Arbeitsmaterial, das die Schule alle sechs Monate von ihrem Lieferanten, einem portugiesischen Seemann, bezog: schwarze Tinte, die nach kurzer Zeit die Farbe verlor, rote Tinte, die schnell verklumpte, so grob geschöpftes Papier, dass die Buchstaben über die Dellen hüpften, als spielten sie Seilspringen, und blindlings aus dem Lager gegriffene Gänsefedern.

Nach dem Abendessen und den Gebeten übte ich mich in meiner Unterkunft oder im Garten neben dem Brunnen, dessen fauliggrünes Wasser mir ebenfalls zum Schreiben diente, an meinen eigenen Entwürfen. Meine bevorzugte Tinte mischte ich mir aus Schweineblut, Alkohol und rotem Safran. Auf dem Markt hatte ich den linken Flügel einer schwarzen Gans erstanden. Ich riss Feder für Feder prüfend aus, und jede fünfzehnte hob ich auf. Hatte ich die richtigen erst zusammen, erhitzte ich in einem Kupferbehälter etwas Sand, den ich in eine Holzkiste schüttete, dann legte ich die Federn hinein und wartete, bis die Wärme sie gehärtet hatte.

Mein Werkzeug bewahrte ich in einem Nähkästchen auf, das einst meiner Mutter gehört hatte und das noch immer ihren bronzenen Fingerhut sowie den Duft nach Lavendel in sich barg.

Als ich die Schule de Vidors verließ, beschaffte mein Onkel mir eine Anstellung bei Gericht. Für uns, die wir einen Abschluss hatten, war das der übliche Weg. Die anderen kamen in Bibliotheken oder als Privatsekretäre bei den letzten betuchten Familien unter. Ich begann, mit meinem Nähkästchen zu Verurteilten und in die Büros von Regierungsbeamten zu ziehen und einer Tätigkeit nachzugehen, die sich durch ihre Vergänglichkeit und Sinnlosigkeit auszeichnete. Etwas ähnlich Stupides werde ich wohl kaum wieder erleben.

Einmal wurde einem zum Tode Verurteilten, dessen Urteilsspruch ich zu Papier gebracht hatte, das Blatt mit all den Schnörkeln und Lacksiegeln kurz vor Betreten des Schafotts gezeigt, worauf er sagte: Richten Sie dem Schreiber meinen Dank dafür aus, dass er meine Verbrechen in etwas derart Schönes verwandelt hat. Ich würde noch zehn Männer umbringen, wenn ich dafür wieder eine solche Zeichnung bekäme.

Ein größeres Kompliment hatte ich nie zuvor in meinem Leben bekommen.

Mein Zimmer füllte sich mit Behältern unterschiedlichsten Inhalts: der Tinte des Tintenfisches, dem Gift des Skorpions, einer Zinklösung mit Eichenblättern und Eidechsenköpfen. Ich hatte es auch bereits mit unsichtbarer Tinte versucht, auf die ein Exemplar der De occulta calligraphia verwies, das ich bei einem Buchhändler in der Rue Admont erstanden hatte und das in der Schule de Vidors verboten war. Das Buch sprach von wasserloser Tinte, die erst sichtbar wurde, wenn sie mit Blut in Kontakt kam, man Schnee dagegen rieb oder das Blatt mehrere Stunden lang ins wolkenlose Mondlicht hielt. Andersherum gab es Tinte, die ihre schwarze Farbe verlor, erst grau wurde, bis sie gar nicht mehr zu sehen war.

Meine Karriere als Gerichtsschreiber endete mit der Niederschrift des Todesurteils von Catherine de Béza, die des Mordes an ihrem Mann, General Béza, überführt worden war und ihn auch gestanden hatte. Der General war krank geworden, und seine Frau ließ nach dem alten Hausarzt rufen, der die Familie schon seit Jahrzehnten behandelte und der, selbst beinahe blind, dem General für gewöhnlich Medikamente verschrieb, die gar nicht mehr im Umlauf waren, und ihm, ohne ihn zu untersuchen oder nach den Beschwerden zu fragen diverse Gebrechen attestierte. An eben jenem Morgen aber wachte der alte Arzt mit Fieber auf und schickte als Vertretung einen jungen Mediziner, dessen Mentor er war. Als der Doktor kam, war der General schon tot. Ihm genügten wenige Minuten, um eine natürliche Todesursache auszuschließen: Mit einer Lupe untersuchte er die Fingernägel des Verstorbenen und entdeckte Reste von Arsen.

Madame de Béza wurde angeklagt und verurteilt. Man führte sie zum Schafott, aber der Henker konnte die Exekution nicht vornehmen, weil das Papier mit dem Urteil, das noch vor wenigen Stunden bis an die Ränder voll mit Verfügungen gestanden hatte, jetzt nur ein weißes Blatt war, auf dem lediglich der rote Siegellack hervorstach.

Sie wollten mich der Mittäterschaft anklagen, und ich bemühte mich, meinen Fehler zu entschuldigen, indem ich einen gewissen Zusammenhang zwischen Wissenschaft und schicksalhafter Fügung herzustellen versuchte. So oder so aber musste ich für drei Monate hinter Gitter. Da einige der Anwesenden das Verschwinden der Tinte als göttliches Zeichen deuteten und sie es eher der Tugendhaftigkeit der Beschuldigten als der Dummheit des Kalligraphen zuschrieben, wandelte das Gericht das Todesurteil in eine Gefängnisstrafe um.

Nachdem ich wieder auf freiem Fuß war, ging ich zu meinem Onkel. Ich hoffte, bei ihm Tag und Nacht wieder in einem echten Bett schlafen zu können – ohne den Gestank des Kerkers, die Schreie, die Ratten. Mein Onkel hingegen hatte bereits meine Tasche gepackt, und die kühle Umarmung, mit der er mich empfing, war keine Geste der Begrüßung, sondern des Abschieds.

»Während du im Gefängnis warst, habe ich deine Dienste angeboten. Ich habe ein paar alten Bekannten eine knappe Liste mit deinen Fähigkeiten und eine ausführlichere mit deinen Fehlern geschickt. Man will ja nicht als Lügner dastehen.«

»Und, hast du eine Antwort bekommen?«

»Eine einzige, vom Schloss Ferney. Die bringen immer alles durcheinander und verstehen die Dinge verkehrt herum. Deine Fehler haben Sie mit deinen Tugenden verwechselt und deswegen sofort zugesagt.«